Die Barnabas-Kapelle - Stefan Valentin Müller - E-Book

Die Barnabas-Kapelle E-Book

Stefan Valentin Müller

4,9

Beschreibung

Karl Barnabas ist ein Sonderling. Er hat kein Auto, sondern fährt mit einer Pferdekutsche durch den Spessart und bewohnt allein die abseits gelegene Barnabas-Kapelle. Mit vielen Menschen liegt er im Streit. Aber ist er auch ein Mörder? Richard Rose von der Mordkommission Aschaffenburg steht vor einem Rätsel: Wer hat die harmlose alte Anna Gaisa so gehasst, dass er sie ermordet und ihre Scheune in Jacobsthal angezündet hat? Die Lösung des Falls führt Rose zurück in die Vergangenheit - und konfrontiert ihn mit den eigenen Gespenstern. Der zweite Fall für Inspektor Rik Rose: ein abgründiges Krimilesevergnügen.

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Stefan Valentin Müller wurde 1962 in Aschaffenburg geboren. Studium der Veterinärmedizin und der angewandten Literatur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, Veröffentlichung von Kurzgeschichten, Sachbuch, Kinderbuch. Im Emons Verlag erschienen »Ich erkläre meine Stadt: Mainz für Kinder«, »Ich erkläre meine Heimat: Der Spessart für Kinder« und der Kriminalroman »Schlachthofsymphonie«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-707-9 Originalausgabe

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GESTALTLOSER WALD

NEBEL AUF HERBSTLAUB

DIE STÄMME SCHWEBEN

EINS

Etwas hatte sich verändert. Alois Geisa saß vor seinem Haus und blickte zum bunten Herbstwald hinüber. Dort, ein Stück hinter dem Dorf, wo ihr Garten lag, stieg dünner Rauch auf. Ein paar Tauben schossen über seinen Kopf hinweg. Ihr Flügelschlag schnitt fauchend durch die Luft.

Kaum eine halbe Stunde war vergangen, seit seine Frau ihren schweren Körper in die Kittelschürze gezwängt hatte und losgeradelt war. Während er mit einer kleinen Schaufel die Bierflasche aufhebelte, rätschte in der Ferne ein Eichelhäher. Der Kronkorken landete vor seinen Füßen, tanzte kurz, kam zur Ruhe. Alois Geisa setzte die Flasche an.

Es war noch früh. Eigentlich zu früh für das erste Bier, aber er wollte seinen Ärger hinunterspülen.

Sie hatten Streit gehabt, bevor Anna zum Garten fuhr. Faul sei er, hatte sie geschimpft, ein Nichtsnutz, der nur auf der Bank vorm Haus sitze und sich die Sonne auf den Bauch scheinen lasse. Immer hatte sie etwas zu meckern, dachte er, nie hatte er seine Ruhe. Ein Kreuz mit der Alten.

Wie hatte er es nur fünfzig Jahre mit ihr aushalten können? Fünfzig Jahre, ein halbes Jahrhundert. Das muss man auch erst mal hinkriegen. Und es war auch nicht alles von Übel. Ganz und gar nicht.

Er erinnerte sich noch genau, welches Kleid sie trug, als er sie zu ihrem ersten Tanz aufgefordert hatte. Sie war ja noch ein Mädchen gewesen damals, ganz scheu und schlank. Und er war auch kein Draufgänger. Er lächelte.

Wie oft waren sie spazieren gegangen, bis er seinen ersten Kuss bekam? Die anderen Jungen im Dorf hatten schon gelacht und ihm Ratschläge erteilt.

Dann endlich, eines Abends im September, saß Anna neben ihm auf einer Anhöhe über dem Dorf. Wie zufällig war seine Hand in ihre gerutscht, und sie hatte seine Finger fest umschlossen. Das hatte er als Aufforderung verstanden und, ohne zu überlegen, ihre Lippen geküsst. Sie hatte so schöne Lippen, das war ihm gleich aufgefallen, schon als er sie das erste Mal gesehen hatte.

Eigentlich hatte sie noch immer einen schönen Mund, wenn sie nicht gerade meckerte. Wie lange hatte er sie nicht mehr geküsst? Weshalb küsst man sich nicht mehr, wenn man fünfzig Jahre verheiratet ist, fragte er sich. Oder küsst man sich nicht mehr, weil man alt ist?

Gleich wenn sie vom Garten zurückkäme, nahm er sich vor, würde er sie küssen. Anna würde Augen machen. Damals, nachdem er sie das erste Mal geküsst hatte, sagte sie ihm, dass sie seine Hand nur gedrückt habe, weil sie über die Berührung erschrocken sei. Darüber hatten sie häufig gelacht, er und Anna.

Auch jetzt lachte Alois Geisa und wischte sich über den Mund, dann strich er mit der Hand über das silbrige Holz der Bank.

Die Bank, auf der schon sein Vater gesessen hatte mit seinen großen, schwieligen Händen. Wie oft hatte Alois Geisa die Härte dieser Hände gespürt? Damals, in diesen fernen, freudlosen Tagen seiner Kindheit. Doch so schnell die Erinnerung ihn angesprungen hatte, so schnell verkroch sie sich wieder. Er kniff die Augen zusammen.

