Die Angst in mir - Zondra Aceman - E-Book

Die Angst in mir E-Book

Zondra Aceman

4,4

Beschreibung

Nay, ist schon seit Jahren in ihren Kumpel Tim verknallt, der aber seinerseits kein Interesse an ihr zeigt. Alles ändert sich, als eines Tages nebenan ein neuer Nachbarjunge einzieht. Jason. Obwohl er sehr verschlossen und abweisend ist, fühlt sich Nay zu ihm hingezogen und sie will ihm helfen offener zu sein. Während sie versucht Jason besser kennenzulernen, zeigt auch Tim endlich Interesse an ihr. Aber will sie ihn überhaupt noch? Jason, möchte nur eines: In Ruhe gelassen werden! Allein bei dem Gedanken an kleinste Berührungen bricht ihm schon der Schweiß aus und zu allem Übel überkommen ihn Visionen von Toten, die ihn jedes Mal paralysieren. Dennoch meinen einige seiner Mitmenschen ihn berühren zu müssen, deswegen hat er viele Abwehrmechanismen entwickelt, die eigentlich immer funktionierten. Bis jetzt! Nay, heißt die neue Nachbarin, die scheinbar nur ein Ziel hat: Jason zu integrieren. Und zum ersten Mal in seinem Leben überkommt ihn der Wunsch einfach nur dazuzugehören, doch das ist einfacher gesagt als getan. Gerade als die beiden sich trotz allem näherkommen, tut sich eine paranormale Welt auf die Jason seine ganzen Ängste zwar begreiflicher machen, ihn aber wieder weiter von Nay entfernen. Doch nun ist er bereit, alles zu tun, um sie zu beschützen. Auch wenn es ihm sein eigenes Leben kosten könnte.

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Inhalt

Die Angst in mir

Impressum

Die Angst in mir

„Gib mir dein Leben!“, sprach der Tod.

„Wenn ich dir mein Leben gebe, dann sag mir,

was bleibt mir hinterher?“

„Dein Tod!“, sprach der Tod und nahm das Leben.

Zukunft

…Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit ist das Monster an unserer Seite und greift nach dem Gesicht des Jungen, den ich liebe. „Dreh dich um und öffne deinen Mund!“, kommandiert er und ich sehe mit Entsetzen, dass mein Liebster ihm gehorcht. Er lässt meine Hand los und dreht sich wortlos dem Monster zu.

Jetzt wird er seinen Mund öffnen. „Nein!“, schreie ich und klammere mich von hinten an ihn. Ich zwicke in seine Hand, in seinen Arm und versuche ihn so aus seiner Trance zu holen, aber es passiert nichts. Ich küsse seinen Hinterkopf und rede mit Engelszungen auf ihn ein, aber ich bleibe erfolglos. Als das Monster schließlich einen tiefen Ton von sich gibt, bete ich nur noch zum Himmel und greife unter den Pullover meines Freundes. Dort kralle ich mich in seine Haut. Meine Hände umfassen dabei seinen Brustkorb und ich spüre seinen regelmäßigen Herzschlag. Ich habe riesige Angst, denn ich weiß, dass ich keine Chance gegen diese unnatürliche Art des Sterbens habe. Ich kann nichts tun … und ich fühle mich hilflos. Gleichzeitig jedoch bin ich wütend. Doch das bin ich nicht lange, denn meine Wut wird zur Resignation. Wenn er schon sterben muss, dann soll er mich gleich mitnehmen, denke ich. Wenn ich mich ganz nahe an ihn presse - bis wir eins sind - werden wir gemeinsam untergehen. Das wünsche ich mir.

Sein Herzschlag verändert sich. Bumm, bumm, bumm, bumm, pocht es jetzt laut und schnell gegen meine Hand. Ob er auch Angst hat???

„Ich bin bei dir!“, flüstere ich. „Keiner kann uns trennen. Alles wird gut!“, rede ich weiter. Ich konzentriere mich wieder auf sein Herz. Ich konzentriere mich so sehr, bis ich das Gefühl habe, dass unsere beiden Herzen im gleichen Takt schlagen. Jetzt sind wir eins! Keiner kann uns noch auseinanderbringen. Niemals mehr, denn wir sind zusammen!

Erst als sein Körper in sich zusammensackt, bemerke ich, dass das überhaupt nicht stimmt. Wir sind nicht eins! Nein! Es ist nur noch ein Herz, das da schlägt und das gehört nicht zu meinem Schatz. Plötzlich ist sein Herz still. Ganz und gar still!

Nay

„Aufwachen, Schlafmütze!“, brummt mir eine nur allzu bekannte Stimme ins Ohr. Gerade noch hatte ich Träume, die sich nur um ihn drehten und hier ist er schon. Als meine Augen sich öffnen, wandern sie sogleich zu seinem attraktiven Kopf. Sein Mund ist zu einem strahlenden Lächeln gebogen. Ich sehe wunderschöne, gerade Zähne, eingebettet in einen makellosen Mund, die mich leise zum Seufzen bringen. Bevor ich jedoch auf seinem Mund verweile und Gefahr laufe, ihn spontan zu küssen, wandert mein Blick höher, überspringt gekonnt seine attraktiven blauen Babyaugen, die mich nur erneut schwach machen würden und landen schließlich auf seiner Frisur. Seine blonden Haare sind wieder kurz. Er muss wohl gestern beim Friseur gewesen sein. Schade! Ich mag es lieber, wenn sie sich ein wenig wellen, denn das schmeichelt seinem ganzen Gesicht noch mehr. Wie ein perfekter Bilderrahmen für ein perfektes Foto. Seufz!

Er jedoch hasst seine Locken. Leider! Den ganzen Sommer hat er sie wachsen lassen und ich dachte, dass er nun endlich eingesehen hat, dass ihm die längeren Haare viel besser stehen -nun ja - anscheinend habe ich da falsch gelegen. Wie immer, wenn es um ihn geht. Endlich wage ich, Kontakt zu seinen Babyblauen aufzunehmen und unterdrücke gekonnt den weiteren Seufzer, der sich in mir hochschleicht. Seine Augen strahlen sichtlich amüsiert und spiegeln die Freundschaft wieder, die uns umgibt. Seine Mundwinkel ziehen sich arrogant nach oben und es sieht aus, als ob er weiß, dass ich schon seit Jahren mehr fühle als Kameradschaft und er mich dennoch lieber weiterhin quälen möchte. Das wiederum ärgert mich tierisch, denn es erinnert mich an den Tag vor vier Jahren, an dem ich den größten Fehler meines Lebens gemacht habe.

Ich seufze frustriert und er lacht. „Nay, ich bin geschockt, dass du immer noch im Bett liegst, obwohl du mir doch vorgestern noch gesagt hast, wie viel du bis zum Schulanfang noch zu tun hast!“

Ja, meine Ausreden waren auch schon mal besser. Aber ganz ehrlich, wenn ich Tim noch einmal mit einem anderen Mädchen im Arm sehen muss, dann fange ich sicherlich an zu schreien.

„Ich habe halt viel vor! Es ist schließlich unser Abschlussjahr!“, sage ich laut Das Jahr, in dem sich eigentlich alles ändern soll und du mich endlich wieder als Mädchen wahrnimmst und nicht nur als Kumpel, füge ich gedanklich hinzu.

Tim schmeißt sich neben mich und hüpft sitzend auf der Schwelle des Bettrandes mit unschuldigem Blick. „Was hast du im letzten Jahr falsch gemacht? Es lief doch alles gut! Du hast ein Super-Zeugnis bekommen, das letzte Jahr wird ein Kinderspiel für dich sein! Wie immer!“

Ohne auf seine Worte einzugehen, schlage ich die Bettdecke hoch und krabbele auf der anderen Seite des Bettes heraus. Vielleicht bemerkt er ja heute meinen niedlichen Kurz-Pyjama mit den kleinen Herzchen drauf (eine Hommage an sein verstecktes Herz-Muttermal). Und meine Beine sehen im Moment auch nicht übel aus und wirken in diesem Teil viel länger und brauner.

