29,99 €
Masterarbeit aus dem Jahr 2013 im Fachbereich Literaturwissenschaft - Allgemeines, Note: 2, Universität Erfurt, Sprache: Deutsch, Abstract: Mit seiner Aussage über das bedeutendste Werk des griechischen Dichters Sophokles, trifft Georg Steiner den Kern der Bedeutsamkeit und Wichtigkeit der ‚Antigone‘. Sophokles schrieb den Mythos der Antigone 442 v. Chr. nieder und schaffte vor tausenden Jahren ein Werk, welches die Menschen über die Jahrhunderte hinweg bis heute fasziniert und immer wieder aufs Neue interessiert. Aufgrund dessen zählt Sophokles‘ Werk zu den literarischen Texten, die im Laufe der Literaturgeschichte am meisten neu interpretiert, transformiert und rezipiert wurde. ‚Antigone‘ durchlief seit der Veröffentlichung einer Vielzahl von Veränderungen hinsichtlich des Mythos als auch der Figuren selbst. Die erste Rezeption verfasste Euripides bereits ein paar Jahre nach Sophokles und verwandelte die Tragödie der Antigone in seinem Werk in eine Liebesgeschichte zwischen Antigone und Haimon, die ein glückliches Ende findet. Das Interesse an dem griechischen Mythos verschwand in den anschließenden Jahrhunderten und entflammte erst wieder im 16. Jahrhundert mit einer erneuten Veröffentlichung einer Antigone-Rezeption. Ab diesem Jahrhundert rückt ‚Antigone‘ in den Mittelpunkt und bleibt dort bis heute verharren. Gerade im 20. Jahrhundert hat das Werk den Höhepunkt seiner Signifikanz gefunden und wurde in dieser Phase am häufigsten interpretiert und weiter entwickelt. Autoren wie Brecht, Hasenclever und Hölderlin haben den griechischen Mythos als Grundlage verwendet, und die Figuren in einen neueren, zeitlich angepassten Kontext gesetzt. Doch auch wenn inhaltliche Veränderungen vernommen wurden, bleibt der Kern des antiken Werkes dennoch erhalten. Interessant ist hierbei nicht nur die Frage, was Sophokles‘ ‚Antigone‘ bedeutend macht und wieso es immer wieder in den Mittelpunkt gestellt wird, sondern vor allem auch, warum der literarische Text über die Jahrtausende hinweg transformiert werden muss, um weiterhin zu bestehen. In der nun folgenden wissenschaftlichen Arbeit wird die Rezeption des Werkes im Mittelpunkt stehen. Um die Veränderungen des Urtextes herausarbeiten zu können, werden zwei Texte aus dem 20. Jahrhundert, die unterschiedlicher nicht sein können, im Fokus stehen. Neben Jean Anouilhs ‚Antigone‘ aus dem Jahr 1942, wird auch das 21 Jahre später erschienene Werk ‚Die Berliner Antigone‘ von Rolf Hochhuth den Grundstein der wissenschaftlichen Arbeit bilden. Beide erschienen zeitnah, unterscheiden sich jedoch in ihrer Rezeption und Transformation des Urtextes........
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Impressum:
Copyright (c) 2015 GRIN Verlag / Open Publishing GmbH, alle Inhalte urheberrechtlich geschützt. Kopieren und verbreiten nur mit Genehmigung des Verlags.
Bei GRIN macht sich Ihr Wissen bezahlt! Wir veröffentlichen kostenlos Ihre Haus-, Bachelor- und Masterarbeiten.
