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Einsatz in den Alpen. Der letzte Teil der mitreißenen Trilogie! Eigentlich ist es zu schön, um wahr zu sein. Lena feiert ihren Geburtstag. Mit Ben. In einer winzigen, verborgenen Hütte inmitten einer zauberhaften Winterlandschaft. Eine besseres Geschenk hätte Ben der Bergwachtsleiterin nicht machen können! Da zerstört ein Notruf die Idylle. Ein Gleitschirmflieger ist in eine Seilbahn gekracht. Er muss geborgen, die Passagiere aus den Gondeln befreit werden. Die Evakuierung verläuft nach Plan. Als Lena schon glaubt, alle Passagiere gerettet zu haben, begegnet sie in der letzten Gondel ausgerechnet Victoria, Bens Ex. Warum ist sie hier? Ist Lenas Glück mit Ben vorbei, bevor es richtig anfangen konnte? Der Zweifel nagt an Lena. Dabei muss sie sich auf ihren Job konzentrieren, denn das Schneetreiben in den Alpen steckt voller Gefahren. Zumal der Besitzer des Sägewerks aus Profitgier den Lawinenschutzwald abgeholzt hat … «Es ist ein kurzweiliges Vergnügen, das Sophie Zach ihren Lesern bietet. Und sie macht mit dem ersten Buch Lust darauf, möglichst schnell weiterzulesen.» (Garmisch-Partenkirchner Tagblatt)
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Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sophie Zach
Roman
Lena fuhr durch den Wald bis zum Rabensteiner See, der reglos, dunkelblau und kalt wie ein düsterer Saphir in dem Tal zwischen Teufelskopf und Rabenstein lag. Heute, im diffusen weißen Licht der hohen Wolkendecke, wirkte der See wie erstarrt. Vom fernen Teufelskopf pfiff ein eisiger Wind herunter, und Lenas Gesicht brannte wie von tausend Nadelstichen, während sie im Langlaufschritt ihren alten, harschen Spuren von Freitag folgte. Stille umgab sie, während sie am Ufer entlangging, lediglich das Geräusch ihrer Stöcke, die sich rhythmisch in den Schnee gruben, war zu hören. Winterkind, das sie war, liebte sie normalerweise die Stille, die den Winter für sie so besonders machte. Nur der Schnee, der alles zudeckte und alle Geräusche dämpfte, vermochte diese Art von Ruhe hervorzubringen. Heute aber war sie zu unruhig, um ihre Wanderung durch die Winterlandschaft zu genießen. Vor ihrem geistigen Auge spulte sich bereits die Rettungsaktion ab …
Sophie Zach ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin, die bereits Krimis, Liebesromane und historische Romane geschrieben hat. Sie wuchs in einem Dorf in den Alpen auf, lernte mit drei Jahren Skifahren und jobbte auf der Zugspitze, bevor sie auszog, sich die Welt anzusehen. Heute lebt sie wieder in ihrem Geburtsort, von wo aus sie ausgedehnte Wanderungen mit ihrem Hund in die Berge unternimmt. Was liegt da näher, als ihre Freunde bei der Bergwacht auszufragen und eine dramatische Serie zu schreiben, mitten in den Bayerischen Alpen, die sie liebt?
«Schneetreiben» ist der dritte Band ihrer mitreißenden Trilogie über Lena, die Liebe und die Bergwacht in den Bayerischen Alpen.
Dieses Projekt wurde von der VG WORT im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) initiierten Programms NEUSTART KULTUR gefördert.
Die beim Rowohlt Verlag erscheinende Romanserie «Die Bergwacht» steht in keinem rechtlichen oder tatsächlichen Zusammenhang mit dem Deutschen Roten Kreuz e.V. oder dessen Marke «Bergwacht» und wurde insbesondere nicht von diesem in Auftrag gegeben.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Copyright © 2025 by Sophie Zach
Redaktion Katharina Rottenbacher
Karte Wettersteingebirge und Bichlbrunn bürosüd, München
Covergestaltung bürosüd, München
ISBN 978-3-644-01427-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Drei Regeln des Bergsteigens:
Es ist immer weiter, als es aussieht.
Es ist immer höher, als es aussieht.
Es ist immer schwieriger, als es aussieht.
Nick legte mit seiner Karre wie immer einen geilen Donut hin, das musste man ihm lassen. Die Reifen heulten, als hätten sie Schmerzen, und der Schnee spritzte in einer vollendeten Fontäne hinter ihm auf, während er seinen 3er-BMW wieder und wieder im Kreis herumschlingern ließ. Als er schließlich zum Stehen kam und ausstieg, klatschten ihn die anderen begeistert ab. Lorenz blieb in seinem Auto sitzen. Er war als Nächstes dran. Nick lehnte sich gegen die Motorhaube seines Autos und hob seine Flasche Bier in Lorenz’ Richtung, bevor er sie mit seinem Feuerzeug öffnete und der Kronkorken in hohem Bogen hinter ihn flog. Du bist dran, Kumpel, hieß das. Mach das erst mal nach …
Lorenz betätigte kurz die Lichthupe und verzog dann das Gesicht zu einem selbstsicheren Grinsen. Das schaffte er mit links. Doch er würde sich Zeit lassen, sie konnten ruhig glauben, dass er nicht mehr als Nick draufhatte. Nick, der Alleskönner.
Er schnippte seine Zigarette aus dem Autofenster, gab Gas und bretterte über den schneebedeckten Parkplatz, der um diese Zeit – es war kurz vor Mitternacht – völlig leer war. Zum Aufwärmen driftete er ein paar Hundert Meter an der eingeschneiten Begrenzungsmauer entlang, hinter der eine Reihe adretter Wohnhäuser im Dunkel lag, und drehte dabei noch mal so richtig auf. Er sah sie förmlich vor sich, die spießigen Bewohner, wie sie satt und selbstzufrieden in ihren Federbetten lagen und schnarchten. Ihre Träume waren genauso eng und klein wie ihre Welt, ihr Blick reichte nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze, ihre Hoffnungen nicht weiter als bis zur nächsten mickrigen Gehaltserhöhung und einmal im Jahr Urlaub in Jesolo. Er verzog das Gesicht. Diese Trottel hatten keine Ahnung von der Welt da draußen und ihren Möglichkeiten. Nicht ein einziges Mal in ihrem ganzen Leben hatten sie versucht auszubrechen, um den Rausch des Neuen, des Unerwarteten zu fühlen. Ihnen war ihr sattes, kleines Dahinvegetieren in Sicherheit lieber als jedes Risiko. Sie versuchten nicht mal, lebendig zu sein. Wenn er so leben müsste, würde er sich die Kugel geben. Er spürte ein leichtes Flattern im Magen, weil er dabei an seinen Vater dachte. Er musste seinem Vater endlich klarmachen, dass er sich die Pläne, die er für Lorenz hatte, sonst wohin stecken konnte. Bald würde Lorenz Klartext mit ihm reden. Er brauchte nur noch den richtigen Moment …
Lorenz wendete abrupt, gab wieder Gas und fuhr direkt auf seine wartenden Kumpel zu. Zuerst lachten sie noch, winkten ihm mit ihren Bierflaschen zu, dann, als er immer näher kam, ohne vom Gas zu gehen, wurden ihre Mienen unsicherer, ihr Lächeln verkrampft.