Langsam, und wie ich hoffe sexy, schreite ich ums Bett herum und stelle mich vor ihn. Nun bin ich endlich größer als er! Tim mustert mich gemächlich und starrt meinen Körper an, sodass mein Blut in Wallungen gerät. Als er meine Augen erreicht, sieht er verdattert aus. Und ich halte die Luft an und warte auf eine spontane Liebeserklärung. Stattdessen schüttelt er sich kurz, leckt sich über die Lippen und krächzt dann: „Komm schon, Nay, es ist unser letztes Wochenende, bevor der Schulstress wieder losgeht.“

Das war nicht, was ich gehofft hatte zu hören! Nicht im Entferntesten. „Lass uns heute Abend ins Kino, was meinst du? Ich könnte Tanja und Kay Bescheid geben, die würden sich bestimmt freuen…“, redet er weiter, während ich vor Frustration meine Fäuste balle. „Wir haben uns so selten in den Ferien gesehen!“, meckert er.

Stimmt, aber das war nicht meine Schuld! „Und…?“, frage ich skeptisch, denn ich weiß, dass er nicht alleine ins Kino gehen wird.

„Was heißt hier und?“

Ich rolle meine Augen. „Wer kommt außer Kay und Tanja noch mit? Wie heißt deine neueste Eroberung? Nur damit ich ihren Namen nicht verwechsle. Ich meine, es wäre echt blöd, wenn ich einen falschen sagen würde, oder? Ich komme bei den ganzen Freundinnen in deinem Leben nicht mehr mit.“

Er mustert mich wieder und sagt erst einmal gar nichts. Ich habe keine Ahnung, was er in meinem Gesicht sucht, aber es macht mich nervös, wie er mich plötzlich fixiert. Schließlich sagt er grinsend: „Maya! A…“

„Okay! Schön! Gut, dass wir das geklärt haben“, unterbreche ich ihn, während mein Herz noch ein kleines bisschen mehr bricht. Maya? Die Maya! Na Klasse!

„Nay! Frühstück ist fertig!“, ruft meine Mutter und ich bin froh, dass ich jetzt eine plausible Ausrede habe, um meine Wunden in aller Ruhe zu lecken.

„Was ist mit heute Abend?!“, will Tim wissen, erhebt sich vom Bettrand und stellt sich genau vor mich. Nun überragt er mich um einen ganzen Kopf und ich schaue genau auf seine muskulöse Brust. Die Brust, auf der ich schon 1000-mal gelegen habe, während wir in seinem oder in meinem Bett Fernsehen geschaut haben. Sie hat sich in den letzten Jahren extrem verändert. Genau wie der Junge, der seit Jahren in meinen Träumen herumwandert. Er ist definitiv kein Spargel-Tarzan mehr. Nein, er ist ein Mann geworden. Wenn auch ein ziemlich unwissender, arroganter, unromantischer…

„Ich muss leider wieder los, Nay. Ich habe gleich noch was vor…“, unterbricht er meine Gedanken. „Also, wie sieht es jetzt aus mit heute Abend?“

Ich verkneife mir, ihn zu fragen, ob er Maya jetzt schon trifft. Wer weiß, vielleicht hat er eben von ihr geträumt, so wie ich von ihm und nun muss er sie unbedingt sehen. Doch vorher muss er noch schnell seine beste Freundin besuchen, damit diese sich wieder ärgern kann, dass sie ihn vor vier Jahren hat abblitzen lassen… Das Leben ist so unfair!

„Ich komme nachher mit ins Kino!“, verspreche ich halbherzig und er strahlt mich erfreut an. Tim Bryon ist sexy, aber auch soooo frustrierend!

Und ich kann ihm noch nicht einmal aus dem Weg gehen, da er schon Ewigkeiten links neben uns wohnt. Tausend Mal habe ich mir überlegt, wie ich ihm beibringen soll, dass wir zusammengehören. Ich kenne schließlich alles an ihm. Ich meine wirklich alles! Ich spreche hier besonders von dem süßen Herz-Muttermal auf seiner linken Pobacke. Woher ich das weiß? Nun, er hat es mir gezeigt. Da waren wir beide vier Jahre alt. Meine und seine Eltern haben uns dabei erwischt, wie wir kleine Doktorspielchen in seinem Zimmer gespielt haben. Danach durften wir nie wieder ohne Babysitter zusammen spielen, bis wir alt genug waren und unsere eigene Scham uns zurückhielt, noch einmal näher hinzugucken.

Und dann kam der verdammte Tag, den mein Hirn am liebsten ungeschehen machen will. Gäbe es nur eine Zeitmaschine. Ich wüsste sofort, welchen Zeitpunkt ich ausradieren würde, Butterfly-Effekt hin oder her…

Meine Mutter ruft mich nun schon das zweite Mal und Tim seufzt; „Pass auf, du könntest Tanja anrufen und mit ihr und Kay fahren. Ich komme direkt ins Kino, okay? Wir treffen uns dort an unserem Stammplatz. Was meinst du?“

Ich nicke und hoffe, dass er nicht sieht, wie ich versuche, die Enttäuschung zurückzuhalten.

Er beugt sich zu mir herunter und drückt mir einen Kuss auf die Stirn, wie er es immer tut. Dann verlässt er mein Zimmer. Ich hole tief Luft und besiege schließlich den Drang, in Tränen auszubrechen.

Stattdessen schaue ich zur linken Haushälfte, denn dort wohnt Tim. Ich habe einen guten Blick auf sein Zimmer, denn seins befindet sich auch im Obergeschoss. Was ich nicht immer gut finde, denn ich sehe ihn ständig mit seinen Eroberungen darin herumstolzieren. Ich verstehe nicht, warum er nie seine Gardinen zumacht, wenn er wild mit Mädchen rummacht. Und das macht er wirklich ständig.

Und das erinnert mich an seine neuste Errungenschaft. Okay, also Maya aus der Parallelklasse. Na toll! Hat er nicht bald alle durch? Hätte nicht gedacht, dass es noch welche geben würde, die nicht mit Tim zusammen waren - außer meiner Wenigkeit natürlich. Es ist echt zum Heulen…

Traurig gehe ich zu meinem Kleiderschrank und greife nach dem Erstbesten, was mir in die Hände fällt. Ich bin kein modischer Mensch, sondern eher praktisch veranlagt! Klar mache ich mich auch mal besonders schick, aber dafür muss es schon einen besonderen Anlass geben. Es gibt nichts Schlimmeres für mich, als einen Tag vor dem Spiegel zu verschenken. Langsam ziehe ich mich an und schaue dabei aus meinem anderen Fenster auf die Straße. Die Häuser hier sehen alle gleich aus, auch die Vorgärten… wie kopiert und hundert Mal wieder eingesetzt. Die Siedlung ist vor zwanzig Jahren entstanden und die meisten Familien hier kenne ich schon ewig. Es ist alles sicher und familiär.

Ein Möbelwagen parkt vor dem rechten Haus. Die alten Nachbarn waren ziemlich komische Leute, also bin ich nicht traurig darüber, dass sie wegzogen. Die Frau war laut und ständig am Keifen und hatte mindestens 20 Katzen in der Wohnung. Der Mann hingegen musterte mich immer so, als wenn er mich ausziehen wollte. Ich hatte sogar mehrmals das Gefühl, dass er mich mit einem Fernrohr beobachtet. Daraufhin hielt ich monatelang meine Gardinen zu dieser Seite hin geschlossen. Nach dem Auszug der beiden habe ich sie endlich wieder aufgemacht. Nun kann ich aus meinen drei Fenstern die Sonne wieder rundherum wahrnehmen. Echt herrlich! Ich hoffe nur, dass die neuen Nachbarn nicht so neugierig sind und ständig herüberglotzen, denn dann kann ich die Sonne auch weiterhin genießen und muss sie nicht durch die Gardinen ausschließen.

Ich laufe die Treppe herunter und flitze in die Küche. Meine Mutter hat Pfannkuchen gebacken. Meine Laune hebt sich sogleich und der Kummer mit Tim verschwindet erst einmal in meinem Hinterstübchen.

