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Hauptkommissar Pytlik und die Kollegen der Kronacher Polizei feiern gerade das 25-jährige Dienstjubiläum von Cajo Hermann. Beim »Aschera-Fest« in Steinberg herrscht ausgelassene Stimmung und man wartet auf das große Abschlussfeuerwerk, als die Ermittler plötzlich zu einem Einsatz gerufen werden. Nur wenige Minuten von ihnen entfernt hat ein Verbrechen stattgefunden, dem der Einheimische Mario Adam brutal zum Opfer gefallen ist. Nach ersten Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Getötete nicht nur bereits eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hat, sondern möglicherweise auch Drahtzieher einer rechtsextremen Vereinigung war. Für Hauptkommissar Pytlik und seinen Assistenten wird die Aufklärung des Mordes nicht nur deswegen noch zusätzlich erschwert. Auch der Fund zweier kleiner Diamanten führt die Ermittler zunächst in die Irre.
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Seitenzahl: 210
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Carlo Fehn
Diamantenrausch
Hauptkommissar Pytlik und die Kollegen der Kronacher Polizei feiern gerade das 25-jährige Dienstjubiläum von Cajo Hermann. Beim »Aschera-Fest« in Steinberg herrscht ausgelassene Stimmung und man wartet auf das große Abschlussfeuerwerk, als die Ermittler plötzlich zu einem Einsatz gerufen werden.
Nur wenige Minuten von ihnen entfernt hat ein brutales Verbrechen stattgefunden, dem der Einheimische Mario Adam zum Opfer gefallen ist. Nach ersten Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Getötete nicht nur bereits eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hat, sondern möglicherweise auch Drahtzieher einer rechtsextremen Vereinigung war.
Für Hauptkommissar Pytlik und seinen Assistenten wird die Aufklärung des Mordes nicht nur deswegen noch zusätzlich erschwert. Auch der Fund zweier kleiner Diamanten führt die Ermittler in die Irre.
Diamantenrausch - Hauptkommissar Pytliks 17. Fall
Carlo Fehn
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright: © 2024 Verlag Carlo Fehn
ISBN 978-3-818733-94-0
Freitag, 24. Juni 2016
Pytlik saß mit übereinander geschlagenen Beinen mittig in der ersten Reihe im Kreuzgewölbekeller des Oberen Schlosses in Küps. Er hatte einem guten alten Bekannten zuliebe die Einladung angenommen und lauschte nun schon mehr als zwei Stunden den Texten der Hobbyschriftsteller aus dem Landkreis Kronach.
»Nur noch die eine Kurzgeschichte, dann haben wir es geschafft!«, flüsterte ihm der Küpser Bürgermeister hinter einem vorgehaltenen Programmheft so leise wie möglich zu. Pytliks Gesichtsausdruck blieb versteinert; er wollte den Vortragenden nicht stören. Mit einem sichtbar langsamen Zwinkern gab er Jochen Hellmann jedoch zu verstehen, dass er ihm zustimmte.
Der Kronacher Hauptkommissar hatte schon gesehen, dass draußen im Vorraum das Buffet mit Häppchen und Getränken aufgebaut worden war. Er freute sich, dass er gleich seinem nun doch deutlich knurrenden Magen etwas Gutes tun konnte.
Wenige Minuten später war es dann so weit: Mit einer wenig gelungenen Schlusspointe beendete der junge Lehramtsanwärter seine Lesung und lauschte zufrieden, aber mit gequälter Miene dem höflichen Applaus des Publikums. Bürgermeister Hellmann erfüllte im Anschluss seine Pflicht als Gastgeber, bedankte sich bei den Gästen und den Autoren und lud abschließend zum gemütlichen Beisammensein ein.
***
»Hast du dich eingelebt?«
Endlich hatten der Kronacher Hauptkommissar und das Küpser Gemeindeoberhaupt etwas abseits ein ruhiges Plätzchen an einem Cocktailtisch gefunden.
»Was meinst du?«, fragte Jochen Hellmann zurück, nachdem er genüsslich in das Lachs-Canapé gebissen und sich mit einer Papierserviette einen kleinen Rest Meerrettich aus dem Mundwinkel gewischt hatte. Während er von Pytlik eine Erklärung erwartete, goss er einen Schluck Sekt hinterher.
»Du weißt, was ich meine! Der Wechsel vom Klassenzimmer ins größte Büro des Rathauses ist ja wohl nicht wie ein einfacher Klamottentausch. Oder?«
Der Küpser Bürgermeister wiegte den Kopf hin und her, als wollte er sagen: stimmt! Nachdem er nun auch noch die zweite Hälfte der weichen Baguettescheibe verzehrt hatte, wischte er sich erneut schnell über den Mund und ließ das Papierknäuel auf den Tisch fallen.
