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DOPPELBAND: TRÜGERISCHE AFFÄRE + DER SÜNDENFALL Band 1: Trügerische Affäre: Ich hasse dich ... Drei Worte, die das Dunkel durchdringen, die alles mit sich reißen, das Herz brechen, geflüsterte Schreie bringen und die Stille stören. Eines Tages gesteht Jonas seiner Frau Jonte, dass er eine Affäre hat, und verlässt seine Frau. Für Jonte bricht eine bis dahin mühsam aufrechterhaltene heile Welt zusammen. Seitdem ereignen sich unheimliche Dinge in ihrem Umfeld, auf die sie sich keinen Reim machen kann. Sie ist einsam und führt Selbstgespräche. Auch droht ein schreckliches Geheimnis aus ihrer Vergangenheit sie zu überrollen. Als ein Mord geschieht, muss Jonte sich ihren Ängsten stellen – mit verheerenden Folgen, die sie in Alkoholismus und Irrsinn zu treiben drohen. Nichts ist mehr so, wie es scheint. Band 2: Der Sündenfall Ein grausames Verbrechen, das die Menschen in Atem hält, erschüttert die Kleinstadt Berg am Starnberger See. Mo Celta von der Kripo Starnberg übernimmt die Ermittlungen. Kurz darauf wendet sich Alexander Martin an die Kripo Starnberg. Im Befragungszimmer trifft er auf Mo Celta, die eine Vergewaltigungsserie und einen Mord aufklären muss. Sie erfährt von Affären, Intrigen und Lügen. Davon überzeugt, dass die Zeit drängt und der Fall, der unfassbar Böses verheißt, sich zum Albtraum entwickeln könnte, setzt die Hauptkommissarin alles daran, den Mord aufzuklären. Mo stößt auf ein Geflecht aus listiger Verführung und sinnlicher Begierde und auf den Zorn eines teuflischen Menschen. Fast ohne dass Mo es merkt, verbindet sich das Tasten nach dem Sinn einer Tat mit einer geheimnisvollen, rätselhaften Geschichte um ein Geheimnis …
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Ich hasse dich ...
Drei Worte, die das Dunkel durchdringen,
die alles mit sich reißen,
das Herz brechen,
geflüsterte Schreie bringen
und die Stille stören.
Die norwegische Architektin Jonte Sandvik scheut die Öffentlichkeit und lebt lieber in der Welt des Films, statt ihrem eigentlichen Beruf nachzugehen. Tagsüber arbeitet sie im XD Cinema Norge in Drammen an der Kinotheke, abends entwirft sie Gebäude, die ihr Ehemann Jonas in architektonischen Bildbänden mit großem Erfolg der Öffentlichkeit präsentiert.
Eines Tages gesteht ihr Jonas, dass er eine Affäre hat, und verlässt seine Frau. Für Jonte bricht eine bis dahin mühsam aufrechterhaltene heile Welt zusammen. Seitdem ereignen sich unheimliche Dinge in ihrem Umfeld, auf die sie sich keinen Reim machen kann. Sie ist einsam und führt Selbstgespräche. Auch droht ein schreckliches Geheimnis aus ihrer Vergangenheit sie zu überrollen. Als ein Mord geschieht, muss Jonte sich ihren Ängsten stellen – mit verheerenden Folgen, die sie in Alkoholismus und Irrsinn zu treiben drohen. Nichts ist mehr so, wie es scheint.
Der Wald am Drammensfjord wirkt unzugänglich. Alles ist dunkel. Undurchdringlich. Schwarz. Hinter jedem Baum, hinter jedem Strauch lauert das Unheil. Der Wald ist unbezähmbar hungrig. Er ist bedrohlich. Er warnt.
Sie blickt hoch. Über den Bäumen schillert noch blass der Mond und schon schwach die Morgenröte.
Morgensonne, Abendsonne, denkt sie. Und die Sonne, die niemand sieht, die dazwischenliegt, die, die Leben schenkt. Noch zögert sie.
Der Parkplatz ist wie ausgestorben. Ihr Wagen steht verloren in der öden Leere. Es ist gespenstisch still, sodass sie vom Verriegelungslaut des Schlosses erschrocken zusammenzuckt. Vielleicht ist es besser, umzukehren. Heute kein Sport, sagt sie sich. Nicht hier, nicht heute.
Aber es ist doch dein Wald, denkt sie.
Sie liebt diesen Wald, seine unendliche Ruhe, die wohltuende Abwesenheit von menschlichen Geräuschen und Gerüchen. Sie hat eine feste Route, sie kennt den Weg, sie wird sich hier nicht verirren.
Der Wald wartet auf sie. Es ist ein guter Wald, ein Wald, der sie beschützt und umsorgt. Er ist ihr Freund, auch wenn das niemand versteht. Alle finden es seltsam, dass sie stets die weite Fahrt auf sich nimmt, um hier zu joggen.
Der Tag zeigt allmählich sein erstes Licht. Der Morgen umgibt sie sanft und lautlos, er ist noch nicht völlig erwacht. Es ist windstill.
Sie beginnt mit ihrem Lauf.
Nachts kommt er immer wieder hierher zurück. Durchquert hier seit Ewigkeiten die Jahreszeiten, momentan den Winter. Seine Rückkehr im hellen Mondlicht wird vom Knacken und Ächzen der Äste begleitet, die sich im kalten Wind wiegen. Eine Weile hält er am Waldrand inne, hat das Gefühl, mit den kahlen Bäumen und dem trockenen Laub unter seinen Füßen zu verschmelzen. Er starrt zum Parkplatz hinüber und verharrt wie hypnotisiert – reglos, schwarz und aufrecht wie die toten Stämme um ihn.
Der Wind rüttelt an seiner Kleidung und bläht seine Jacke auf. Er wartet seit einer Stunde. Ob er noch gut aussieht? Als er heute Morgen in den Spiegel geblickt hat, sah er halbwegs passabel aus. Er schaut selten in den Spiegel. In Gedanken sieht er stets den jungen Mann: schlank, sportlich, strahlend grüne Augen und Haare so schwarz, dass sie im Sonnenlicht bläulich glänzen. Mittlerweile sieht er so erschöpft aus, wie er sich fühlt, grau wie sein Haar, fahl wie seine Gesichtsfarbe. Alt. Nicht wie im letzten Sommer. Kein blauer Himmel, kein Lächeln. Er steht im Schatten.
Es war ihm immer wie ein grausamer Scherz der Natur erschienen, dass sein Herz ein totes schwarzes Loch war, sein Teint jedoch frisch und jugendlich gerötet, sein Lächeln charmant und bezaubernd wie bei Leonce in Büchners Theaterstück Leonce und Lena. Frühling auf den Wangen und Winter im Herzen.
Plötzlich hört er Gelächter hinter seinem Rücken. Er dreht sich um. Der Wald holt tief Luft, um seinen fauligen Atem auszustoßen. Der Vollmond verschwindet hinter Wolken, der Parkplatz versinkt in tiefer Dunkelheit. Sein Puls geht schneller, sein Magen zieht sich vor Angst zusammen.
„Du bist zu Hause“, ruft der Schatten und kommt ihm in der Finsternis entgegen. Eine Stimme, deren Gesicht er nicht finden kann.
Es gibt kein Zurück mehr. Er hält inne. Spürt die Müdigkeit, die Schwere hinter der Stirn, die sich aufzulösen beginnt. Bald wird er schlafen.
Wenn sich der Vorhang für das Finale erhebt …
Sie ist nicht allein.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubt sie, einen Schatten wahrzunehmen. Es läuft ihr kalt den Rücken herunter. Sie erhöht ihre Geschwindigkeit, schaut gelegentlich zurück, aber sie sieht niemanden. Vermutlich nur die letzten Fetzen der Nacht.
Dennoch, da ist etwas. Heute wird sie nur eine Runde joggen, sie will so schnell wie möglich zum Parkplatz zurücklaufen.
Auf den Waldpfaden liegt eine dicke Schicht verdorrter Blätter, eine Hinterlassenschaft des Herbstes. Die Bäume sind blattlos, gespenstisch kahl.
So entsetzlich entblößt ..., denkt sie.
Sie sehnt sich nach dem Frühling, nach den vielversprechenden Knospen an den Zweigen, wo das neue saftige Grün jeden Moment auszubrechen verspricht. Aber bis dahin werden noch ein paar Monate vergehen.
Der belaubte Waldpfad ist kein Problem. Sie kennt die Strecke, kann sie blindlings gehen. Die geübte Joggerin in ihr übernimmt die Führung. Jetzt links abbiegen! Da beginnt der zweite Abschnitt des Pfades.
Doch sie irrt sich, biegt zu früh ab. Das ist ihr noch nie passiert. Sie läuft nicht mehr auf der Hauptstrecke, folgt plötzlich einem unbekannten Seitenpfad.
Dort, wo sich der Wald öffnet, als wollte er sich von sich selbst befreien, ist ein Schatten. Sie läuft weiter, konzentriert sich auf den Schatten. Ihre Schritte werden langsamer, bis sie nur noch auf der Stelle joggt.
Sie starrt auf den Schatten.
Es ist ein Körper. Ein lebloser Körper. Er liegt hinter einem hohen, kahlen Strauch. Der Kopf wirkt seltsam verdreht, das Gesicht kann sie nicht sehen. Dennoch ist etwas an diesem Körper, das ihr bekannt vorkommt. Sie überlegt, wer das da sein könnte, und presst sich eine Hand auf den Mund. Unmöglich!