Der Rauch war stärker geworden. Zu stark für ein Unkrautfeuerchen, dachte er. Was verbrennt sie nur, die Frau? Der Häher rätschte noch immer. Alois Geisa stand mühsam auf, die Knie schmerzten, besonders jetzt, wenn der Sommer sich aus dem schmalen Seitental zurückzog und die kalte Luft von den Hängen herabfloss. Die Sonne stand noch tief. Er beschattete die Augen und starrte Richtung Wald.

Die Blätter der Buchen und Eichen am Hang hatten sich bereits gelb und leuchtend rot verfärbt, zwischen den Laubbäumen standen dunkelgrüne, reglose Tannen. Der Rauch striemte dunkel in das Blau des Herbsthimmels. Krähen schrien und schwirrten das Tal hinab.

Etwas war nicht in Ordnung. Etwas beunruhigte ihn. Etwas knirschte in seinem Knie, als er losging.

Alois Geisa machte sich auf den Weg zum Garten. Der Rauch stand jetzt als schwarze Säule über dem Wald. Es musste ein großes Feuer sein. Das Grundstück lag einen Kilometer vom Ort entfernt. Er ging schnell, fast rannte er. Noch bevor er die Biegung des Weges erreicht hatte, hinter der der Garten lag, roch er es.

Beißender Rauch, brennendes Holz, schwelender Gummi und etwas, was er zuerst nicht bestimmen konnte: Es roch nach verbranntem Fleisch.

Vor dem offenen Gartentor lag Annas Fahrrad. Mit einem Satz sprang er darüber hinweg und rannte auf den brennenden Schuppen zu. Die wütende Hitze schlug auf ihn wie ein Brett. Alois Geisa taumelte zurück. Er schrie ihren Namen. »Anna«, schrie er und stürmte wieder auf die Flammen zu. Die Wände des Schuppens waren Feuer, das Dach war Feuer, und das Innere war Feuer. Selbst die Luft war Feuer.

Alois Geisa rang nach Atem, er schrie und rannte um das brennende Gebäude herum. Dann stürzte das Dach ein, Funken stoben aus den Flammen, die Wände schienen sich drehen zu wollen, verbogen sich und sackten in einer irren Verneigung krachend zusammen.

Ein Feuerball löste sich aus den Flammen und kam auf ihn zu. Eines ihrer Hühner, lodernd, ein lodernder, lebender, ein sterbender Busch aus Flammen und Federn. Er riss die Arme in die Luft und schrie wieder ihren Namen, schrie wie ein waidwundes Tier.

ZWEI

Er sah den Alten um den brennenden Schuppen laufen und die Feuerwehrmänner aus dem Löschwagen springen. Dabei griff er in einen Rucksack und zog zusammengeknülltes Zeitungspapier hervor. Mit dem Fuß schob er etwas Laub zur Seite, faltete vorsichtig das Papier auseinander und leerte einige Eierschalen auf die freigescharrte Stelle neben sich.

Zwei der Männer in alarmgelben Jacken packten den alten Mann unten am Schuppen und zerrten ihn vom Feuer weg. Andere rollten einen Schlauch aus und spritzten Wasser auf die brennenden Trümmer. Eine weiße Wolke aus Wasserdampf schoss empor, und das Feuer zischte wie eine riesige, gereizte Schlange.

Selbst hier oben spürte er die feuchte Hitze, die von der Löschwasserwolke ausging. Die gelbjackigen Männer rannten zwischen Löschwagen und Schuppen hin und her. Es kam ihm wie die Generalprobe zu einem wahnwitzigen Theaterstück vor. Sein eigener Auftritt lag hinter ihm, lange zurück.

Kurz sah er sich über einen langen Flur laufen, ein Telefonläuten und Rufe im Ohr. Er sah sich auf dem Boden liegen, den Hörer umklammert, wie auf dem Grund eines tiefen Schwimmbades, Gestalten über ihm, die ihn mit tonloser Stimme anriefen, offene Münder, aufgerissene Augen, Hände, die nach ihm griffen, ihn anhoben, wegtrugen und ihm dabei den Telefonhörer entrissen. Und die Dunkelheit danach, die ihm das Wichtigste, das Einzige, sein Licht genommen hatte.

Er rieb sich mit den Fingern über die brennenden Augen, als wolle er dort, unter den Lidern, die Vergangenheit vertreiben.

Der Schauplatz belebte sich. Immer mehr Menschen kamen vom Dorf her. Die Feuerwehrmänner mussten sie aus dem Garten drängen. Den Alten konnte er nicht mehr entdecken, er war irgendwo da unten zwischen den Gestalten am Wagen. Ein großer schwarzer Hund rannte zwischen den Beinen der Leute umher. Lief am Zaun entlang. Kurz vor der Stelle, wo er eine Stunde zuvor den Draht heruntergebogen hatte und hinübergeklettert war, drehte der Köter ab, lief zurück.