»Es war die richtige Entscheidung! Aber nicht, weil mir mein Job als Lehrer keinen Spaß mehr gemacht hat! Nein! Es sind die vielen neuen Aufgaben, mein Lieber!«
»Jubiläumsgeburtstage?«, feixte Pytlik und lachte amüsiert. Hellmann machte den Spaß mit. Er wusste, dass man dem Kronacher Ermittler am besten beikam, wenn man sich auch mal foppen ließ.
»Nein! Da gibt es viel spannendere Themen: Ampeln und solche Dinge!«
Pytlik hatte verstanden. Beide lachten und stießen danach an.
»Aus dir könnte bestimmt auch ein guter Politiker werden. Im Ernst!«
Jetzt schaute Pytlik doch etwas ungläubig.
»Vergiss es! Solange ich noch einigermaßen gut laufen und denken kann, sorge ich lieber für Recht und Ordnung im Landkreis, anstatt…«
»Anstatt dir von unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern Maßkrüge über den Schädel hauen zu lassen? Meinst du das?«
Für einen kurzen Moment herrschte Eiseskälte. Pytlik erinnerte sich nur ungern an diesen peinlichen und schmerzhaften Vorfall, der nun schon über ein Jahr zurücklag. Beim Knellendorfer Johannisfeuer hatte er betrunken gepöbelt und war mit Einheimischen aneinandergeraten. Er wollte jetzt nicht noch einmal darauf eingehen, und als er in Hellmanns Gesicht das leichte Lächeln sah, wusste er, dass der Küpser Bürgermeister nicht wirklich provozieren wollte.
»Bei der Gelegenheit«, hakte Hellmann noch einmal nach.
»Wie geht es eigentlich deinem Assistenten Hermann? Hat es sich für ihn denn irgendwie bezahlt gemacht, dass er den Fall in Knellendorf letztes Jahr als dein Stellvertreter mehr oder weniger allein gelöst hat?«
Pytlik hob die Hand und bewegte den ausgestreckten Zeigefinger einige Male schnell hin und her.
»Moment mal! So war es ja nun auch wieder nicht!«
»Ja, ja! Ich weiß, du hast natürlich heldenhaft und schwer verletzt auch wieder mitwirken müssen.«
Pytlik hatte zunächst noch einen Schluck aus der Bierflasche genommen.
»Cajo ist ein gutes Stichwort! Wir haben demnächst für ihn eine große Überraschung geplant. Ich weiß nicht, ob er das überhaupt auf dem Schirm hat, aber vor 25 Jahren hat er in der Dienststelle in Kronach angefangen und seitdem arbeiten wir zusammen.«
Bürgermeister Hellmann hob anerkennend die Augenbrauen.
»Darf ich fragen, wie die Überraschung aussieht?«
»Es hat mich viel Überredungskunst und Anstrengungen gekostet, ernst zu bleiben und mir nichts anmerken zu lassen. Du weißt ja, dass ich am Wochenende immer viel zu Fuß unterwegs bin, und ich habe ihn einmal ein bisschen angespitzt, mit mir eine Wanderung zu machen; Einkehr mit Brotzeit und Bier inbegriffen! Allem Anschein nach fand er die Idee gar nicht schlecht und somit wird das Ganze bald stattfinden.«
Hellmann schaute etwas verdutzt.
»Verstehe! Aber das wird ja wohl noch nicht alles sein, oder?«
»Ich habe es so geplant«, fuhr Pytlik fort, »dass wir gegen Mittag im Biergarten ankommen, und dort wird Cajo von den Kolleginnen und Kollegen, die Zeit haben, empfangen werden. Ehrlich gesagt hoffe ich, dass er tatsächlich nicht weiß, dass es sein Jubiläumstag ist und dass die Überraschung umso größer sein wird.«
Jetzt nickte Hellmann anerkennend und lobte den Hauptkommissar für dessen Idee. Dann fiel ihm noch etwas Anderes ein.
»Ach, übrigens: Ich wollte dir ja nochmal unseren Felsenkeller zeigen. Du weißt schon, da, wo die Baufirma vor zwei Jahren dieses Skelett gefunden hat.«
Pytlik nickte und machte eine Geste, mit der er sich dankbar zeigte, dass Hellmann das nicht vergessen hatte.
