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«Du?» Erstaunt schaue ich vom Schreibtisch auf, an dem ich sitze und mich einmal mehr bemühe, Alexa zurückzuholen. Doch sie schweigt zu meinen Fragen über sie, Ian und Krümelchen. Und jetzt das: Nicht Alexa steht vor mir, sondern Ian - mit strahlend blauen Augen, zu langen Stirnfransen und leicht hochgezogenen Augenbrauen, so wie sie ihn immer geschildert hat. Natürlich, jetzt geht es um seine Geschichte. Das Kindheitstrauma, das sein Leben geprägt hat, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte. Wer sonst könnte mir die Geschichte erzählen? «Hei», begrüsse ich ihn, und meine Stimme klingt genauso erleichtert, wie ich mich fühle. «Kaffee?» Ein Roman über die Suche nach Geborgenheit, Nähe und Aufbruch.
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Seitenzahl: 358
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Für euch, die ihr nach dem Lesen von «Die andere Seite von SCHWARZ» gefragt habt: «Und dann?» .
Dies ist der zweite Teil der Geschichte von Ian und Alexa. Der Roman kann als Einzelband gelesen werden. Informationen zu den Personen und ihrer Vorgeschichte «Die andere Seite von SCHWARZ» finden sich hinten im Buch.
In diesem Roman kommen folgende sensitive Themen vor: Depressionen, Missbrauch, Kindheitstrauma, Selbstverletzung, Suizidversuch, Alkohol, Drogen, Schwangerschaft, Geburt, Tod.
Die schweizerdeutschen, norwegischen und französischen Ausdrücke werden im Glossar erklärt.
Im Text wird, wie in der Schweiz üblich, statt ß generell ss verwendet.
Prolog
Geburtstag
Der kleine Ritter
Neues Leben
Familienleben
Auszug aus der Burg
Jahreswechsel
Unterwegs
Stillstand
Veränderungen
Neue Träume
Bevor du gehst
Personen und ihre Vorgeschichte
Glossar
Danke
Die Autorin
Weitere Bücher
«Du?»
Erstaunt schaue ich vom Schreibtisch auf, an dem ich sitze und mich einmal mehr bemühe, Alexa zurückzuholen. Ich weiss, dass sie mir noch viel zu erzählen hat, aber sie zeigt sich seit Monaten immer nur für ein paar Seiten, um dann wieder in den Tiefen meiner Laptoptastatur zu verschwinden und mich alleinzulassen mit meinen Fragen über sie, Ian und Krümelchen.
Und jetzt das: Es ist nicht Alexa, die sich zu mir gesellt, sondern Ian!
Natürlich, denke ich, jetzt geht es um seine Geschichte. Wer sonst könnte sie mir erzählen?
«Hei!», begrüsse ich ihn, und meine Stimme klingt genauso erleichtert, wie ich mich fühle. «Kaffee?»
«Hei Mirjam. Für mich einen Espresso, bitte.»
«Keinen norwegischen Filterkaffee?»
Ian schüttelt den Kopf.
Sein Schmunzeln wärmt mein Herz. Beschwingt gehe ich in die Küche und starte die Kaffeemaschine.
Als ich mit einem Espresso und einem Cappuccino zurückkomme, steht Ian vor meinem Whiteboard mit den Projektskizzen und betrachtet die Notizzettel, Fotos, Zitate, Stichworte und Liedtexte, die die Wand zieren. Er hebt eine Augenbraue und fragt: «Du bist also stecken geblieben?»
«Ja», seufze ich und setze mich im Schneidersitz auf eines der Sitzkissen, die mein Büro seit Neuestem bereichern.
«Wo?», fragt er, nachdem er sich vorsichtig und ein bisschen ungelenk auf das zweite Kissen niedergelassen hat. Natürlich – seine versehrte Hüfte, eines der vielen Themen, von denen ich nicht weiss, wie sie sich weiterentwickelt haben.
«Geht das für dich?», frage ich zurück.
Ian nickt knapp, trinkt einen Schluck Espresso und schaut mich interessiert an.
«Wo ich stecken geblieben bin? Überall und nirgends», gebe ich zu. «Hilfst du mir?»
«Weshalb sonst sollte ich hier sein?»
Na ja … Vielleicht einfach, weil es schön ist, mit ihm unter der Dachschräge zu sitzen und Kaffee zu trinken? Ich dachte schon immer, dass ich mich in seiner Gegenwart wohlfühlen würde, und so ist es. Dennoch hat er natürlich recht: Er ist hier, weil seine Geschichte erzählt werden will.
«Wie ging es weiter», frage ich also, «nachdem du mit Alexa auf der Veranda standest und wusstest, dass ein neues Leben beginnt?»
Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Er schaut mich an, und ich denke daran, wie oft Alexa von seinen Augen erzählt hat. Es stimmt, was sie sagt: Man kann sich in ihnen verlieren.
Ian scheint es zu merken, jedenfalls senkt er den Kopf leicht und lässt dabei die Stirnfransen über die Augen fallen, bevor er antwortet: «Ich war gar kein Prinz. Ich war ein Trolljunge, der durch den Fluch eines bösen Zauberers in einen Prinzen verwandelt worden war. Die Liebe des Trollmädchens und der Mut des Trolljungen haben den Fluch gebrochen. Von diesem Tag an lebten sie glücklich und zufrieden in ihrer Höhle und bekamen Unmengen an Trollkindern. So hat Doris uns das Ende unseres ganz persönlichen Märchens erzählt. Und sie hatte zumindest teilweise recht.» Er hebt den Kopf und schaut mich an. «Wir standen auf der Veranda, Alexa hatte den Kopf an meine Brust gelegt. Ganz deutlich spürte ich das Kind, das zwischen uns wuchs. Ich legte das Kinn an ihre Stirn und wünschte mir, ewig so zu stehen, die Zeit anzuhalten, den Moment zu bewahren. Denn wer wusste schon, was die Zukunft bringen mochte für einen Prinzen, der keiner mehr war?»
«Was brachte sie?»
Ian überlegt einen Moment und sagt dann: «Eine Party!»
Die Kerzenflamme flackert.
Ian hält den Atem an und wartet, bis sie sich wieder beruhigt hat. Erst dann drückt er die Türklinke nach unten und trägt den Muffin mit der brennenden Kerze ins Schlafzimmer.
«Happy Birthday, mein Trollmädchen!», sagt er, darauf verzichtend, Alexa seine Singstimme zuzumuten. Schmunzelnd sieht er zu, wie sie vorgibt, gerade erst aufzuwachen, sich theatralisch streckt und die Haarsträhnen, die sich aus ihrem langen Zopf gelöst haben, aus dem Gesicht streicht.
Ian weiss, dass Alexa schon lange wach ist. Kurz bevor er aufgestanden ist, ging sie aufs Klo, aber sie haben beide das Spiel durchgezogen. Er nimmt an, dass sie die letzte Stunde lesend im Bett verbracht und das Buch schnell zugeschlagen hat, als sie ihn auf der Treppe hörte.