DREI

Richard Rose war müde. Ein Zustand, der ihn begleitete wie ein Blindenhund seinen Herrn. Rose saß an seinem Schreibtisch und versuchte die Akten vergangener Mordfälle durchzuarbeiten. Er wollte sich ein Bild von seinem neuen Arbeitsgebiet machen, wobei ihn vor allem ungelöste Fälle interessierten.

Rose war erst seit Kurzem bei der Aschaffenburger Mordkommission. Er kannte die Stadt ein wenig und hatte zugegriffen, als eine Planstelle frei wurde. Tapetenwechsel, hatte er seinem alten Chef gesagt, eine Chance, der Routine zu entkommen, außerdem eine schöne Stadt am Fluss, heiter, freundlich.

In ehrlichen Momenten gestand er sich ein, dass es eine Flucht gewesen war, eine Flucht vor seinem alten Leben, vor dem Zugeständnis des Scheiterns seiner Ehe, vor sich selbst. Er wollte nicht mehr in München bleiben, dort, wo er eine Familie gehabt hatte, eine Frau, eine Tochter, ein Leben. Lisa war jetzt fast sechs Jahre alt. Sie lebte mit ihrer Mutter, Ines, seit der Trennung in Berlin. Auch sie wollten ein neues Leben beginnen. Ohne ihn.

Rose schüttelte den Kopf, das Verrückte war, sagte er sich, dass er noch nach über einem Jahr nicht wirklich verstehen konnte, weshalb Ines ihn verlassen hatte. Die Liebe sei ihr irgendwann abhandengekommen, hatte sie eines Abends gesagt, als er in Berlin war, um Lisa zu besuchen.

Anfangs hatte er geglaubt, dass ein anderer Mann dahinterstecken müsse, das hätte es ihm möglicherweise leichter gemacht, mit der Situation umzugehen. Dann hätte er den Zorn, den er in sich spürte, auf ein Objekt lenken können. So aber musste er in den Spiegel starren und erkennen, dass diese Wut in seinem Innern gegen ihn selbst gerichtet war.

Hinter diesen müden Augen erblickte er einen Haufen Unrat, den Sondermüll der eigenen Versäumnisse. Wie sein vertrautes Spiegelbild hatte er ihre Ehe irgendwann als selbstverständlich angesehen, hatte ihre Blicke ignoriert, die ihm etwas sagen wollten, hatte seine Ohren verschlossen vor dem leisen, kratzenden Geräusch, das den Verschleiß der Gefühle begleitete.

Er dachte an Ines, die ihn verlassen hatte, und wünschte, sie möge anrufen, um ihm zu sagen, dass sie zurückkommen wolle. Er blickte auf das Telefon. In diesem Moment läutete es.

Rose zuckte zusammen.

»Herr Kollege, in Jakobsthal ist eine Frau umgekommen. Ungeklärte Todesursache. Sie sollen sich das bitte ansehen.«

Rose schloss den schweren Aktenordner in seiner Hand: Der Fall Claudia Herzog, ein offener Mordfall. Vor gut zwanzig Jahren war die Sechzehnjährige vergewaltigt und erwürgt worden. Er hatte den Autopsiebericht und einige Zeugenaussagen überflogen. Anhand der vielen Zeitungsausschnitte konnte Rose erahnen, dass der Fall damals großes Aufsehen erregt hatte. Der Täter war bis heute nicht gefunden worden.

Die Vorstellung, dass ein Mann ein Mädchen missbrauchte und anschließend tötete, um danach sein Leben unbehelligt weiterführen zu können, machte Rose wütend und traurig zugleich. Doch hatte er im Laufe der Jahre als Ermittler akzeptieren müssen, dass es Fälle gab, die nie gelöst werden würden. Die Aufklärung anderer vergessener Taten dagegen erbrachte manchmal der Zufall oder einfach die Zeit, die imstande war, wie die Meeresbrandung verschollene, zugeschüttete Dinge auszugraben und ans Licht zu bringen. Doch dies war eher selten. Er wusste, dass viele Mörder unerkannt und ungestraft ins Grab gelegt wurden, vielleicht beweint und als Mensch schmerzlich vermisst.

Oft hatte er sich gefragt, ob und wann diese Taten geahndet würden. Zu Lebzeiten? Danach? Niemals? Gab es das: Gerechtigkeit? Gerechtigkeit für solche ungeklärten, unaufgedeckten Fälle, oder straften sich die Täter selbst durch ihre Taten, die sie für immer mit sich trugen, wie einen dunklen, verzehrenden Keim?

Vor der Dienststelle wartete ein Einsatzwagen. Zwei uniformierte Männer saßen auf den Vordersitzen. Sie beobachteten Rose schweigend, als er das Gebäude verließ und auf sie zukam. Rose öffnete die hintere Tür und fragte, ob das Fahrtziel bekannt sei.

»Jakobsthal, es ist nicht weit, und doch ist es weit«, sagte der Fahrer.

»Wie darf ich das verstehen?«, fragte Rose.