«Ho, ho!», rief Korbi mit ausgestreckten Händen, als wolle er ein durchgehendes Pferd beruhigen, Lorenz konnte es an seinen Lippenbewegungen sehen. Oscho und Achmed wichen bereits zurück, nur Nick rührte sich nicht. Mit verschränkten Armen stand er, an die Motorhaube gelehnt, da, seine Lippen zu einem kleinen Lächeln gekräuselt.
Als er die Truppe fast erreicht hatte, drückte Lorenz das Gaspedal noch einmal ganz durch, schlug das Lenkrad ein und zog gleichzeitig die Handbremse. Der Motor jaulte, das Auto kam ins Schlingern, und das Heck brach weg. Schnee spritzte auf, und er konnte nur noch sehen, wie Achmed sich mit einem Satz über die Motorhaube seiner Karre in Sicherheit brachte. Lorenz grinste. Kein Vertrauen, der kleine Schisser. In einem formvollendeten Kreis schlingerte er durch den Schnee. Als er schließlich zum Stehen kam, brauchte er erst einmal einen Moment zum Durchatmen. Und zum Genießen. Das war sein bester Donut ever, ever gewesen, ohne Scheiß. So was spürte man. Er schaute in den Rückspiegel. Seine Kumpel traten wieder aus der Deckung, taten cool, als wären sie nicht gerade davongehüpft wie die Hasen. Nur Nick stand noch immer am gleichen Fleck, im Gegensatz zu den drei anderen hatte er sich keinen Millimeter bewegt, was Lorenz ein bisschen ärgerte. Mann, der Typ hatte echt Nerven. Was für eine Genugtuung wäre es gewesen, wenn er geschafft hätte, auch Nick vor Angst über die Motorhaube springen zu lassen. Er stieg aus und ging auf sie zu, langsam, in gemessenen Schritten, wie Christian Bale in Les Mans 66. Im kalten Licht der Parkplatzbeleuchtung wirkten die Gesichter seiner Kumpel plötzlich fahl und eindimensional. Ihre Mienen irgendwie wie erstarrt. Weder johlten sie, noch klatschten sie Applaus. Er verlangsamte seinen Schritt, schluckte den bitteren Geschmack nach Zigaretten und Enttäuschung hinunter, der sich in seinem Mund gebildet hatte. Das war nicht fair. Es war nicht nur sein persönlich bester Donut, er war auch um Klassen besser als der von Nick gewesen.
Als er sie fast erreicht hatte, hob er dennoch die Hand, um sie abzuklatschen, doch niemand reagierte. Sie bewegten sich nicht mal. Er ließ die Hand wieder sinken. Was war los mit denen? Konnten sie sich nicht für ihn freuen? Da fiel ihm auf, dass sie ihn gar nicht ansahen, sondern die Blicke auf einen Punkt hinter ihm gerichtet hatten. Und ihre Mienen wirkten auch nicht starr, sondern erschrocken. Zumindest die von Korbi und Achmed. Oschos Blick dagegen huschte nach links und rechts, als sähe er sich nach einem Fluchtweg um, und Nick, die coole Socke, murmelte: «Oh fuck …»
Sonntag, 4. Januar
Einsatzort: Seilbahn Frauenboden
Bemerkungen: Manchmal ist das Leben zu schön, um wahr zu sein.
Träge blinzelte Lena in die aufgehende Sonne, die erste, rosagoldene Strahlen durch das winzige Hüttenfenster sandte. Als sie das Gesicht etwas näher zur Scheibe schob, konnte sie die Eiseskälte spüren, die draußen herrschte. Auch drinnen war es kalt, der Hauch ihres Atems war zu sehen, doch das störte sie nicht. Sie lag eingekuschelt unter dem riesigen Daunenbett, ein fluffiger, rot-weiß-blau karierter Berg, warm und behaglich. Das alte Bettgestell knarzte leise. Ben bewegte sich neben ihr, dann spürte sie, wie seine Arme sie umschlangen und näher zu sich heranzogen. Sie ließ sich ziehen, glitt in seine Umarmung, spürte die Hitze, die von seinem Körper ausging, die Kraft seiner Arme, sog seinen vertrauten Geruch ein. Er beugte sich über sie, seine Lippen glitten über ihr Gesicht, sanft küsste er ihre Augenlider, den Mund, den Hals. Ohne die Augen richtig zu öffnen, schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und seufzte wohlig. Manchmal war das Leben einfach zu schön, um wahr zu sein.
Als sie erneut erwachte, stand die Sonne bereits über dem Brunnenkogel. Die Schneefläche vor dem Fenster glitzerte, weiß und vollkommen unberührt. Ben lag nicht mehr neben ihr. Sie hörte ihn am Herd werkeln, Geschirr klapperte leise, die Ofenklappe wurde geöffnet, für einen Augenblick hörte man das Prasseln des Herdfeuers, ein Hauch von Holzrauch drang ihr in die Nase, dazu der Duft von Eiern, geröstetem Brot, Speck, Kaffee … Abrupt richtete sie sich auf.
«Frühstück?»
«Guten Morgen, Schlafmütze!» Ben lachte auf.
Sie liebte sein tiefes, kehliges Lachen, das so unverwechselbar war, dass sie es unter Tausenden wiedererkannt hätte. Früher war es selten gewesen, zumindest sie hatte es kaum gehört, doch neuerdings lachte Ben viel und oft.
«Anders bist du ja nicht wach zu kriegen.» Er legte zwei Spiegeleier auf einen Teller und drapierte Speck darum. «Frühstück im Bett?»
«Nein, ich komme!» Lena schnappte sich ihre Jogginghose und das Sweatshirt, das in einem Knäuel neben dem Bett lag, und zog sich schnell an. Obwohl im Herd bereits ein Feuer brannte, war es in der Hütte noch immer kalt – zumindest wenn man gerade aus der kuscheligen Federbetthöhle gekrochen war. Zuletzt streifte sie sich die dicken Schafwollsocken über, die ihre Tante Res gestrickt hatte, und kletterte von dem Vorsprung unter dem Dach, auf dem sich das Bett befand, herunter. Die Hütte war klein, ein einziger, vielleicht drei mal fünf Meter großer Raum aus groben Holzbalken. Die Möbel bestanden nur aus einem Tisch mit Eckbank, einem Herd, ein paar Regalen und einer Kommode mit einer Waschschüssel. Es gab keinen Strom, und das Wasser musste man aus dem Brunnen holen. Die kleine Hütte stand auf einer Anhöhe hinter dem Rabensteiner See, der Schafberg genannt wurde, und gehörte zur Vogelwarte, wo Ben wohnte und auch sein Büro hatte. Tief verborgen im nahezu unberührten Wald des Naturschutzgebiets, das sich zwischen Gamskopf und Rabenstein erstreckte, war die Hütte all die Jahre nahezu vergessen gewesen. Erst Ben hatte sie nach seinem Antritt als Ranger wiederentdeckt und hergerichtet. In den letzten Monaten hatte er das Dach neu gedeckt, schadhafte Stellen ausgebessert und den Wald drum herum etwas gerodet. Der Mischwald war der Hütte im Laufe der Jahre so dicht auf die Pelle gerückt, dass man sie zwischen Fichten- und Ahornsprösslingen, Weißdornbüschen und Wacholdergestrüpp kaum noch hatte ausmachen können.