»Stimmt! Die Nachricht habe ich damals erhalten, als ich gerade den ersten Tag im Urlaub war. Als ich wieder zuhause und im Büro war, hatte ich die Akte auf dem Schreibtisch liegen. Das ist aktuell der einzige ungeklärte Todesfall in unserem Zuständigkeitsbereich. Ich glaube nicht, dass wir da jemals noch irgendwelche Anhaltspunkte bekommen werden, was da passiert sein könnte.«
Bürgermeister Hellmann machte mit seiner Hand eine entsprechende Bewegung.
»Komm mit!«
&xnbsp;Pytlik hatte verstanden und folgte ihm.
***
Der Abstieg war steil und obwohl man sofort sehen konnte, dass die durchgeführten Sanierungsmaßnahmen professionell erledigt worden waren, bewegten sich Pytlik und Bürgermeister Hellmann sehr vorsichtig nach unten.
»Achtung! Hier musst du den Kopf ein bisschen einziehen!«
Pytlik war auf der Hut und folgte dem Ratschlag. Nach einigen weiteren Stufen standen sie auf einem kleinen Vorsprung, der terrassenartig in einer kleinen Nische lag. Dezentes Licht erhellte den Raum, der wie eine kleine Gruft wirkte und in dem an der Wand eine Art Gedenktafel aus Kupfer hing. Hellmann ging in leicht gebückter Haltung hinein und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger darauf.
»Hier war das also?«, wollte Pytlik wissen. Der Bürgermeister nickte und fing danach an zu erzählen.
»Also, wenn du mich fragst, dann kannst du die Akte zu diesem unbekannten Toten ruhigen Gewissens schließen. Wir werden zwar sehr wahrscheinlich seinen Namen nicht mehr erfahren, aber was mit ihm passiert ist, dazu gibt es zumindest eine plausible Geschichte.«
Der Küpser Bürgermeister machte anschließend mit beiden Armen Bewegungen in unterschiedliche Richtungen und klärte Pytlik parallel dazu auf.
»Es gibt zu unserem Gemeindeteil Au eine Ortschronik, in der unter anderem erwähnt wird, dass im April 1945 ein Trupp von etwa 20 SS-Leuten im Dorf aufgetaucht ist und sich hinter einer Hecke am Schulhaus verschanzt hat. Einige mutige Frauen machten sich auf und forderten die SS-Leute auf, zu verschwinden und das Dorf zu verlassen. Sie argumentierten, dass es für den Ort gefährlich wäre, wenn eine Auseinandersetzung der SS-Leute mit den Amerikanern hier stattfinden würde und somit die Ortschaft darunter zu leiden hätte. Anscheinend ist die Gruppe dieser SS-Leute dann abgerückt. In der Chronik wird weiter erwähnt, dass einige Tage später in der Nähe von Au ein toter Mann gefunden wurde, der möglicherweise zu dieser Gruppe gehörte. Er wurde nach Küps gebracht und auf dem Friedhof beerdigt.«
Pytlik hörte interessiert zu und meinte zu wissen, wie die Geschichte weitergehen könnte und was die Vermutung des Bürgermeisters war.
»Du denkst also, dass diese Gruppe von SS-Leuten sich aufgelöst und jeder Einzelne versucht hat, sich allein durchzuschlagen. Einer von ihnen hat hier unten Unterschlupf gefunden. Und dann?«, wollte Pytlik von Hellmann wissen.
»Der letzte Besitzer dieses Gebäudes ist bereits vor vielen Jahren gestorben, und nachdem das Obere Schloss sehr sanierungsbedürftig war, haben die Erben es danach verkauft. Mit den neuen Eigentümern haben wir ein entsprechendes Recht für die museale Nutzung des Nebengebäudes vereinbart mit einer Beteiligung an den Kosten für die Sanierung. Bei der Begutachtung des Kellergewölbes – also genau hier, wo wir jetzt stehen – hat sich gezeigt, dass es hier irgendwann einmal und möglicherweise durch äußere Einflüsse zu einer Art Teileinsturz gekommen sein muss. Hier, wo wir jetzt stehen, waren bis vor der Sanierung Fels, Geröll, große Steine. Du kannst dir das gar nicht mehr vorstellen! Wir haben dann eine Baufirma, die auf solche Aufgaben spezialisiert ist, mit der Sanierung beauftragt. Naja, und irgendwann kam dann plötzlich die Meldung, dass man Knochen entdeckt hätte, die möglicherweise von einem Menschen stammten. Wir wissen, dass damals bei der Einnahme des Marktes durch amerikanische Truppen auch das Obere Schloss bei einem Angriff getroffen wurde und dies vielleicht die Beschädigungen hier unten hervorgerufen hatte.«
Pytlik stand mit verschränkten Armen da und nickte so, als wäre das, was ihm der Bürgermeister gerade erzählte, für ihn schlüssig.