Sie lässt die Hände fallen, steht regungslos da und lauscht ihrem hechelnden Atem. Dann geht sie ein paar Schritte auf den Toten zu, sucht nach einem Hinweis für den Verdacht, den sie hat, den Blick auf die grausame Wahrheit geheftet. Instinktiv hält sie wieder eine Hand vor den Mund, dann vor die Augen.
Sie muss den Notruf wählen, aber ihre zitternden Hände gehorchen ihr nicht. Sie denkt nicht an den Schrecken, den der Anblick des Todes verursacht hat, auch nicht an den Schrei, der stumm über ihre Lippen kommt. Sie muss von hier fort!
Wo ist der Parkplatz? Wo ist sie zu früh abgebogen? Ein Raubvogel fliegt nah über ihren Kopf hinweg. Der Klang seiner flatternden Flügel kommt ihr ohrenbetäubend vor. Ist das schon der erste Aasfresser? Sie möchte nach etwas greifen, womit sie ihn verscheuchen kann, aber die Tränen verschleiern ihren Blick.
Sie läuft zurück, wird schneller und schneller, das Schluchzen heftiger. Überall sind tote Augen, die sie anstarren. Vorwurfsvolle Augen. Tote, tadelnde Blicke. Ihr ist kalt, obwohl sie schwitzt und außer Atem ist. Sie will sich verstecken, irgendetwas tun, aber sie flieht mit rasendem Atem und weit offenen Augen. Sie will laut schreien, aber es klingt hell und leise. Wie ein geflüsterter Schrei.
Sie erreicht den Parkplatz, ihre Beine versagen, sie bricht zusammen. Die bedrohliche Lähmung, die kreischende Stille und die alles verschlingende Schwärze bringen ihr Schluchzen zum Schweigen.
Manchmal
fliehe ich in die Wolken,
in die dunkle Unendlichkeit,
ich atme nicht
und lasse mich durch die Lüfte tragen.
Manchmal
fliehe ich in die Erde,
durch Erde und Sand
in die Tiefe
und berühre das Herz der Welt.
Manchmal
fliehe ich in die Zukunft,
durch Wolken aus Fantasie
und überlasse mich dem Traum.
Manchmal
fliehe ich in die Vergangenheit,
ich behüte sie,
umarme sie
und lass mich durch die Erinnerungen treiben.
Manchmal
verharre ich im Jetzt,
sehe mich um
und erschaudere
und fliehe … zurück in die Wolken.
Die praktische Ärztin – eine Frau ohne Namen in einem Herbst ohne Regen – hat einen Blick in ihren dunklen Augen, der mir nicht gefällt. Eine Füchsin auf der Lauer. Die Ärztin hinter dem rosa lackierten Tisch thront auf einem Stuhl mit einer hohen Lehne, die ihren Kopf mit dem weiß gefärbten Haar überragt, und klärt mich über die Laborbefunde auf.
Ich höre zu, warte, präge mir jedes ihrer Worte ein. Eine unangenehme Energie durchläuft meinen Körper, immer schneller zucken meine Muskeln, die Synapsen lösen sich aus sich selbst heraus, auf der Suche nach einer Dunkelheit, die mich sicher umschließen wird. Mein Blick irrt durch den Raum. Rosa und weiß. Sommer. Draußen ist Herbst, eigentlich schon Winter. Ich frage mich, welchen Zweck dieser Stuhl wohl erfüllt. Die Lehne passt eher zu einer Modedesignerin, die den ganzen Tag in starrer Haltung an einer Sommerkollektion arbeitet.
Ich kann die Stille, die sich nach ihren letzten Worten an mich klammert, kaum ertragen. „Das kann nicht sein. Das ist unmöglich.“ Ich schüttle meine langen dunklen Locken. Mein Geist konzentriert sich auf das Echo ihrer Worte, überprüft sie noch einmal, jedes einzelne, auf ihren Gehalt hin. „Ich hatte seit zehn Monaten keinen Sex, dachte, es sei der Beginn der Menopause. Bei der Nachbarin meiner Freundin setzte sie nach einer Chemotherapie bereits mit dreißig ein. Ich bin fünfunddreißig.“
Hatte meine Freundin Annika mir das nicht erzählt? Oder war es jemand anders gewesen? Die junge spröde Kollegin aus dem Büro? Sie mustert mich neuerdings auf eine eigentümliche Art, als würde ich mich in einer Nische ihrer Gedanken einnisten, um sie zu bedrohen.
Meine Erinnerung lässt mich neuerdings oft im Stich. Und die Klauen, die meine Brust ständig zusammendrücken, wollen sich auch nicht von mir lösen. Schließe ich die Augen, ist alles weggewaschen, und öffne ich sie? Ja, dann kann alles wieder beginnen. Eines Tages möchte ich das Bewusstsein verlieren, völlig. Mich für ein paar Stunden oder am liebsten für immer in das dichte Gewebe des Rausches fallen lassen, mich davon bedecken, begraben, behüten lassen. Ich weiß, dass das möglich ist.
Warum habe ich nur solche Gedanken? Ob das eine hormonelle Ursache hat? Darüber sollte meine Hausärztin mit mir sprechen. Aber stattdessen verbreitet sie diese Absurdität. Sie muss sich irren. Ich werde einen Facharzt aufsuchen, einen Gynäkologen, der sich mit der Menopause auskennt.
„Sie sind definitiv schwanger, Frau Sandvik. Der Schnelltest ist eindeutig, ebenso die Blutuntersuchung. Ihre Periode ist zweimal ausgeblieben, und Sie haben ein Spannungsgefühl in den Brüsten, sagen Sie. Das sind weitere Indizien für eine Schwangerschaft.“
Ist dir dieser absurde Gedanke nicht auch schon gekommen, Jonte?, meldet sich die innere Stimme, die immer hinter meiner Stirn lauert. Back-Vocal, wie ich meineninneren Peiniger nenne, ist ein Widerling, der mich zu oft quält.
Ich starre die Wände an, und wieder habe ich das Gefühl, in diesem Raum den Sommer zu durchqueren. Eine Schneise in ihn hineinzuschlagen.
„Man wird nicht schwanger ohne Samenspender, ohne Geschlechtsverkehr, außer man ist die Heilige Mutter Gottes“, beharre ich und werde lauter: „Ich bin nicht Maria aus Bethlehem, sondern Jonte Sandvik aus Drammen, und Ihre Diagnose entbehrt jeder Grundlage. Es gibt dafür keine Erklärung!“ Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl hin und her. Es fühlt sich gut an, in Bewegung zu sein.
„Schauen Sie, Frau Sandvik, ob Sie es erklären können oder nicht, Sie sind schwanger, und es wäre besser, das einfach zu akzeptieren.“ Die Ärztin spielt mit dem Kugelschreiber. „Ich würde Ihnen dringend empfehlen, nach Hause zu fahren und in Ruhe darüber nachzudenken. Dann können Sie immer noch entscheiden, was Sie tun werden.“
Ich bin von unangenehmer Kühle umgeben. Habe das Gefühl, dass etwas in meinem Hals Schluckbeschwerden verursacht. Glaubt diese Frau, dass eine Schwangerschaft einem fucking Event gleichkommt? Ich blicke nach unten, auf die Schuhe von Dr. Holge. Sie trägt schwarze Söckchen mit gackernden Hühnern … Jetzt verstehe ich. Keine schlaue Füchsin, sondern ein dummes Huhn, umgeben von einem rosafarbenen Sommer. Hühner glauben, was sie gackern.
Ich gönne ihr die Sekunden Entspannung, aber die Ärztin, die ich aufsuche, soll mir nicht sagen, dass ich schwanger bin.
Kein Erzeuger in Reichweite! Back-Vocal lacht hinter meiner Stirn laut auf.
Ich stehe in der Mitte eines Bildes, das nicht stimmt. Der Raum ist zu warm, zu weiß, zu rosa. Mit der Frau dort stimmt auch etwas nicht.
„Wenn Sie das Kind nicht bekommen wollen, kann ich Sie zum Zwecke einer Schwangerschaftsunterbrechung an einen Gynäkologen verweisen; wenn Sie das Kind bekommen wollen, natürlich ebenso.“
Bestimmt nicht, denn damit hat Klein Jonte nicht gerechnet!
Ich muss fast lachen über Back-Vocals Stänkerei. Das alles hier kann nicht wirklich passieren, nichts davon stimmt. Mir bricht der Schweiß aus allen Poren.
„Überlegen Sie sich das Ganze in Ruhe“, wiederholt sie leise, den Blick auf irgendetwas unten auf dem Boden gerichtet, was ich nicht sehen kann. „Haben Sie Familie oder Freunde, mit denen Sie sich erst mal beraten können, Frau Sandvik?“
Sie weiß nichts von mir, sie kennt mich nicht. Gibt Floskeln an eine Frau weiter, die behauptet, unbefleckt empfangen zu haben. Ich möchte weinen, diese arrogante Frau Doktor austricksen, die mich ansieht, als hätte sie eine dumme Trine vor sich.
Magst du die nette Hühnerfrau etwa nicht?
Ich stehe abrupt auf. Die Ärztin auch. Ich glaube, eine gewisse Erleichterung in ihrem Gesicht zu lesen, aber es ist schwer erkennbar, da ihr selbstgerechter Ausdruck andere Emotionen plattwalzt. Frauen, die ihre Zeit gern hinter einem rosafarbenen Schreibtisch verbringen, zeigen keine mimische Regung. Nicht nach dem Sex, nicht auf der Beerdigung ihrer Mutter.
Dr. Holge hebt den Blick und versucht, mich noch immer davon zu überzeugen, dass ich Mutter werde. „Es ist keine Schande, schwanger zu sein“, sagt sie, und es klingt wie ein Vorwurf.