Jetzt bei www.grin.com
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Theoretische und historische Bezüge
1.1 Der Antigone-Mythos
1.2 Der Begriff der Intertextualität
2. Gender und Widerstand in der antiken Gesellschaft – Antigone als feminines Modell
3. Hybris und Kult – Die höheren Instanzen bei Sophokles
3.1 Antigone und der Götterkult
3.2 Kreons Herrschaft
4. Jean Anouilhs ‚Antigone‘ – 1942
4.1 Historischer Hintergrund
4.2 Die determinierte Antigone
4.2.1 Erster Abschnitt: Prolog durch den Sprecher (S. 7-9)
4.2.2 Zweiter Abschnitt: Abschied von ihren Mitmenschen (S. 9-24)
4.2.3 Dritter Abschnitt: Kreon und Antigone – Rettung und Blockade (S. 24-64)
4.3 Intertextuelle Bezüge zu Sophokles und Fazit
5. Rolf Hochhuth ‚Die Berliner Antigone‘ – 1963
5.1 Historischer Kontext
5.2 Die moderne Antigone-Version
5.2.1 Formalitäten und modernisierte Figuren
5.2.2 Anne vor Gericht – Die Anklage (S.5-8)
5.2.3 Angst vorm Sterben und Rückblick der Tat (S.8-14)
5.2.4 Widerstand bis in den ersehnten Tod (S.14-18)
5.3 Intertextuelle Bezüge und Fazit
6. Schluss
7. Ausblick
8. Literaturverzeichnis
8.1 Primärliteratur
8.2 Sekundärliteratur
8.3 Internetquellenverzeichnis
„[D]ie Antigone des Sophokles ist nicht >>irgendein<<
Text. Sie ist eines der bleibenden und kanonischen Dokumente
der Geschichte unseres philosophischen, literarischen und
politischen Bewußtseins [sic].“
Georg Steiner: Die Antigonen, S. 9.
Mit seiner Aussage über das bedeutendste Werk des griechischen Dichters Sophokles, trifft Georg Steiner den Kern der Bedeutsamkeit und Wichtigkeit der ‚Antigone‘. Sophokles schrieb den Mythos der Antigone 442 v. Chr. nieder und schaffte vor tausenden Jahren ein Werk, welches die Menschen über die Jahrhunderte hinweg bis heute fasziniert und immer wieder aufs Neue interessiert. Aufgrund dessen zählt Sophokles‘ Werk zu den literarischen Texten, die im Laufe der Literaturgeschichte am meisten neu interpretiert, transformiert und rezipiert wurde.
‚Antigone‘ durchlief seit der Veröffentlichung einer Vielzahl von Veränderungen hinsichtlich des Mythos als auch der Figuren selbst. Die erste Rezeption verfasste Euripides bereits ein paar Jahre nach Sophokles und verwandelte die Tragödie der Antigone in seinem Werk in eine Liebesgeschichte zwischen Antigone und Haimon, die ein glückliches Ende findet.
Das Interesse an dem griechischen Mythos verschwand in den anschließenden Jahrhunderten und entflammte erst wieder im 16. Jahrhundert mit einer erneuten Veröffentlichung einer Antigone-Rezeption. Ab diesem Jahrhundert rückt ‚Antigone‘ in den Mittelpunkt und bleibt dort bis heute verharren. Gerade im 20. Jahrhundert hat das Werk den Höhepunkt seiner Signifikanz gefunden und wurde in dieser Phase am häufigsten interpretiert und weiter entwickelt. Autoren wie Brecht, Hasenclever und Hölderlin haben den griechischen Mythos als Grundlage verwendet, und die Figuren in einen neueren, zeitlich angepassten Kontext gesetzt. Doch auch wenn inhaltliche Veränderungen vernommen wurden, bleibt der Kern des antiken Werkes dennoch erhalten. Interessant ist hierbei nicht nur die Frage, was Sophokles‘ ‚Antigone‘ bedeutend macht und wieso es immer wieder in den Mittelpunkt gestellt wird, sondern vor allem auch, warum der literarische Text über die Jahrtausende hinweg transformiert werden muss, um weiterhin zu bestehen.