»Das werden Sie sehen, wenn wir dort sind«, sagte der Beamte. »Dann los zu den Tälern, wo noch die Wölfe heulen.« Er fuhr ruckend an. »Dann los.«

»Hören Sie nicht auf ihn«, sagte sein Kollege auf dem Beifahrersitz, er rieb sich seinen dunklen Dreitagebart. »Wölfe gibt es da schon lange keine mehr.«

Der Wagen reihte sich in die Auffahrt zur Ebertbrücke ein. Stoßstange an Stoßstange. An der Biegung des Flusses lagen menschenleere Schrebergärten, dahinter das Schloss Johannisburg.

Richard Rose betrachtete zu seiner Rechten das mächtige Bauwerk aus rotem Sandstein. Hunderte Fenster blickten zurück. Rose wusste dahinter die endlosen, stillen Flure des Schlossmuseums und der Bibliothek gelegen.

Kurz sah er sich mit Ines und Lisa in einem Museum für zeitgenössische Kunst. Es war auf einer Urlaubsreise gewesen, und seine Frau war ausgelassen wie lange nicht mehr. Sie hatte Kunstgeschichte studiert und zugunsten ihrer Tochter die Stelle an einem Münchner Institut aufgegeben. An diesem Tag, unter den großformatigen Gemälden, deren bunte Farben einen leichten Schwindel in Roses Kopf zurückließen, fühlte er, wie sehr ihr ihr Beruf fehlte. Er wollte sie darauf ansprechen, doch die Worte lagen wie ein zu schweres Essen in seinem Magen, so hatte er nichts dazu gesagt. Insgeheim fürchtete er Verwicklungen und organisatorische Probleme, wenn Ines wieder arbeiten würde, für ihn war es am bequemsten, so wie es war.

Das hatte er aber erst viele Jahre später erkannt, zu einem Zeitpunkt, als Worte nichts mehr richten konnten und es schon zu spät war für nachgereichte Einsichten.

Der morgendliche Main war unter einer diesigen Luftschicht beinahe verborgen. Ein Frachtschiff schwebte durch die Milch des Frühnebels. Rose konnte keine Menschen auf dem Kahn ausmachen, er schien ihm führerlos dahinzugleiten, wie ein vergessenes, ausgedientes Wrack auf dem weiten Weg zur letzten Werft.

Der Wagen rauschte durch einen schluchtartigen Abschnitt der Ringstraßenführung, durchquerte ein gesichtsloses Wohnquartier und das angrenzende Gewerbegebiet. Autohändler, Tankstellen. Rose schaute einer hellroten Plastiktüte hinterher, die, vom Fahrtwind aufgewirbelt, sich triumphierend aufblähte, drehte und zusammensackte, um resigniert am Straßenrand zu landen.

Der Fahrer lenkte den Wagen auf die Autobahnauffahrt und drückte das Gaspedal durch, Roses Oberkörper wurde in den Sitz gepresst.

Der Wagen schwenkte auf die Überholspur. Die vorausfahrenden Fahrzeuge machten bereitwillig Platz und ließen den Einsatzwagen passieren. Durch Roses Blickfeld rasten Bäume und Büsche wie grüne Striche und Rechtecke, dann tauchte der Wagen in eine Röhre aus Beton. Lichtfelder blitzten aus Sichtfenstern an den Wänden. Die Motorengeräusche hallten dumpf ins Wageninnere.

Am Ende der Einhausung drosselte der Fahrer das Tempo und blickte kurz zu Rose.

»Jetzt verlassen wir die Autobahn, dann geht es durch den Spessart.«

»Pass auf, dass du keinen Wolf überfährst«, sagte der Beifahrer.

Der Wagen passierte ein lang gezogenes Dorf, dann fuhr er bergan auf einer schmalen Landstraße durch ein geschlossenes, bunt gefärbtes Waldgebiet. Die morgendliche Herbstsonne fiel durch die Bäume wie die Strahlen starker Scheinwerfer. Die Blätter leuchteten flammend rot und strahlend gelb in dem klaren, warmen Licht.

Rose wäre jetzt gerne ausgestiegen und losgelaufen, ohne Ziel. Durch das raschelnde Herbstlaub, ohne zu wissen, wohin dieser Wald führte. Er wollte den Geruch einatmen, der zwischen den Stämmen hing, eine Melange aus feuchtem Laub, dunkler Erde, Pilzgeruch. Eine Ahnung vom Vergehen und Verfallen, würzig und schwer. Dieser Geruch, der ihm seit seiner Kindheit vertraut war, den er auf den sonntäglichen Spaziergängen mit den Eltern aufgesogen hatte.

Damals waren ihm die Wälder riesig vorgekommen, die Wege endlos und verworren und der Vater groß und unerschütterlich, dabei fern und unerreichbar. Die Arme ragten aus den Manteltaschen, als fürchteten sie die Berührung kleiner, suchender Hände, seiner Hände oder die der stillen Mutter. Einzig ihre Füße pflügten im Einklang durch das rauschende Laub.