Ich schnappe mir einen Pfannkuchen, rolle ihn zusammen und beiße seufzend hinein.

„Hast du gut geschlafen?“, lacht meine Mutter.

„Mmh!“, antworte ich, denn mit vollem Mund soll man nicht reden.

„Wir haben neue Nachbarn. Ich möchte, dass du dich gleich vorstellst. Du kannst Brot und Salz mitnehmen.“

Ich schlucke mein Pfannkuchen-Stück hinunter und genehmige mir einen Schluck Kakao, während ich meine Mutter überrascht anschaue „Und was ist mit dir?“, frage ich.

„Ich habe mich eben schon bekannt gemacht. Ich habe gefragt, ob sie Hilfe brauchen.“

„Und? Wie sind die Neuen?“, versuche ich zu ermitteln. Bitte keine Spanner!

„Sie sind wirklich sehr nett. Herr Sommer ist ein brummiger Kerl, aber mit einer liebevollen, sympathischen Art. Er macht den Eindruck, als würde er alles für seine Familie tun. Und seine Frau macht sich wie alle Mütter ständig Sorgen. Sie haben auch einen Sohn. Ich habe ihn nur kurz gesehen, als er mit einem Karton die Treppe hinaufging. Als er seine Mutter mit dem Vornamen ansprach, war ich erst überrascht, aber dann erzählte sie mir, dass sie nur die Pflegemutter von Jason sei. So heißt der Junge. Ihren Erzählungen nach ist er ein sehr in sich gekehrter junger Mann und hat ziemliche Schwierigkeiten, Freunde zu finden. Sie schien ziemlich traurig darüber zu sein. Ich wollte nicht zu neugierig erscheinen, also habe ich nicht weiter gefragt. Ich habe mir zumindest gedacht, dass es schön wäre, wenn du ihn Montag mit zur Schule nimmst? Und vielleicht stellst du dich gleich einfach selbst vor? Es wäre doch toll, wenn er schon jemanden kennenlernt. Und stell ihm auch Tim vor, was meinst du?“

„Kein Problem. Wie alt ist er denn überhaupt?“

„Er ist in eurem Alter! Er wird mit euch nächsten Sommer seinen Abschluss machen.“

„Hat er auch ein Auto? Dann können wir uns mit dem Fahren abwechseln.“

„Keine Ahnung, darüber haben wir nicht geredet. Was ist überhaupt mit Tims Führerschein? Hatte er nicht letzte Woche seine praktische Prüfung?“

„Er ist durchgefallen! Natürlich war es nicht seine Schuld. Irgendeiner hat ihm die Vorfahrt genommen …“ Ich verdrehe meine Augen. „Du kennst Tim, er hat seine ganz eigene Sichtweise auf Dinge…“ Meine Mutter grinst wohlwissend.

Jason

Mein Blick fällt als erstes auf die Zeitschrift, die ein Möbelpacker in meinem Zimmer liegen gelassen haben muss. Eine grinsende Brünette schaut mir entgegen. Sie sieht lebenslustig aus. In meinem Leben gibt es nichts zu lachen. Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich lebe, oder ob ich einfach nur existiere, um mich zu quälen.

Warum meine Pflegeeltern in mir keinen Freak sehen, ist mir unverständlich. Und ich bin einer - ganz eindeutig.

Ich habe keine Freunde und hatte auch noch nie welche. Ich will auch keine, denn sie würden meine Distanz nicht verstehen.

Die Einsamkeit ist mein Dasein. Musik, die Hantelbank und Joggen sind meine einzigen Leidenschaften.

Wer nimmt so einen Jungen schon freiwillig auf?

Tja, ich sage nur - die Sommers! Sie akzeptieren sogar, dass ich nicht angefasst werden möchte, lassen mich in Ruhe und erwarten nichts von mir.

Vielleicht ahnen sie tief in ihrem Herzen, dass ich verrückt bin! Komisch, dass sie mich trotzdem wie ihren eigenen Sohn behandeln.

Es ist für mich noch immer unverständlich, warum die Sommers mich vor 11 Jahren aufnahmen und auf Anhieb verstanden, wie sie mich zu Händeln hatten. Ich weiß, dass es nichts mit dem Geld zu tun hat, dass ich von meinen verstorbenen Eltern geerbt habe, denn sie haben noch nie gefragt, ob sie etwas davon haben könnten. Ganz im Gegenteil, es ist erst gar kein Thema.

Todd, mein Pflegevater, ist ziemlich reserviert. Er hatte selbst eine schwierige Kindheit und deswegen versteht er wohl mein Verhalten und akzeptiert, dass ich körperlichen Kontakt komplett vermeide. Er ist nett und hilfsbereit, aber eben auf einer distanzierten Ebene. Ich habe Gespräche belauscht, die er mit seiner Frau Sharon geführt hat und die haben mir gezeigt, dass er der Meinung ist, dass ich als Kind missbraucht wurde und weil ihn das gleiche Schicksal ereilte, gibt er sich besonders viel Mühe, in mir eine Art Urvertrauen zu wecken. Er will, dass ich eine Chance habe, etwas aus meinem Leben zu machen, um die Vergangenheit zu vergessen. Doch eigentlich habe ich keinen blassen Schimmer, was genau passiert ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich überhaupt an irgendetwas erinnern will. Meinen Träumen nach zu urteilen, muss ich etwas Schlimmes durchgemacht haben. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur komplett verrückt!

Seit ich denken kann, gehören Psychologen zu meinem Leben, alle haben mich ausgequetscht und versucht zu ergründen, was ich für ein Trauma erlitten habe. Es ist wahrscheinlich auch merkwürdig, wenn ein völlig vermummter Junge auftaucht, der irrsinnige Panik vor Körperkontakt jeglicher Art hat.

Die Psychologen erklären, ich habe ein: Unerklärlich tief sitzendes Trauma… sollen sie doch denken, was sie wollen!

Meine Empfindungen zumindest sind hypersensibel. Ob alle Geisteskranken so empfänglich für andere Schicksale sind, bevor sie explodieren?

Zumindest habe ich eine riesige Antenne für Unglückliche. Mir macht keiner was vor! Ich habe Mitleid mit den Hilfesuchenden.

Da war z.B. die Frau aus unserem ehemaligen Nachbarhaus, die von ihrem Mann verlassen wurde und jetzt ihre vier Kinder alleine großziehen muss. Mann, was habe ich mir gewünscht, dass sie jemanden besseren findet… schnellstens! Denn der Typ hat sie ständig betrogen und wusste sie gar nicht zu schätzen.

Und dann war da das Mädchen, das in unserer alten Schule immer gehänselt wurde, weil sie so dick war… dabei hatte sie eine Stoffwechselstörung und konnte gar nichts dafür.

Oder der Junge, der so aggressiv war und dem alle aus dem Weg gegangen sind, dabei hätte er dringend Freunde gebraucht, denn er wurde zu Hause ständig misshandelt. Leider hat jeder seine blauen Flecken als Akt seiner eigenen Gewalt gesehen. Keiner hätte dem Vater einen Besuch abgestattet, da der ein angesehener Arzt war und er sich so hinter seinem Einfluss verstecken konnte.

So viele verschiedene Leidenswege und kein Ende in Sicht. Es ist eine Schande! Dennoch würde ich mich niemals in irgendwelche Dramen hineinziehen lassen. Nein! Stattdessen lebe ich mein Leben und quäle mich durch jeden einzelnen Tag.

Tja, und jetzt bin ich hier. Wir sind in eine neue Stadt gezogen. Kiel. Hauptstadt des nördlichsten Bundeslandes Schleswig Holstein. Wir wohnen in einer Siedlung, die nichts Individuelles besitzt, zumindest äußerlich nicht. Die Familien hier haben sicherlich ihre persönlichen Schicksale, aber die müssen mir egal sein. Montag gehe ich in eine neue Schule und nur der Gedanke daran treibt mir schon Schweißperlen auf die Stirn. Sharon möchte, dass ich mit dem Nachbarsmädchen fahre. Ich habe zugestimmt. Klar werde ich das tun, was bleibt mir auch anderes übrig. Der enge Bus wäre die Hölle und Fahrrad fahren kann ich nicht, da mein Rad vor kurzem geklaut wurde. Also bleibt mir nur das Nachbarsmädchen. Ich kann ihr schnell klarmachen, was ich verabscheue und wenn sie es nicht rafft, dann jogge ich halt zur Schule. Aber ich denke, sie wird es schnell verstehen.