Nun gähnt sie übertrieben. Ihre Augen leuchten verschmitzt, als sie sich aufsetzt und die Kerze auf dem Muffin ausbläst, den Ian ihr hinstreckt.
Er setzt sich neben sie, und sie legt mit einem kleinen Seufzer den Kopf an seine Schulter. «Sag es ruhig», nuschelt sie. «Zum vierzigsten Geburtstag! Dein Trollmädchen wird vierzig.»
«Alles Gute zum vierzigsten Geburtstag», wiederholt Ian folgsam. «Mögen solch alte Frauen noch Kaffee zum Frühstück?»
«Mehr denn je!» Alexa lacht. Bevor sie aufsteht, nimmt sie Ian den Muffin aus der Hand, entfernt die Kerze und beisst ein grosses Stück des Küchleins ab. «Hier», sagt sie mit vollem Mund und streckt ihm den Rest entgegen.
Ian schüttelt lächelnd den Kopf und zieht Alexa die Bettdecke weg. «Komm. Der Kaffee wartet!»
Alexa schiebt sich an den Bettrand, was mit dem dicken Bauch etwas unelegant aussieht, und lässt sich von Ian auf die Füsse helfen.
Er führt sie aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter und hinaus auf die Terrasse, wo er den Tisch mit dem Goldrandgeschirr von Grossmama Ida gedeckt und mit einem Strauss Wiesenblumen geschmückt hat. Das reichhaltige Frühstück wurde von der Haushälterin seiner Eltern geliefert, die es liebt, Alexa und ihn zu verwöhnen. Am liebsten würde sie dies täglich tun, seit Alexas Schwangerschaft so gut sichtbar ist. Oder geht es um mehr? Was mag Sophia mitbekommen haben von den Geschehnissen der letzten Wochen, und wie viel weiss sie über ihn, seine Eltern und seine Schwestern? Ian schliesst kurz die Augen und verbietet seinen Gedanken, bei dem Thema zu verweilen. Stattdessen schiebt er Alexa galant einen der schlichten Holzstühle nach hinten. «Bitte sehr!»
«Danke.» Mit einem wohligen Seufzer setzt sie sich, lässt dabei aber seine Hand nicht los.
Ian bleibt stehen und ermöglicht es ihr, sich an ihn zu lehnen und für ein paar Augenblicke den Atem anzuhalten, um auf seinen zu achten. Er bemüht sich, ihn tief und gleichmässig fliessen zu lassen. Zu oft hat sie in den letzten Wochen miterlebt, wie sein Atem stockte, weil er sich unvermittelt in den dunklen Erinnerungen wiederfand, die seinen Körper abwechselnd in Alarmbereitschaft oder Schockstarre versetzen.
Schliesslich löst er sich sachte von seiner Frau, greift auf den Stuhl neben sich und reicht ihr ein in blaues Papier eingewickeltes Paket.
Sie nimmt es begeistert entgegen, beschwert sich aber gleichzeitig: «Ein weiches Päckli? Du hast mir doch nicht etwa Socken gestrickt wie Grossmama früher?»
«Wären etwas grosse Socken, oder?»
«Ich habe auch grosse Füsse zurzeit», kichert Alexa.
Ian setzt sich ihr gegenüber an den Tisch und schaut ihr zu, wie sie das samtene schwarze Band löst und das Papier aufreisst.
Sie faltet den Hoodie, der darin eingepackt war, auf und lächelt. «Wonder inside? Das stimmt!» Sie zieht ihre Strickjacke aus und streift den dunkelroten Hoodie über. «Er passt perfekt! Obwohl – über dem Bauch spannt er schon ein bisschen.»
«Das habe ich befürchtet.» Ian schmunzelt. «Aber ich wollte, dass du ihn auch nach der Schwangerschaft noch tragen kannst.»
«Auch wenn das Wunder dann ausserhalb ist?»
«Mein Trollmädchen, wenn du ihn trägst, wird immer ein Wunder drin sein.»
Alexa bricht auf der Stelle in Tränen aus. Das tut sie oft und gern in letzter Zeit, und vor Kurzem drohte Doris damit, ihnen von nun an die Geschichte vom Trolljungen und seiner Wassernixe zu erzählen.
Alexas neue Verletzlichkeit berührt Ian tief, und so greift er über den Tisch, nimmt ihre Hand und versucht, ihren Blick mit dem seinen einzufangen.
Sie schaut auf und lächelt unter Tränen. «Takk», flüstert sie. «Er ist schon jetzt mein Lieblingspulli.»
«Ich weiss», flüstert Ian zurück. «Und nun iss, damit er gleich noch etwas mehr spannt.»
Sie schaut ihn streng an. «Aber nur, wenn du auch isst.»
Er nickt gehorsam. Alexa zuliebe wird er sich bemühen, ihr Geburtstagsfrühstück zu geniessen, auch wenn ihm so vieles wortwörtlich schwer im Magen liegt und auf den Appetit schlägt.
Erneut schiebt Ian die dunklen Gedanken zur Seite, richtet den Blick auf seine Frau mit dem wunderschönen Babybauch, dem ansteckenden Lachen und dieser Wärme im Blick, die ihn erreicht, wo immer er sich befindet. Wenn sie wüsste, was sie heute noch erwartet!
«Was grinst du so?», fragt Alexa, der er noch nie etwas vormachen konnte.
«Vor Glück?», schlägt er vor.
Er glaubt, auch über ihr Gesicht den Schatten ziehen zu sehen, der ihn schon den ganzen Morgen bedrohen will. Sie glaubt ihm seine Antwort nicht.
«Ich freue mich, mit dir und Krümelchen zu frühstücken», präzisiert er. «Ich freue mich, dass ich wieder arbeiten kann. Ich freue mich auf das Nachhausekommen nach der Arbeit.»
Alexa nickt. «Darüber freue ich mich auch», sagt sie leise. «Und über diesen superschönen und kuscheligen Hoodie!» Das Lachen kehrt in ihre Augen zurück.
Ian atmet auf.
Eine halbe Stunde später lehnt Alexa sich auf dem Stuhl zurück und streckt sich. «Ich glaube, das war das beste Frühstück meines Lebens! Danke an dich und Sophia.»
Ian schmunzelt und schaut auf die Uhr. «Hast du gesehen? Es ist bald Zeit für deinen Videocall mit Kenia.»
Alexa lacht. «Das klingt aber nach einem wichtigen Termin!»
«Sehr», bestätigt Ian. «Und es ist ja auch wichtig, dass du dir von deinem Vater und Noomi zum Geburtstag gratulieren lässt!»
Langjährige Erfahrung hat sie gelehrt, dass das WLAN auf der Veranda vor dem Häuschen am stabilsten ist, also richtet Alexa sich mit Laptop und Wolldecke auf der Verandabank ein, obwohl die Sonne hier noch nicht hinreicht.