Es war Bens Geburtstagsüberraschung für Lena gewesen, das Wochenende hier oben zu verbringen, völlig abgeschieden vom Rest der Welt, und er hätte ihr kein schöneres Geschenk machen können. Am liebsten wäre sie für immer hiergeblieben. Strumpfsockig ging sie zu Ben, der gerade den zweiten Teller mit Eiern und Speck füllte, und umarmte ihn von hinten. «Guten Morgen.» Sie vergrub ihr Gesicht in dem rauen Karohemd, das er über seinem Shirt trug. Es roch nach Holzrauch und frischer Luft. Er war offenbar schon mit Hilde draußen gewesen.
«Guten Morgen.» Er reichte ihr einen Teller. «Größere Zärtlichkeiten müssen warten. Ich habe einen Bärenhunger.» Er küsste sie lächelnd, bevor er mit dem anderen Teller zum Tisch ging, vor dem Hilde lag, seine riesige Irische Wolfshündin. Sie wedelte kurz mit dem Schwanz, als Lena ihr den Kopf streichelte, und senkte die Schnauze dann wieder auf den Knochen, den sie zwischen den Pfoten hielt. Der Tisch war bereits gedeckt, Ben hatte robustes graues Geschirr für die Hütte gekauft, handgetöpfert in einer kleinen Töpferei in Bichlbrunn. Es gab Kaffee in einer Mokkakanne, Schinken, Speck und grobes Roggenbrot, über dem Herd geröstet. Lena hatte Milch, Honig, Butter und selbst gemachte Marmelade von ihrer Tante beigesteuert. Zu ihrer Überraschung stand heute Morgen noch ein Gugelhupf mit einer Kerze auf dem Tisch.
«Es gibt Kuchen? Du hast mir einen Geburtstagskuchen gebacken?» Lena war gerührt.
«Nicht ganz. Miri hat ihn in meinem Auftrag gebacken», gab Ben zu. «Aber immerhin hab ich ihn raufgetragen und vor dir versteckt. Und vor Hilde. Was nicht ganz einfach war.»
Lena lachte. «Kann ich mir vorstellen. Du bist ein wahrer Held!» Hilde war ziemlich verfressen, und auf Kuchen stand sie ganz besonders. Was Lena gut verstehen konnte – sie liebte Kuchen ebenfalls. Wobei, eigentlich liebte sie alles, was essbar war. Sie setzten sich, und Lena blies die Kerze aus.
«Du musst dir was wünschen», sagte Ben.
«Hab ich schon. Es gibt nur einen Wunsch, den ich habe. Da muss ich nicht lange überlegen.» Alles soll so bleiben, wie es ist, dachte Lena, sprach es jedoch nicht aus. Geburtstagskerzenausblaswünsche durfte man nicht laut äußern. Genauso wenig wie Sternschnuppenwünsche. Sonst gingen sie nicht in Erfüllung.
Ihre Blicke trafen sich, und Ben lächelte. «Was du dir wünschst, wünsche ich mir auch», sagte er, als habe er ihre Gedanken erraten. Sein Blick war so liebevoll, dass Lena von Kopf bis Fuß warm wurde. Er schenkte ihnen beiden Kaffee ein und hob dann feierlich seine Tasse. «Auf dich. Möge dein Wunsch in Erfüllung gehen.»
Lena hatte die erste Tasse Kaffee getrunken und ihre Eier verputzt, da klingelte ihr Handy. Sie hatte es gerade erst eingeschaltet, eigentlich nur ihrer Tante Res wegen, da sie sich immer ein wenig Sorgen um sie machte, wenn sie den ganzen Winter auf der Alm war. Res war zwar körperlich fit, pumperlgsund, wie man so schön sagte, aber es war dennoch eine Herausforderung, ganz allein, nur mit ihren Tieren als Gesellschaft den Winter dort oben zu verbringen. Sie konnte ausrutschen, sich den Arm oder ein Bein brechen oder sich sonst irgendwie verletzen, krank werden … Der Anruf kam aber nicht von ihrer Tante, sondern von Jack Reiter, mit dem sie sich seit letzten Herbst die Leitung der Bichlbrunner Bergwacht teilte. Lena runzelte die Stirn. Sie hatte sich an diesem Wochenende abgemeldet, hatte weder Bereitschaft noch sonst irgendeine Verpflichtung. In ihrer Truppe akzeptierten alle untereinander solche ausdrücklich geäußerten freien Tage, schon deshalb, weil es sonst üblich war, bei einem Einsatz auch dann zu erscheinen, wenn man keine Bereitschaft hatte.
Ben sah sie fragend an. Lena zuckte die Schultern. «Es ist Jack. Keine Ahnung, was er will.» Ein Gefühl der Beunruhigung beschlich sie. Jack Reiter würde sich nicht melden, wenn es nicht wichtig wäre. Nicht heute, nicht an ihrem Geburtstag. Nach kurzem Zögern nahm sie den Anruf an.
«Lena?» Jack Reiter klang atemlos.
«Ja, was gibt’s?»
«Wo bist?»
«Auf der Schafberghütte, mit Ben …»
«Du musst kommen! Tut mir leid, ich würd dich nicht stören, aber wir brauchen dich. Es ist was passiert …»
Lena spürte, wie sie sich augenblicklich anspannte. «Was? Was ist passiert?», fragte sie.
«Ein Gleitschirmflieger ist in die Seilbahn am Frauenboden gekracht. Es ist kompliziert, ihn zu bergen, er hängt kopfüber über der Rinne unterhalb der Adlerschanze. Und wir müssen die Leute aus den Gondeln evakuieren. Wir sind nicht genug Leute, die Garmischer sind angefordert, aber heut Morgen hat’s auf der Strecke nach Garmisch einen Steinschlag gegeben, die Straße ist gesperrt. Es wird dauern, bis …»
«Ich komme!» Lena sprang auf. «Wir sind mit den Tourenski unterwegs, mein Auto steht an der Vogelwarte. In einer Dreiviertelstunde bin ich da.»