»Und das heißt, dieser unbekannte SS-Mann wurde beim Einsturz des Kellergewölbes überrascht, und nachdem ihn anscheinend niemand vermisste, wurde er nur zufällig während der Sanierungsarbeiten entdeckt.«
Hellmann bestätigte.
»Man hat zwar nichts bei ihm gefunden, was zu seiner Identifizierung hätte beitragen können, aber dieser typische lange Ledermantel und die ganzen Umstände ließen keinen anderen Rückschluss zu«, erinnerte sich nun auch Pytlik noch einmal an das, was er von dem Fall noch wusste. Danach ließ er den Blick erneut in alle Richtungen schweifen.
»Warum macht ihr so einen Leseabend nicht mal hier unten?«, fragte er den Küpser Bürgermeister dann, ohne dass es scherzhaft gemeint sein sollte. Hellmann lachte spontan, schien sich aber mit der Idee anfreunden zu können.
»Gar nicht so schlecht, der Vorschlag! Bist du dann wieder dabei?«, wollte er wissen.
***
Samstag, 9. Juli 2016
Die Spuren des nächtlichen Gewitters waren unübersehbar. Pytlik und sein Assistent Cajo Hermann waren die Festungsstraße in Kronach hochgelaufen und oberhalb der JVA links abgebogen, um sich auf den Weg Richtung Bernsroth zu machen. Ein leichter Wind umwehte die beiden Polizisten, als wollte er ihnen mit einem zarten Flüstern einen schönen Tag für ihre Wanderung wünschen.
»Das hat heute Nacht aber auch ganz schön gehaust!«, wusste Hermann zu berichten, als er mit dem Spann seines rechten Fußes einen beachtlichen Ast ins Gebüsch lupfte, der nicht nur für Wanderer auf der schmalen Straße zu einem Problem hätte werden können.
»Ja!«, pflichtete ihm sein Chef bei und atmete danach fast etwas übertrieben einmal tief ein.
»Wurde aber auch langsam mal Zeit! Ich habe diese schwüle Luft die letzten Tage nicht mehr aus dem Haus bekommen. Und jeden Abend das gleiche Spiel: Da zieht diese dunkle Wand von Westen herüber und du hoffst schon auf die Reinigung und dann…«
»Zieht das Gewitter wieder an uns vorbei! Ich weiß!«, konnte Hermann das bekannte Phänomen nur bestätigen.
»Aber du weißt ja: Wenn schon was aus Richtung Coburg nach Kronach kommt! Das kann einfach nichts werden!«
Beide lachten. Ein schöner und angenehmer Sommertag machte ihnen die Aufwartung; die Wettervorhersage hatte für die nächsten Tage eine Entspannung der Situation angekündigt. Schon wochenlang machten Hitze und Trockenheit der Bevölkerung zu schaffen. Der Hauptkommissar war sehr glücklich, dass Petrus ihm ausgerechnet an diesem Samstag wohlgesinnt zu sein schien.
Als sie eine Viertelstunde später das große landwirtschaftliche Anwesen bereits sehen konnten und Pytlik seinen Assistenten gefragt hatte, ob er nicht auch schon mal seinen nächsten Weihnachtsbaum markieren wolle, schüttelte Hermann nur emotionslos den Kopf. Ihn interessierte etwas ganz Anderes.
»Nein?«, fragte Pytlik nach, der sich darüber im Klaren war, dass er mindestens bis zum ersten geplanten Zwischenstopp mit der dort wartenden Überraschung seine geheime Mission nicht verraten durfte. Als dann aber doch die erste kritische Nachfrage Hermanns kam, musste er sein Improvisationstalent beweisen.
»Komm schon Franz! Ich hab dich schon ein paarmal gefragt: Was wird das heute hier? Hast du dich nach all den Jahren jetzt doch in mich verliebt und willst mir heute deine Zuneigung gestehen? Hüpfen jetzt gleich ein paar Clowns aus dem Gebüsch und singen lustige Lieder? Irgendwas ist doch!«
Pytlik und Hermann liefen zunächst noch ein paar Schritte. Der Hauptkommissar setzte eine stoische Miene auf, verlangsamte das Tempo und fasste Hermann danach mit einer Hand an der Schulter. Dann drehte er sich zu ihm und sah ihn ernst an. Er würde nun sogar riskieren, dass die Überraschung auffliegen könnte, vertraute aber seinem Geschick.