Ian bringt ihr einen Holzschemel, auf den sie ihre Füsse legen kann. Am liebsten würde er sich neben sie setzen, doch für ihn wird es Zeit, zur Arbeit zu fahren.
Nach seinem Zusammenbruch vor einem Monat war er für zwei Wochen krankgeschrieben. Seither arbeitet er wieder wie zuvor halbtags in der Praxis für Physiotherapie, in der er seit vielen Jahren angestellt ist, allerdings nicht mehr morgens, sondern nachmittags. Das gibt ihm die Möglichkeit, trotz Albträumen und schlaflosen Nachtstunden ausgeruht zur Arbeit zu fahren. Jeden Wochentag beginnt er die Arbeit um halb zwölf, und es hat sich bereits herausgestellt, dass die Termine über den Mittag sehr beliebt sind bei den Patientinnen und Patienten.
Auch wenn Ian dankbar ist für seine Arbeit, fällt es ihm jeden Tag schwer, sich von Alexa und Krümelchen zu verabschieden. Heute wünscht er sich noch mehr als sonst, hierzubleiben. Er hofft so sehr, dass seine Überraschungen gelingen werden und hält es fast nicht aus, dass er nicht dabei sein wird! Doch er küsst Alexa auf den Mund und dann auf den Bauch und geht langsam die Verandatreppe hinunter. «Bis bald!» Immer wieder dreht er sich auf dem Weg zum Auto um und winkt Alexa zu.
Sie winkt lachend zurück.
Kaum ist Ian vom Grundstück weggefahren und biegt auf die Landstrasse Richtung Dorf ein, stellt sich sein Kopf auf die Arbeit ein. Es verblüfft ihn jedes Mal, dass es funktioniert, aber es ist genau so, wie er es mit Frau Bischof, seiner Psychologin, besprochen hat: Wenn ihn zu Hause das Gefühl überkommt, es nicht auf die Arbeit zu schaffen, fährt er einfach los und schaut, was passiert. Bisher passierte immer dasselbe: Er merkte, dass er es sehr wohl schaffen würde.
Die Fahrt in die nahe Stadt dauert nur eine Viertelstunde. Ian stellt das Auto auf den Parkplatz und schaut beim Aussteigen unwillkürlich nach oben, zum Fenster seines ehemaligen Praxiszimmers. Seine Gedanken flackern zurück zu dem Tag, als er die Hand an den Fenstergriff legte, weil er die Bilder nicht ertragen konnte, die sein Unterbewusstsein so plötzlich freigegeben hatte. Auch jetzt drohen sie wieder, über ihn hereinzubrechen. Er hält sich an der Autotür fest, zwingt sich zu atmen und den Blick auf den blühenden Löwenzahn am Strassenrand zu richten. Die gelben Blüten überdecken das Bild der Hände, die nach ihm greifen. Die Stimme seines Onkels verschwindet hinter dem Gezeter der Spatzen im kümmerlichen Gebüsch neben dem Parkplatz.
Vorsichtig löst Ian die Hand vom Auto und macht einen Schritt. Seine Beine tragen ihn. Weder seine Psychologin noch Tobias, sein Chef, wissen, wie nahe er wirklich dran war, das Fenster zu öffnen und auf diesen Parkplatz hinunterzuspringen. Wenn er ehrlich ist, weiss Ian es nicht einmal selbst. Er weiss nur, dass es eine gute Idee von Tobias war, danach die Praxiszimmer zu tauschen, auch wenn er sich ansonsten beschwichtigen liess. Eine aufwühlende Familienangelegenheit aus der Vergangenheit, die Ian mit Frau Bischof aufarbeite. Ja, es werde Zeit brauchen. Tobias müsse sich keine Gedanken machen. Das Gute ist, dass Ian das selbst glaubt, sobald er die Praxis erreicht hat.
Wenn er sie erst einmal erreicht hat. Im Treppenhaus angekommen, wirft er einen raschen Blick über die Schulter. Ein leichter Schweissfilm bildet sich auf seinen Handinnenflächen. Die Entscheidung Lift oder Treppe verlangt ihm nicht jeden Tag gleich viel ab, doch heute könnte es schwer werden. Das Treppenhaus ist eng, und die Praxis liegt im dritten Stock. Wenn ihm jemand begegnet, ist Ausweichen schwierig. Noch unangenehmer wäre es, im Lift zu sein, wenn jemand zusteigen würde, der sein Unterbewusstsein wegen eines Geruchs, eines Kleidungsstücks, eines Blickes oder einer kleinen Geste in Alarmbereitschaft versetzen würde. Seiner Hüfte täte Bewegung gut, andererseits sollte er seine Kräfte gut einteilen. Ian schliesst die Augen und kämpft gegen den Nebel an, der es ihm verunmöglichen will, eine Entscheidung zu treffen. Er ballt die Hände zu Fäusten und bohrt die Fingernägel in die Handflächen. Dann streckt er die rechte Hand aus und drückt den Liftknopf. Gleich wird er den Arbeitsweg geschafft haben und bereit sein für seine Patienten und Patientinnen.
Alexa streckt die Beine aus und legt sie auf den Holzschemel. Sie ist sehr zufrieden mit dem bisherigen Verlauf ihres Geburtstags, auch wenn sie viel zu viel gegessen hat. Ihr ständiger Appetit macht ihr ein bisschen Sorgen, aber sie war schliesslich noch nie schlank, warum sollte sie es ausgerechnet als werdende Mutter anstreben? Ihre Gedanken wandern zurück zum Frühstück mit Ian. Er hat mehr gegessen, als in letzter Zeit für ihn üblich ist, was Alexa sehr freut. Überhaupt war heute Morgen viel zu sehen von dem hübschen, ruhigen, wunderbaren Mann, der er immer für sie ist, wenn es ihm gut geht. Alexa ist froh, dass er endlich weiss, was seinen Depressionen zugrunde liegt, aber seine neue Unberechenbarkeit ist anstrengend. Sie kann nie wissen, wann sich seine Augen verdunkeln, wann er beginnt, zu flach zu atmen, sich von ihr abwendet und diesen völlig verlorenen Ausdruck bekommt, der ihr das Herz bricht. Um von einem Moment auf den anderen wieder zurückzukommen und ihr ein etwas klägliches und dennoch verwegenes Lächeln zu schenken. Überlebende eines Missbrauchs sind Helden, hat sie kürzlich gelesen, und sie weiss genau, was damit gemeint ist. «Weisst du, ich liebe den Trolljungen, wie ich den Prinzen liebte, aber ich muss mich noch ein wenig an ihn gewöhnen», erklärt sie ihrem Kind, das mit einem schmerzhaften Kick in ihre Blase antwortet. «Vergiss es, ich geh nicht schon wieder aufs Klo!» Alexa schmunzelt beim Gedanken daran, dass sie zweimal vom Videoanruf mit ihrem Vater und seiner Partnerin davonlaufen musste, weil ihre Blase ihr keine Ruhe liess. Der leicht überforderte Gesichtsausdruck ihres Vaters war Gold wert!