Die böse Vorahnung überfiel sie völlig unerwartet. Nach dem Anruf hatte sie sich in Windeseile gewaschen und angezogen und war in den rot-blauen Skianzug der Bergwacht geschlüpft, den sie auch privat gern trug, weil er absolut wasserfest und herrlich funktional war. Jetzt stand sie vor der Hütte und stieg in ihre Tourenski, während Ben ihr dabei zusah, Hilde an seiner Seite. Der wolkenlos blaue Himmel hatte sich innerhalb der letzten Stunde zugezogen, und es wehte ein scharfer Wind, der Schnee versprach. Ben hatte sich einen dicken grauen Strickpullover über sein Hemd gezogen, und die frischen Böen zausten Hildes zottiges Fell. Als Lena bereit zum Aufbruch war, umarmte er sie.
«Pass auf dich auf», sagte er leise. Bei seinen Worten zog sich Lenas Magen plötzlich so angstvoll zusammen, als begäbe sie sich auf eine Expedition in ein fernes Land – mit ungewissem Ausgang. Eine Seilbahnrettung war nicht ungefährlich, aber gerade deswegen übten sie den Ernstfall regelmäßig, mindestens ein-, zweimal im Jahr. Es gab einen genauen Ablaufplan, und jeder wusste, was zu tun war, was die Gefahren minimierte. In den vier Monaten, die sie jetzt mit Ben zusammen war, hatte sie Dutzende andere Einsätze gehabt, und es waren auch gefährliche darunter gewesen, doch noch nie hatte sie dabei beim Abschied von Ben ein so unbehagliches Gefühl beschlichen. Ihr war, als versuche irgendetwas in ihr, sie zu überreden zu bleiben. Wenn du das Telefon nicht eingeschaltet hättest …, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf, und sie spürte den Sog, der von diesem Gedanken ausging. Doch sie hatte ihr Handy eingeschaltet, sie hatte mit Jack telefoniert, sie musste gehen.
«Sehen wir uns heut Abend?», fragte sie.
Ben nickte. «Wir könnten in das neue Lokal gehen. Soll gut sein, hab ich gehört.»
Es gab seit Kurzem ein italienisches Restaurant in Bichlbrunn. Saverio, ein Cousin von Paolo aus der Eisdiele, hatte es mit seiner Familie eröffnet, zur großen Freude der Bichlbrunner, die in Sachen Restaurant bisher nur zwischen dem sehr teuren Hotel Post und dem eher schlichten, gutbürgerlichen Alten Wirt hatten wählen können.
«Gern.» Lena zog den Reißverschluss ihres Anoraks hoch und griff in die Schlaufen ihrer Stöcke. «Das wird ein recht langer Einsatz werden, befürchte ich. Da kann ich am Abend sicher eine Pizza und ein, zwei Bier gebrauchen.» Sie lächelte und fügte hinzu: «Und deine hinreißende Gesellschaft, natürlich.»
«Davon geh ich aus.» Ben grinste, und als Lena noch immer zögerte loszufahren, hob er den Arm und scheuchte sie los. «Jetzt fahr schon, sonst sind sie fertig, bevor du ankommst.»
Lena fuhr durch den Wald bis zum Rabensteiner See, der reglos, dunkelblau und kalt wie ein düsterer Saphir in dem Tal zwischen Teufelskopf und Rabenstein lag. Im Gegensatz zum weiter östlich gelegenen Gamskar, das mit seinen riesigen Steinbrocken und kargen Geröllfeldern wie eine unwirtliche Mondlandschaft wirkte, war diese Gegend mit dem schönen Namen Goldsteiner Tal eher lieblich mit ihren sanft ansteigenden Hängen hinauf zum Gamskopf, der etwas weiter entfernten Alpspitze und den zahlreichen, munter plätschernden Bächen und kleinen Rinnsalen, die in den See mündeten. Allerdings war es auch sehr einsam, und heute, im diffusen weißen Licht der hohen Wolkendecke, wirkte der See wie erstarrt. Vom fernen Teufelskopf pfiff ein eisiger Wind herunter, und Lenas Gesicht brannte wie von tausend Nadelstichen, während sie im Langlaufschritt ihren alten, harschen Spuren von Freitag folgte. Um den See herum war es zu flach, um zu fahren. Stille umgab sie, während sie am Ufer entlangging, lediglich das Geräusch ihrer Stöcke, die sich rhythmisch in den Schnee gruben, war zu hören. Winterkind, das sie war, liebte sie normalerweise die Stille, die den Winter für sie so besonders machte. Nur der Schnee, der alles zudeckte und alle Geräusche dämpfte, vermochte diese Art von Ruhe hervorzubringen. Heute aber war sie zu unruhig, um ihre Wanderung durch die Winterlandschaft zu genießen. Vor ihrem geistigen Auge spulte sich bereits die Rettungsaktion ab. Sie würden sich zuerst um den verunglückten Gleitschirmflieger kümmern und dann mit der Evakuierung der Gondelpassagiere beginnen, die solange ausharren mussten. Solche Rettungseinsätze waren sehr personal- und zeitintensiv, denn es ging nicht alleine darum, die Menschen, die oft sehr aufgeregt und ängstlich waren, aus den Gondeln zu bergen, sie mussten danach auch sicher ins Tal gebracht werden, teils durch sehr unwegsames Gelände, wo man nur zu Fuß vorwärtskam. Die meisten der Passagiere waren nicht dafür ausgerüstet, sie hatten ja nicht erwartet, zu Fuß durch die Wildnis gehen zu müssen, oft waren kleine Kinder dabei und alte Leute, manchmal auch Menschen, die gehbehindert waren. Lena stieß langsam die Luft aus. Gerade heute hätte sie gut auf einen solchen Megaeinsatz verzichten können.
Jetzt hatte sie die Stelle erreicht, wo es wieder bergab ging. Die Abfahrt hinunter zur Vogelschutzwarte ging schnell, und da sie ihren Bergwachtrucksack wie meist schon fertig gepackt im Kofferraum hatte, brauchte sie tatsächlich nicht sehr viel länger als die geschätzte Zeit, um am Parkplatz des Skigebiets Frauenboden aus dem Auto zu springen und zu der Gruppe von Rettern zu laufen, die sich an der Talstation der Seilbahn versammelt hatte. Die Männer der Bichlbrunner Feuerwehr standen dort, zusammen mit den beiden zusätzlichen Notfallsanitätern, die während des Winters fest in Bichlbrunn stationiert waren, sowie Jack Reiter, der zu den anderen sprach. Offenbar koordinierten sie gerade die Bergung aus den Gondeln, was hieß, dass die Rettung des Gleitschirmfliegers offenbar schon beendet war. Sie atmete auf, wieder einmal froh über ihre Entscheidung, sich mit Jack die Leitung zu teilen. Jack war zuverlässig und äußerst erfahren. Wenn er vor Ort war, musste man sich keine Sorgen machen.
Als sie zu der Gruppe trat, wandte Jack den Kopf. «Ah, Lena, gut, dass du da bist.» Auch die anderen nickten ihr zu.
«Wo sind die Garmischer?», wollte sie wissen und sah sich um. «Ist die Straße immer noch zu?»