Ich nicke, reiche ihr die Hand zum Abschied und verlasse wortlos die Praxis.
Einst wollte ich schwanger werden, als ich noch von der Ehe mit Jonas überzeugt war, obwohl er von Anfang an meine zweite Wahl war. J O N A S – fünf Buchstaben – Punkt! Nur ein flüchtiger Moment. Kein Vergleich mit dem Mann, den ich vor Jonas gekannt und verloren habe: Aaron … Ein Name, der für Liebe, Wärme, Vertrauen und Geborgenheit stand. Aaron hätte der zukünftige Vater meiner Kinder werden sollen, denn niemand konnte meiner großen Liebe das Wasser reichen. Nicht im Geringsten. Auch Jonas nicht.
Ein Bild schiebt sich vor die Erinnerung an Jonas. Rosa und Weiß verblassen. Da ist kein Sommer mehr mit Jonas beim Verlassen der Praxis. Ich gleite ab, in die Kälte. Das Dunkel. Den Winter. Grau in Grau.
Wie wird mein Noch-Ehemann reagieren, wenn er hiervon erfährt? Ich versuche, es mir vorzustellen, aber da kommt nichts. Ich sehe keinerlei Reaktion. Denn es wird ihn nicht interessieren. Jonas ist passé, Jonas hat jemand anders. Seit er mir das gesagt hat, habe ich die Dinge nicht mehr im Griff. Welche Dinge? Ich rede von meinem ganzen Leben.
Plötzlich vernehme ich Schritte. Alarmiert fahre ich herum. Mir wird heiß und kalt, mein Gaumen ist trocken und meine Kehle wie zugeschnürt. Doch da ist gar nichts. Kein Psychopath mit weit aufgerissenen Augen, böse und blutbesudelt. Keine masturbierende Kreatur, die mich wie ein Sexspielzeug behandelt und schließlich geschwängert hat. Ich habe mir diese Schritte nur eingebildet. Ein nervöses Kichern entschlüpft meiner Kehle. Wie verrückt ein Lachen in der winterlichen Dunkelheit doch klingt.
Nur noch wenige Schritte bis zum Wagen. Ich sehe mich um. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, einen Schatten wahrzunehmen. Ich sehe noch einmal hin. Nichts.
Warum überfällt mich neuerdings immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden? Verdammt, wer kennt sich schon mit einer Psyche wie der meinen aus?
Ich hätte da eineFrage, nörgelt Back-Vocal.
Ich laufe weiter, Schritt für Schritt, einem anderen Gedanken entgegen, den ich gar nicht wahrhaben will, und ignoriere meine innere Stimme.
Sieben Buchstaben kreisen in meinem Kopf.
Ex-Lover, lacht Back-Vocal, hab ich es erraten?
Einst war ich Jonte Soren, Ehefrau von Jonas Soren, und bin immer noch eine Angestellte im XD Cinema Norge in Drammen, obwohl ich einen Abschluss als promovierte Architektin habe. Ich arbeite gern im Kino und bin immer zu Überstunden bereit. Mit dem Abtauchen in die Welt des Films kann ich für einige Stunden dem Alltag entkommen. Es ist eine Flucht, bei der man sich nicht von der Stelle bewegt – und mit dem Fliehen kenne ich mich aus.
Ich arbeite zweiunddreißig Stunden pro Woche, bin meist auf Diät und lese stets alles, was über Architektur veröffentlicht wird. Wenn ich nicht lese, entwerfe ich am Zeichenbrett ausgefallene Projekte für Architektur-Wettbewerbe.
Ich wollte nach dem Studium ganz bewusst diese Jonte sein und lehnte jede Frage, die in die Richtung dessen ging, was mich inspirierte, konsequent ab. Die meisten Fragen kamen von meiner Mutter, die die Nase über meinen Halbtagsjob rümpft. Sie kann sich immer noch nicht vorstellen, dass ich mich damit begnüge, obwohl ich ein eigenes Architekturbüro und zahlungskräftige Auftraggeber haben könnte.
Dass ich keine Schwierigkeiten hatte, unter meinem Niveau zu arbeiten, wurde von niemandem in meiner unmittelbaren Umgebung verstanden, außer von meinem Ehemann. Jonas war selbst aus freien Stücken kürzergetreten und hatte auf seine Karriere verzichtet.
„Schau uns an“, sagte er manchmal scherzhaft. „Die promovierte Architektin, die in einem Großkino arbeitet, und der kreative Marketingspezialist, glücklich in einem Halbtagsjob an der Volkshochschule.“
Ich wusste sehr wohl, dass ich nicht glücklich war, aber ich nahm es hin und widersprach ihm nie. Wir wohnten in einem Eckhaus, umgeben von einem schönen Garten, und wir nahmen das Leben, wie es kam.
Einst dachte ich, es sei selbstverständlich, dass ich mich um den Haushalt kümmere. Jonas ignorierte im Haushalt jede Arbeitsaufteilung, und ich drängte ihn nicht. Ich hätte lediglich einen sinnlosen Streit entfacht und ihn mit einem Kindheitstrauma konfrontiert, durch das unerwünschte Erinnerungen an das Verhalten seiner Mutter heraufbeschworen worden wären: ein zwanghaftes, manipulatives, hinterlistiges und oft gewalttätiges Verhalten, wie er behauptete. Ein Streit weckte stets seine Verlustangst und lähmte ihn. Das konnte ich sogar nachvollziehen.
Damals hielt ich den Status quo unter Kontrolle, in den ich mich fast atemlos hineinmanövriert hatte. Ich unterdrückte meinen inneren Widerstand und dachte, dass mein Leben auf diese Weise übersichtlicher wäre. Wenn ich ohne Druck hübsche Häuser entwarf und mit den Hauptfiguren aus den Kinofilmen darin lebte, könnte mich nichts unangenehm überraschen. Ich zählte darauf, dass die Geister der Vergangenheit tatsächlich in der Vergangenheit verblieben.
Jonas hatte schon immer Schwierigkeiten, sich zu binden. Er hatte keine Freunde, hielt sein soziales Umfeld auf Distanz und mied besonders den Kontakt zu meiner Mutter.
„Ich mag keine Mütter“, sagte er stets und fügte erklärend hinzu: „Alles in meinem Körper war verknotet, wenn sie in meiner Nähe war. Meine Organe verwickelten sich ineinander und bildeten eine kompakte, schmerzende Kugel. Ihre Stimme hatte immer einen falschen Ton und die Wände in meinem Kinderzimmer eine imaginäre schwarze Oberfläche. Bis meine Mutter starb. Danach leuchtete aus dem Dunkel eine Helligkeit, ein Licht von besonderer emotionaler Kraft, das mein Leben beflügelte. Ihr Tod war für mich wie eine Befreiung. In meinem Leben wird eine Mutter niemals wieder eine Rolle spielen.“
Ich habe immer versucht, es so einzurichten, dass Mom mich besuchte, wenn Jonas nicht zu Hause war. Das Gleiche galt für die Besuche meiner Freundin Annika, die im drei Kilometer entfernten Strømsgodset wohnt. Wir sind seit der Schulzeit befreundet und könnten durchaus Zwillinge sein: Wir sind beide ein Meter siebzig, haben halblanges dunkelblondes Haar, blaue Augen und den gleichen Kleidergeschmack, aber nicht die gleiche Kleidergröße. Annika bleibt mühelos schlank, mir fliegen die Pfunde ebenso leicht zu. Ich muss dauernd auf mein Gewicht achten. Annika ist Single, Stewardess und durchstreift die Welt. Sie trifft überall auf alle möglichen Typen, mit denen sie sich in waghalsige Abenteuer stürzt.
„Du musst alles einmal ausprobieren“, behauptete sie. „Man weiß nie. Vielleicht finde ich meinen Traummann irgendwo in Afrika oder in Alaska.“
„Oder im Kino zwischen zwei Popcornfetischisten“, hätte Mom gewiss darauf erwidert.
Wenn Annika und ich zusammen sind, spricht sie in der Regel, und ich höre ihr zu. Meine Freunde behaupten, ich sei eine gute Zuhörerin. Annika war meine Stütze und Zuversicht, als Aaron, meine große Liebe, mit dem Motorrad gegen einen Baum gefahren war und dabei sein Leben verloren hatte. Ich war dreiundzwanzig, als meine Welt einstürzte. Kein Vogel zwitscherte mehr, der Wald war dicht und finster, das Wasser der Fjorde wogte nicht mehr in Blau und Grün, die Menschen wurden stumm, die Welt stand still. Ich grub diese Stille in mein Gedächtnis, leckte stumm meine Wunden und traf die Entscheidung, mich von allen Gefühlen zurückzuziehen und nie wieder jemanden so sehr zu lieben. Ich hielt mein Versprechen, und Annika wurde meine Zeitzeugin. Aber fünf Jahre später heiratete ich Jonas – eine zweite Wahl.
Annika nahm eine abwartende Haltung gegenüber ihm ein, sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte, weil der Unterschied zu Aaron, meiner ersten Wahl, immens war. Obwohl es ihr gefiel, dass ich meine perfektionierte Nichtansprechbarkeit ablegte, um mich wieder dem Leben zu widmen, hat sie mich oft gefragt, ob Jonas dafür wohl der Richtige sei. So zwang sie mich mehr oder weniger dazu, mich zu erklären.