Die Straße war halb mit Blättern bedeckt, kaum ein Fahrzeug kam ihnen entgegen.

»Das scheint ein großer Wald zu sein«, sagte Rose nach einer Weile.

»Der Spessart? Riesig ist der. Früher gab es kaum Straßen durch den Wald, nur Bären und Wölfe und Räuber.«

»Das sind doch Spessartmärchen«, sagte der Dreitagebart.

»Und Wilderer! Der halbe Spessart stammt von Wilderern ab. Sehen Sie sich meinen Kollegen an: H2O– Obermeister Heribert Hasenstab. Zweimal H und einmalO: H2O.«

»Rudi Schmitt! Du hättest Genie und nicht Polizist werden sollen«, erwiderte der andere.

»Jedenfalls ist der Kollege zum Fürchten, nicht wahr? Der kommt auch aus dem Spessart. Sein Vorfahr war ein berühmter Wilderer. Den haben sie sogar nach Australien deportiert. Ein Jahr später war er wieder da, konnte es einfach nicht lassen, das Wildern. Und der Urenkel hier wird Polizist, ausgerechnet wird der Polizist.«

Der Beifahrer klopfte ihm auf die Schulter. »Es ist gut, Rudi.«

»War nur ein Scherz.«

Sie passierten eine einsame Waldgaststätte und bogen von der Straße auf eine kleinere Nebenstraße ab.

»Das war das Engländerhaus. Da wurde ein Engländer von den Spessartern erschlagen, solche Typen sind das, solche Typen.«

Der Beifahrer schlug sich an die Stirn. »Hören Sie nicht auf seine Geschichten, Herr Kommissar.«

Vor ihnen fuhr gemächlich ein Leichenwagen. Rudi Schmitt trat auf das Gaspedal und überholte. Rose sah hinter dem Steuer des schwarzen Wagens einen kahlköpfigen Mann mit Sonnenbrille und dunkler Krawatte emporragen, der ihnen kurz zuwinkte.

»Der schwarze Peter. Soll sicher die Tote holen. Den schicken sie immer, wenn die Sache unappetitlich ist. Selbstmörder auf der Schiene auflöffeln oder aufgeblasene Wasserleichen. Der ist völlig emotionslos«, sagte Polizeiobermeister Hasenstab und grüßte zurück.

Nach einer engen Kurve endete der Wald, und eine Ortschaft lag unter ihnen im Tal. Der Talgrund war von buntem Herbstwald eingeschlossen. Grasbewachsene Hügelkuppen umwölbten die Häuser.

»Jakobsthal«, sagte der Fahrer, »da liegt Jakobsthal.«

Kurz vor den ersten Gebäuden zeigte er aus dem Fenster.

Roses Blick blieb an einer Wiese hängen, die umgegraben aussah.

»Sauen! Die richten immer mehr Schaden an, Herr Kommissar. Das waren die Wildschweine.«

Der Wagen fuhr langsam durch den Ort. Das Motorengeräusch hallte von den Häusern wider. Geschlossene Hoftore, zugezogene Gardinen. Kaum ein Mensch war auf der Straße zu sehen.

In der Tür eines Lebensmittelgeschäftes stand ein dunkelhaariger Mann in einem weißen Kittel. Auf der Scheibe stand in großen Buchstaben: »Obst und Gemüse Ciçek«. Der Mann strich über seinen grauen Schnauzbart und blickte dem Dienstwagen hinterher.

Am Ortsende bog der Wagen links ab. »Kapellenweg«, las Rose auf dem blauen Straßenschild. Hier waren ein paar Menschen zu sehen.

»Das Spektakel will sich keiner entgehen lassen, wenn schon mal was los ist«, sagte Rudi Schmitt zu seinem Beifahrer.

»Du wärst der Erste, da wette ich«, meinte der andere.

Nach einem knappen Kilometer gelangten sie an ihr Ziel.

Der Garten war mit rot-weißen Flatterbändern abgesperrt. Einsatzwagen standen kreuz und quer auf dem schmalen Teerweg, direkt vor dem Gartentor parkte der Transporter der Spurensicherung. Schaulustige standen vor der Absperrung, dahinter liefen Männer und Frauen in Uniform und Personen in weißen Overalls herum. Die Feuerwehr war bereits abgerückt, der Brandherd gelöscht.

Rose näherte sich den rauchenden Überbleibseln des Schuppens. Ein paar Balken glühten noch, der Rest war verkohlt. Der bunte Hochwald zog sich den Hang hinauf. Seine untere Grenze war bis zum Garten vorgerückt, umstellte ihn wie eine lockere Palisadenwand. Die milde Herbstsonne beleuchtete die Szenerie.

Eigentlich, dachte Rose, ist heute ein schöner Tag zum Sterben. Abschiedswetter, die Erde bereitet sich vor auf den großen winterlichen Tod.

Rose stand vor den dampfenden Trümmern in einem warmen Matsch aus Löschwasser und Asche. Er grüßte mit einem Kopfnicken den Polizeifotografen, der seine Kamera auf ein schwarzes Etwas richtete und es von allen Seiten ablichtete. Rose trat näher und betrachtete die verkohlte Leiche.