Jack nickte. «Das wird noch ungefähr eine Stund’ dauern, bis man wieder durchkommt, meint die Polizei. Wir haben inzwischen den Gleitschirmflieger runtergeholt, er ist stark unterkühlt und hat eine Kopfverletzung, sagt Ferdi.» Er tippte an sein Funkgerät. «Er und Jonas bringen ihn gerade mit dem Akja runter. Ich bin dabei, die Leute für die Bergung aus den unteren Gondeln einzuteilen.»
Lena nickte und warf einen Blick zu den Feuerwehrleuten. Sie würden sich um die Gondeln im unteren Bereich kümmern, während die Bergwacht für die Höhe zuständig war.
«Heli?», fragte sie, wusste die Antwort aber schon, bevor Jack den Kopf schüttelte. «Zu neblig und zu windig. Das Wetter hat sich seit heute Morgen verflucht schnell verschlechtert.» Er reichte ihr einen Plan der Frauenbodenseilbahn, auf dem die Stützpfeiler, die Höhenmeter und die Entfernung eingezeichnet waren. «Wir müssen uns um acht Gondeln kümmern, in denen maximal je vier Passagiere sitzen. Das Unglück hat sich etwa eine Stunde nach Betriebsbeginn ereignet, da war zum Glück noch nicht so viel los. Und es gibt daher keine Passagiere in den Gondeln talwärts und nur wenige Gäste, die oben am Gipfel warten. Zwölf Personen. Die können wir nacheinander mit dem Jeep über die Forststraße runterholen, wenn die anderen geborgen sind.»
Er deutete auf die im Plan eingezeichneten Stützpfeiler.
«Franz, Andi, Ferdi und ich kümmern uns um den Abschnitt zwischen dem zweiten und dritten Stützpfeiler, da befinden sich vier der acht Gondeln. Die Bergung ist hier nicht kompliziert, weil es nicht so hoch und auch nicht steil ist. Du und Jonas müsstet den obersten Abschnitt übernehmen. Dort hängen nur zwei Gondeln, aber sie befinden sich ausgerechnet an der höchsten Stelle, direkt über dem Ochsengraben. Das Abseilen wird daher nicht ganz einfach, und der Weg runter ist ziemlich gach. Ihr könnt mit dem Skidoo rauffahren. Flo, Vroni und Hannes sind schon auf dem Weg hinauf, sie unterstützen euch vom Boden aus.»
Die siebzehnjährige Vroni Steiger und der gleichaltrige Hannes Strobl waren die Küken ihrer Truppe, beide frischgebackene Anwärter, aber sie schlugen sich gut und wurden oft schon zu Einsätzen mitgenommen, wo sie in ungefährlicheren Bereichen eine echte Hilfe waren. Die beiden waren so begeistert davon, Verantwortung übernehmen zu dürfen, dass sie überall davon schwärmten und die Jugendgruppe, die von Andi Kornbichler geleitet wurde, aus allen Nähten platzte. Auch einige Mädchen waren zu Lenas Freude darunter. Nachwuchsprobleme hatte die Bergwacht Bichlbrunn jedenfalls nicht.
Lena warf einen Blick auf den Plan, auf dem mit Bleistift die aktuelle Lage der Gondeln eingezeichnet war. Wie Jack schon gesagt hatte, befanden sich zwei Gondeln im oberen Abschnitt. Sie würden über den obersten Stützpfeiler hinaufsteigen und mithilfe einer Rolle am Seil entlang zu den Gondeln hinuntergleiten. Die Passagiere würde man dann mit einer Seilwinde einzeln ablassen, sofern der Abstand zum Boden nicht zu groß war, ansonsten musste man mit den Passagieren an der Seilrolle zum tiefer gelegenen Stützpfeiler hinuntergleiten und von dort absteigen. So oder so war dies nicht gerade ein Spaziergang. Der oberste Abschnitt war der höchste, von den Gondeln aus ging es stellenweise über achtzig Meter in die Tiefe.
«Dann heißt es für mich jetzt erst mal auf Jonas warten», stellte Lena fest.
Jack nickte. «Eure Ausrüstung liegt noch im Wagen. Sobald er da ist, könnt ihr los.»
Während die Feuerwehrler sich daranmachten, die beiden Gondeln im Bereich der Talstation zu evakuieren, packte Lena die Ausrüstung ein, die Jonas und sie für die Bergung brauchten – Seilfahr- und Bergegerät, Sitzgeschirr, zusätzliche Rettungsschlaufen, Karabiner, Seile –, beziehungsweise befestigte sie an ihrem Rucksack. Als sie zu Jack zurückkam, der sich ebenfalls gerade fertig machte, konnte sie am Skihang bereits die beiden blau-roten Gestalten mit dem Akja sehen, die in langsamen Bögen den Verletzten herunterbrachten. Nachdem der Gleitschirmflieger den Sanitätern übergeben worden war, kam Jonas auf sie zugelaufen. «Lena! Super, dass du kommen konntest.» Er lächelte sie an.
Sie hatten die letzte Seilbahnübung zusammen gemacht und gut miteinander gearbeitet. Lena mochte den besonnenen Polizisten, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, und arbeitete gern mit ihm im Team. Jonas war drei Jahre jünger als sie und stammte ursprünglich aus Berlin, die Liebe zu den Bergen hatte ihn zuerst nach Garmisch-Partenkirchen und dann nach Bichlbrunn gebracht. Inzwischen leitete er die kleine Außenstelle der Garmisch-Partenkirchener Polizei, die im Bichlbrunner Rathaus untergebracht war.
Sie verdrehte kurz die Augen. «Ich hätt mir lieber einen ruhigen Sonntag gegönnt», sagte sie, während sie zu ihm aufs Skidoo stieg.
«Kann ich mir vorstellen. Ben wird auch nicht begeistert gewesen sein.»
Jonas war der Einzige in ihrer Truppe, der Genaueres über ihre Beziehung mit Ben wusste. Nur ihm hatte sie erzählt, dass sie ein Wochenende auf der Schafbergalm planten.
«Er hat’s mit Fassung getragen», erwiderte Lena achselzuckend und ignorierte die leise Wehmut, die sie beim Gedanken an das abrupte Ende ihres Wochenendes überkam. Dann war keine Zeit mehr für Geplauder. Jonas startete das Skidoo, und sie bretterten die Seilbahntrasse hinauf. Zwischen dem dritten und vierten Stützpfeiler angekommen, begrüßten sie Flo, Vroni und Hannes, die die Bergemannschaft am Boden bildeten. Lena stieg vom Skidoo und sah nach oben, wo die beiden Gondeln in schwindelerregender Höhe hingen. Der tief liegende Nebel umwaberte sie, sodass sie noch ferner, geradezu entrückt wirkten. Ausgerechnet über dem Ochsengraben hatten sie stehen bleiben müssen! Dieser Abschnitt war der höchste Punkt der Seilbahn, bevor es zur Bergstation hin wieder flacher wurde. Achtzig Meter waren wirklich das oberste Limit für eine Bergung durch Abseilen. Bei der ersten Gondel stand das kleine Fenster offen, und jemand beugte sich heraus, winkte und rief etwas, das sie nicht verstehen konnte. Sie winkte zurück. «Wir kommen!», schrie sie, so laut sie konnte, doch der Wind riss ihr die Worte von den Lippen. Flo reichte ihr ein Megafon, und sie wiederholte ihre Worte: «Wir kommen, bitte bleiben Sie ruhig. Gleich ist jemand bei Ihnen.»