Eine Bewegung lässt Alexa aufschauen. Mit seinem neuen Elektroroller kann sich der Postbote dem Häuschen sogar an ihrem Geburtstag unbemerkt nähern, obwohl sie so ungeduldig auf ihn gewartet hat. Sie hofft auf Post aus Finnland, von Doris und Sanna. Oder soll sie lieber hoffen, dass kein Brief von ihnen dabei ist und ihr der Paketbote später ein Geschenk von den beiden bringt?
Alexa steht auf, geht vorsichtig die drei Stufen der Verandatreppe hinunter und den Kiesweg entlang zum Gartentor.
«Bitte sehr, Alexa.» Der Postbote streckt ihr ein Bündel Briefe entgegen.
«Vielen Dank!» Sie lächelt und vertieft sich gleich in die Post.
Der Pöstler wartet noch einen Moment. Das Häuschen ist das letzte Haus des Dorfes, weshalb er immer erst gegen Mittag vorbeikommt und gern noch eine Weile mit Alexa plaudert. Schliesslich scheint er zu verstehen, dass sie heute keine Lust auf ein Schwätzchen hat, und verabschiedet sich.
Es ist ein enttäuschend dünnes Bündel Post, das Alexa in der Hand hält. Drei Briefe, die wohl Rechnungen enthalten, und der Katalog eines skandinavischen Modelabels, mehr ist da nicht. Enttäuscht lässt Alexa die Arme sinken, als ein Couvert zu Boden fällt, das sich offenbar zwischen den Katalogseiten verfangen hat. Sie bückt sich mit einem kleinen Ächzen und hebt den cremefarbenen, gepolsterten Briefumschlag auf. Sie erkennt Marits Schrift sofort. Niemand sonst schreibt solch akkurate und dennoch energische Buchstaben wie ihre Schwägerin. Alexa klemmt die uninteressante Post unter die linke Achsel und öffnet das Couvert, während sie durch den Vorgarten zurück zum Häuschen geht. Vor der Verandatreppe bleibt sie stehen und greift in den Umschlag. Ihre Finger berühren kühlen Stein, und sie zieht eine Armkette aus schlichten türkisen Steinen aus dem Couvert. Nachdem sie die Post auf die Verandastufen gelegt hat, streift sie die Kette über ihr Handgelenk, schüttelt unwillkürlich die Hand und lauscht auf das feine Klimpern. Ein Lächeln zieht über ihr Gesicht. Die Kette gefällt ihr, aber irgendwie will sie nicht recht zu Marit passen. Neugierig zieht sie die Karte aus dem Couvert und liest die wenigen Worte, die ihre Schwägerin geschrieben hat: «Ich habe mir sagen lassen, Amazonit helfe bei einer Geburt. Alles Gute zum Geburtstag und für das, was kommt. Ich liebe dich! Marit.»
«Ich liebe dich auch, Marit.» Alexa drückt die Karte an ihre Brust und legt dann die linke Hand auf ihren Bauch. «Spürst du es, Krümelchen? Wenn die Steine allein nicht helfen, dann bestimmt die guten Wünsche deiner Tante!» Sie schluckt, nimmt die Post von den Stufen und geht zurück zu ihrem Platz auf der Verandabank. «Wir machen jetzt nicht auf Wassernixe», erklärt sie ihrem Kind, «sondern geniessen einfach nur meinen Geburtstag!» Sie klimpert noch einmal mit den Steinen an ihrem Handgelenk und schliesst dann mit einem zufriedenen Seufzer die Augen.
«Hallo Trollmädchen!»
Alexa schreckt auf. Offenbar ist sie für kurze Zeit eingeschlafen, das hier fühlt sich jedenfalls verdächtig nach Aufwachen an. Sie öffnet die Augen und sieht direkt in das lachende Gesicht von Doris. «Geh weg», murmelt sie. «Ich will nicht, dass ich mir einbilde, Doris sei hier und dann ist es nur ein Traum.»
«Kein Problem, ich träume dasselbe.»
«Du bist wirklich schon wieder ohne Vorankündigung hergekommen?» Misstrauisch beäugt Alexa die Freundin.
«Das nennt man eine Geburtstagsüberraschung!»
Endlich steht Alexa auf und fällt ihrer Freundin lachend um den Hals. «Und Sanna hast du auch mitgebracht!», stellt sie kreischend fest und nimmt diese in die Umarmung mit dazu.
«Und ein Mittagessen», fügt Doris hinzu, was Alexa ein Stöhnen entlockt.
«Ich kann nicht noch mehr essen, sonst kann ich mich gar nicht mehr bewegen.»
«Ach was, Mamas brauchen Speck auf den Rippen», winkt Doris ab, «damit das Baby es schön bequem hat.»
«Na, dann … Was habt ihr mitgebracht?»
«Falafel vom Libanesen!»
«Überredet! Und was habt ihr denn da noch alles dabei?» Alexas Blick fällt auf den Bollerwagen, der vor der Veranda steht.
«Ach, so dies und das halt. Du wirst schon sehen. Erst essen wir.» Doris holt die Tüten mit dem Essen und verteilt alles auf der Verandabank.
«Wir haben auf der anderen Seite des Hauses eine Terrasse mit Tisch», wirft Alexa ein.
«Essen auf der Veranda ist aber cooler.»
Sanna holt aus einer Kühltasche drei alkoholfreie Biere und winkt mit ihnen. «Und du weisst, dass wir cool sind, Lady!»
Alexa schiessen die Tränen in die Augen. «Es ist so schön, dass ihr hier seid!»
«Und wir bleiben für eine ganze Weile», verrät Sanna. «Stell dir vor, wir werden einige Wochen bei Doris’ Eltern wohnen.»
«Warum denn das?», wundert sich Alexa.
«Mami muss den grauen Star operieren lassen und ist froh, wenn in den Tagen danach jemand zu Hause nach dem Rechten schaut.» Doris verzieht das Gesicht. «Und zu meinem Vater, der nie gelernt hat, sich etwas zu essen zu kochen.»
Alexa schmunzelt. «Und das bringt dich dazu, ins Haus deiner Eltern zu ziehen? Gemeinsam mit deiner Frau? Wer hätte das gedacht?»
«Na ja, …» Doris’ Blick fliegt zu Sanna, doch die ist offenbar in die Betrachtung von Alexas Post vertieft.
Doch dann schaut sie auf und sagt: «Es ist eine gute Gelegenheit, wieder einmal für längere Zeit Schweizer Luft zu schnuppern und dabei ein wenig an die Zukunft zu denken.»