Der Körper lag mit angezogenen Beinen und nach hinten verdrehtem Kopf zwischen schwarzen Balken und verrußten Dachziegeln. Die Lippen waren von den Flammen aufgezehrt, die Zähne vollends entblößt. Die Oberfläche des Körpers war an verschiedenen Stellen aufgeplatzt, die verbrannte Kleidung hatte sich in die Haut gefressen. Rose wendete sich kurz um, als der Leiter der Spurensicherung, Klaus Bolander, auf ihn zukam. Schweigend reichten sie sich die Hände. Sie blickten eine Weile stumm auf die Tote.

»Ganz schön unschön«, sagte der Mann im Overall, sein Kaiser-Wilhelm-Bart federte an den Enden. »Matschiger Boden, Hühnerkacke, Feuerwehreinsatz, Schaulustige. Fußspuren können wir vergessen. Ansonsten: ein total verbrannter Holzschuppen mit der verkokelten Frauenleiche drin.«

»Fremd- oder Eigenverschulden?«

»Dazu kann ich noch nichts sagen«, Bolander seufzte, »der Medizinmann hat bisher auch nichts festgestellt.«

»Weiß man was über die Tote?«

»Anna Geisa, zweiundsiebzig Jahre alt. Sie wohnte im ersten Haus Richtung Dorf. Ihr Mann rannte um den brennenden Schuppen, als der Löschtrupp hier eintraf. Die Jungs mussten ihn mit Gewalt vom Feuer fernhalten.«

»Hat er die Feuerwehr verständigt?«

»Soviel ich weiß, war es eine Nachbarin.«

»Keine weiteren Hinweise auf den Hergang?«

Klaus Bolander zuckte die Schultern. »Die Erkenntnis selbst ein Raub der Flammen, im Ungefähr sie schwammen.« Er blickte Rose auffordernd an, als dieser nicht nachfragte, räusperte sich Bolander: »Eigenzitat.«

Rose deutete auf eine heruntergebogene Stelle im Maschendrahtzaun. Bolander nickte. Roses Blick strich die bunten Hänge hinauf. Der Weg, der an dem Garten vorbeiführte, stieg an und verlor sich im Wald.

»Ich denke, wir sollten auch die nähere Umgebung sondieren. Wissen Sie, wohin der Weg führt?«

Der Mann im Overall roch an einem schwarzen Klumpen, dann blickte er auf den Weg.

»Jemand meinte, zur Barnabas-Kapelle.«

Hinter Rose standen Schmitt und Hasenstab und unterhielten sich.

»Wenn Sie sich hier umgeschaut haben, gehen Sie zu den Nachbarn der Toten und hören sich um. Das Übliche. Ich selbst bin bei Herrn Geisa. Wenn ich fertig bin, rufe ich Sie an.«

Als Rose sich kurz umdrehte, sah er, wie Schmitt strammstand und soldatisch salutierte. Hasenstab grinste.

Auf dem Weg begegnete Rose zahlreichen Menschen, die zu Fuß, auf Fahrrädern oder in Autos zwischen dem Garten und dem Dorf pendelten. Niemand beachtete ihn.

VIER

Vor Geisas Haus parkte ein Einsatzwagen. Die Eingangstür stand offen. Im Vorgarten rauchten zwei Polizeibeamte Zigaretten. Sie nickten Rose zu. Der Rauch vor ihren Gesichtern schien unschlüssig, in welche Richtung er aufsteigen wollte.

Er betrat einen engen Flur, von dem drei niedrige Holztüren abgingen. Ein Kreuz war an die Wand genagelt, dahinter vertrockneten ein paar Palmzweige. Der Kalender der örtlichen Sparkasse vom Vorjahr hing neben dem Kruzifix. Rose kam in die Küche. Es roch nach kaltem Rauch und scharfem Putzmittel. Das Licht hatte Mühe, durch das kleine Fenster in den Raum zu dringen.

In der dunkelsten Ecke saß ein alter Mann mit rußigem Gesicht. Sein schütteres Haar schien gebrannt zu haben, rötlich braune Flecken bedeckten die Kopfhaut. Die Hände waren dick bandagiert und ruhten auf der geblümten Plastiktischdecke. Dazwischen stand eine Bierflasche.

»Herr Geisa?« Rose schob sich durch den düsteren Raum. »Ich bin von der Kriminalpolizei.«

Der Mann starrte vor sich hin. Rose wusste nicht, ob der Alte ihn gehört hatte. Ihm war es, als schlucke die Düsternis des Raumes und die greifbare Trauer in diesen Wänden die Worte.

»Die Vögel waren es.« Die Stimme des Mannes war wie der Raum, ohne Licht und Hoffnung.

»Die Vögel?« Rose bekam schlecht Luft, etwas beengte seine Atemwege, ohne dass er es benennen konnte. Er wollte sich umdrehen und den Raum verlassen, um ihn nie wieder betreten zu müssen.