In der nun folgenden wissenschaftlichen Arbeit wird die Rezeption des Werkes im Mittelpunkt stehen. Um die Veränderungen des Urtextes herausarbeiten zu können, werden zwei Texte aus dem 20. Jahrhundert, die unterschiedlicher nicht sein können, im Fokus stehen. Neben Jean Anouilhs ‚Antigone‘ aus dem Jahr 1942, wird auch das 21 Jahre später erschienene Werk ‚Die Berliner Antigone‘ von Rolf Hochhuth den Grundstein der wissenschaftlichen Arbeit bilden. Beide erschienen zeitnah, unterscheiden sich jedoch in ihrer Rezeption und Transformation des Urtextes. Während Anouilh Antigone in die Zeit des besetzten Frankreichs versetzt und sich nah an Sophokles orientiert, wandelt Hochhuth das Werk so deutlich ab, dass Antigone selbst im Titel genannt werden muss, um sie innerhalb der Novelle wiederzuerkennen.
Der Fokus der Betrachtungen der Rezeption des Urtextes anhand der beiden auserwählten Werke wird auf dem Individuum und der Instanz liegen. Das bedeutet, dass im Mittelpunkt der Masterarbeit herausgearbeitet wird, wie sich die Figur der Antigone und die höhere Instanz des Götterglaubens sowie des Herrschertums Kreons innerhalb der Arbeiten Anouilhs und Hochhuths transformierten. Die Frage stellt sich, ob die beispielhafte Antigone-Figur, die vor allem für ihre Stärke, ihren Mut, ihre Emanzipation und vor allem für ihre Selbstbestimmtheit steht, innerhalb der Transformationen ihre Bedeutung verloren hat und inwiefern der Götterglaube, der in der Antike wesentlich war, im 20. Jahrhundert noch verwendet werden kann, ebenso wie die Instanz eines Herrschers.
Die Werke werden nacheinander betrachtet, damit zunächst jedes für sich detailliert im Hinblick auf die zentrale Figur der Antigone und die Instanz des Glaubens und der Herrschaft fokussiert werden kann. Signifikant werden hierbei auch die Intertextualität und die Anpassung des Urtextes an die jeweils aktuelle Zeit, d.h. die Annäherung des Inhaltes an das kulturelle Umfeld, sein.
Aus dem Schwerpunkt der nun folgenden wissenschaftlichen Masterarbeit ergibt sich, dass die zentralen grundlegenden Texte um Anouilh und Hochhuth kontextuell im Detail betrachtet werden. Daraus erschließt sich die Signifikanz der beiden literaturtheoretischen Ansätze der Intertextualität und der Sozialgeschichte, da die grundlegenden Werke sowohl im Einzelnen unter einem bestimmten Schwerpunkt betrachtet werden sowie ihre intertextuellen Bezüge zum Urtext des Sophokles‘[1].
Die Figur der Antigone ist eine Gestalt aus der griechischen antiken Mythologie. Ihr Mythos[2]bildet den Grundstein für Sophokles‘ Werk ‚Antigone‘, in dem er ihr Leben in den wesentlichen Zügen übernimmt. Sophokles war der erste Autor, der den Mythos rezipierte, indem er ihn nieder schrieb. Durch die Entstehung des eindrucksvollen Werkes wurde es für die folgenden Rezeptionen als Grundlage neben dem Mythos selbst gewählt. Die ursprüngliche Sage der Antigone wurde bis in das vierte Jahrhundert mündlich weitergegeben. Dabei bildete die Figur der Antigone den Mittelpunkt des lokalen Mythos und war ein gesellschaftliches Idealbild für Stärke, Individualismus, Treue und Mut.[3]Sophokles übertrug den zu seiner Zeit noch sehr bekannten Mythos in das Schriftliche, um nicht nur die Saga an sich weiterzuentwickeln und sie zu seinem Gunsten zu verändern, sondern ebenfalls, um durch die Verschriftlichung sicher zu stellen, dass Antigone dauerhaft Teil des kollektiven Gedächtnisses bleibt.