Alexa kann den Blick, den die Freundinnen austauschen, nicht deuten, aber sie wundert sich, dass die freiheitsliebende Sanna sich offenbar überzeugen liess, auf unbestimmte Zeit bei Doris’ Eltern zu wohnen. Sie löst den Blick von den Freundinnen und schaut in den Vorgarten, um den beiden Gelegenheit zu geben, sich wieder zu sammeln. Dabei sieht sie, dass sich von der Brücke her eine Wanderin dem Häuschen nähert. Alexa kneift die Augen zusammen. Der Gang, die dreiviertellangen Hosen und der unangemessen grosse Rucksack auf dem Rücken lassen keine Zweifel offen. «Mama?»
Regina winkt. «Alles Gute zum Geburtstag!», ruft sie.
Alexa steht auf und geht ihr bis zum Gartentor entgegen. So verschwitzt, wie ihre Mutter aussieht, könnte man meinen, sie habe schon eine lange Wanderung hinter sich, und wahrscheinlich ist dem auch so. «Schön, dass du da bist, Mama! Hast du gewusst, dass du nicht die einzige Besucherin sein wirst?»
Regina lacht nur verschmitzt und streckt ihrer Tochter einen Strauss Waldblumen entgegen.
Nachdem er den letzten Patienten verabschiedet hat, geht Ian zurück in sein Behandlungszimmer, um aufzuräumen. Wie mit der Psychologin und Tobias abgesprochen, lässt er die Tür offen stehen, wenn er allein im Raum ist. Er versteht die Sicherheitsmassnahme und mag sie trotzdem nicht, denn obwohl er weiss, dass Tobias ihn nicht kontrollieren will, fühlt es sich so an. Noch unangenehmer ist allerdings das Wissen, dass jederzeit jemand ins Zimmer kommen kann, ohne sich anzumelden. Ian hat den Eindruck, dass sein Körper sich deswegen in einer Dauerspannung befindet, die ihm nicht guttut, und die sich gern als Spannungskopfschmerz hinter seiner Stirn festsetzt.
Auch jetzt ertappt er sich dabei, wie er zu schnell atmet und die Aufräumarbeiten hastiger erledigt, als er es sich gewohnt ist. Er zwingt sich, tief einzuatmen und die Luft bewusst wieder aus seinem Körper strömen zu lassen, während er sich noch einmal die Hände wäscht. Als er nach dem Handtuch greifen will, erstarrt er. Ohne sich umzublicken, weiss er, dass jemand hinter ihm steht. Er spürt den fremden Blick auf seinem Rücken, und seine Nackenhaare stellen sich auf. Sein Puls beschleunigt sich, das Blickfeld wird eng. Ian zwingt sich, ruhig zu atmen und trocknet in gespielter Ruhe die Hände, bevor er sich umdreht. Er ist sich ziemlich sicher, dass Tobias ihm nicht ansieht, dass sein Herz bis zum Hals schlägt. Es gelingt ihm sogar, seinem Chef mit einem Lächeln zu begegnen, das dieser arglos erwidert.
«Führst du deine Frau heute Abend zum Essen aus?», fragt Tobias. Bevor Ian antworten kann, fährt er mit einem verlegenen Lächeln fort: «Übrigens … Das ist für Alexa.» Er streckt Ian ein quadratisches Päckchen entgegen.
«Du hast ein Geburtstagsgeschenk für Alexa?», wundert sich Ian. «Da wird sie sich aber freuen.»
Tobias schmunzelt. «Ich hoffe es. Ich konnte einfach nicht widerstehen, als ich es gesehen habe.»
«Da bin ich aber gespannt!» Erleichtert stellt Ian fest, dass sein Körper in der Zwischenzeit verstanden hat, dass ihm keine Gefahr droht. Die Anspannung ist gewichen, der Atem geht normal. «Und wegen deiner Frage zum Essen: Nein, wir bleiben zu Hause und weihen zusammen mit Regina, Doris und Sanna unseren neuen Garten ein.»
«Ihr habt einen neuen Garten?»
Ian schmunzelt. «Er ist in diesen Minuten am Entstehen. Hoffe ich …» Als er Tobias’ neugierigen Blick bemerkt, stockt er kurz und fragt dann zu seiner eigenen Überraschung: «Hast du Lust mitzukommen und ihn dir anzusehen? Wir werden grillieren, und es hat bestimmt auch vegetarische Sachen. Sanna isst nämlich auch kein Fleisch. Alexa würde sich bestimmt freuen, wenn du mit uns feiern würdest. Und ich auch.» Er sieht, dass Tobias kurz davor ist abzulehnen und wappnet sich dafür. Die Erkenntnis, dass ihn ein Nein enttäuschen würde, kommt genauso überraschend wie die Einladung selbst. Obwohl Tobias und er sich seit vielen Jahren kennen, ist ihre Beziehung nie über eine lockere Freundschaft hinausgewachsen. Sie schätzen einander, verabreden sich aber nicht in ihrer Freizeit.
«Meinst du das wirklich ernst?» Tobias’ Mundwinkel zucken. «Du lädst mich zu einer Party in euer legendäres Häuschen ein?»
Ian grinst ein wenig verlegen und zuckt die Schultern. «Hast du Zeit?»
«Leider nicht. Ich bin heute Abend bereits verabredet.» Das glückliche Lächeln, das Tobias’ Lippen umspielt, mindert Ians Enttäuschung.
«Dann hoffe ich, du wirst einen wunderbaren Abend haben!»
«Das hoffe ich auch. Und gleichfalls.»
Ob Tobias erwartet, dass er Näheres wissen will zu dessen überraschendem Date? Ein Blick auf seinen Chef und dessen verklärten Gesichtsausdruck sagt Ian, dass es wohl keine Rolle spielt, was er in diesem Moment sagt oder nicht sagt.
Gemeinsam gehen sie aus dem Zimmer, und Ian verlässt die Praxis mit einem vorsichtigen Hochgefühl. Ohne zu zögern drückt er auf den Liftknopf.
Es ist ein spontaner Entscheid, dass er auf dem Heimweg im Dorfzentrum in die Dreissigerzone abbiegt und Richtung Villenviertel fährt.
Nicht nur die Geschwindigkeitsbeschränkung hat sich geändert, seit er nicht mehr hier wohnt, sondern auch die Stimmung im Quartier. Einige der grossen Villen wurden umgebaut und beherbergen heute mehrere Wohnungen. In einem der Nachbarhäuser seiner Eltern wohnt eine bunte, laute WG, und eine weitere Villa steht seit fast einem Jahrzehnt leer. Soweit Ian weiss, hat all dies seine Eltern nie gekümmert. Sie leben abgeschieden, grüssen ihre Nachbarn, wenn sie sie selten einmal sehen, zahlen ihre Steuern und scheinen ansonsten nichts zu tun zu haben mit dem Dorf, in dem sie seit beinahe vierzig Jahren leben. Natürlich versteht Ian nun auch das. Dass seine Eltern auf ihrer Flucht vor dem Geschehenen in der Schweiz landeten, war wirtschaftlichen Zufällen geschuldet, sie hatten nie ein Interesse daran, hier eine Heimat zu finden. Auf Ians Gesicht stiehlt sich ein Lächeln. Aber er hat eine Heimat gefunden, bei Ida und Alexa. Nie war ihm dies bewusster als jetzt, wo er diese Heimat bald mit seinem Kind teilen wird, und an dem Tag, an dem sein Zuhause noch schöner gemacht wird.