Abwehrmechanismen sind meine Spezialität!

Ich habe alle Arten davon entwickelt. Mädchen mögen keine unzugänglichen Spinner und lassen einen schnell in Ruhe, wenn man sie komplett ignoriert. Und das ist gut so. Ich hoffe nur, dass sie keine von den bedauernswerten Geschöpfen ist, die eigentlich selbst Hilfe bräuchte, denn ich könnte ihr keine gewähren.

Der Morgen vergeht wie im Flug. Ich bin gerade dabei, meine restlichen Klamotten in den Einbauschrank zu hängen, als es an meine Zimmertür klopft.

„Ja, komm rein!“, rufe ich und denke an Sharon. Ich packe weiter aus und warte auf ihren Kommentar. Doch es kommt nichts.

Dann halt nicht! denke ich und packe weiter meine T-Shirts ins Regal.

„Hi!“, höre ich plötzlich eine unbekannte Stimme und mein Kopf dreht sich perplex Richtung Tür.

Ein Mädchen steht dort und sieht mich an. Ich bin so überrascht, dass ich sogar selbst ein „Hi!“ zurücksage.

Ich bin wirklich keiner, der sich leicht beeindrucken lässt, aber dieses Mädchen hat eine so extrem positive Aura, dass es mich glatt von den Socken reißt. Ich bin verdattert und glotze sie nun unverhohlen an. Ihre Haare sind mit Stäbchen in einem zerzausten Etwas gehalten, ihre dunkelblauen Augen sind voller Leben und schauen mich neugierig an.

„Ich wohne im Haus neben dir. Mein Name ist Nasya … Nasya Norton, aber meine Freunde nennen mich Nay“, plaudert sie lächelnd drauflos und ihre vollen Lippen ziehen sich dabei nach oben und bringen ein Grübchen zum Vorschein, das mich länger hinstarren lässt, als ich eigentlich will. „Weißt du, dass mein Zimmer auch oben im Dachgeschoss ist?! Echt witzig! Du kannst genau draufgucken!“, redet sie weiter und dann scheint sie auf irgendetwas zu warten.

Ich habe das Gefühl, dass mir zu warm ist. Kann es sein, dass ich Fieber habe? Muss ich mich jetzt nicht auch vorstellen? Wartet sie etwa darauf?

Ich schlucke dreimal und krächze: „Ich heiße Jason. Jason Rockefeller!“

Sie lacht jetzt laut. Es ist ein umwerfendes, natürliches Lachen und ich bin sogleich bezaubert von ihrer Art sich zu freuen. „Deine Mutter hat mir schon deinen Namen verraten. Sie meint, ich soll dich ein wenig herumführen. Sightseeing sozusagen“, quatscht sie weiter locker vom Hocker.

Ich bin absolut sprachlos von ihrer Unbefangenheit und mein Hirn ist für einige Sekunden total blank. Dann jedoch denke ich an meine Misere. Ich bin gestört! Ich bin nicht normal! Ich muss etwas tun! Halte Abstand, Jason! Abstand!

„Nasya, ich denke nicht, dass ich einen Babysitter brauche!“, sage ich schließlich ziemlich herablassend.

„Äh… ich bin kein Babysitter, nur ein Stadtführer! Ähm, es ist Freitag, unser letztes Wochenende vor dem neuen Schuljahr. Ich kann dir alles zeigen… es macht mir nichts aus“, lässt sie sichtlich irritiert verlauten und tritt einen Schritt näher, dann noch einen, als wenn sie vorhat, mir die Hand auf die Schulter zu legen, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen.

Mein Körper reagiert sofort und nimmt den Eindringling in meinen persönlichen Bereich wahr. Er suggeriert mir eine ungewisse Gefahr, die sich anbahnt. Meine Hände beginnen daraufhin unkontrolliert zu zittern und ich verstecke sie schnell hinter meinem Rücken.

Ich weiß, wie abwertend das für Außenstehende aussehen muss, aber es ist mir im Moment ziemlich egal. Nays Augen scheinen jede meiner Bewegungen zu fixieren und als sie auf meinem Gesicht landen, ist es so, als sähe sie direkt in meine Seele.

Ich habe Angst, dass sie den gebrochenen Jungen in mir verachtet, den sie dort finden wird und ich versuche den Kontakt zu brechen, aber es gelingt mir nicht. Stattdessen bemerke ich, wie sie noch einen Schritt näher kommt. Jetzt könnte ich sie sogar ohne weiteres berühren. 1000 Alarmglocken schrillen durch meinen Körper und mit meiner aufsteigenden Panik kommen die Bilder, vor denen ich mich so sehr fürchte und die sich immer dann einschleichen, wenn jemand in meine Intimsphäre eintritt.

Ich fühle mich gefangen wie ein Reh im Scheinwerferlicht und ich kann nichts dagegen tun. Langsam, wie in meinen Träumen, reihen sich die Bilder aneinander und zeigen mir grauenhafte Dinge:

Leblose Körper, überall leblose blutige Körper. Sie kommen mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher ich sie kenne. Sie schreien meinen Namen mit ihren toten Mündern. Immer und immer wieder schreien sie ihn. Bis sie schließlich verstummen. Schließlich kommt das, was mich immer am meisten schockt: die Leichname öffnen ihre Augen, ihre Augäpfel sind weiß und tot - und dennoch beginnen sie, ihre Körper über den Boden zu schleppen … immer näher kommen sie und ich kann mich nicht rühren … ich weiß, ich bin der Nächste … bald … ich muss mich wehren, ich muss … „Lauf!“, schreit jemand, aber ich kann nicht weg, sondern starre auf die blutigen Leiber … und sie sind bald da … nur noch wenige Zentimeter …dann fangen sie an zu brennen…und schleifen sich weiter mir entgegen…ich fange an zu schreien  nein … nein…

„Jason?“, höre ich eine besorgte Stimme und das Scheinwerferlicht, sowie das, was sich in ihm verbirgt wie eine Art Film, erlischt. Nays Augen schließen sich für einen Augenblick und ich schnappe aus meiner Trance und stürme drei, vier Schritte zurück.

„Kein Interesse! Ich will meine Sachen weiter auspacken – und zwar in Ruhe. Also… wenn du mich jetzt alleine lassen könntest?“ Meine Stimme hört sich ruppig und kalt an. Nay sieht verstört aus. Ich kann es ihr nicht verdenken. Wenn ich in ihrem Blick erneut versinke, kann ich für nichts mehr garantieren. „Verlasse mein Zimmer! Jetzt! Sofort!“, verlange ich deshalb barsch.

„O…Okay“, stottert sie und greift zur Klinke. Dann ist sie verschwunden.

Ich schüttele den Kopf und atme tief aus. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich meinen Atem angehalten habe und ich höre mein Herz bis zum Hals schlagen. Die schrecklichen Gedanken sind verschwunden und es macht sich ein anderes, neues, Gefühl breit. Es kribbelt in meinem Bauch wie verrückt und wenn ich es richtig deute, ist es etwas, was ich im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen kann.

Während ich noch über meine neuen Gefühle nachdenke, mich darüber ärgere und gleichzeitig wundere, öffnet sich meine Tür erneut einen winzig kleinen Spalt und Nays Kopf erscheint dort. „Ich hole dich auf jeden Fall Montagmorgen um 7:30 Uhr ab. Dann müssen wir in die Schule. Mach dich darauf gefasst, dass ich dann jeden Tag mit dir zur Schule fahre!“, ruft sie schnell und knallt die Tür blitzschnell hinter sich zu und lässt mich zu allen Gefühlen, die ich nun habe, auch noch geschockt zurück.