Obwohl Sophokles den Kern der Geschehnisse um Antigone in das Literarische übernimmt[4], muss er jedoch den Urtext weitestgehend derart transformieren, dass der Mythos literarische Bedeutung in Form der Tragödie[5]erhält, indem Sophokles zwischenmenschliche Beziehungen integriert, die für das tragische Handeln signifikant sind: Antigone ist demnach nicht nur mit Haimon verlobt, sondern lieben sich beide innig und vertiefen dadurch den Sinn hinter der Kettenreaktion des Selbstmordes Antigones. Weiterhin wird die Figur des Kreons, der innerhalb des Mythos schlichtweg ein tyrannischer König ist, für den Rezipienten personalisiert. Damit der Effekt am Ende des Mythos durch den Tod seiner Nichte, seines Sohnes und seiner Frau einen Höhepunkt erreicht, transformiert Sophokles die Figur des Kreon von einer starren selbstsicheren Figur in einen Herrscher, der zum Schluss der Tragödie sowohl an seiner Hybris[6]als auch an seinen Fehlern gegenüber seinen Mitmenschen zerbricht und für seine Taten emotional bestraft wird.[7]
Durch die Übertragung des Mythos in einen literarischen Kontext, wird nicht nur der Mythos selbst durch die Verschriftlichung sichergestellt, sondern wird er weiterentwickeltund gerade durch die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Sophokles integriert, literarisch und kontextuell vertieft. Der Autor Richard Schmidt verfasste diesbezüglich folgende Aussage:
„[Sophokles Tragödie] entfaltet den Konflikt zwischen Antigone, die von ihren Gefühlen, dem religiösen Pflichtbewusstsein und der Liebe zu ihrem Bruder getrieben wird, und Kreon, der die Belange des Staates vertritt, auf die Einhaltung der Gesetze drängen muss und dafür später durch den Tod seiner Frau und seines Sohnes hart getroffen wird“[8]
Seiner Aussage ist vollständig zuzustimmen, da sie den Kern der Bedeutung der Übernahme der Saga in die Literatur trifft: Ein Mythos, der innerhalb des Volkes mündlich weitergegeben wird, damit Antigone aufgrund ihrer mutigen und gerechten Handlung gegenüber dem Volk als Vorbild oder Idealbild wahrgenommen wird, gewinnt an inhaltlicher Bedeutung, wenn sie durch einen Autor weiterentwickelt und in die literarische Form der Tragödie übertragen wird, damit die Geschichte der Antigone bedeutsamer und effektiver gegenüber den Rezipienten wird. Signifikant ist weiterhin, dass Sophokles „den Ausschnitt aus dem mythischen Stoff so wählen und gestalten [musste], daß [sic] sein Bühnenspiel in den Zeitplan der Aufführung paßt [sic]“[9], wodurch inhaltliche Grenzen aufgebaut wurden. Dennoch hat Sophokles dem mythischen Stoff, durch die Struktur der Handlungen und der Beziehungen zwischen den Figuren, einen spannungsreichen und tiefgründigen Kontext gegeben[10]. Sophokles konzentrierte die Handlung seines Werkes und „verband sie so mit dem Bestattungsverbot, dass Antigone zur tragischen Hauptfigur wurde.“[11]
Warum Sophokles einen Mythos als Grundlage für seine nächste Tragödie auswählte, erklärt sich in der Bedeutung des Mythos für die Gesellschaft. Innerhalb der Polis waren die verschiedenen griechischen Sagen bekannt[12]. Durch die Integrierung des Mythos in die Form der Tragödie erschuf sich der Schriftsteller ein ideales Medium zum Volk, denn „[d]ie Tragödie war die Stimme der Religion […], in dem die Probleme der Polis unter religiösem Aspekt abgehandelt wurde. Sie spiegelte im Mythos die jeweilige Gegenwart“[13]wieder, „war [aber] alles andere als [ein] Widerstand gegen Staatsgewalt.“[14]
Sophokles hat den Antigone-Stoff als Erster rezipiert und hat ihm eine schriftliche Basis gegeben. Da er sich jedoch auf den Mythos selbst bezieht, ebenso wie die zwei folgenden zentralen Texte von Hochhuth und Anouilh sich auf den sophokleschen Text beruhen, und nicht ein vollkommen eigenes Werk erschaffen wird, ist die Bedeutung der Intertextualität im Allgemeinen sowie in Bezug auf die folgenden Texte signifikant.