„Er ist ein sensibler Mann, der von seiner Mutter seelisch missbraucht wurde. Das erklärt seine abweisende Haltung gegenüber den beiden wichtigsten Frauen in meinem Leben.“
Annika gestattete ihm seine Zweifel. Ich habe mich stets positiv über Jonas geäußert, zitierte seine witzigen Anekdoten und schmückte mit Vorliebe seine ungeschickten Versuche aus, zu kochen oder ein Hemd zu bügeln. Das Einzige, was er je zum Haushalt beitrug, scheiterte an seiner Unfähigkeit. Ich wiederholte zudem endlos, wie galant er war, dass er meine Einkäufe trug, mir oft Rosen mitbrachte oder mir grundlos ein Schmuckstück schenkte. Jonas hatte eine sehr liebenswürdige Seite, er verwöhnte und überraschte mich. Wenn er das tat, fühlte ich mich als etwas Besonderes. Ich habe nie mit jemandem über den anderen Jonas gesprochen, über den Mann, der von einem Moment auf den anderen wütend werden konnte und mich dann auf übelste Weise beschimpfte. Seine gewalttätigen Reaktionen kamen immer unerwartet und waren völlig unberechenbar. Diese Seite meines Mannes habe ich nicht verstanden, und ich wollte es auch gar nicht. Ich hatte für mich entschieden, Jonas zu lieben. Er ähnelte in keiner Weise dem Mann, den ich verloren hatte, und das beruhigte mich. Das erlaubte mir, an meine große Liebe zu denken, von Aaron zu träumen, ohne in einen Loyalitätskonflikt zu geraten.
Einst gelang es mir, mit dem Leben, das ich führte, zufrieden zu sein. Dann trat eine Veränderung ein, als Jonas und ich einen Entwurf für einen Wettbewerb einreichten, der mit dem Fritz-Höger-Preis für Architektur aus Mauerwerk, ausgezeichnet wurde. Unser Projekt – das Haus „Transformation“ – war ein Umbau einer in den 1930er-Jahren gebauten Scheune in ein Ferienhaus. Die behutsame und mit nachhaltigen Baumaterialien durchgeführte Transformation überzeugte die Jury. „Mit ihrem Projekt beweist das Architektenduo JO furios, wie man eine Dialektik zwischen Alt und Neu schaffen kann, ohne den identitätsstiftenden Bezug zum dörflichen Umfeld zu verlieren“, hieß es.
Wir nahmen an anspruchsvolleren Wettbewerben teil und gewannen weitere Preise. Unsere Projekte überzeugten durch eine klare Schlichtheit und vermittelten eine erfrischende Leichtigkeit, obwohl es sich um Massivbauten aus Backstein handelte. Die Bauherren wurden allmählich auf uns aufmerksam.
Seit dem ersten Erfolg hat mein Kokon einen Riss bekommen. Nach der Veröffentlichung des Bildbandes über unsere Projekte, der ein Bestseller wurde, gelingt es mir immer weniger, die Außenwelt von mir fernzuhalten und mich abzuschotten.
Die Außenwelt ist ein zu weites, ein zu dunkles, zu verzweifeltes Feld. Für mich zu halsbrecherisch. Ich schaffte es aber immer noch, unterzutauchen und meinen sorgfältig aufgebauten Schutzschild aufrechtzuerhalten, solange Jonas sich mit Unterstützung des Verlages in den Werbezirkus stürzte. Aber eines Tages beendete er unsere Beziehung.
Seit diesem Tag bin ich gezwungen, mich selbst wiederzufinden. Ich muss seinen Namen abschütteln und wieder Jonte Sandvik werden: blaue Augen, dunkelblond mit braunen Strähnchen, die Seele dunkler als Jonas’ Wand aus Kindertagen.
Wenn es besonders schlimm ist, liege ich in der Finsternis des Schlafzimmers, starre mit trockenen Augen in das Schweigen des Raumes und versuche, mich an Aaron zu erinnern. Ein Erinnerungsfetzen ist wie eine heftige, fast greifbare Spannung, die in der Luft hängt, schmerzhaft wie Nadelstiche. Nichts darf meine Gedanken in diesen Augenblicken stören, sonst verliere ich das Bild, das sich mir offenbart: ein Bett – und Aaron, vollkommen auf dem Weiß, der mich liebevoll umarmt, mich innig küsst. Dann schließe ich meine Augen, und auf meine Iris wird sein Lächeln projiziert. Nun kommt er durch die Schlafzimmertür auf mich zu. Ich sehe seine Silhouette. Seinen Schatten. Und denke: Gleich wird er aus dem Schatten heraustreten und wieder bei mir sein. Lächelnd, um mich zu trösten. Und ich weiß: Ich bin immer noch auf der Suche nach den verlorenen Momenten unserer Liebe, die ein so jähes Ende fand.
Manchmal, wenn Mom den Mut aufbringt, fragt sie, wie sein Tod für mich war. Ich antworte, dass es schwer war, und belasse es dabei. Ich könnte ihr auch sagen, dass es wie eine innerliche Kreuzigung war. Ich könnte ihr erzählen, dass ich in den Tagen danach fast ohne Unterbrechung geweint habe, selbst im XD Cinema – auch wenn ich dort den Mund geschlossen hielt und kein Geräusch von mir gab, sodass die Tränen nach innen flossen. Ich könnte Mom sagen, dass ich jede Nacht von Aaron träume und dass ich ihn an jedem Morgen erneut verliere. Doch warum sollte ich Mom den Tag verderben? Folglich sage ich ihr nur, dass es schwer war. Das stellt sie in der Regel zufrieden. Es ist bloß ein Albtraum, und er treibt mich aus dem Bett. Zitternd.
Seit jenem Tag interessiere ich mich nur noch für die Dinge oberhalb meines Halses: das Gehirn, das Bewusstsein, das Wissen, die Überlegung, das Gedächtnis, die Identität – und das Übel. Es kam zurück, als wäre es nie fort gewesen, als hätte ich keinen einzigen Tag ohne es verbracht. Es hatte mich in meinem Geisterturm der Schrecken nie vergessen.
Seit dem Tag bin ich auf der Suche nach einem für mich geeigneten Unfall.
Meine Mutter ist schockiert, obwohl sie versucht, das mit einem Lächeln zu überspielen. Sie hat natürlich Fragen. Eine steht sofort im Raum.
„Schwanger? Das habe ich nicht erwartet. Du hast schon seit Längerem nicht mehr von einem Kinderwunsch gesprochen. Was hält Jonas davon?“
Sie kneift die Augen zusammen. Als könnte sie dann klarer sehen.
Ich atme tief durch und wäre jetzt lieber das kleine Mädchen, gut zugedeckt im warmen Bett, dass einen Gutenachtkuss von der Mutter bekommt.
Mein Blick schweift durch das Wohnzimmer. Halbherzig, widerwillig. Hilflos. „Jonas und ich haben uns vor fünf Monaten getrennt, Mama“, sage ich leise.
Das Gesicht meiner Mütter spricht Bände. „Wie bitte? Was sagst du da? Wieso erfahre ich erst jetzt davon?“
Ich lächle. Zum ersten Mal an diesem Tag fühle ich wirklich ein Lächeln. Ein fremdes, fernes Gefühl, das plötzlich ganz nah ist – unmittelbar auf meinen Lippen.
Mit solch einer Mutter hat man echt Glück, hat Annika mal behauptet. „Mit ihr hast du es prima getroffen.“ Muss es nicht heißen, dass meine Mutter es mit mir gut getroffen hat? Nein, Annikas Variante ist wohl zutreffender, denn ich bin alles andere als ein Glückskind für Eltern.
Mom ist eine wunderbare Mutter. Sie stapft an den Wochenenden stundenlang durch den Wald. Früher erzählte sie mir nach ihrer Rückkehr stets Geschichten von blauen Drachen, Lebensbäumen, Zauberern und Geistern, die sie in den Wäldern getroffen hätte. Ich hörte ihr aufmerksam zu und versuchte, hinter den Figuren, die auf der Bühne ihrer Fantasie zu leben begannen, die Erzählerin zu finden.
Seit dem Tod meines Vaters sind wir füreinander da und versichern einander, dass es uns doch gut geht, dass Jonas ein sympathischer Mann und dies ein reizendes Haus ist, und das ist es ja auch. Dass das Wetter stets wunderbar ist, obwohl im Winter die Kälte erbarmungslos in unsere Knochen dringt. Dass der Fjord und die Wälder atemberaubend sind, auch wenn ich da widerspreche.
Manchmal wird meine Brust plötzlich eng, meine Wangen warm, kurz bleibt mir die Luft weg, dann verscheuche ich die Gedanken, die mich wie Waldgeister plagen. Sie verschwinden widerstrebend, murmelnd, kichernd – und ich kann wieder atmen. Bin wieder ich, in meinem Wohnzimmer.
Meine Mutter versucht, den Sinn meiner Worte zu verstehen. Ich fühle mich unbehaglich und blicke aus dem Fenster. Im Hintergrund, am Ende des Gartens, liegt wie ein Trugbild der Fjord. Nur für mich und aus einem einzigen Grund. Damit ich ihn sehen kann: den eisblauen Fjord, der gerade erst ausgebreitet worden ist wie ein dunkelblauer Teppich.
Es war dumm von mir, meiner Mutter und auch Annika die Trennung von Jonas bis heute verschwiegen zu haben. Mom hat mir nie Vorwürfe gemacht, das ist nicht ihre Art. Sie gibt mir lieber stumm das Gefühl, es verbockt zu haben. Warum Kassiererin im Großkino? Zu stressig, demotivierend, unter deiner Würde. Es kommt nicht oft vor, dass Mom ihre Meinung ändert. Aber jetzt ist sie für mich da, und das war schon immer so.