»Du weißt, dass ich eine nicht ganz einfache Zeit hinter mir habe. Knellendorf im letzten Jahr war vielleicht so etwas wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Du bist in die Bresche gesprungen, hast den Fall gelöst und mir auch irgendwie die Augen geöffnet. Nicht nur, was meinen Lebenswandel anging. Da habe ich auch gemerkt, dass der Job und die tägliche Arbeit ja eigentlich fast mehr die Familie für einen sind als die eigenen vier Wände zuhause. Und wenn man dann so jemanden hat wie dich, der einen nun schon über so viele Jahre begleitet, einem immer mit Rat und Tat zur Seite steht, auch mal die Meinung sagt...«
Pytlik wählte die Pause gezielt. Er hatte bemerkt, dass Hermann von seiner Lobesrede doch etwas angefasst war. Sein Plan schien aufzugehen.
»Dann kann ich mich doch auch mal erkenntlich zeigen und dich zu einer Wanderung einladen. Oder nicht?«, schloss er in fast schon überzogener empathischer Manier. Hermann wusste anscheinend nicht, wie er reagieren sollte. Er presste die Lippen zusammen und nickte ergriffen. Pytlik tat es ihm gleich und lächelte leicht. Dann gab er seinem Assistenten noch einen Klaps auf die Schulter, und danach machten sie sich auf den Weg hinunter.
Nur wenige Minuten später bogen sie am Fuß des Bierbergs auf den Franziskanerweg ein, was Hermann zu einem entsprechenden Kommentar veranlasste. Pytlik indes war froh, dass sein Plan aufgegangen war.
»Na prima! Selbstbeweihräucherung, oder wie?«
»Hätte ich hier einen Hermannspfad gefunden, wären wir natürlich den gewandert. Kannst du mir glauben!«
Schnell entwickelte sich dann ein gegenseitiges Erinnern an die Vergangenheit. Pytlik fühlte sich sicher und meinte, Hermann gänzlich auf dem Glatteis zu wissen. Nun packte ihn der Übermut. Sie liefen mit mittlerem Tempo in Richtung Norden, parallel zur Bahnlinie, die in etwa zweihundert Metern Entfernung in unmittelbarer Nähe der B85 lag. Die Sonne hatte sich schon längst über das hügelige Umland hinweggesetzt und schien den beiden wohlig warm in den Nacken.
»Ich habe auf meinen Wanderungen im letzten Jahr oft zurückgedacht an die ganzen Fälle, die wir gemeinsam gelöst haben. Mal ehrlich, bleibt dir etwas ganz besonders in Erinnerung?«
Während Hermann antwortete, machte der Hauptkommissar sich Gedanken, ob der erste Teil des Plans aufgehen würde und die beiden Schutzpolizisten die ihnen zugeteilte Aufgabe erledigt hatten. Er konnte sich Hermanns verdutztes Gesicht bereits sehr gut vorstellen.
»Ja, klar, weil es halt auch noch nicht so lange her ist und auch der letzte Fall war, den wir gelöst haben.«
»Du meinst Knellendorf!«, wusste Pytlik Bescheid und deutete mit dem ausgestreckten Arm in Laufrichtung etwas nach links.
»Ja!«, fuhr er fort.
»Das war schon eine krasse Nummer. Vor allem für dich, als du dann bei der Explosion des Hauses gedacht hast, ich sei der Typ, der da angerannt kam.«
Beide schwiegen einen kurzen Moment, dann erzählte Hermann aber weiter.
»Kannst du dich noch an den Mord an dieser Friseuse erinnern? Sandy… dingsbumms! Wie hieß sie noch?«
Pytlik wusste es, er spielte aber mit Hermann. Sein Handy in der Hosentasche hatte kurz vibriert.
»Ach Gott! Ja, ich weiß! Die Kollegin war die Täterin! Aber die Tote…? Heyder! Sandy Heyder!«
»Genau! Heyder hieß sie!«, war Hermann über diesen Moment der gemeinsamen Erinnerung glücklich und schien nun Fahrt aufzunehmen. Als er weiterredete, holte Pytlik schnell sein Mobiltelefon heraus und schaute auf das Display.
Alles erledigt wie befohlen, Chef! Gruß Andi
Der Hauptkommissar schmunzelte kurz und widmete sich dann wieder seinem Assistenten, der auf dem weiteren Weg keinen Halt mehr zu finden schien im Gedenken an die Ereignisse der letzten Jahre.