Die Gondeln verfügten über ein Fahrgastinformationssystem per Funk, über das die Passagiere von der Talstation aus informiert und beruhigt werden konnten, wenn es, wie heute, Probleme gab, doch Lenas Erfahrung nach war es immer besser, unmittelbar mit den Leuten zu sprechen, sobald das möglich war. Funk war gut, aber in einer Situation wie dieser war jeder froh, einen echten Menschen zu sehen und zu hören. Die Gestalt verschwand vom Fenster, und Lena sah sich weiter um. Das Gelände war sehr steil und unwegsam durch den harschen Schnee. Ein Abstieg mit den Passagieren über die Trasse war definitiv zu gefährlich.
«Wie wollt ihr absteigen?», wollte sie von Flo wissen.
«Ich dachte, wir gehen zum Wanderweg. Das ist die sicherste Möglichkeit.» Flo deutete nach rechts. «Wir müssen etwa zehn Minuten nach oben und dort die Piste überqueren.»
Lena nickte zustimmend. «Hoffen wir nur, dass die Leute einigermaßen ausgerüstet sind.» Acht Personen in Turnschuhen heil durch den Tiefschnee und über die glatte Piste zu bringen, wäre eine ziemliche Kamikazeaktion. «Wenn es sich um ältere Leute handelt oder jemanden, der schlecht zu Fuß ist, müssen wir sie mit den Akja oder dem Skidoo runterbringen. Geht kein Risiko ein.» Sie warf Jonas einen Blick zu. «Lass uns starten. Die Ärmsten warten schon viel zu lange da oben.»
Sie stiegen hintereinander den Stützpfeiler hinauf, wobei sie sich bei jeder Sprosse mit dem Sicherungsseil einklinkten. Als sie über die Bäume hinausstiegen, traf sie der Wind mit voller Wucht. Er pfiff eisig kalt vom Teufelskopf herüber und zerrte an den Jacken und der Ausrüstung. Lena warf einen besorgten Blick nach oben zu den beiden Gondeln. In der Kabine, aus der sich der Passagier gebeugt hatte, konnte sie Schatten sehen, die sich bewegten. Mehrere Leute also. Die andere Kabine war zu weit entfernt, um Genaueres zu sehen. Nichts bewegte sich, auch kein Fenster war offen. Fast schien es, als sei gar niemand darin. Der Wind war jetzt so stark geworden, dass beide Gondeln deutlich schwankten. Selbst wenn es den Unfall mit dem Gleitschirmflieger nicht gegeben hätte, hätte der Betreiber den Seilbahnbetrieb spätestens jetzt einstellen müssen. Bei so starkem Seitenwind drohte ein Entgleisen des Förderseils. Sie beneidete die nun schon seit fast zwei Stunden festsitzenden Passagiere dort oben nicht, selbst wenn ihnen mit Sicherheit schon vor ihrem Erscheinen gesagt worden war, dass die Bergwacht sich auf den Weg gemacht hatte. Der Ochsengraben, über den die Bahn hier führte, war eine tiefe, zerfurchte Rinne, und der Blick hinunter war schon von ihrer Position aus beängstigend, und dabei hatten sie noch einige Meter vor sich. Trotz ihres Bedürfnisses, den Menschen so schnell wie möglich zu helfen, stiegen sie mit Bedacht weiter. Die Eisenstreben des Stützpfeilers waren mit Eis überzogen, glatt und schmerzhaft kalt. Lena konnte die Kälte sogar durch ihre festen Arbeitshandschuhe spüren.
Schließlich waren sie oben angekommen. Lena klinkte das Seilfahrgerät in das Gondelseil ein, während Jonas sich selbst und Lena sicherte. Er würde die Sicherung übernehmen, bis sie an der Gondel war. Der Moment, in dem sie von den Streben des Stützpfeilers ins Leere treten musste, um an der Rolle des Seilfahrgeräts abwärts zur ersten Gondel zu fahren, gehörte nicht zu Lenas Lieblingsaufgaben, wenngleich sie es schon oft geübt hatte. Inzwischen war der Nebel dichter geworden. Er hüllte den Stützpfeiler schon zur Hälfte ein, und auch die erste Gondel war nur noch als dunkler Schemen zu erkennen. Die zweite Gondel, einige Hundert Meter weit entfernt, war gar nicht mehr zu sehen.
Lena warf Jonas einen Blick zu. «Bereit?»
Jonas nickte. «Bereit.»
Sie machte den Schritt ins Leere. Jetzt hing sie nur noch an der Seilrolle, ihre Beine baumelten über dem Abgrund. Sie schwankte leicht. Nebelfetzen zogen unter ihren Füßen vorbei, und der Wind zerrte an ihrer Jacke. Langsam glitt sie an dem Seilfahrgerät, das an ihrem Klettergurt befestigt war, auf die Gondel zu. Unter ihr gähnte Leere. Wenn der Nebel sich kurz lichtete, konnte sie die fast schwarz wirkenden Bäume entlang des Ochsengrabens erkennen, das schmale Weiß der Seilbahntrasse und, als kleine blau-rot leuchtende Pünktchen, ihre Kollegen. Es war still. Nur das hohe Pfeifen des Windes, der durch die Stahlseile strich, war zu hören. Es war ein geisterhaftes Lied, auf- und abschwellend, wie eine Klage. Der Nebel setzte sich auf Gesicht und Haare, wo er durch den kalten Wind augenblicklich gefror. Lena konnte die Eiskristalle sehen, die sich auf ihre losen Haarsträhnen gesetzt hatten, und ihr Gesicht brannte vor Kälte.
Jetzt hatte sie die Gondel erreicht. Aufatmend stieg sie auf das Dach, wo sich eine Luke befand. Sie gab Jonas per Funk kurz Bescheid, dass sie gelandet war – den Stützpfeiler konnte sie nur noch erahnen –, öffnete die Luke und kletterte ins Innere. Drei Augenpaare starrten sie mit einer Mischung aus Angst und Erleichterung an. Zwei kleine Mädchen, etwa sechs und acht Jahre alt, und ihr Vater. Die Mädchen waren blass, das kleinere der beiden hatte rote, verweinte Augen. Alle drei trugen Skiausrüstung, in den Halterungen außen an der Gondel standen ihre Ski. Trotz der dicken Anoraks sahen sie verfroren aus, was kein Wunder war. Sie harrten schon seit zwei Stunden hier drin aus, und es war eiskalt.