Nay

Das ist mir noch nie passiert. Noch nie war jemand so unfreundlich zu mir. Was bildet sich dieser Jason eigentlich ein? Ich wollte doch nur helfen. Ich bin so verdutzt, dass ich im Treppenhaus seines Hauses stehe und einfach nur sprachlos bin. Dann schleiche ich langsam die Treppe herunter. Fast unten angekommen stocke ich, denn ich höre eine lautstarke Diskussion.

„…für alle einen neuen Anfang!“, höre ich eine Männerstimme sagen.

„Ich hoffe, er verschließt sich nicht schon wieder. Er braucht endlich einmal Freunde!“, sagt Jasons Stiefmutter Sharon, die mich eben reingelassen hat, seufzend. „Er ist so einsam. Ich kann das nicht ertragen, ihn so zu sehen.“

Auch wenn es Unrecht ist, Gespräche zu belauschen, ich kann nicht anders. Ich will wissen, worum es geht, denn ich habe das Gefühl, dass hier gerade über Jason gesprochen wird.

„Du weißt, wie schwierig es für ihn ist, seine Ängste zu überwinden. Sie scheinen ihn zu zerfressen. Was immer er auch Schlimmes durchgemacht hat, und welche Art von Gewalt er auch erlebt hat, er ist noch nicht so weit, es jemandem mitzuteilen. Vielleicht ist er es auch niemals. Dieses Mal sollten wir die Psychologen ein wenig zurückpfeifen, was meinst du? Ich vertraue nicht auf ihre Expertise. Ich habe heute noch an den Folgen meiner Kindheit zu knabbern und kein Psychologe dieser Welt konnte mir bisher dabei helfen!“

„Ich weiß!“, entschuldigt sich Sharon kleinlaut. „Aber alles, was passiert ist, ist nun schon mehr als 11 Jahre her. Vielleicht sind die Psychologen…“

„Ich lebe schon seit über dreißig Jahren mit den Folgen meiner Kindheit. Du hast mir viel mehr geholfen als jeder Psychologe!“, unterbricht die männliche Stimme seufzend und dann höre ich erst mal nichts mehr.

Verwirrt überlege ich, was ich tun soll. Das eben Gehörte geht mir durch Mark und Bein. Was hat Jason für Gewalt erfahren? War er deswegen so abweisend zu mir?

„Wir schaffen das schon. Er wird eines Tages aufblühen, wie ich“, sagt die männliche Stimme weiter. Ich schäme mich, dieses intime Gespräch zu belauschen, aber ich kann mich nicht rühren.

„Ich habe Angst, dass sie ihn wieder verurteilen werden, nur weil er sich so hinter seinen Klamotten versteckt und keinen an sich heran lässt“, sagt Sharon. Ihre Stimme hört sich erstickt an. Weint sie etwa?

„Du kannst ihn vor oberflächlichen Spinnern nicht schützen. Die, die es wert sind, wird er schon von sich überzeugen.“

„Aber was ist, wenn er auch hier wieder alle auf Abstand hält? Was ist, wenn er es jetzt gerade wieder tut? “

Wieder Pause. Ich habe genug gehört und mache mich bemerkbar. Ich trampele die restlichen Stufen herunter.

Sharon tritt in den Gang, als ich lautstark den Rest der Treppe heruntergehe. Sie ist eine hübsche, rotblonde Frau und ich schätze sie nicht älter als 40 Jahre. Ich wundere mich, warum sie keine eigenen Kinder hat, denn sie scheint sich echt gut um Jason zu kümmern.

„Ich habe Jason gesagt, dass ich Montag komme und ihn mit in die Schule nehme. Ich hole ihn pünktlich um 7:30 Uhr ab!“, sage ich zu ihr und sehe, wie sich ihr betrübtes Gesicht erhellt.

Ich beschließe, ihr nicht zu erzählen, dass er mich rausgeschmissen hat. Ich lasse sie lieber in dem Glauben, dass ich die ganze Zeit oben mit ihm geredet habe.

„Das ist toll, Nay!“, antwortet sie sichtlich erleichtert. „Danke!“

„Heute hat er wohl noch genug zu tun. Deshalb will ich nicht weiter stören! Wir verschieben unser Sightseeing auf einen anderen Tag. Okay?“

„Okay!“, antwortet sie irritiert, aber begeistert. „Darf ich dir meinen Mann vorstellen? Todd komm doch mal!“, ruft sie ihn, ohne auf meine Antwort zu warten.

Ein Bär von Mann tritt nun in den Vorflur. Und das meine ich wörtlich. Er ist nicht nur groß, sondern auch sehr behaart. Ernst mustert er mich von oben bis unten. „Moin!“, sagt er dann mit todernster Miene, aber einem Lächeln in den Augen. „Das sagt man hier doch so, nicht?“

„Jepp!“, bestätige ich und grinse amüsiert. „Sie werden sich hier bestimmt richtig schnell einleben und schnell zum Nordlicht mutieren, die richtige Begrüßung haben sie ja schon drauf…“

„Gut!“, sagt er kurz und ein Anflug von Erleichterung legt sich über sein Gesicht. Ich warte darauf, dass er noch mehr sagt, aber ich warte vergeblich.

„Todd ist kein Mann vieler Worte!“, entschuldigt sich Sharon schnell.

„Schon gut, mein Vater ist ein totaler Fischkopf und stur wie nichts Gutes. Aber er hat ein Herz aus Gold!“

Daraufhin muss Sharon lachen. „Das ist gut zu wissen! Dasselbe gilt für Todd.“

„Na dann, auf eine gute Nachbarschaft!“, sage ich fröhlich und gehe zur Tür. „Wenn Sie Hilfe brauchen, ich habe heute und morgen nichts zu tun.“

„Das ist sehr lieb, Nay, aber ich muss meine eigene Ordnung schaffen, sonst finde ich nachher nichts mehr wieder“, erwidert Sharon und Todd grunzt zustimmend.

„Okay, verstehe! Na dann, viel Spaß!“ Beide verabschieden sich und ich gehe nach draußen.

Jason hat also irgendetwas erlebt, das ihn alle auf Abstand halten lässt. Okay! Ich bin gewappnet! Mich wird er so schnell nicht verjagen. So schnell gebe ich nicht auf.

 Ich habe auf jeden Fall vor, diese Nuss zu knacken. Ich bin nicht glücklich, wenn ich jemanden leiden sehe. Und Jason leidet definitiv. Ich erinnere mich zurück an seinen Blick, als er mich in der Tür sah. Er sah neugierig aus - und überrascht, und noch etwas anderes war in seinem Blick, aber ich bin mir nicht sicher, was es war. Im Nachhinein denke ich, dass ihn diese Situation total überfordert hat. Ja, ich habe ihn definitiv geschockt, als ich plötzlich in seinem Zimmer stand und immer näher gerückt bin.

Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, denn es hat ihn total aus der Fassung gebracht. Tja, dann kam seine Abwehr. Vielleicht hat er an seine Kindheit gedacht, oder an etwas anderes Schlimmes. Ich hoffe nicht, dass ich ihn an etwas Schlimmes erinnert habe, denn dann wäre es sicherlich unmöglich, dass wir Freunde werden. Und ich will sein Freund sein.

Er muss einiges durchgemacht haben, wenn er sogar zum Psychologen muss. Und dann schon so lange, wenn ich das richtig verstanden habe. Der Gedanke macht mich unglücklich. Irgendwie belastet es mich, dass man ihm wehgetan haben könnte.

Seine Augen gehen mir ebenfalls nicht mehr aus dem Kopf. Er hat die schönsten Augen, die ich jemals gesehen habe. Braun mit goldenen Sprenkeln und eine schwarze Färbung um seine Iris, als wenn jemand mit einem schwarzen Filzstift drum herum gemalt hätte, um sie noch mehr hervorzuheben. Ohne seine Mauer haben seine Augen geleuchtet wie ein Tigerauge bei Sonnenschein. Dann sind da noch seine endlos langen Wimpern - seufz! Doch als die Mauer sich aufgebaut hat, sahen seine Augen eher aus wie dunkle, matte Kohle. Der Iris-Ring wurde eins mit der schwarzen Farbe der Kohle und gab seinem Blick einen leeren und abwesenden Eindruck. Das war echt merkwürdig!