Mom schüttelt langsam den Kopf. „Du wirst mir doch jetzt nicht weismachen wollen, Jonte, dass du dich schämst, weil du dich scheiden lässt? Hast du es mir deshalb verschwiegen?“
„Jonas hat die Entscheidung getroffen, mich zu verlassen. Über Scheidung haben wir noch nicht gesprochen.“
„Und worüber habt ihr gesprochen?“
„Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er ausgezogen ist. Er hat mich zwar zweimal angerufen, um zu fragen, wie es mir geht, aber ich weiß nicht, wo er wohnt oder mit wem er zusammenlebt. Er möchte seine Ruhe haben und hat mir versprochen, dass er vorbeikommen wird, wenn er sich über unsere Situation im Klaren ist.“
„Bist du dir denn sicher, dass er eine andere hat, Jonte?“
Mir wird leicht übel, aber ich lächle, blinzle. „Ja, das hat er mir ins Gesicht gesagt, als er mich verlassen hat.“
An jenem Tag wirbelte sein Geheimnis ungezügelt durch das hell ausgeleuchtete Haus. Jonas wartete bereits auf mich. Als ich von der Arbeit nach Hause kam und die Haustür öffnete, spürte ich auf einmal, dass meine Welt jeden Augenblick einstürzen würde. Ich konnte das Übel riechen.
Jonas saß stocksteif in seinem Sessel. Neben ihm standen wie zähnefletschende Hunde zwei große schwarze Koffer, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Hand strich nervös entlang der Oberseite eines der Koffer, als müsste er sich seines Aufbruchs vergewissern.
Ohne Umschweife kam er zur Sache. „Ich gehe. Ich habe lange darüber nachgedacht. Es liegt nicht an dir. Es hat nur mit mir zu tun, und ich hätte es dir schon früher sagen sollen. Aber ich wusste nicht wie. Es tut mir leid. Das musst du mir glauben.“ Die banalen Worte waren unaufhaltsam aus ihm herausgeströmt.
Ich setzte mich auf einen der Esstischstühle und starrte ihn an, hasste diesen Mund, aus dem der Wortschwall gekommen war, seine Stimme, seine Gesten, aber vor allem mein Zittern. „Fährst du in den Urlaub?“ Eine lächerliche Frage, aber es war die einzige, die mir einfiel.
„Nein, Jonte, ich gehe für immer. Ich verlasse dich. Es ist vorbei. Dir ist doch auch aufgefallen, dass es zwischen uns schon seit Längerem nicht mehr so gut läuft. Wir reden kaum noch miteinander, wir berühren uns nicht mehr. Wir machen nichts mehr zusammen. Was hat das alles noch mit einer Ehe zu tun?“
Ich wollte sagen, dass er kaum noch mit mir sprach, dass jeder Versuch meinerseits, ein Gespräch zu beginnen, seit Monaten nur noch in einer irritierten Reaktion endete, dass er mich monatelang nicht mehr berührte und dass selbst bei einem leichten körperlichen Kontakt zwischen uns, ein Widerstreben von ihm ausging. Ich hatte Lust, die Einflüsterungen von Back-Vocal hinauszubrüllen, ihm zu sagen, dass er nachts nicht zu Hause war, ohne mir zu sagen, wo er sich aufhielt, dass er sich nicht mehr die geringste Mühe gab, mich als Mensch wahrzunehmen. Aber ich schwieg.
Er stand auf. „Ich glaube, wir sollten uns vorerst auf den telefonischen Kontakt beschränken. Später können wir über die Aufteilung unserer Sachen und die Scheidung sprechen. Ich bin für dich in jedem Fall über das Handy erreichbar.“
„Wo wirst du denn wohnen?“ Ich wollte die Antwort eigentlich gar nicht wissen.
Er lächelte vage. „Bei meiner neuen Liebe. Ja, ich bin meiner großen Liebe begegnet. Es tut mir leid, Jonte, aber du bist es nie gewesen. Es ist nun mal, wie es ist. Es liegt nicht an dir. Du bist okay.“
Plötzlich wurde mir die Möglichkeit des Todes bewusst oder vielmehr die Tatsache, dass der Tod jederzeit eintreten konnte. Und während er dasaß und mir das Gefühl gab, bei vollem Bewusstsein ins offene Messer zu laufen, hatte ich seine Beerdigung vor Augen. Ich stand kerzengerade vor seinem Sarg, als er ins Grab hinabgelassen wurde, nahm später Beileidsbekundungen entgegen und lächelte innerlich hinter einem unterdrückten Schluchzer.
Du bist okay. Ich hatte das mal schon mal im Kinofilm „Kramer gegen Kramer“ gehört und fühlte mich beiseitegeschoben, wie Dustin Hoffmann von Meryl Streep. Weggeworfen, wertlos, lächerlich.
Jonas nahm seine beiden Koffer und ging zur Tür. „Mach’s gut, Jonte. Ich rufe dich an. Pass gut auf dich auf.“
„Wie soll es denn geschäftlich weitergehen?“, rief ich ihm hinterher und holte einmal tief Luft, wappnete mich.
Er drehte sich um, stellte die Koffer wieder hin. „Geschäftlich ändert sich vorerst nichts.“
Plötzlich spürte ich, wie mein Herz heftig schlug.
„Wir können nicht mehr zusammenleben, aber wir können doch nach einer kleinen Pause weiter gemeinsam Projekte entwerfen.“ Er sah mir direkt in die Augen. „Wir zwei sind immerhin ein sehr erfolgreiches Duo.“
Aha, ein Duo also, aber kein Paar mehr.
Was gehört eigentlich zu einer guten Ehe? Schamlosigkeit, Unbekümmertheit, Gerüche, Stille, berauschende Augenblicke ... Mir fehlen die Bilder in dieser Ehe, die Farben und die Geräusche, Vertrautheit, Verlangen, ein Lächeln, das Lachen und die Tränen. Aaron war das Glück gewesen. Bei ihm habe ich die Liebe gespürt. Habe all diese Dinge erlebt …
Der Schmerz findet immer Antworten.
Jonas räuspert sich. „Jonte?“
„Was zählen diese Erfolge, wenn darüber die Ehe kaputt geht?“ Meine Stimme klingt verzerrt.
„Ach, Jonte, lass das doch. Als Architektenduo sind wir längst sehr erfolgreich. Das sollten wir nicht aufgeben. Oder denkst du plötzlich anders darüber?“
Wieder ließ ich mich von ihm in seine Welt ziehen, in der ich immer tiefer versank, bis ich vollständig untergegangen war. „Nein.“ Meine Antwort kam aus der Tiefe.
„Na also, das meine ich doch auch. Ich zähle auf dich. Nach wie vor. Wir werden gemeinsam berühmt und reich werden, Jonte. Lass uns daran nicht rütteln, bitte.“
Dann war er fort.
Stunden später erwachte ich mitten in der Nacht und suchte nach einer Stimme in der Stille, bis langsam die Erinnerung zurückkam, die mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Und doch war ich mir meines Gedächtnisses nicht sicher …
Meine Mutter holt mich in die Gegenwart zurück. „Ist wirklich alles zu Ende?“, will sie wissen und sieht mich einen Moment an. Versucht zu verstehen. „Wollt ihr euch denn auch als Architektenduo trennen?“
„Nein, wir werden erst einmal etwas Abstand finden, wollen aber dann weitermachen wie bisher.“ Ich höre, dass meine Worte nicht allzu überzeugend klingen.
„Willst du das denn, Jonte? Schaffst du das, ihn irgendwann weiterhin zu sehen?“
Ein wohlbekanntes Pfeifen bohrt sich mir langsam in den Gehörgang. „Warum sollte ich das nicht schaffen, Mom?“
„Weil du es nicht erträgst, verlassen zu werden, und weil es dich in der Vergangenheit jedes Mal aus der Fassung gebracht hat.“
„Du meinst meine depressive Reaktion auf den Verlust von Aaron?“
„Ich meine deine Reaktion auf den Verlust deines Vaters.“
Jonas blieb nach dem Tod seiner Mutter bei seinem Vater, und mir gefiel der Gedanke an die behütende Gegenwart eines neuen Vaters. Ich vermisste meinen Vater, der damals schon viele Jahre tot war. Mein fröhlicher, schelmischer, fleißiger Supervater, der Mom auf Händen getragen und mich meine Prinzessin genannt hatte.
Ich war elf, als er eines Abends im Dezember nicht rechtzeitig vom Polizeidienst zum Abendessen nach Hause kam. Meine Mutter glaubte, dass er wieder mal mit jemandem zu verbissen über Fußball diskutierte, er war von Fußball besessen und verlor dabei oft jedes Zeitgefühl. Doch die Wahrheit war nicht so amüsant: Ein Lastwagen hatte ihn erfasst und schwer verletzt beiseitegeschleudert. Nach dem Unfall wurde er vom Dienst freigestellt, da eine bleibende Behinderung ihn arbeitsunfähig machte.
Die wahre Tragödie geschah aber erst drei Jahre später, als er sich das Leben nahm.
Meine Trauer über seinen Tod zeigte sich erst in voller Stärke, als ich Jonas’ Vater Tore traf. Im Nachhinein verstehe ich immer noch nicht, wie ich zu dem Schluss kommen konnte, dass dieser Mann die Leere, die mein Vater in mir hinterlassen hatte, füllen könnte. Als die Beziehung mit Jonas ernster wurde, leistete ich mir diesen Trugschluss. Doch beim Anblick dieses Mannes stürzte ich ab. In einem entlegenen Winkel meines Hirns öffnete sich eine Tür, hinter der die Trauer auf mich wartete.