»Ihre Aufregung. Sie schrien ganz aufgeregt. Als ich den Rauch sah, wusste ich, dass etwas passiert war. Ich konnte mich nicht mehr versöhnen.« Er blickte auf, und Rose sah die Verzweiflung in den Augen des Alten.

»Ich werde mich nie mehr versöhnen können mit ihr. Mit Anna. Meiner Frau. Zu spät.«

Rose suchte die Sonne vor dem Fenster. Im Raum dehnte sich der Schatten. Nur die Herdplatte des Holzofens glänzte. Es war ein alter Küchenofen, die Oberfläche auf Hochglanz poliert.

Hinter dem Mann hing ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Bild. Ein Brautpaar vor einer kleinen Kirche. Daneben das neuere Porträt eines fröhlich lächelnden Mädchens.

»Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt?« Rose bereute seine Frage. Die Frau des Alten war gerade verbrannt, das war alles andere als gewöhnlich.

»Die Vögel.« Der Kopf des Mannes sackte herab. Sein Körper schien in sich zusammenzusinken, wie ein alter, vergessener Luftballon.

»Wenn Ihnen noch etwas einfällt«, Rose legte seine Karte auf den Tisch, »rufen Sie mich an. Jederzeit.« Er beeilte sich, aus dem Haus zu kommen.

Rose atmete tief durch, er wollte den Schatten loswerden, der sich ihm in der Küche auf die Lunge gelegt hatte. Er hätte dem Mann noch viele Fragen stellen müssen, immerhin war ein Fremdverschulden nicht auszuschließen, er hätte Antworten erhalten müssen, er hätte, ja, aber er konnte nicht; die Verzweiflung des Mannes hatte seine Prinzipien wie nasses Papier aufgeweicht.

Er würde den Alten später befragen. Morgen oder den Tag danach oder nach dem Ergebnis der Sektion. Solange würde er ihn seiner Verzweiflung überlassen müssen.

Rose dachte an den Tod seiner Großmutter. An den leeren, ängstlichen Blick der Mutter, an ihr Unvermögen, sich um die Habe der Verstorbenen zu kümmern. Er sah noch die verlassene Wohnung, die Brille auf dem Nachttisch, als hätte der Bewohner gerade ein Buch zur Seite gelegt, aber da war kein Buch mehr und auch niemand, der nach der Lesebrille verlangte.

Als Vierzehnjähriger war er mit sich und der hermetischen Welt seiner Pubertät beschäftigt, und doch hatte er die Verzweiflung seiner Mutter gespürt, ihre Angst vor einem Leben ohne die eigene Mutter, jetzt selbst am Ende einer Ereigniskette, die nur in eine Richtung führen konnte.

Rose spürte ihren Wunsch nach einer Hand, die ihr Stütze gab, um das Erforderliche zu unternehmen. Dinge wie die Wohnung auszuräumen, die Organisation der Beerdigung, Ämtergänge, Todesanzeigen, Korrespondenzen, Telefonate.

Doch da war niemand.

Roses Vater fühlte sich nicht zuständig. »Dafür gibt es Beerdigungsinstitute« war alles, was er an Worten als Rat, Hilfe und Trost aufbringen konnte. Er hatte auch in dieser Zeit seine Frau alleingelassen, dachte Rose, wie er sie die ganze Ehe hindurch alleingelassen hatte.

Die rauchenden Beamten standen noch immer im Garten. Wortlos blickten sie Rose an.

»Ist der Psychologe verständigt?«

Sie zuckten mit den Schultern. Ein rhythmisches, metallisches Klopfen echote durch die Gasse. Alle drei drehten die Köpfe zum Geräusch des Hufschlags. Ein schweres, dunkelbraunes Pferd trabte mit hoch aufgerichtetem Haupt vorüber. Es zog eine kleine, zweirädrige Kutsche aus rotem Metallgestänge. Tüten und Päckchen ragten aus dem Strohkorb hinter dem Kutschbock. Obenauf hielt ein älterer Mann die Zügel. Er blickte Rose an. Die Augen beschattete ein breitkrempiger Hut, auf dem eine lange, rötliche Fasanenfeder wedelte.

»Wo ist denn hier ein Gasthaus?« Rose wendete sich den Polizisten zu.

Sie zeigten beide in Richtung Ortsmitte.

Als Rose auf die Hauptstraße kam, sah er das Schild der Gaststätte über einer zweiseitigen Treppe. Ein röhrender Hirsch. Mit grüner Frakturschrift stand »Zum Hirschen« auf dem Blechschild. Der hohe Sockel des Hauses war aus Sandsteinquadern gemauert. Rose dachte an das Aschaffenburger Schloss, das am Morgen aus dem Nebel am Fluss ragte, der gleiche rote Stein.

Er öffnete die Tür zum Gastraum. Warme Luft, angefüllt mit Bierdunst und aufgeregten Stimmen, drang ihm entgegen. Obwohl Werktag, waren die meisten Tische besetzt.

Als Rose den Raum betrat, verstummten die Gespräche. Rose blickte sich um. Langsam wendeten sich Gesichter ab, Münder begannen leise zu sprechen.