Ich kann nicht fassen, dass ich gerade über Jasons Augen nachdenke. Sonst denke ich nur an Tims babyblaue Augen.

Doch Tim braucht keine Hilfe, er ist engagiert genug im Leben. Ich denke an Maya und schnaufe ärgerlich. Er hat definitiv keine Hilfe nötig! Jason hingegen braucht Freunde, das hat seine Mutter gesagt. Wie wäre es also, wenn ich ihn heute Abend einfach mitnehme? Was gibt es besseres, als einen Kinoabend und ein unverfängliches Essen, um ein paar Leute aus seiner Schule kennenzulernen? Aber wenn ich jetzt wieder auftauche, dann schmeißt er mich sicherlich wieder raus. Hm. Vielleicht warte ich noch ein bisschen und gehe später rüber, dann stell ich ihn einfach vor vollendete Tatsachen und er kann sich keine Ausrede überlegen.

Gesagt, getan, am frühen Nachmittag stehe ich vor Jasons Tür und klingele. Ganze vier Mal tue ich das. Mein Gott, sind die denn taub?

Schließlich öffnet Jason die Tür und sieht verschlafen aus. Habe ich ihn etwa geweckt?

„Du?“, fragt er und es klingt zumindest nicht unfreundlich. Eher ziemlich überrascht, aber im guten Sinne.

„Sorry, ich wollte dich nicht wecken…“

Pause.

Komplette Stille!

Ich warte geduldig und lasse ihm Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen. Ich bleibe extra ein paar Schritte mehr von ihm entfernt, damit ich ihn nicht erneut vergraule. Dabei starre ich ihn genauso an, wie er mich. Seine dunklen Haare sind wirr, seine Wangen gerötet. Er trägt eine Jogginghose und ein weißes, enges Sport T-Shirt, das nichts verbirgt. Er ist muskulös, durchtrainiert und hat definitiv einen Waschbrettbauch. Er sieht einfach nur sexy aus. Meine Augen wandern wieder hoch zu seinem Gesicht und ich spüre, wie die Röte in meine Wangen zieht, als sich unsere Augen treffen. Erwischt! Verdammt!

„Ähm… Meine Eltern sind nicht da, sie sind einkaufen“, sagt er schließlich, auch eindeutig verlegen.

„Ich wollte zu dir!“, sprudele ich hervor.

Ich sehe einen noch perplexeren Gesichtsausdruck als schon zuvor und auch die Tigeraugen schauen stauend. Doch dann schlagartig, als wenn jemand einen Schalter umgelegt hat, verändert sich die Farbe seiner Augen und die Kohle ist zu sehen.

„Was gibt es denn so Wichtiges?“, fragt er und klingt jetzt genervt.

Wie kann er so schnell seine Laune wechseln? Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr er mich verwirrt. Und erinnere mich ebenfalls daran, was ich heute über ihn gehört habe. Ich habe eine Mission.

Ich atme tief ein und schaue ihm direkt in seine abweisenden Kohle-Augen. „Ich nehme dich gleich mit ins Kino, es ist schließlich Wochenende. Dann kannst du schon mal einige deiner Klassenkameraden kennenlernen!“, erkläre ich mit fester, fröhlicher Stimme. Ich mache mit meiner Stimme ebenfalls deutlich, dass ich kein „Nein“ akzeptiere.

In seinem Gesicht läuft nun eine Achterbahnfahrt an Gefühlen auf und ab und die Farbe seiner Augen wechselt sekündlich, bis er schließlich wieder zu seinem starren Blick zurückkehrt. Er holt tief Luft und ich weiß genau, was gleich kommen wird.

Doch nicht mit mir. Nein!

„Ich hole dich um halb sechs ab. Wir gehen vorher noch etwas essen“, sage ich schnell, und dann drehe ich mich hastig auf dem Absatz um und laufe zu meinem Haus zurück.

Ich werde dich schon noch zum Reden bringen, denke ich und eile hinauf in mein Zimmer. Dort schaue ich mit klopfendem Herzen rüber zum Haus von Jason und sehe, wie er aufgebracht in sein Zimmer marschiert. Er sieht total verwirrt aus, geradezu panisch und rauft sich seine Haare. Er sieht so hilflos aus, dass ich gleich ein schlechtes Gewissen habe. Doch dann denke ich an die Worte von Sharon und mir wird klar, dass Jason nie freiwillig Kontakt suchen würde und manchmal muss man einfach mit seinen Ängsten konfrontiert werden, um etwas zu ändern. Es ist zu seinem Besten und was sollte schon groß passieren?

Wenn er erst mal sieht, wie nett alle sind, dann wird er erleichtert sein, dass ich ihn gezwungen habe mitzukommen. Oder?

Plötzlich schaut er aus dem Fenster. Unsere Augen treffen sich und ich habe blitzartig Angst, dass er mir jetzt doch noch ein „Nein“ erteilt. Schnell gehe ich zum Fenster und ziehe meine Gardine zu.

So! Jetzt kann er seinen Kopf schütteln. Ich sehe ihn nicht. Nichts wird mich davon abhalten, ihn nachher abzuholen. Gar nichts! Er muss lernen, seine Ängste zu überwinden…

Jason

Ich bin baff. Dieses Mädchen ist echt energisch. Ins Kino? Ich? Das ist nicht möglich! Es ist dort eng und man berührt zwangsläufig andere Menschen. Warum kann sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?

Meine Gefühle fahren hoch und runter. Ich denke an meinen Traum von eben zurück. Ich habe gelacht und war normal, ohne Angst, und da war Nay an meiner Seite und wir haben uns geküsst, was echt verrückt war, denn ich hatte noch nie solche Art von Träumen. Ich habe sie tatsächlich ohne Scheu und Albträume in meinen Armen gehalten. Nach meinem Aufwachen habe ich etwas in mir gespürt, was mir tierische Angst gemacht hat und dann stand sie vor der Tür. Als wenn sie jemand aus meinem Traum herausprojiziert hätte. Sie sah so entschlossen aus und so wunderschön und ich war plötzlich gefangen in etwas Unbekanntem. Ich wollte mehr, doch gleichzeitig spürte ich die bekannte Panik in mir aufsteigen. Doch meine ganze Abwehr prallte gegen eine Mauer, eine sehr entschlossene Nay-Mauer.

Wie hat sie das nur gemacht?

 Wieso ist sie nicht davongelaufen?

 „Ich hole dich um halb sechs ab. Wir gehen vorher noch was essen…“ Diese Worte gehen immer wieder durch mein Hirn. Sie sind unschuldig, aber gefährlich… sie schreien das Wort: Achtung! Immer wieder… und das erste Mal in meinem Leben möchte ich die Worte der Warnung ignorieren.

Ich raufe meine Haare und merke, wie sich ein Schrei in mir manifestiert. Da ist ein Verlangen, das ich kaum beherrschen kann. Es ist neu und verwirrend und beherrscht meinen kompletten Körper und meine Sinne.

Meine Gedanken rasen. Ich bin gestört! Ich habe keine Freunde verdient! Aber ich brauche welche. Ich brauche einen! Nay! Was soll ich bloß tun? Gefühle und Verstand kämpfen miteinander und suchen nach Auswegen. Doch dann, nach einem scheinbar unendlichen Kampf, gibt mein Verstand auf und ich atme tief durch. Was soll schon passieren? Ich habe einen Schutz, meine Handschuhe, meine Jeans und den Pullover. Keiner wird mir zu nahe treten. Ich könnte ganz hinten am Ende des Ganges sitzen. Ich muss es nur erklären. Ich will nur einen Tag normal sein - ohne Ängste. Ich muss etwas Normales spüren, sonst drehe ich durch. Und mein Entschluss steht fest. Ich werde mit ihr mitgehen.