«Ich bin Lena Veith von der Bergwacht», stellte Lena sich vor. «Und wer seid ihr?»
«Ich bin Leonie», sagte die Größere der beiden nach kurzem Zögern. Sie war ein dünnes Mädchen mit unzähligen Sommersprossen im Gesicht und einem aufgeweckten Blick. Ein roter Zopf ragte unter ihrer Mütze hervor. «Und das ist meine kleine Schwester Ida.»
«Volker Behringer», stellte sich der Mann vor, während Ida auf den Schoß ihres Vaters kletterte und Lena einen misstrauischen Blick zuwarf.
«Wie geht es Ihnen?»
«So weit ganz gut», erklärte der Vater und strich seiner kleinen Tochter über die Wange. «Wir haben seit ungefähr einer Stunde ‹Ich sehe was, was du nicht siehst› gespielt. Nicht dass viel zu sehen gewesen wäre …» er zuckte die Achseln und lächelte schwach.
«Papa hat uns auch Geschichten erzählt», ergänzte Leonie. «Damit Ida keine Angst hat.»
«Ihr wart sehr tapfer», sagte Lena, zu den Mädchen gewandt. «Das ist eine ganz schön lange Zeit, die ihr hier warten musstet, aber es ging leider nicht anders.» Sie wandte sich an den Vater. «Es hat einen Unfall mit einem Gleitschirmflieger gegeben, wie Sie vermutlich durch die Lautsprecheransagen schon gehört haben. Inzwischen konnte er geborgen werden. Es wird allerdings noch eine Weile dauern, bis die Seilbahn den Betrieb wieder aufnehmen kann, daher bin ich gekommen, um Sie abzuseilen. Unten warten meine Kollegen, die bringen Sie ins Tal.»
«Abseilen?», wiederholte Leonie schaudernd. «Da ganz runter? Mit einem Seil?» Sie warf einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster und wurde, wenn möglich, noch ein bisschen blasser.
«Ja», bestätigte Lena. «Aber keine Sorge, es kann dir nichts passieren. Du hängst fest am Seil und bist ganz sicher.»
«Okaaaay …» Das Mädchen wich vom Fenster zurück und setzte sich dicht neben ihren Vater, ihr kleines, blasses Gesicht wie erstarrt. Man konnte förmlich sehen, wie sie um Fassung rang, es aber nicht zeigen wollte, um ihre kleine Schwester nicht zu beunruhigen. Lena setzte sich den dreien gegenüber und erklärte ihnen genau, wie das Abseilen vonstattengehen würde. Der Vater nickte einige Male bestätigend und wandte sich dann an seine größere Tochter.
«Das ist wie im Klettergarten. Erinnerst du dich? Da haben wir uns doch auch abgeseilt.»
Leonie nickte zögernd. «Ja, aber das war nicht so hoch.»
«Aber du hast es super gemacht. Und das hier ist nichts anderes.» Der Vater lächelte ihr aufmunternd zu. «Hey, Große, was meinst du, was du da nach den Ferien in der Schule erzählen kannst!»
Leonie schluckte und richtete sich etwas auf. «Und die Mama wird auch Augen machen.»
Er nickte. «Ein richtiges Abenteuer.» Er wandte sich Lena zu. «Aber Ida kann zusammen mit mir kommen?» Er wippte das kleine Mädchen auf seinen Knien auf und ab und fügte leise hinzu: «Allein wird sie Panik bekommen.»
«Ja, natürlich. Wir seilen Sie beide zusammen ab.» Sie lächelte Leonie an. «Und du schaffst das ganz alleine. Wirst sehen, das wird cool werden.»
Leonie warf ihr einen zweifelnden Blick zu, nickte aber. «Ich bin ja schon groß», sagte sie schließlich, um Tapferkeit bemüht.
Ihr Vater stand auf. «Ida und ich gehen zuerst, dann siehst du, dass es nicht so schlimm ist.»
«Okay.» Lena nickte. «Dann lasst uns loslegen.»
Sie gab der Gondeltür einen heftigen Tritt, sodass sie sich öffnete. Der eisige Wind, vermischt mit Schneeflocken, pfiff herein, und allen wurde noch einmal mit aller Wucht bewusst, dass sie über einem Abgrund baumelten. Während Lena die Vorbereitungen zum Abseilen traf und das Führungsseil abließ, begann Ida zu weinen. Ihr Vater nahm sie in den Arm und versuchte, sie zu trösten und gleichzeitig abzulenken. «Schau mal, Ida», sagte er und deutete zu Leonie. «Schau mal, was Leonie gleich macht. Sie ist eine Superheldin! Lena lässt sie auf den Boden schweben wie einen Vogel.» Lena konnte sehen, wie Leonie sich unter seinen Worten straffte, und war dankbar für die Besonnenheit dieses Mannes. Sie hatte schon andere Eltern in ähnlichen Situationen erlebt, Mütter wie Väter, die alles andere als souverän reagiert hatten. Auch Erwachsene hatten Angst vor dem Abgrund, der sich jenseits der offenen Kabinentür auftat, und es kostete einiges an Kraft, Kinder diese Angst nicht spüren zu lassen. Lena hakte das Bergegerät in den dafür vorgesehenen Haken oberhalb der Tür ein und sicherte den Vater und seine kleine Tochter, die sich wie ein Äffchen an ihn klammerte. Als die beiden an den Rand der Gondel traten und der Vater hinuntersah, schluckte er. Der Nebel hatte sich für einen Moment etwas gelichtet, und man konnte die Höhe deutlich erkennen. Die Kollegen von der Bergemannschaft, die unten warteten, wirkten erschreckend klein und weit entfernt. «Ach du Scheiße», murmelte er, kaum hörbar.
«Papa …?», kam es jämmerlich von Leonie. Sie stand hinter ihm, und in ihren Augen waren Tränen zu sehen. Sie hielt ihren Vater am Anorak fest, ihr Kinn zitterte.
«Alles gut, Große», sagte er, löste ihre Hand behutsam von seiner Jacke und hielt ihre Finger einen Moment ganz fest. Dann lächelte er. «Gleich sind wir alle drei unten. Das geht ganz schnell, du wirst es sehen. Was für ein Abenteuer!» Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Beide Hände um seine kleinere Tochter geschlungen, nickte er Lena zu. «Ich bin bereit.»
Langsam schwebten Volker Behringer und seine kleine Tochter am Führungsseil entlang ins Tal, wo sie Lenas Kollegen in Empfang nahmen. Nebelfetzen umwaberten sie, doch man konnte noch immer gut sehen, wie sie unten ankamen.
«Schau, Leonie, alles super», sagte Lena, als der Vater zu ihnen hinaufwinkte. Leonie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Als ob jemand einen Schalter umgelegt hatte, wich ihre Angst sichtbar. Obwohl noch immer angespannt, wirkte sie jetzt eher aufgeregt als furchtsam.