Jonas bereitete mich auf die Begegnung mit den Worten „Mein Vater ist ein stiller, introvertierter Mann“ vor, und so hoffte ich auf einen Mann, der sich klug und überlegt an unserem Gespräch beteiligen würde. Ich dachte, dass wir Freunde werden könnten, denn er war auch noch Polizist wie mein Vater. Aber der Begriff stiller Mann erwies sich als glatte Untertreibung. Jonas’ Vater war geradezu stumm. Er sprach so gut wie gar nicht mit uns. Er schlich durch das Haus, als wollte er sich unsichtbar machen, seine Schwermut tropfte überall zu Boden. Oft dachte ich, er wäre nicht zu Hause, dabei hatte er sich nur in seiner Bibliothek verkrochen.
„Er verbringt die meiste Zeit mit seinen Büchern“, erklärte Jonas. „Papa war Leiter der Polizeidienststelle Drammen, aber die Arbeit hat ihn zermürbt. Er hat die Gewalt nicht mehr ausgehalten und wurde deswegen von Kollegen gemobbt. Eines Tages gab er auf. Er konnte sich auch nicht mehr gegen meine Mutter behaupten, die den Ehezwist zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatte. Nach ihrem Tod hat er sich als Lehrer versucht, aber die ständigen Auseinandersetzungen mit den Schülern waren seinem Seelenfrieden nicht gerade förderlich.“
Eine Zeit lang suchte ich in mir nach einer Möglichkeit der Betäubung und wünschte mir, ich könnte in den Bewegungen dieses Mannes, in seiner Langsamkeit, die an Benommenheit grenzte, ein wenig von meinem eigenen Vater aufspüren. Doch da war nichts.
Meine hohen Erwartungen an diesen neuen Vater erwiesen sich als arge Enttäuschung und aktivierten jenen Teil meiner Erinnerung, den ich besser hätte ruhen lassen sollen: meine Trauer und meinen Schmerz. Meine Schuldgefühle. Verlust, Verzweiflung und Wut tauchten aus der Tiefe auf und bahnten sich einen Weg an die Oberfläche. Ich hatte keinen Panzer mehr. In den ‚kalten Winterjahren‘ waren meine Emotionen verbrannt.
Durch die Begegnung mit diesem lebenden Gespenst wurde ich plötzlich erneut zu dem zwölfjährigen Mädchen, das voller Angst die Haustür geöffnet hatte, um Polizisten ins Haus zu lassen, die den Freitod meines Vaters bestätigen mussten. Mein Widerstand gegen die Trauer war nutzlos gewesen, ich landete im Abgrund tiefster Verzweiflung, sobald ich meinen Vater im Sarg liegen sah.
Nach dem Unfalltod von Aaron, meiner großen Liebe, hatte Mom mir die Adresse der Psychologin gegeben, die sie nach dem Tod meines Vaters in Anspruch genommen hatte. So lernte ich Dr. Nora Bergström kennen.
„Eine späte Trauer ist eine wuchtige und rohe Trauer. Eine, die selbst körperlich schmerzt“, dozierte Dr. Bergström. „Sie müssen die Trauer akzeptieren, sie sozusagen erlernen. Sie brauchen diese Fähigkeit, um zu überleben, falls Sie jemanden durch den Tod verlieren. Oder wenn Sie verlassen werden.“
Verlustängste steigen immer aus einem betäubenden Schlaf auf, sie riechen schlecht. Sie breiten sich im ganzen Körper aus, beschleunigen den Herzschlag und schrecken vor nichts zurück. Nach meinem Besuch bei der Psychologin musste ich mich zwingen, in den darauffolgenden schlaflosen Nächten nicht ständig aufzustehen. Ich streckte mich in der Dunkelheit, drehte und wälzte mich und wartete auf den Morgen, der mich von meiner Angst befreien würde. Schließlich kam der Morgen, an dem ich eine Entscheidung traf: Ich wollte nie wieder verlassen werden.
Aber da war noch etwas. Ich spürte in mir blinden Zorn aufsteigen, etwas Wildes, Dunkles überfiel mich. Etwas, das ich seitdem nie wieder in den Griff bekommen habe.
Meine Mutter geht auf meine Äußerung nicht ein, sie benimmt sich, als hätte ich das Substantiv Schwangerschaft nie erwähnt.
„Du hast gerade große Ähnlichkeit mit einem Wischmopp, Jonte“, ist ihr einziger Kommentar. Dann stürzt sie sich auf die Zubereitung gesunder Ernährung. Ich höre sie in der Küche rumoren, ich verharre still in meinem Sessel.
Es fühlt sich seltsam an, plötzlich über Jonas’ Fortgehen zu sprechen. Ich hatte bis heute niemandem davon erzählt, hatte nicht die Kraft dazu. Aber ich kann es nicht mehr länger leugnen. Solange ich die Trennung nicht erwähnt habe, konnte ich den Dingen ihren Lauf lassen, einfach so, als wäre nichts geschehen. Ich konnte immer noch glauben, dass alles in Ordnung sei. Aber jetzt, da ich es ausgesprochen habe, ist die Trennung Realität geworden.
Ich werde mich wie damals in mein inneres Dunkel zurückziehen und die Füße zwischen Verständnislosigkeit und Zorn baumeln lassen, weil ich nicht weiß, was ich sagen oder tun soll. Weil das alles meine Kräfte übersteigt.
Jonas war mehr oder weniger ein Mann, der von seiner Mutter verlassen worden war und deshalb stets große Schwierigkeiten hatte, Beziehungen mit Frauen einzugehen. Das habe ich immer geglaubt. Auch, dass ich die Frau war, die es verstand, seinen Widerstand zu durchbrechen. Die Frau, die ihn eroberte, die die Schatten der Vergangenheit vertrieben und ihn zu dem Mann gemacht hat, der er schon immer sein wollte.
Wir sind immer noch das Architektenduo JO, das einen hoch dotierten Wettbewerb gewonnen hat und seitdem mit Anfragen und Aufträgen bombardiert wird. Ich zeichnete nach Dienstschluss, und Jonas entwarf nach meinen Vorschlägen das Interieur.
Es war meine Idee gewesen, uns für eine Ausschreibung zu bewerben. Jonas zögerte anfangs, aber dann las er den Namen der Stiftung und war von der Idee begeistert.
„Wir werden die deutsche Ausgabe von Norman Foster“, jubelte er vor nicht allzu langer Zeit, als hätten wir gemeinsam den Beweis für das perfekte Paar erbracht. „Bald werden alle über uns, das Architektenduo JO, sprechen, Jonte. Dann werden wir der Aufmerksamkeit der Medien nicht mehr entkommen können. Jeder weiß, dass JO aus zwei Personen besteht. Ich kann die PR-Trommel nicht mehr alleine rühren.“
Ich wollte nie in die Marketing-Aktivitäten eingebunden werden. Jonas hingegen nahm diese Aufgabe gerne wahr. Er genoss die Aufmerksamkeit, die das Projekt Bauhaus erregte. Ich lernte einen anderen Jonas kennen: einen Mann, der selbstbewusster denn je war, der aus sich herauskam; einen Mann, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
Der Verleger unseres Architekturbandes stellt mir manchmal immer noch neugierige Fragen über die Ursache meiner Medienangst, davon überzeugt, dass die Ursache Angst sei.
„Ich stehe nicht gerne in der Öffentlichkeit, und Jonas ist durchaus in der Lage, für uns beide zu sprechen“, erkläre ich dann stets.
In den letzten Wochen vor unserer Trennung wurde Jonas immer fröhlicher, strahlte förmlich. Ich glaubte, es sei wegen des Erfolgs, wegen des Geldes, das uns plötzlich zufloss, wegen der Chance, uns hauptberuflich der Architektur widmen zu können.
Jetzt ist Jonas fort, er lebt mit jemand anders zusammen. Wir sind nur noch geschäftlich miteinander verbunden. Und da liegt das Problem. Jonas hat unser Büro erst einmal auf Eis gelegt, obwohl ein drittes Projekt geplant ist. Aber Jonas ist auf einer Falling-in-Love-Tour. Er schwebt auf Wolke sieben durch das Leben, seit er seine große Liebe gefunden hat. Ich kenne nicht einmal ihren Namen, weiß nicht, wo sie wohnt oder wie sie aussieht.
Oder ob sie Kinder will?, stichelt Back-Vocal. Biete ihnen doch deines an.
Sobald meine Gedanken diesen Punkt erreichen, liegen meine Hände auf meinem Bauch. Es kann nicht sein, es ist unmöglich. Wie und wann hätte das passieren sollen?
Ich zermartere mir mein Hirn, das kurz vor einem Kollaps steht. Was habe ich vor nahezu vier Monaten angestellt? Mit wem hatte ich Geschlechtsverkehr? Die Antwort ist stets dieselbe: mit niemandem.
Ich hatte mit niemandem Sex, seit ich allein lebe. Ich bin ausgegangen und habe lediglich einmal in einer Kneipe mit einem jungen Mann heftig geknutscht. Das war alles. Obwohl der Typ attraktiv war und mich zu sich nach Hause einlud, lehnte ich den Sex mit ihm ab.
Was aber ist vor vier Monaten passiert? An drei Abenden hatte ich zu viel getrunken, konnte nicht mehr nach Hause fahren und nahm mir ein Taxi. Allein! Da bin ich mir sicher. Verdammt, wieso bin ich dann schwanger?
Ich bin wütend und versuche abzuschätzen, wie gefährlich gerade mein Zerstörungspotenzial ist.
Es kann nicht sein, sage ich mir immer wieder.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter, ich zucke zusammen.
„Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“, fragt Mom.