Die Intertextualität ist seit den 1970er Jahren ein wesentliches Konzept innerhalb der Literaturwissenschaft geworden und übernimmt u.a.die Funktion, zwei verschiedene konkrete Texte in Beziehung zu setzen und sie zu systematisieren. Der Literaturwissenschaftler Gérard Genette[15]entwickelte in diesem Zusammenhang grundlegende Klassifizierungen. In seinem Werk ‚Palimpseste‘ stellt Genette fünf Typen der Transtextualität auf. Die erste Form ist die Intertextualität, die er in drei Erscheinungsformen gliedert:
„In ihrer einfachsten und wortwörtlichsten Form ist dies die traditionelle Praxis des Zitats […]; in einer weniger expliziten und auch weniger kanonischen Form die des Plagiats […]; und in einer noch weniger expliziten und weniger wörtlichen Form die der Anspielung […].“[16]
Die zweite Form ist die Paratextualität, in der ein zweiter Text via Kommentare innerhalb des Paratextes Bezug auf den primären Text nimmt. Der Paratext baut sich nach Genette aus dem Peritext[17]und dem Epitext[18]zusammen. Die dritte Form der Transtextualität bildet die Metatextualität, die sich durch die Kommentierung des Textes durch einen anderen auszeichnet, welches in Form von wissenschaftlichen Arbeiten bzw. Abhandlungen und verfassten Kritiken auftritt. Die Hypertextualität als letzte Form bildet jedoch den wesentlichsten Bestandteil der Transtextualität Genettes. Die komplette Transformation eines primären Textes in einen sekundären ist Bestandteil dieser Form. Umformungen finden in diesem Zusammenhang bei der Technik der Transformation so statt, dass der Kern und die Thematik des Urtextes erhalten bleiben, aber in einen anderen Stil oder Kontext gesetzt werden. Die Technik der Imitation erhält jedoch den Stil und verändert die Thematik. Die letzte Form der Transtextualität bildet die Architextualität, die sich übergreifenden Kategorien auseinandersetzt, wie beispielsweise die der Textgattungsbestimmung.
In wie weit sich Anouilh und Hochhuth der Transtextualität Genettes bedienen und wie sie den Urtext des Sophokles transformieren, imitieren oder nur innerhalb von Paratexten inszenieren, folgt im Detail in der jeweiligen Betrachtung der einzelnen Werke. Die Frage stellt sich, wie Sophokles‘ Werk abgewandelt wird und wie sich insbesondere die Figuren der Antigone und die Position der höheren Instanzen dabei transformieren.