Die Villa kommt in Sicht, und Ian bremst ab. Es schmerzt überraschend stark, dass seine Eltern auch dieses Jahr am 17. Mai nach Oslo gereist sind. Eine Weile dachte Ian, Alexas vierzigster Geburtstag könnte wichtiger sein als der Nationalfeiertag in Norwegen, aber für Anne und Magnus schien sich diese Frage nicht einmal zu stellen. «Ob sie sich nicht davor fürchten, Erik zu begegnen?», fragte Alexa, als sie wegfuhren. Ian lächelte grimmig. «Warum sollten sie? Sie wussten es immer schon, für sie hat sich nichts geändert.» Doch auch ihn irritierte es, wie selbstverständlich seine Eltern nach Oslo reisten.
Ian drückt auf den Sensor, der an seinem Schlüsselbund hängt. Das breite Eingangstor öffnet sich. Noch immer weiss er nicht, was er auf dem Anwesen seiner Eltern eigentlich will, aber es fühlt sich richtig an, ohne sie hier zu sein. Er parkt das Auto im Carport und steigt aus. Der Gegensatz zum Häuschen könnte kaum grösser sein. Dort das schlichte Holzhaus mit seiner einladenden Veranda inmitten des Gartens, der immer mehr verwildert. Hier das grosse, helle Haus mit der wuchtigen Vortreppe und den hohen Fenstern, umgeben von gepflegten Blumenrabatten und akkurat geschnittenem Rasen. Ian schüttelt den Gedanken, dass beides gleichermassen zu seinem Leben gehört, ab und geht auf den Eingang zu. Beinahe ärgert ihn die Sicherheit, mit der seine Füsse den Weg finden.
Doris und Sanna haben trotz Alexas Protest Grossmamas Sessel in den Garten getragen, und nun sitzt sie da wie eine Königin auf dem Thron. Ihr Bauch ist härter, als er sein sollte, aber sie macht sich keine Sorgen. «Hören Sie gut auf Ihren Körper und Ihr Kind, und vertrauen Sie ihnen», hat ihre Frauenärztin letzte Woche gesagt und Alexa findet, dass sie das sehr gut macht.
Der Nachmittag war der pure Wahnsinn! Kurz nach Reginas Ankunft fuhr der Lieferwagen einer Gartenbaufirma vor und brachte vier Hochbeete, die von starken Männern rund um die Terrasse verteilt und mit einem perfekten Gemisch aus Erde und irgendeinem natürlich-biologischen Zaubermittel gefüllt wurden. Währenddessen schliffen Regina und Doris das Gestell der alten Hollywoodschaukel ab, und Alexa begann aus purem Übermut damit, die Holzstühle auf der Terrasse ebenfalls abzuschleifen. Danach half sie Sanna beim Bepflanzen der Beete und weinte ein paar Tränen der Rührung, als Regina ihr einen Beutel voll kleiner, hellbrauner Samen überreichte mit den Worten: «Das sind Samen von Moltebeeren aus Saskias Garten. Von Tuula, Lauri und Elin gepflückt, eingepackt und in die Schweiz geschickt». Moltebeeren – für Alexa die norwegischsten aller Pflanzen – in der Schweiz! Sie hofft von ganzem Herzen, dass die neuen Hochbeete ihnen ein gutes Zuhause bieten werden und die Erntearbeit von Saskias Kindern nicht umsonst gewesen ist. Natürlich folgte auf dieses wundervolle Geschenk gleich der nächste Videocall, diesmal nach Norwegen, wo Ians Schwester ihre ganze Familie zusammentrommelte, um Alexa «Gratulerer med dagen» vorzusingen und ihr damit ein paar Tränen zu entlocken.
Nun erstrahlt das Gestell der Hollywoodschaukel in sattem Blau, und die Hochbeete sehen aus, als hätten sie schon immer hier gestanden. Alexa hat vergessen, dass Sanna Gärtnerin gelernt hatte, bevor sie Dolmetscherin und Weltenbummlerin wurde, und es machte grossen Spass zuzusehen, wie sie sich in ihrer ursprünglichen Leidenschaft austobte. Nun hilft Sanna Doris dabei, die Streben der Gartenstühle regenbogenfarben anzustreichen, während Regina sich ins Badezimmer zurückgezogen hat und sich eine Dusche gönnt. Die neuen Kissen für die Hollywoodschaukel werden morgen geliefert, das haben Anne und Magnus in einem kurzen, herzlichen Telefonat aus Oslo versprochen.
Alexa ist überwältigt von dem grossartigen Teamwork, mit dem die Verschönerung ihres Gartens zustande gekommen ist. Nur zu gern würde sie deshalb aufspringen und Ian um den Hals fallen, als er nun um die Ecke des Häuschens in den Garten geschlendert kommt, ein breites Grinsen auf dem Gesicht und in den Armen einen Strauss Pfingstrosen, die verdächtig denen in Annes Blumenrabatten gleichen. Aber leider ist sie viel zu erschöpft dazu. Deshalb bleibt sie sitzen und ruft Ian nur zu: «Du hast das alles gewusst, oder?»
Er grinst, und Doris ruft: «Gewusst und organisiert. Hat er gut hingekriegt, oder? Vier Frauen, die für ihn die Arbeit erledigen, während er ein paar Blümchen pflückt!»
Ians Lachen wärmt Alexas Herz.
«Und offenbar bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen, um zu verhindern, dass ihr die ganze Terrasse zu einem Regenbogen macht!»
«Ach was, wenn schon würden wir auf der Vorderseite des Hauses weitermachen und die Veranda pink streichen.» Doris geht ihm entgegen und küsst ihn auf die Wange.
«Hier für dich, tapfere Malerin.» Ian überreicht Doris einen Teil seiner Blumen und verteilt die anderen an Sanna und Regina, die mit tropfenden Haaren auf die Veranda kommt. Als er bei Alexa ankommt, hat er nur noch eine einzige Pfingstrose in der Hand, die er ihr mit einem Handkuss überreicht.
«Das passt», meint sie schmunzelnd. «Ich habe klar am wenigsten gearbeitet heute Nachmittag.»
«Dachte ich’s mir doch. Du kriegst aber trotzdem noch ein Geschenk! Von Tobias.»
«Tobias hat ein Geburtstagsgeschenk für mich?»
Ian nickt und streckt ihr das in schwarzes Seidenpapier eingewickelte Quadrat entgegen. «Er sagt, er habe nicht widerstehen können.»