Ich schlucke. „Ich bin schwanger, Mama, und weiß beim besten Willen nicht, wie das sein kann?“
„Verhütest du denn nicht sowieso? Du nimmst doch die Pille, oder?“
„Nein. Ich vertrage sie nicht.“ Ich kann mir kaum vorstellen, dass Mom auf weitere intime Erklärungen dringen wird und mich über das Benutzen von Kondomen ausfragt.
„Du weißt nicht, wer der Vater ist?“
„Nein.“
„Du weißt nicht einmal mehr, mit wem du zusammen warst? Puh, Jonte.“
„Ich bin seit mindestens zehn Monaten nicht mehr mit jemanden zusammen gewesen. Jonas hat mich in den letzten Monaten unserer Ehe nicht mehr berührt, und nach seinem Auszug ist nichts mehr in dieser Richtung passiert.“
„Aber das ist doch gar nicht möglich, Jonte. Der Wind hat dich ganz sicher nicht bestäubt.“ Meine Mutter zögert einen Moment. „Warst du schon mal so betrunken, dass du dich nicht mehr daran erinnert hast, mit wem du womöglich Sex hattest?“
„Nein. Ich bin sicher, dass so etwas nicht passiert ist.“
Sie schüttelt den Kopf. „So wie du das formulierst, hört es sich eher unsicher an. Schließlich muss etwas in dieser Richtung vorgefallen sein. Du wirst doch wohl nicht der Ansicht sein, dass du ohne Sex schwanger geworden ist?“ Sie spricht mit mir, als hätte ich nicht mehr alle Sinne beisammen.
So fühle ich mich auch. Aber da ist noch etwas anderes. Ich habe plötzlich keine Angst mehr. Denn ich habe in diesem Moment eine Entscheidung getroffen: Ich werde einen Mord begehen. Das Leben in mir hat mich zum Töten inspiriert. Fast muss ich lachen. Und ich merke, dass die Angst, die ich bisher kannte, in den Hintergrund gerückt ist.
Du hast keine Angst mehr? Hahaha!
Lach nur! Ich habe vor niemandem mehr Angst - schon gar nicht vor Jonas. Ich fühle mich dazu imstande, ein Leben zu beenden, und dieses Wissen gibt mir Kraft. Denn ich spüre, dass ich die Stärkste, die Klügste, die Kaltblütigste bin. So wollte ich schon immer sein.
Wow, sie hat wirklich keine Angst mehr! Da krieg ich ja Angst …
Es spielt keine Rolle, was Jonas plant, was er denkt. Es spielt keine Rolle, wovon er träumt oder was er noch für sein Leben plant. Es spielt keine Rolle, ob er sich schuldig fühlt oder sich jemals traut, herauszufinden, was ich getan habe. Es spielt keine Rolle mehr, denn ich werde ihn vernichten, auslöschen. Töten.
Annika hat sich für heute Abend angekündigt. Ich vermute, dass meine Mutter sie auf mich angesetzt hat.
Nach der Dusche mustere ich mich vor dem Spiegel von Kopf bis Fuß. Meine Taille ist breiter, mein Bauch runder, meine Brüste fühlen sich schwer an. Die Waage zeigt eine Gewichtszunahme von fast drei Kilo. Bravo!
Vielleicht bildest du dir das Kind ja nur ein, um eine Entschuldigung für deine Fressattacken zu haben.
Im Haus ist es ruhig, als wäre in den vergangenen Monaten nichts Erwähnenswertes geschehen. Ich ziehe mich an, gehe ins Schlafzimmer. Die Vorhänge sind geöffnet. Seltsam …
Wenig später stehe ich im Flur. Es riecht nach Putzmittel. Der Geruch ist wie ein Trigger, der unschöne Gedanken in mir auslöst. Wieso? Ob die Schwangerschaft meine Sinne geschärft hat und zugleich meine Gedanken vergiftet?
Ich überprüfe das aufgeräumte Wohnzimmer und die Küche. Alles perfekt – zu perfekt. Ich öffne die Küchenschränke und durchsuche sie, danach die Schränke im Wohnzimmer. Ich weiß nicht genau, wonach ich suchen soll, aber ich erhoffe mir einen Hinweis, warum ich schwanger bin.
Im Schrank, Jonte?, höre ich die Stimme hinter meiner Stirn. Vielleicht haust der geheimnisvolle Erzeuger ja in deinem Kleiderschrank!
Ich gehe die Treppe hinauf und schaue, wie verrückt es auch sein mag, im Kleiderschrank nach, schüttle den Kopf über den Wahnsinn, und sehe kurz aus dem Schlafzimmerfenster. Die Straße ist menschenleer, bis auf einen Schatten in gut dreißig Metern Entfernung, der von der gegenüberliegenden Straßenseite aus anscheinend in meine Richtung sieht.
Ich schließe die Augen und streiche mit den Fingern über das Fensterbord. Dann schlage ich die Augen ganz schnell wieder auf und sehe noch einmal hin. Die Straße ist verwaist. Ich bleibe einen Moment wie erstarrt stehen, bis mir Tränen in den Augen brennen, und ich begreife, dass es eine Halluzination gewesen sein muss. Diese verdammte Schwangerschaft! Jetzt kann ich nur noch beobachten, lauschen und warten. Darauf verstehe ich mich inzwischen sehr gut, aufs Warten.
Im Lauf der vergangenen Monate habe ich eine Menge gelernt und mir diese nützliche Fähigkeit angeeignet. Warten auf Jonas.
Alles in diesem Haus riecht nach Verzweiflung, nach Einsamkeit, aber gewiss nicht nach Wahn. Warum hat Jonas beim Abschied gelächelt? Um mich zu irritieren? Oder war es nur meine tief greifende Verwirrung? Er steht immer neben mir. Ich sehe ihn überall: im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, im Badezimmer. Überall.
Diese plötzliche, intensive Gewissheit, ihn zu vermissen, und diese Absurdität, schwanger zu sein, bringen mein Gemüt erheblich aus dem Lot. Auch fühle ich mich schuldig, weil ich schwanger bin, und ich höre sie im ganzen Haus über mich lachen: Mom, Jonas, seine neue Liebe, Annika. Schwanger, und ich finde nirgendwo einen Hinweis. Alle Spuren sind verwischt … Nichts. Keinen einzigen Hinweis.
Im Untergeschoss gehe ich in den Wintergarten. Neben dem Kamin liegt das Holz gestapelt. Vor den weiß gekalkten Backsteinmauern stehen die Bücherregale. In der Mitte des Raumes eine einladende Couch. Ich zünde den Kamin an, betrachte die vielen Bücher, die Jonas und ich im Laufe der Jahre gelesen haben. Wir haben hier viele gemeinsame Abende verbracht und uns unterhalten, während die Abenddämmerung langsam in Dunkelheit überging, mit den Büchern und meiner Zeichentafel als stille Zuhörer.
Plötzlich zucke ich zusammen. Ich höre ein Geräusch. Ein Rascheln? Schritte? Ja, ich bin mir sicher. Jemand schleicht ums Haus, durch den Garten. Verdammt! Ich werde eine Alarmanlage einbauen lassen, denn dieser Bereich des Hauses stellt geradezu eine Einladung für Einbrecher dar.
Einbrecher! Dass ich diese Möglichkeit nicht früher in Betracht gezogen habe. Ob ein Einbrecher vor vier Monaten die rote Linie überschritten hat? Aber daran müsste ich mich doch erinnern? Das lässt man doch nicht im Schlaf mit sich geschehen!
Ich gehe hastig zur Küchentür, remple in meiner Panik eine Salatschüssel von der Anrichte. Sie zerbricht auf dem Steinboden in unzählige Glasteile. Ich zucke die Schultern.
Verschließ die Küchentür! Bring dich in Sicherheit!
Als ich einen Blick durch das Fenster riskiere, stoße ich einen Schrei aus, wie ein in die Falle getriebenes Tier. Eine Frau späht durch eine der Butzenscheiben. Ich erkenne sie an ihrem zarten Körperbau.
Mein Herz rast, als ich die Küchentür öffne. „Verdammt, Annika! Warum klingelst du nicht einfach an der Haustür?“
Sie sieht mich entgeistert an. „Hab ich, aber du hast mich wohl nicht gehört.“ Sie geht an mir vorbei und wirft einen Blick auf die Scherben.
„Ich habe sie gerade zerbrochen“, gestehe ich. „Es war ein Versehen.“
Annika lacht. „Das sagen alle.“ Dann drückt sie mich überschwänglich und fängt gleich darauf an, mir einen frischen Orangensaft zu pressen.
„Ich werde dich mit Vitaminen vollstopfen“, kündigt sie an, „und dir etwas Leichtes zubereiten. Du solltest deinen Magen jetzt nicht überstrapazieren. Hast du heute schon etwas gegessen?“
Sie weiß es bereits!
„Ein paar Käsecracker und kurz vor der letzten Vorstellung ein Sandwich, das mir eine der Kassiererinnen angeboten hat. Das Kino war heute ein wahres Irrenhaus. Ich habe das Gefühl, dass meine Beine abgestorben sind. Alle wollten Popcorn und Cola. Ich bin nur noch hin und her gerannt.“
Sie streicht mir liebevoll über den Rücken. „Verstehe. Deine Mutter hat mir erzählt, was los ist“, erklärt Annika. „Schäm dich, Jonte, du hättest dich mir längst anvertrauen können. Es ist keine Schande, wenn dein Mann dich einfach so verlässt, und es spielt auch keine Rolle, wenn du unerwartet schwanger wirst.“
Ich atme erleichtert auf.