Die beiden Kronacher Ermittler waren nun bereits eine gute Stunde unterwegs, als sie auf einem Forstweg etwa 50 Meter voraus einen mannshohen Stapel von Baumstämmen sehen konnten.
»Aber was natürlich auch so eine echte Hammergeschichte war«, kramte Hermann immer weiter in der Vergangenheit und musste kurz innehalten, da anscheinend irgendetwas vor seinem geistigen Auge passierte.
»Ja?«, zeigte sich Pytlik neugierig, hatte selbst aber den Fokus schon ganz woanders hin gerichtet.
»Die Frau am Kreuz! Erinnerst du dich? Die Augen! Die an die Fensterscheibe geklebten Augen!«
»Uuuuh!«, tat Pytlik angewidert. Mittlerweile hatten sie sich dem gestapelten Holz schon bis auf wenige Meter genähert.
Dann ging es ganz schnell. Pytlik machte eine entsprechende Geste und verzog etwas sein Gesicht.
»Bin gleich wieder da!«
»Konfirmandenblase!«, rief Hermann ihm noch hinterher, der seinen Chef dann hinter den Stämmen verschwinden sah. Pytliks Assistent nutzte seinerseits die Pause, um aus seiner Wasserflasche zu trinken und anschließend etwas auf seinem Mobiltelefon zu lesen. So merkte er auch nicht, dass Pytliks Pinkelpause für ihn gleich zu einer unliebsamen Überraschung werden sollte.
»Scheiße! Cajo! Schnell! Hilf mir! Hilf mir! Verdammt!«
Hermann ließ seinen Rucksack blitzschnell von den Schultern fallen und stürmte mit einem weiten Sprung über einen Graben in die Wiese neben den Holzstapel. Dann machte er noch einige schnelle Schritte, gleich würde er Pytlik erreicht haben. Das Schreien seines Chefs hatte ihm einen Adrenalinschub versetzt, und als er sehen konnte, was sich hinter der Barrikade aus herrlich riechendem Holz abspielte, traute er seinen Augen nicht. Mit offenem Mund und unfähig, etwas zu sagen, blickte er in das grinsende Gesicht des Hauptkommissars.
»Arschloch!«, war alles, was er dann sagte.
***
Hermann hatte genüsslich von der Polnischen abgebissen, die er vorher in den Senf auf seinem Teller getaucht hatte. Er schüttelte den Kopf, weil er immer noch nicht glauben konnte, dass sein Chef ihn derart drangekriegt hatte.
Dass er auf einem wackeligen Klappstuhl hinter einem Stapel von Holzstämmen abseits des Franziskanerwegs zwischen Knellendorf und Gundelsdorf saß und vor sich auf einem ansehnlichen Campingtisch Köstlichkeiten vorfand, die er sich selbst nur wenige Male im Jahr zum Frühstück gönnte, machte ihn immer noch fast sprachlos.
Pytlik, der ihm am rechteckigen Tisch gegenübersaß, hatte seine helle Freude und machte auch keinen Hehl daraus. Zuallererst war er froh darüber, dass die beiden Kollegen aus der Dienststelle am Kaulanger alles genau so arrangiert hatten, wie er es ihnen aufgetragen hatte.
Etwas abseits standen die beiden Kühltaschen, in denen die jungen Polizisten die Getränke und das Essen nur wenige Minuten vorher am vereinbarten Versteck abgeliefert hatten. Der Hauptkommissar hatte Wert darauf gelegt, dass aufgrund des festlichen Anlasses eben nicht der Eindruck von Improvisation und Billigkeit entstehen sollte. Geschirr, Besteck, Salz- und Pfefferstreuer, Brotmesser und selbst die unverzichtbaren Willibecher für das einheimische Bier waren echt. Dieser Anlass hatte keinen Plastikmüll verdient. Und weil Pytlik wusste, dass die beiden Polizisten später alles wieder abholen würden, war ihm die aufwändige Planung umso leichter gefallen.
Für den Augenblick war das Wühlen in Erinnerungen vergangener Fälle vergessen. Einem Fahrradfahrer, der auf dem Franziskanerweg deutlich hörbar gerade vorbeigefahren war, riefen sie in kindlicher Manier und sichtgeschützt ein albernes »Servus« hinterher. Ihre Gläser, die vom kühlen Gerstensaft einladend beschlagen waren und in denen ein schöner Schaumteppich den golden schimmernden Inhalt bedeckte, hatten sie nun fast schon geleert.