Die Figur der Antigone aus Sophokles‘ Werk ist bereits seit Jahrtausenden bis in die heutige Gegenwart aufgrund ihrer weiblichen Stärke und ihrem Ausbruch aus gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen ein Exempel und ein feministisches Vorbild[19]. Ihre Taten und ihr Glaube sind es, die Antigone unsterblich und zu einem femininen Beispielmodell gemacht haben. Dabei zeichnet sich die Figur vor allem durch ihren Willen, ihren Glauben, ihren Mut und ihre Durchsetzung aus.[20]
Die Antigone-Figur ist in der griechischen Antike an ihre gesellschaftlichen Ketten gebunden und bricht innerhalb der Tragödie aus ihnen Stück für Stück heraus. Dem Schriftsteller Michael Shaw zufolge ist Antigone in den Geschlechternormen gefangen. Männer und Frauen werden differenziert betrachtet und jeweils in Polis[21](Mann) und Oikos[22](Frau) gegliedert.[23]Unter dem Begriff der „female intruder“[24], den Shaw geprägt hat, versteht sich die „Gefahr der weiblichen ‚Eindringlinge‘. […] Nach Shaw ist das Heraustreten der Frau aus ihrem traditionellen häuslichen Bereich, dem Oikos, und ihr Verstoß gegen die traditionellen Geschlechternormen […] eine Reaktion auf die respektlose Einstellung der Männer der Polis gegen den Oikos.“[25]
Antigone bricht demnach aus der für sie als Frau bestimmten Rolle aufgrund ihrer sozialen Zwänge und der ungerechten Behandlung der Männer gegenüber den Frauen heraus. Der Kampf zwischen Kreon und Antigone ist demnach nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Individuum und Staat, sondern vielmehr ein sozialer Konflikt zwischen der Polis und dem Oikos. Die folgende Aussage der Autorin Sue Blundell unterstützt diese Äußerung:
„According to this analysis, the clash between the sexes in Greek drama can be equated with a wider conflikt between the public and private spheres – in Greek terms, between polis and oikos. When women cross the boundary between the male and female realms, they are often doing so in defence of the interests of the household, which are being threatened by actions performed by men in the public arena.“[26]
Innerhalb der Gerichtsszene zwischen der Angeklagten Antigone und dem Ankläger Kreon bilden sich der Konflikt sowie die Geschlechterkonstellation zu einem Höhepunkt, in dem es einen Gewinner und einen Verlierer geben muss. Unüblich für Gerichtsprozesse im antiken Athen, muss sich Antigone nur einer einzigen Person stellen, die sowohl Herrscher, Richter und Henker zugleich ist und demnach absolute Macht innerhalb der gerichtlichen Situation besitzt.[27]Trotz ihres stets steigenden Mutes gegenüber Kreon, die sich vor allem innerhalb der Sprach-und Wortwahl[28]Antigones widerspiegelt, und ihrer Rechtfertigung ihrer Tat durch die über alles stehenden göttlichen Gesetze, ist es Antigone nicht möglich, sich gegen ihren Gegenspieler Kreon, der sich nicht nur durch seine Sturheit sondern auch durch seine Hybris auszeichnet, durchzusetzen.
Antigone bildet ein Beispiel für Frauen die, „wenn sie sich gegen Geschlechternormen und Verhaltenserwartungen wenden und ihre Rollenerwartungen enttäuschen, wenn sie die stereotypischen Vorstellungen von ihrer sozialen Roller unterlaufen […]“[29], innerhalb des Werkes ein Unbehagen entstehen lässt, da die Grenzüberschreitung aufgrund der Vernunft trotzdem zum Scheitern verurteilt ist.[30]Ihr Verlangen danach, ihr Leben nach dem Göttlichen zu richten und alles andere, so auch die Polis, unterzuordnen, wird zwar durch den Seher Theiresias legitimiert, jedoch verachtet sie jegliche Hierarchien innerhalb der Geschlechter- und sozialen Ordnung und lässt ihre Tat aufgrund dessen als Verfehlen sehen. Der Ausbruch aus der Konvention und das Grenzüberschreiten lassen die Figur zwar aus ihren gesellschaftlichen Zwängen befreien, doch ist das Scheitern ihrer Tat das Resultat.[31]
Antigone und Kreon sind nicht nur aus geschlechtsspezifischer unterschiedlichen Rollen unterworfen, sondern unterscheiden sie sich auch in ihrer Handlung. Während Antigone emotional ist, zeichnet sich Kreon durch sein politisches Denken aus:
„Während die trauernde Mutter in ihrer Trauerarbeit stumm bleibt, schreitet Antigone zur Tat. […] Antigone spricht, gleichsam buchstäblich, ‚aus dem Leib heraus‘, aus einer zeitlosen Zentralität fleischlichen Impulses und einer Vertrautheit mit dem Tod. Kreons Welt ist die Welt männlicher Immanenz, einer gewollten Ansässigkeit in einer Sphäre politischen Handelns und zukünftiger Entwicklung.“[32]