Ungeduldig reisst Alexa das Papier auf. Auch das, was darunter zum Vorschein kommt, ist schwarz. Sie dreht die Kartonhülle um und beginnt laut zu lachen. «Tobias schenkt mir eine CD von Europe! Woher weiss er denn, dass ich darauf stehe? Und seit wann machen die wieder Musik?»
«Die Antwort auf die zweite Frage kenne ich nicht», meint Ian. «Aber die auf die erste schon: Erinnerst du dich an die Zeit, als Tobias nach meinem Unfall regelmässig in die Villa kam, um mich wieder auf die Beine zu bringen? Du warst oft dabei und durftest Musik auflegen. Leider warst du eine sehr einseitig auflegende DJane …»
Alle lachen, aber Alexa sieht den Schatten, der über Ians Gesicht zieht. Sein Unfall ist mehr als zwanzig Jahre her, doch heute erscheint er – wie so vieles aus seiner Vergangenheit – in einem neuen Licht. Als Ian mit seinem Mofa kopflos aus dem Tor der Villa und direkt in ein Auto fuhr, hielt sein Onkel sich im Haus auf. Wie ist es Anne und Magnus nur gelungen, diese scheinbare Normalität aufrechtzuerhalten? Wie oft mochten Ian und Erik einander begegnet sein? Wie musste Ian sich dabei gefühlt haben, und wie kann es sein, dass ihm niemand den Grund für seine Gefühle erklärt hat?
Alexa schüttelt die verstörenden Gedanken ab und fragt: «Bringt mir jemand einen CD-Player? Ich hätte Lust auf ein wenig DJane-ing!»
Ian hört den bemüht unbeschwerten Unterton in Alexas Stimme, und es schmerzt ihn, dass es auch am heutigen Tag notwendig ist, die Schatten ein ums andere Mal bewusst zurückzudrängen. Doch ihre Worte helfen ihm, die Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln und zu verhindern, dass sie alles zerstören, worauf er hingearbeitet hat: Ein unbeschwertes, unvergessliches Geburtstagsfest für Alexa!
Er legt seiner Frau eine Hand auf die Schulter und widerspricht: «Ich denke eher, es ist Zeit für den Grill. Der ist übrigens auch neu und noch nicht zusammengesetzt. Irgendeine tüchtige Frau sollte mir dabei helfen.»
Doris verdreht die Augen, steht jedoch auf und salutiert. «Aye-aye, Captain!»
Doch Sanna schüttelt den Kopf. «Danke für die Einladung zum Abendessen. Aber es war ein langer Tag. Ich glaube, ich gehe lieber nach Hause und lege die Füsse hoch.»
«Mit ‹nach Hause› meinst du aber nicht das Haus meiner Eltern, oder?», wundert sich Doris.
Ian entgeht der ungnädige Blick nicht, den Sanna ihrer Frau zuwirft. «Ihr seid wohl alle müde nach diesem Nachmittag», stellt er fest.
«Das stimmt nicht.» Alexa schüttelt den Kopf. «Ihr seid gar nicht müde, ihr wollt bloss, dass ich mich ausruhe!»
«Und wenn es so wäre, Trollmädchen?», fragt Doris.
«Dann …» Alexa zögert.
Ihre Mutter beendet den Satz für sie: «Dann wäre auch das ein guter Grund, die Party zu beenden, wenn es am schönsten ist. Aber mir geht es wie Sanna: Ich war heute lange auf den Beinen und finde die Idee, mich auf meinen Balkon zu setzen und die Füsse hochzulegen, auch sehr verlockend.»
Alexa öffnet den Mund, um zu protestieren, lässt es dann aber sein.
Ians Herz zieht sich zusammen. Seine Frau ist es sich nicht gewohnt, dass man auf sie Rücksicht nimmt und ganz offensichtlich behagt es ihr nicht. Wie viel davon mag damit zu tun haben, dass sie ihr Leben seit Jahren seiner Gesundheit anpasst?
Doris reisst ihn aus seinen Gedanken, indem sie ihm auf die Schulter klopft. «Statt den Grill zusammenzuschrauben, könntest du deiner Frau eine schöne Massage schenken. Das liegt dir sowieso mehr, oder?»
Ihre Worte lassen ihn schmunzeln, und er gibt ihr in allen Punkten recht.
Während Alexa ihre Gäste zum Abschied umarmt und dabei wieder ein wenig zur Wassernixe wird, lehnt Ian sich mit dem Rücken an den Rand eines Hochbeets und geniesst das wohlig warme Gefühl in seinem Bauch. Seine Überraschung ist gelungen, Alexa ist glücklich.
Alexa wacht davon auf, dass ihr Kopf an etwas Hartes stösst. Verschlafen tastet sie über ihr Kissen und findet das Buch, über dem sie offensichtlich eingeschlafen ist. Nach einem einfachen Abendessen und Ians Massage ging sie ins Bett und wollte sich dem Roman widmen, den Regina ihr geschenkt hatte. Allerdings kann sie sich an keine Zeile mehr erinnern, die sie gelesen hat. Offenbar hat der Schlaf sie übermannt, kaum dass sie im Bett lag. Sie legt das Buch auf den Nachttisch und bemüht sich, beim Herumrollen nicht zu stöhnen. Ihr Bauch scheint von Nacht zu Nacht hinderlicher zu werden! Aufmerksam lauscht sie Ians Atemzügen und merkt erst jetzt, dass keine zu hören sind. Dennoch tastet sie nach seiner Hand, nur um festzustellen, dass er wirklich nicht neben ihr liegt. Ihr Körper schreit danach, wieder einzuschlafen, aber ihr Geist ist plötzlich hellwach. Ein Stechen im Bauch, das nichts mit Krümelchen zu tun hat, erinnert sie an die vielen vergangenen Nächte, in denen Ian aus seinen Albträumen aufschreckte und in ihren Armen Trost suchte.
Alexa setzt sich auf und wartet, bis ihr Kreislauf stabil ist. Ein Frösteln überzieht ihre Arme. Sie angelt den neuen Hoodie vom Stuhl, schlüpft hinein und geht erst auf die Toilette, bevor sie sich die Treppe hinunterwagt.
Ian ist weder im Wohnzimmer noch in der Küche. Terrasse oder Veranda? Veranda, entscheidet Alexa. Wieder fröstelt sie, doch dieses Mal ist es nicht wegen der kühlen Nachtluft, sondern wegen dem, was sie vor dem Häuschen antreffen wird. Die Verandabank war schon so oft Ians letzter Rückzugsort, an dem er den Kampf gegen die Depressionen verloren hat und einfach sitzen geblieben ist. Kann es sein, dass Alexa die letzten Tage Anzeichen einer depressiven Phase übersehen hat? Hat Ian sich zusammengenommen, bis die Überraschung zu ihrem Geburtstag gelungen war, und nun hat er keine Kraft mehr? Wird es ihr gelingen, Verständnis aufzubringen, wenn er sich lieber in die Dunkelheit sinken lässt, als seinen Erinnerungen und Albträumen ausgesetzt zu sein?