Pytlik hatte mit dem Messer ein Stück der Leberwurst aus dem Glas geholt, dann auf eine Scheibe des frischen Bauernbrots gelegt und gleichmäßig verstrichen. Die dünn geschnittene Gewürzgurke hatte er zum Abschluss leicht diagonal darüber verteilt, nachdem er vorher noch etwas vom mittelscharfen Senf dazu gegeben hatte.
»Hm! Wie toll!«, entfuhr es ihm in ekstatisch anmutender Manier und Hermann musste lachen, womit er ihm gleichzeitig beipflichten wollte. Pytliks Assistent musste seinem Vorgesetzten nun einfach mal ein Lob aussprechen.
»Also, mal ganz ehrlich, Franz: Wir haben ja nun schon einiges miteinander erlebt, beruflich und auch privat! Und jetzt sitzen wir heute, an einem eigentlich stinknormalen Samstag, hinter einem Holzhaufen und ich fühle mich – das ist jetzt nicht einmal sonderlich übertrieben – wie König Ludwig! Also, wenn das deine nachträgliche Belohnung dafür ist, dass ich letztes Jahr bei der Geschichte in Knellendorf erfolgreich deine Vertretung übernehmen durfte, dann muss ich sagen: Lass dir doch in Zukunft einfach öfter mal einen Maßkrug drüberhauen!«
Beide lachten aus voller Kehle und stießen die Biergläser noch einmal an.
Seit anderthalb Stunden saßen sie nun beieinander und Pytlik hatte trotz aller ausgelassener Stimmung und eines guten Gefühls nicht seinen Plan aus den Augen verloren. Für alle Fälle hatte er mit vier Flaschen Bier geplant. Nachdem sie nun gut gesättigt waren und auch der Alkohol trotz der fränkischen Leckereien etwas seine Wirkung zeigte, konnte Pytlik dem inneren Drang nicht widerstehen und beschloss, seinem treuen Weggefährten zumindest ein kleines Bonbon zum Nachtisch zu reichen. Er konnte einfach nicht anders!
»So, mein Lieber!«, schlug er dann plötzlich einen befehlsartigen Ton an, nachdem er abrupt aufgestanden war und sogleich mit den Aufräumarbeiten begonnen hatte.
»Alles schön und gut, aber unser eigentliches Ziel haben wir noch vor uns und deswegen sollten wir jetzt aufbrechen, damit wir den Biergarten nicht auf uns warten lassen müssen«, ließ Pytlik Hermann keine Chance auf Widerworte.
Alle Lebensmittel, die noch verwertbar waren, verstauten sie grob verpackt wieder in den Kühlboxen, Geschirr und Gläser legten sie vorsichtig in einen Korb, die beiden Stühle und den Tisch klappten sie zusammen und lehnten sie danach gegen die Wand aus Holzstämmen. Pytlik verließ sich darauf, dass die Sachen später abgeholt wurden, machte sich aber keinen Kopf, denn das Wichtigste hatte hervorragend funktioniert.
Die beiden Kronacher Ermittler hatten einige Minuten benötigt, um aus der Komfortzone der gemütlichen Verzehrpause auf dem Wanderweg wieder in die Spur zu kommen.
»Mein lieber Herr Gesangsverein!«, musste Hermann feststellen, nachdem es ihm bereits zum wiederholten Male nicht gelungen war, die Klickverschlüsse des Bauchgurtes an seinem Rucksack miteinander zu vereinigen.
»Du hast schon gewusst, warum du nicht noch mehr Bier hast anliefern lassen!«, attestierte er dem Hauptkommissar in einer fast nicht wahrnehmbaren Art von Dankbarkeit. Pytlik schmunzelte nur in sich hinein.
Bis sie Glosberg erreicht hatten, hatten sie noch einmal in Erinnerungen der vergangenen Jahre geschwelgt. Pytlik hatte es noch nicht geschafft, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, aber er war auch noch nicht davon abgekommen, es nun tun zu wollen. Als sie bereits die ersten Pferde des Letzenhofs sehen konnten und ihre Unterhaltung eine etwas längere Pause erfuhr, meinte er, den richtigen Moment gefunden zu haben.
Die Bank am Wegesrand, die er in wenigen Metern Entfernung sah, kam ihm sehr gelegen; eine gute halbe Stunde waren sie nach Beendigung ihrer Frühstückspause nun schon wieder unterwegs.
»Lass uns kurz setzen!«, sagte Pytlik und Hermann war etwas überrascht.