Sharon ist überglücklich, als ich ihr erzähle, dass ich mit Nay ins Kino gehen werde. Ich habe sie noch nie so zufrieden gesehen. Meine Pflegemutter gibt sich wirklich so viel Mühe. Ich weiß, wie schwer es ihr fällt, sich mit ihren Gefühlsausbrüchen zurückzuhalten. Es tut mir leid, dass ich so krank bin. Ich will wirklich gerne normal sein, aber der Gedanke an Berührungen setzt meine Beine in Bewegung und ich möchte nur noch ganz weit weglaufen und schreien…

Pünktlich um 17:30 Uhr klingelt es an der Tür. Als ich sie öffne, bin ich erst einmal sprachlos. Ich habe noch nie ein schöneres Mädchen gesehen als Nay. Ihr rotes Top lässt ihre dunkelblauen Augen leuchten und ihre blonden Haare wellen sich in den Spitzen und rahmen ihre natürliche Schönheit ein. Sie ist nur wenig geschminkt und selbst das hat sie nicht nötig. Ihre Jeans ist knackig eng und kurz, man sieht ihre langen Beine. Sie scheinen endlos zu sein. Mein Mund will ein Wow formen, doch ich beherrsche mich in letzter Sekunde. Stattdessen versuche ich, so gelangweilt wie möglich auszusehen. Damit halte ich sie auf Abstand, das ist mir klar. Wäre ja noch schöner, wenn sie mich spontan umarmt oder dergleichen. Ich schüttle mich innerlich vor dem Gedanken. Das wäre wirklich eine Katastrophe!

„Bist du fertig?“, fragt sie mich und ihre blauen Augen strahlen noch heller. In mir brennt die Sehnsucht. Sie ist atemberaubend! Meine Worte bleiben mir im Hals stecken, also nicke ich nur.

„Dann los!“, sagt sie und hüpft zu ihrem Auto. Ein kleiner blauer Honda fit. Wie passend!

Ich öffne die Beifahrertür und steige ein. Es riecht nach Zitrone. Ich liebe den Geruch. Er erinnert mich an Nay. Unschuldig und rein. Oh verdammt! Ich bin absolut verloren…

„Wir wollen erst etwas essen“, unterbricht sie meine fatalen Gedanken. „Im Sophienhof und Cinemaxx gibt es eine riesengroße Auswahl an internationaler Küche. Was möchtest du denn am liebsten essen?“, fragt sie und ich merke, dass sie sich anstrengt, ungezwungen zu klingen.

„Gibt es da einen Italiener?“, frage ich. Sie strahlt mich an und mein Herz macht einen Sprung.

„Ja… ich hole mir auch was beim Italiener. Tim hasst Nudeln und Pizza. Er steht mehr auf Steak und Burger“, sagt sie mehr zu sich selbst und wird rot.

„Wer ist Tim?“

„Ähm … das ist unser Nachbar … auf der anderen Seite.“ Sie gestikuliert nach links und dann fügt sie hinzu: „Er wohnt neben mir. Ich kenne ihn schon, seit ich denken kann.“ Sie wird wieder rot. Knallrot.

Dieser Tim scheint es ihr ja wirklich angetan zu haben. Ein Gefühl der Eifersucht überkommt mich. Doch ich schüttele es wieder ab. „Ist Tim auch dabei?“, frage ich

„Ja, er wird mit seiner Freundin Maya kommen.“ Höre ich da eine Spur Bedauern heraus?

„Warum ist er nicht mit uns gefahren, wenn er doch neben uns wohnt?“, bohre ich weiter.

„Er hatte noch etwas vor, wahrscheinlich mit Maya… wir treffen uns alle im Cinemaxx“, antwortet sie und klingt hoffnungslos.

„Aha, du willst ihn wohl mit mir eifersüchtig machen, wie?“, frage ich provozierend.

Bestürzung macht sich auf ihrem Gesicht breit und ich bemerke sofort, dass sie daran gar nicht gedacht hat. Doch warum zum Kuckuck nimmt sie mich dann mit?

„Ich wollte einfach nur, dass du schon mal welche aus deiner Schule kennenlernst!“, erklärt sie schließlich und ich glaube ihr. „Freunde sind wichtig!“, fügt sie dann hinzu und in ihrem Blick liegt eine Traurigkeit, die ich nicht so ganz verstehe. „Es muss schwer gewesen sein, im Abschlussjahr umzuziehen, nicht?“

„Nicht wirklich!“, murmele ich und dann warte ich auf weitere Fragen über meine alte Schule, doch Nay bleibt stumm.

Wir fahren schweigend weiter. Nach einer Viertelstunde sind wir dann im Parkhaus und steigen aus.

„Ich habe noch nie ganz oben parken müssen. Es muss richtig voll heute sein!“, seufzt sie laut und sieht sich um.

Menschenmassen? Mir fährt ein eiskalter Angstschauer über den Rücken. Ich fahre mit meiner Hand über meine Stirn und bemerke auf einmal, dass ich meine Handschuhe vergessen habe. Shit! Wie soll ich all den Leuten bloß aus dem Weg gehen? Worauf habe ich mich da nur eingelassen?

„Hey.. alles klar bei dir? Du bist auf einmal so blass!“, bemerkt sie und ihre Augen blicken mich mitleidig an. Oder ist es gar kein Mitleid, sondern etwas ganz anderes? Ich weiß es nicht! Sie macht mich wahnsinnig! Ihretwegen habe ich meine Handschuhe vergessen, denke ich wütend. Sie hat mich abgelenkt!

„Jason?“, höre ich sie sanft fragen und ich explodiere wie eine Sektflasche nach dem Schütteln.

„Es ist gar nichts!“, zische ich sie an und ich bemerke, wie sie zusammenzuckt. Sofort tut es mir leid, aber ich kann es nicht mehr zurücknehmen, denn eine Vision schießt plötzlich in meinen Kopf: leere, kalte Augen nehmen mich mit ihrem Blick gefangen: „Lauf, Jason, lauf!“, rufen sie! Doch ich kann nur starren. Sie kommen näher, immer näher, blutige Hände greifen nach mir und ich bin unfähig davonzulaufen … Du bist der Nächste … Bald - höre ich jemand sagen … Wir kriegen Dich …du bist unser…

Nay

Jason hat ganz eindeutig wirklich nicht viel Umgang mit anderen Menschen gehabt. Ich habe das Gefühl, dass er gerade extreme Angst hat, obwohl er mich eben noch voller Wut angeschrien hat. Es ist so bizarr, wie er sich verhält. Sein Blick ist angsterfüllt, als wenn er etwas ganz Schlimmes sieht. Aber da ist nichts! Er folgt mir wie in Trance zu den Aufzügen und sagt kein Wort.

Mein Herz verkrampft sich, denn ich fühle mich hilflos. Irgendwie berührt Jason mich innerlich und ich will ihm Sicherheit geben, aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Wie beruhigt man jemanden, ohne ihn zu berühren? Das ist unmöglich. Ich bin mir sicher, dass Worte alleine nicht wirken. Doch er ist hier! Und er versucht seine Ängste zu überwinden und das macht mich irgendwie stolz.

Mein Herz entkrampft sich und schlägt jetzt schneller. Oh Mann, ich bin genauso konfus wie er… seufz! Ich kann noch nicht mal beschreiben, was ich fühle. Es ist zumindest ein komplett anderes Gefühl als mit Tim. Mit Tim ist es mehr Gewohnheit!  Habe ich das wirklich gerade gedacht?  Der Aufzug kommt endlich und unterbricht meinen Schock-Gedanken.

Ein enger Raum ist furchtbar, wenn man nicht redet und Jason kann wirklich lange schweigen. Ich schiele vorsichtig zu ihm herüber und wahre den Sicherheitsabstand, den Jason anscheinend ganz instinktiv festgelegt hat. Seine Hände sind zu Fäusten geballt in seiner Jeans. Als wenn er sie vor mir verstecken will.

Und überhaupt: Er ist so angezogen, als wenn er jeden Moment einen kompletten Wetterumbruch erwartet. Dabei haben wir überraschenderweise immer noch Temperaturen um die 20 Grad Celsius, was für den Norden Deutschlands echt schon etwas Besonderes ist. Eigentlich müsste er das Wetter genießen. Aber das tut er nicht! Hängt das alles mit seinen Ängsten zusammen? Schützt er sich so etwa vor den Berührungen anderer, ist es das, was Sharon gemeint hat? Ich kann mir vorstellen, dass einige ihn damit komisch ansehen und ich werde sauer bei dem Gedanken, dass sich jemand über ihn lustig machen könnte.