„Aber was ist das für eine seltsame Sache, dass du nicht weißt, wer dich geschwängert hat?“, fragt sie fast beiläufig und grinst mich dabei mit einem wissenden Blick in den Augen an. „Bist du um die Häuser gezogen, und das Ganze ist außer Kontrolle geraten?“
Nein, keine Sensationsgier, die Frage klingt ernst. Einladend. Du kannst es mir ruhig sagen, Jonte, entnehme ich dem Klang ihrer Stimme, du musst dich für nichts schämen, geschweige denn entschuldigen. Annika weiß, dass ich manchmal meinen Alkoholkonsum nicht unter Kontrolle habe. „Ich bin mit keinem Mann ins Bett gehüpft. Dass ich nicht weiß, von wem, ja nicht einmal, wie ich schwanger wurde, fühlt sich scheußlich an, als wäre ich auf eine unglaublich brutale Weise missbraucht worden. Es fühlt sich schmutzig an.“
Annika nickt. „Möchtest du das Kind behalten?“
Ich zucke zusammen. „Das weiß ich nicht. Mein Arzt meint, dass ich mir erst einmal Gedanken darüber machen soll, was ich wirklich will. Kaum vorstellbar, ein Kind von Mister Unbekannt auszutragen. Ich kann es immer noch nicht fassen.“
Sie legt ihre Arme um mich. „Weiß Jonas es schon?“
Annika hat sich vorbereitet, sie sagt es fast feierlich. „Ein Kind, das in einer Ehe gezeugt wird, gilt als Nachkomme beider Ehepartner.“
Ich hasse ihre Worte. Das Letzte, was ich jetzt brauche, ist ein Zusammenstoß mit der rechtlichen Realität. „Wie kommst du nur darauf? Allmächtiger, was für eine Ansage, verdammt! Das wird übel, wenn ich Jonas ein Kuckuckskind ins Nest lege.“ Meine Augen werden feucht.
Annika stemmt die Hände in die Hüften. „Ach was, er kann die Vaterschaft anfechten. Geh mal davon aus, dass er das sofort nach der Geburt tun wird. Andernfalls wird das Kind zu seinem gesetzlichen Erben. Und er ist unterhaltspflichtig.“
„Woher hast du das alles? Von meiner Mutter? Aus dem Internet?“ Ich wische mir die ersten Tränen von den Wangen. „Ich werde ihn bald anrufen.“
„Irgendeine Tendenz musst du doch haben. Könntest du dir denn vorstellen, das Baby zu behalten?“
„Ich will überhaupt kein Kind. Nicht auf diese Weise, nicht mit der Aussicht auf einen hässlichen Streit mit dem Mann, der im Grunde nicht mehr mein Ehemann ist. Er wird das nicht hinnehmen, da bin ich mir sicher. Aber einen Schwangerschaftsabbruch? Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Mein Verstand schreit auf: Weg mit der Brut! Aber unter diesem Gedanken ist eine Art Ohnmacht, die ich hasse und gleichzeitig schätze.
„Du bist nicht dazu imstande, stimmt’s? Du wirst es nicht tun. Das habe ich mir schon gedacht.“ Annika sieht mich ernst an. „Es würde auch nicht zu dir passen. Ich finde das großartig von dir.“
Und du wärst besser beraten, wenn du mit den Weisheiten in deiner Handtasche auf direktem Wege zum nächsten Kosmetiksalon abzischen würdest.
Ihre Worte treffen, überrumpeln und berühren mich zugleich. Ich beiße die Zähne zusammen und schlucke meinen Ärger runter. „Mir bleibt nur wenig Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Ehrlich gesagt, möchte ich auf diese Weise keine Mutter werden. Aber …“
„Es ist vermutlich deine letzte Chance, Jonte.“
Vielleicht meine letzte Chance. Ihre Worte umkreisen mich.
Es fehlt nicht viel, um den rasenden Zorn in meinem Inneren in einem lauten Schrei zu entladen.
In der Nacht plagen mich Albträume, in denen ich gegen einen Eindringling in der Küche kämpfe. Ich nehme den Griff einer gusseisernen Pfanne in die Hand und hebe sie hoch. Die Pfanne ist zu schwer, um sie mit einer Hand halten zu können. Ich lege mich auf den Boden und robbe leise zur Seite in die völlige Dunkelheit, den Stiel eisern mit den Fingern umklammernd, den Atem anhaltend. Wenn ich den Eindringling nicht sehen kann, sieht er mich auch nicht.
Ich höre ihn schlurfen. Nur ein einziger Stoß, vielleicht gegen sein Schienbein. Effektiver wäre es, ihm den Schädel einzuschlagen. Ich bin bereit, ihn zu töten. Sosehr ich leben will, so sehr will ich seinen Tod. Ich werde in seinem Blut tanzen.
Die Schritte kommen näher.
Sein plötzliches Lachen versetzt mich in Panik.
„Jonte, gib auf! Was bezweckst du mit deinem Widerstand? Es hat keinen Zweck. Ich bestimme hier die Regeln.“
Vage nehme ich eine finstere Gestalt wahr, kann es kaum noch erwarten. Ich stemme mich hoch und hebe wie in Zeitlupe die Pfanne, höre das Pfeifen meiner Waffe, sehe, wie der Schatten rückwärtstaumelt. Ein tödlicher Schlag mit der Pfanne. Das Gusseisen lässt die Knochen zersplittern. Meine Kräfte versagen.
Allmählich wird die Küche durch ein Flimmern zum Leben erweckt. Ein Lichtstrahl erreicht mich, gefolgt vom Klicken seiner Waffe.
„Zieh dich aus!“
Er wird mich nicht töten, er braucht mich. Er will mich.
Der Gedanke hämmert sich durch mein Hirn. Solange er auf Befriedigung aus ist, habe ich eine Chance, dem Ganzen zu entkommen. Daran halte ich mich fest.
Hände berühren mich. Ich spüre sein Gewicht auf meinem Körper und halte den Atem an und … wache schweißgebadet auf.
Meine Fäuste graben sich in die Bettdecke. Das Einzige, was mir die Stille der Nacht gibt, ist eine Beklommenheit, die meine Brust aushöhlt.
Jetzt, in diesem Augenblick, will ich nur an Aaron denken und suche wieder die Erinnerung. Doch die Dunkelheit legt sich wie eine schwere Decke auf meine Seele.
Ich habe vor allem zwei Träume: Der erste ist schön, der zweite ist voller Gewalt. Alle zwei lassen mich zitternd und einsam zurück.
Der erste Traum handelt von einem Mann, dem ich noch nicht begegnet bin. Ich könnte sagen, er küsst sanft meine Lippen, und es dabei belassen, der Einfachheit halber. Doch das wäre eine Lüge. Es wäre ehrlicher zu sagen, dass ich mich mit jeder Faser meines Wesens danach sehne, von ihm geküsst zu werden.
Seit zwei Nächten träume ich einen anderen Traum, der tagsüber in meinem Kopf herumschwirrt. Eine verweste Leiche wird in einem Wald in der Nähe der Autobahn gefunden, und niemand weiß, wer es ist. Es besteht keinerlei Verbindung zu den registrierten Vermissten. An der Fundstelle gibt es keine verwertbaren Spuren vom Täter. Die Tote war in eine schmutzige Scheidung verwickelt und durchlebte eine Trennung, in der beide ihre Worte mit zusammengepressten Lippen zischten und die Messer rund um die Uhr wetzten. Der Traum ist nicht vollständig, er besteht nur aus aufeinanderfolgenden Fragmenten.
Ich fahre mit den Fingern über meine Notizen, die ich mir morgens mache, und öffne die Datei auf dem Laptop. Sobald etwas notiert ist, funktioniert meine Vorstellungskraft, die Gedanken sprudeln, und der Zeichenstift fliegt über die Tafel. Aber die Leiche im Wald wird immer von dem ohrenbetäubenden Schrei eines Babys mit strampelnden Beinchen und einem Daumen im Mund gestört. Wenn ich von dem Baby träume, ist es immer ein Mädchen.
Ich sollte meine Träume mit meiner Psychologin besprechen. Sie nehmen jede Nacht an Bedrohlichkeit zu, und ich kann mich kaum noch auf meine Arbeit konzentrieren. Wenn ich anfange zu zeichnen, grüble ich weniger über das, was gerade in meinem Bauch passiert. Aber auch darüber werde ich mit ihm sprechen müssen.
Mein Handy summt Say Something von Justin Timberlake. Ich überprüfe die Anzeige. Anonym.
„Hallo?“
„Bis du es, Jonte?“
Es ist Jonas.
Er ruft neuerdings ohne Rufnummernerkennung an. Der Verlag hat es ihm empfohlen, da unsere wachsende Popularität nach dem Erscheinen des Architekturbandes das Risiko von Belästigungen birgt. Muss ich jetzt auch eine neue Nummer beantragen? Dazu habe ich nun gar keine Lust. Und Jonas denkt auch nicht darüber nach, er macht sich keine Gedanken um meine privaten Probleme.
„Wie geht es dir, Jonte?“ Seine Stimme klingt eigenartig.
Jetzt sollte ich ihm unbedingt sagen, dass ich in etwa sechs Monaten ein Kind zur Welt bringen werde, das seinen Namen tragen wird, falls er keine rechtlichen Schritte dagegen unternimmt. „Ich habe ein neues Projekt im Auge“, sage ich stattdessen und fasse die Ausschreibung kurz zusammen. „Es ist ein altes Kloster. Der Orden möchte daraus ein Luxushotel machen.“
Er ist begeistert. „Das könnte ein großartiges Projekt werden. Hast du schon erste Entwürfe gemacht?“