»Du wirst doch nicht schon schlapp machen?«, konnte er sich einen provozierenden Kommentar nicht verkneifen.
»Na los, setz dich, du Trottel!«, parierte Pytlik Hermanns Antwort und sah in ein erstauntes Gesicht. Dennoch tat sein Assistent, worum er gebeten wurde. Die beiden saßen nebeneinander wie ein altes Ehepaar. Die Rucksäcke hatten sie neben sich auf der Bank abgestellt und für ein paar kurze Augenblicke sagte keiner etwas. Hermann kannte seinen Chef gut genug, um spätestens jetzt zu erkennen, dass Pytlik die Pause nicht benötigte, um sich von den Strapazen zu erholen.
»Weißt du Franz, das Gute daran, wenn man sich schon so lange kennt wie wir uns, ist, dass man sich darauf verlassen kann, dass man Vermutungen, die man hat, letztendlich auch immer vertrauen kann.«
Pytlik kniff die Augen zusammen und versuchte, das, was Hermann ihm gerade gesagt hatte, zu verstehen. Er wollte sich aber keine große Mühe machen.
»Und das heißt genau was?«, fragte er gelassen.
»Das war echt klasse!«, schwärmte Hermann.
»Ich könnte glatt nochmal zurücklaufen, den Tisch und die Stühle nochmal hinstellen und die Kühlbox nochmal ausräumen. Das war echt spitze! Danke nochmal!«
Wie ein Gentleman, der in einer klammen Nacht neben der Dame seines Herzens saß und fror, weil er ihr sein Jackett gegeben hatte, machte Pytlik mit seinen Händen eine Geste der Belanglosigkeit und wollte seine Mühen und Anstrengungen nicht überbewertet wissen.
»Alles gut, Cajo! War mir ein Vergnügen!«
Dann drehte der Hauptkommissar seinen Kopf nach links und schaute seinen Assistenten an. Er lächelte.
»Hast du wirklich keine Ahnung? Hast du es vergessen? Hast du es einfach nicht auf dem Schirm oder interessiert es dich einfach nicht?«
Hermann versuchte, ehrlich zu sein.
»Ich hab mir in der letzten halben Stunde schon überlegt, ob das nicht ein bisschen übertrieben ist dafür, dass ich letztes Jahr eigentlich ganz froh darüber war, dass dir endlich mal jemand eine drübergezogen hat.«
Beide lachten kurz.
»Du Trottel! Weißt du«, bekam Pytliks Stimme nun einen feierlichen Unterton, »was auf den Tag genau heute vor 25 Jahren war?«
Pytlik wusste genau, dass es Hermann mit der Nennung der Zahl sofort wie Schuppen von den Augen fallen würde. Sein Assistent bewegte den Oberkörper leicht nach vorne, stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ sein Gesicht in den geöffneten Handflächen versinken. Der Hauptkommissar klopfte ihm zweimal sanft mit der linken Handfläche auf die Schulter.
»Meinen herzlichen Glückwunsch zu deinem 25-jährigen Dienstjubiläum und vielen Dank für zweieinhalb Jahrzehnte Freundschaft und tolle Zusammenarbeit!«
***
Sonntag, 10. Juli 2016
Es war nun bereits nach Mitternacht. Etwa eine Stunde nach Beendigung des Feuerwerks unten am Steinberger Sportplatz hatte der Hauptkommissar von einem Schutzpolizisten, der mit als erster vor Ort gewesen war, den Anruf bekommen.
Die junge Frau hatte ihren Bekannten abholen wollen, so hatte sie zu Protokoll gegeben, weil er nicht zum vereinbarten Treffpunkt gekommen und auch telefonisch nicht zu erreichen gewesen war. Sie hatte angegeben, das Versteck für den Ersatzschlüssel für die Haustür zu kennen. Weil nach mehrmaligem Klingeln niemand geöffnet hatte, war sie ins Haus gegangen. Mehr konnte sie bisher nicht sagen, da sie nach den ersten wenigen Informationen ohnmächtig geworden war. Einer der Rettungssanitäter kümmerte sich aktuell noch um die Blondine, nachdem der Notarzt ihr bereits etwas zur Beruhigung verabreicht hatte.
Pytlik befand sich im Obergeschoss des modernen Hauses und stand in der Mitte eines Raumes, den er als Arbeitszimmer vermutete. Er hatte schnell den Eindruck bekommen, dass das Opfer, das im Erdgeschoss im Wohnzimmer in einer großen Blutlache lag, hinsichtlich seiner Gesinnung keine großen Geheimnisse mit ins Grab nehmen würde.