„Freust du dich schon auf die neue Schule?“, frage ich ihn schließlich und ärgere mich über meine bescheuerte Frage. Aber ich will einfach seine Stimme hören.

Er sieht mich verstört an und dann seufzt er tief. Als wenn er erleichtert ist, dass ich noch mit ihm rede.

„Geht so!“, flüstert er schließlich. „Ich bin kein großer Fan von neuen Situationen.“

„Ach, das wird schon!“, erwidere ich aufmunternd. „Wir haben echt eine tolle Schule. Sie sind alle total nett da!“

Ich sehe, wie er seine Hände aus den Hosentaschen nimmt, um sie dann in die Ärmel seines Pullovers zu stecken. Okay, er hat eindeutig Berührungsängste, wenn nicht sogar schon eine Phobie!

„Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden!“, erklärt er mir jetzt noch leiser.

„Tja, dann bist du wohl in die falsche Nachbarschaft gezogen!“ Ich hoffe, er hört in meinem Ton, dass ich nicht vorhabe, ihn in Ruhe zu lassen. Danach schweigt er wieder mit gedankenverlorenem Blick.

Ich versuche immer noch herauszukriegen, was er wohl denken könnte, als wir uns auf den Weg in den Sophienhof machen.

Ich sehe schon von weitem Tanja und Kay, die den Stammtisch vor unserem Lieblings-Chinesen freihalten. Wir sind also nicht die ersten. „Hi!“, rufe ich ihnen fröhlich entgegen.

Tanja strahlt mich an. Wir kennen uns schon seit dem Kindergarten und sie ist neben Tim meine beste Freundin. Seit den Sommerferien ist sie nun mit Tims bestem Freund Kay zusammen und die zwei sind total glücklich. Es war in letzter Zeit immer schwierig, sie mit Kay zu sehen, da er mich immer wieder daran erinnert hat, dass Tim mich nicht will. Seitdem Kay mit Tanja zusammen ist, mustert er mich mehr als sonst und ich habe das Gefühl, dass Tanja meine Gefühle für Tim verraten hat. Doch vielleicht bin ich auch einfach zu offensichtlich. Zumindest entgeht mir nicht ihr Blick, als ich mit Jason auf sie zukomme. Beide begutachten ihn erstaunt. Ich - mit einem anderen Jungen - das ist sicherlich auch einzigartig. Ich seufze innerlich.

„Leute, das ist mein neuer Nachbar: Jason Rockefeller. Er geht mit uns ab Montag zur Schule.“

Kay macht sich auf, Jason die Hand zu schütteln, doch ich wehre ihn ab.

„Keine Intimitäten!“, lache ich und stoppe Kay. Er zieht seine Hand zurück und steckt sie in seine Hosentasche, dann stellt er sich so vor: „Ich bin Kay. Kay Schmidt. Und das ist meine Freundin Tanja!“

„Tanja Olomski!“, erwidert sie fröhlich und guckt Jason neugierig an. Ich sehe ganz eindeutig, dass sie sich über die Klamotten wundert. Doch ich bin mir sicher, dass sie ihn nicht verurteilen wird. Sie wird denken, dass er eine Frostbeule ist, so wie sie selbst. Jason sieht erleichtert aus, als er Tanjas amüsierten und Kays neugierigen Blick bemerkt. „Nett, euch kennenzulernen!“, sagt er und nickt den beiden zu.

„Was verschlägt dich hierher?“, fragt Kay interessiert und sein Blick wandert von mir zu Jason und zurück.

„Nun, Todd, mein Pflegevater, hat einen wesentlich besser bezahlten Job bekommen und das ist eigentlich der einzige Grund, warum wir hierher gezogen sind“, erklärt Jason und scheint langsam aufzutauen. Wir reden über banale Dinge und ich relaxe ebenfalls. Wer weiß, vielleicht braucht er wirklich einfach nur ein paar nette Freunde. Unsere Augen treffen sich und ich blicke in die Tigeraugen. Gut! Das ist es, was ich sehen will. Ich hoffe, das bleibt so.

„Nay!“, höre ich plötzlich jemanden rufen und mein Herz fängt an, schneller zu schlagen. Tim kommt die Rolltreppe hoch. Allein.

Langsam schlendert er auf uns zu und nimmt mich schließlich in die Arme. Er drückt mich fester als sonst und länger. Ich bin so überrascht über seinen Überfall, dass ich sprachlos bin. So etwas macht er sonst gar nicht. Schließlich seufzt er noch in mein Ohr: „Schön, dass du gekommen bist!“ und verwirrt mich damit komplett. „Ähm, wir hatten das doch abgesprochen… gerade erst heute Morgen“, erinnere ich ihn unsicher.

Kay räuspert sich. „Er tut so, als ob er dich ein Jahr nicht gesehen hat“, sagt er spöttisch.

Tim löst sich von mir und grinst mich selbstsicher an. Dann wendet er sich Kay zu. Die beiden kreuzen einen Blick, den ich nicht richtig deuten kann.

„Hi Kay!“, dann folgt ein High-Five! Plötzlich zieht Kay seinen Kopf nach rechts. Ich bin verdutzt. Will er Tim auf Jason aufmerksam machen? Tim dreht sich nach rechts und erblickt erst Tanja. Er umarmt und begrüßt sie und drückt ihr schließlich einen Knutscher auf die Wange, dann fallen seine Augen auf Jason und er erstarrt.

„Das ist Jason!“, sage ich und räuspere mich. Das ist alles echt merkwürdig.

Tim dreht sich zu mir und sieht mich fragend an. Ich sehe überaus deutlich die Frage, die er heimlich stellt: Wer, zum Henker nochmal, ist das? Und irgendwie ärgert mich das. Er darf wohl mit anderen Mädchen ankommen, aber ich nicht mit einem Kerl, oder wie? Wenn ich das mache, ist es falsch, wie? Pah!

„Du bist dann wohl Tim!“, sagt Jason. Höre ich da Eifersucht in seiner Stimme? Nein, ich muss es mir einbilden.

„Kenne ich dich?!“, fragt Tim und macht ein Gesicht, das abfälliger nicht sein könnte.

„Nein, aber ich habe schon viel von dir gehört. Nay hat mir von dir erzählt“, höre ich Jason erklären.

„Soso, hat sie das! Nun, sie hat noch nie von dir erzählt! Und ich kenne sie schon ewig…“, gibt Tim arrogant zurück.

Jason grinst nun breit. Es ist echt ein süßes Grinsen und mir wird warm ums Herz - und das verwirrt mich.

„Ich bin erst heute hierhergezogen, bin sozusagen euer neuer Nachbar. Also kannst du theoretischer weise noch nichts von mir gehört haben.“, lächelt Jason und fügt hinzu: „Das ändert sich aber jetzt…“

Jason und Tim starren sich in die Augen und mir wird es langsam mulmig. „Wir sollten etwas essen!“, werfe ich hastig dazwischen, um die Situation zu retten. Ich kann nicht glauben, was hier gerade abgeht!

„Wo ist eigentlich Maya?“, fragt Tanja und kriegt einen Fußtritt von Kay. Spinnt der jetzt auch?

„Aua! Was sollte das denn?“, schimpft sie.

Ich schaue zu Kay und wedele mit meinen Händen vor dem Gesicht. „Seid ihr alle heute verrückt geworden“, frage ich ihn und dann wende ich mich Tim zu: „Ja, wo ist Maya? Ich bin froh, dass ich mir ihren Namen merken konnte.“

„Ich… wir, das war nie was Ernstes mit uns…“, antwortet Tim abwertend.

„Also ist Schluss?“, will ich wissen, denn ich werde aus Tim gerade nicht schlau. Hat er nicht heute Morgen noch von Maya geschwärmt?

„Sie war nicht die Richtige!“, zischt Tim mit zusammengebissenen Zähnen und schaut ärgerlich zu Jason. Als wenn der etwas dafür könnte.