Vor der Haustür bleibt Alexa noch einmal stehen, voller Angst vor der Leere in Ians Augen. Aber es hilft ja nichts, es hinauszuzögern. Als sie den Arm ausstreckt, um die Klinke hinunterzudrücken, klimpert die Steinkette an ihrem Handgelenk. Alexa schliesst kurz die Augen, dann macht sie sich mit einem tiefen Atemzug Mut, öffnet die Haustür und tritt auf die Veranda hinaus.
Ian sitzt auf der Bank, die Beine weit von sich gestreckt, den Kopf an die Wand gelehnt. Im Licht der Strassenlampe, die vom Gartentor herüberleuchtet, wirkt sein Gesicht gespenstisch blass. Doch er dreht den Kopf, als er die Tür hört. Wagt ein Lächeln.
Alexa wird schwindlig vor Erleichterung. Er ist noch bei ihr! Sie setzt sich neben ihn und nimmt seine eiskalte Hand in die ihre. Prüfend legt sie die andere Hand an seine Wange. Auch sie ist kalt und fühlt sich wächsern an. Sie schaut in seine Augen und sieht das Grauen darin. Ganz vorsichtig zieht sie ihn an sich, und als er es geschehen lässt, nimmt sie ihn fest in die Arme.
Er vergräbt das Gesicht in ihren Haaren. Er weint nicht. Er zittert nicht. Er lässt sich einfach von ihr festhalten.
Alexa wünscht sich sehnlichst, sie könnte noch mehr für ihn tun.
«Hei», sagt Ian plötzlich erstaunt und löst sich von ihr. Mit einem kleinen Lachen in der Stimme fährt er fort: «Krümelchen hat mich in den Bauch geboxt!»
Die Erleichterung, die Alexa durchfährt, als sie sieht, wie Leben in Ians Gesicht zurückkehrt, lässt auch sie leise lachen. «Bilde dir nur nichts darauf ein. Das macht es bei mir andauernd!»
Er legt beide Hände auf ihren Bauch, und tatsächlich tritt Krümelchen noch einmal dagegen, was Ian ein erneutes Lachen entlockt. Dann lässt er die Hände sinken und schaut Alexa kopfschüttelnd an. «Es ist alles immer so schrecklich nahe beieinander, nicht wahr?»
Alexa nickt. «Ich glaube, so ist das Leben.»
Ian lehnt den Kopf wieder an die Wand. «Ich war heute in der Villa.»
«Du hast Annes Pfingstrosen geklaut, ich weiss.»
«Nicht nur.» Er schweigt.
Alexa lässt ihm Zeit.
«Hast du dich nie gewundert, warum es in der Villa keine Fotos von uns gibt?»
Alexa runzelt die Stirn. Nein, sie hat sich nie gewundert. Die Abwesenheit jeglicher Erinnerungen an die Zeit, als Marit, Saskia und Ian klein waren, war und ist so offensichtlich, dass sie Alexa nie aufgefallen ist. Fragend schaut sie Ian an.
«Mamma hatte Fotoalben vom Dachboden geholt. An dem Morgen im April, als wir alle in der Villa waren. Du weisst schon. Ich habe mich geweigert, sie anzuschauen. Aber heute, als ich wusste, dass Anne und Magnus nicht da sein würden, da habe ich es gewagt.»
«Und?» In Alexas Hals hat sich ein Kloss gebildet. Die Vorstellung, dass Ian sich in der riesigen Villa ganz allein auf seine Vergangenheit eingelassen hat, macht ihr Angst.
«Sophia war da», nimmt Ian ihre Gedanken auf.
Die Haushälterin der Villa, unsichtbar wie die Dienstboten aus früheren Zeiten. Etwas in Ians Stimme lässt Alexa glauben, dass sie heute nicht unsichtbar war. Dass sie es möglicherweise für ihn nie war. «Was hast du auf den Fotos gesehen?», fragt Alexa leise.
«Dass Mamma eine begeisterte und talentierte Fotografin war. Offenbar hat Saskia ihre bildnerische Begabung von Anne geerbt. Ich wusste das nicht. Ich wusste so vieles nicht.» Die Frustration in Ians Stimme ist unüberhörbar. Es scheint, als sei die Tatsache, dass er nichts von der Leidenschaft seiner Mutter wusste, fast so schmerzhaft wie das Schweigen um den Missbrauch.
«Was hat Anne fotografiert?», fragt Alexa.
«Uns. Die meisten Fotos hat sie gemacht, wenn wir im Wochenendhaus im Oslofjord waren.»
«Ein Haus im Fjord?», fragt Alexa.
«Ja, offenbar hatten wir ein Haus in den Schären.»
«Du erinnerst dich nicht?»
Er streckt in einer untypisch ausladenden Geste die Arme von sich. «Keine Ahnung! Ich nehme an, sie haben auch dieses Haus verkauft, als wir in die Schweiz gezogen sind, und ich weiss verdammt wenig über das, was vor und direkt danach geschah.»
«Schade, dass sie es verkauft haben.» Alexa weiss, dass es dumme Worte sind, aber offenbar sind es dennoch die richtigen, jedenfalls lächelt Ian und atmet tief durch.
«Ja, das ist es wohl.»
«Was habt ihr denn so gemacht, draussen im Fjord?», fragt sie vorsichtig.
«Offenbar hauptsächlich geangelt.» Ian schaut zu ihr, plötzlich mit einer erstaunlichen Lebhaftigkeit in den Augen. «Stell dir Magnus vor, jünger, als wir es heute sind, in weissen Shorts, mit nacktem Oberkörper und einer Angelrute. Marit mit viel zu langen Beinen und Schneidezähnen, die noch keine Zahnspange gesehen haben. Saskia, die aussieht wie eine perfekte Mischung ihrer drei Kinder. Und …» Ian schluckt. «Und dann ist da dieser kleine Junge. Immer an vorderster Front, frei und ungezähmt. Fremd. Er scheint so fröhlich …» Er stockt, sein Blick verliert sich irgendwo in der Dunkelheit. «Es gibt kein einziges Bild aus der Zeit, nachdem wir in die Schweiz gezogen sind. Anne muss aufgehört haben zu fotografieren. Das glückliche Familienleben, das es offenbar gegeben hat, war von einem Moment auf den anderen zu Ende.» Ian holt tief Luft. «Alexa, ich will, dass unser Kind fröhlich ist.»
Seine Worte bleiben zwischen ihnen hängen. Ian erkennt in Alexas Gesicht, dass sie darüber nachdenkt, und er glaubt, den Moment zu sehen, in dem sie versteht.
«Hast du mir deshalb diesen perfekten Geburtstag organisiert?», fragt sie, die haselnussbraunen Augen wachsam auf ihn gerichtet. «Soll er ein Grundstein sein für unser glückliches Familienleben? Damit unser Kind die Chance hat, fröhlich zu sein?»