»Grüß Gott«, sagte er laut, »ich bin von der Mordkommission in Aschaffenburg. Falls jemand von den Herrschaften etwas beobachtet hat oder einen Hinweis auf das Ableben der Frau Anna Geisa geben möchte, dann kann er das gerne tun.«

Rose war sich sicher, dass jeder ihn verstanden hatte, auch wenn niemand hinzuhören schien. Er spürte die taxierenden Blicke, auch wenn keiner ihn anschaute, und er wusste, auf diese Weise würde er von niemandem etwas erfahren. Er fragte, ob er sich an den Stammtisch setzen dürfe. Man rückte unwillig zusammen.

Der Wirt kam heran und wischte die rotfleischigen Hände an einem Geschirrtuch ab. Rose bestellte ein Bier und verlangte die Speisekarte.

»Zu essen gibt es heute nichts. Dem Koch ist die Hand in den Kuttler gekommen.«

Kurz darauf brachte der Wirt das Bier und stellte es wortlos auf den Tisch. Rose prostete in die Runde. Zögernd hoben die Männer ihre Gläser. Sie tranken und schwiegen.

Es war Mittag, doch die Sonne schien nicht die Kraft zu haben, durch die bräunlichen Butzenscheiben in das Lokal zu dringen. Rose war es, als würde das Schweigen die Luft verdunkeln.

Allmählich schienen ihn die Männer im Lokal zu vergessen. Sie nahmen die Gespräche wieder auf, der Geräuschpegel stieg. An Roses Tisch wurde über Holzeinschlag und Meterpreise gesprochen.

Der Mann gegenüber am Tisch räusperte sich.

»Mordkommission?« Er meinte Rose, auch wenn er ihn nicht anblickte. »Ist die Anna denn ermordet worden?«

»Reine Routine. Bei unklarer Todesursache müssen wir nachforschen. Es kann auch ein Unfall gewesen sein.«

»Schlechter geht’s ihm jetzt nicht«, sagte ein rotgesichtiger Mann, »zumindest finanziell.«

Sein Nachbar stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Halt dein Maul.« Die Gespräche an den Tischen verstummten.

Nach und nach standen die Männer auf, zahlten und gingen.

Rose stand auf der Treppe vor dem »Hirschen«. Er versuchte, die Kollegen anzurufen. Kein Empfang. »Willkommen in der Zivilisation«, murmelte er und ging zurück Richtung Kapellenweg.

Ein Wagen mit dem Aufdruck der Regionalzeitung überholte ihn. Eigentlich, dachte er, ist es ja schön, in einem Funkloch zu leben. Unerreichbar, abgewandt von der hastigen Welt.

Sein Blick fiel in einen Hof, dessen Tore, im Gegensatz zu den meisten anderen im Ort, weit offen standen. Überall lag Schrott, Gerümpel. Dazwischen standen Gebilde aus Eisen und gebrauchten Geräten. Rose musste sofort an die Skulpturen von Jean Tinguely denken, der aus Müll technische Kunst, ratternde, piepsende, maschinenähnliche Figuren fabrizierte. Er lächelte.

Ohne den Einfluss von Ines und ihrer Liebe zur bildenden Kunst hätte er sich nie für solche Dinge interessiert. Sie hatte es geschafft, ohne schulmeisterlich zu wirken, ohne dass sie ihm seine Unkenntnis vorhielt, ihn sachte zur Kunst hinzuführen, wie man ein wasserscheues Kind an die Hand nimmt und es langsam in einen See leitet. So konnte er sich hinwenden, ohne den Spott zu fürchten, der ihm früher seitens seines Vaters entgegengeschlagen war, wenn er sich unwissend zeigte.

Ines hatte doch einiges in ihm hinterlassen, musste er sich eingestehen, was sein Leben weiter machte.

Rose blickte in den Hof mit seinen metallenen Gebilden. Neben der Einfahrt hing ein Schild, angefertigt aus einer rostigen Metallplatte: »Tobias Finten– Erfindungen und Reparaturen aller Art«.

Als er in den Kapellenweg kam, sah er die Kollegen Schmitt und Hasenstab ein Haus verlassen. Eine alte Frau stand unter der Tür, sie hatte die Hände auf Brusthöhe gefaltet. Plötzlich warf sie die rechte Hand in die Luft und winkte.

Die Geste zum Abschied, so leicht wie ein Schmetterling, kam es Rose in den Sinn.

Auf der Rückfahrt befragte Rose die Kollegen.

Hasenstab kratzte sich am Kinn. »Das war Frau Sonntag. Nette alte Dame. Und vor allem gut informiert. Schaut immer aus dem Fenster und kriegt alles mit.«

»Und einen Kaffee macht sie, stark und bitter, wie er sein muss!« Schmitt klopfte auf das Lenkrad. »Stark und bitter, nicht wahr, H2O?«

Rose atmete hörbar aus. »Und Kuchen gab es sicher auch?«

»Gewürzkuchen«, sagte Rudi Schmitt, »selbst gebacken, natürlich.«