«Meine Mama wird staunen», sagte sie und plapperte aufgeregt weiter, während Lena ihr das Sitzgeschirr anlegte. «Sie ist nicht mitgekommen, weil sie heute lieber Wellness machen wollte als Skifahren. Ich finde Wellness ja total langweilig. Der Hotelpool ist schon schön, aber man darf nicht reinspringen, nicht mal ganz vorsichtig und ohne Anlauf …»
Dann war auch Leonie bereit, und sie kam gar nicht mehr dazu, noch einmal Angst zu haben, so zügig glitt sie mit Lenas Hilfe nach draußen und abwärts, wo ihr Vater und ihre kleine Schwester sie bereits erwarteten. Sie winkte ihnen sogar zu und wackelte leicht mit den Beinen, während sie nach unten schwebte. Lena atmete auf. Eine der beiden Aufgaben war erledigt, die erste Gondel leer. Auch bei ihren Kollegen unterhalb ging es zügig voran, wie sie per Funk erfuhr, während sie die Seile aushakte. Sie wickelte sie auf und kletterte wieder nach oben, um sich um die Passagiere der zweiten Gondel zu kümmern. Der Nebel hatte sich wieder geschlossen und hüllte alles in dichtes, wolkiges Weiß. Langsam glitt sie am Seil entlang bergab. Als die Kabine aus dem Nebel auftauchte, dachte sie erneut, die Seilbahnmitarbeiter hätten sich bei ihren Informationen getäuscht und sie wäre leer. Sie konnte noch immer niemanden darin erkennen. Erst als sie näher kam, sah sie den Umriss einer einzelnen Person und biss sich auf die Lippen. Es war immer belastend, über so lange Zeit in einer Seilbahn festzustecken, ganz allein jedoch stellte sie es sich besonders unangenehm vor. An der Gondel angekommen, folgten die routinierten Bewegungsabläufe. Sie musste nicht darüber nachdenken, jeder Handgriff war viele Male eingeübt, in den Schulungen im Übungszentrum und unter realen Bedingungen. Sie öffnete erneut die Luke am Dach und kletterte in den Innenraum. Dann hielt sie überrascht inne. Auf der Bank kauerte, leichenblass und zitternd, Victoria Pistorius.
«Victoria?» Lena war verblüfft. Wenn sie jemanden am allerwenigsten hier erwartet hatte, war es Bens Ex.
Victoria zwinkerte. Offenbar begriff sie erst jetzt, wer vor ihr stand. Lena konnte es ihr nicht verdenken. Mit Helm und in voller Bergwachtmontur sahen sie alle gleich aus.
«Lena, du?» Victoria sprang so plötzlich auf, dass die Gondel zu schwanken begann. Eine Schrecksekunde weiteten sich ihre Augen, dann fiel sie Lena um den Hals. «Oh, mein Gott, wie bin ich froh!»
Etwas überwältigt von Victorias Gefühlsausbruch tätschelte Lena ihr den Rücken, dann befreite sie sich behutsam aus ihrer Umklammerung. «Was machst du hier? Bist du ganz allein unterwegs?»
«Ja …» Victorias Augen füllten sich unvermittelt mit Tränen. «Ich … ich hab heute Geburtstag, und ich dachte, es wäre eine gute Idee, einen Ausflug in die Berge zu machen …» Sie zog sich einen Handschuh aus, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. «Bescheuert, ich weiß. Aber ich war mit Ben im Sommer hier oben, und es war so schön, da dachte ich …» Sie zuckte mit den Schultern. Es blieb offen, was sie sich gedacht hatte. Hatte sie alten Zeiten nachtrauern wollen? Oder bei Ben vorbeischauen? Rein zufällig?
«Ich hab heute auch Geburtstag», sagte Lena, weil ihr nichts Besseres einfiel. Ihre Überraschung war Irritation gewichen. Was wollte Victoria ausgerechnet heute hier? Gab es nicht noch andere Berge, auf die sie hätte fahren können? Weit weg von Ben?
«Echt?» Victoria zwinkerte eine letzte Träne weg. Ihr Augen-Make-up war verschmiert, und sie war ungewöhnlich blass, fast durchscheinend. Obwohl sie stylisch wie immer gekleidet war – cremefarbener Anorak, passende Bommelmütze und elegant geschnittene, schokoladenfarbene Skihose –, sah sie schlecht aus. Abgekämpft, erschöpft. Die dunklen Ringe unter den Augen und die fahle Gesichtsfarbe hatten nichts mit der aktuellen Situation zu tun, dafür musste es einen tiefer liegenden Grund geben, das spürte Lena. Sie biss sich auf die Lippen und hoffte inständig, dass nicht sie dieser Grund für Victorias Zustand war. Laut Ben hatte Victoria die Trennung vor vier Monaten, nach dem folgenschweren Abend auf der Obermoosalm, als Lena und Ben sich geküsst hatten, «mit Fassung» aufgenommen. Lena hatte diese Aussage so akzeptiert und nicht weiter nachgefragt. Die beiden waren eigentlich schon vorher getrennt gewesen und hatten es – auf Victorias Initiative hin – nur noch mal miteinander versucht. Andererseits, was hieß das schon, mit Fassung? Victoria musste Ben sehr geliebt haben, immerhin hatte sie erneut um ihn gekämpft. Vielleicht war ihr erst da klar geworden, dass es endgültig vorbei war? Aber müsste sie in diesem Fall nicht Lena gegenüber reservierter sein? Man fiel seiner Rivalin – noch dazu, wenn man den Kürzeren gezogen hatte – doch nicht um den Hals? Selbst dann nicht, wenn man schon geraume Zeit in einer Gondel festsaß. Sie selbst jedenfalls würde das nicht tun, davon war Lena überzeugt.
«Hast du an deinem Geburtstag nichts Besseres zu tun, als Leute aus Gondeln zu retten?», versuchte Victoria einen Scherz zu machen, doch ihr Lächeln fiel ziemlich kläglich aus.
Lena dachte an die Schafberghütte, an Ben und an das gemütliche Bett, aus dem sie heute Morgen nur des Frühstücks wegen gekrochen war. «Eigentlich schon», gab sie zu. «Aber hey, im Schneesturm mit meiner Seilrolle eiskalte Stahlseile entlangzufahren und auf Gondeldächern herumzuklettern, das hat doch auch was.» Sie grinste.
Victoria erwiderte ihr Lächeln zaghaft. Sie griff nach Lenas Arm und drückte ihn fest. «Ich bin so froh, dass du da bist. Zwei Stunden allein hier oben … Ich weiß, es ist albern, aber ich dachte, ich müsste womöglich sterben.» Sie lachte nervös auf. «Ich bin eben eine dumme Stadtpflanze.» Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie begann zu schluchzen.
Lena griff in die Tasche ihres Anoraks, nahm ein Päckchen Taschentücher heraus und reichte es ihr. Victoria Pistorius war kaum wiederzuerkennen. Wo war die selbstsichere, charmante und weltgewandte Frau geblieben? Diese Seilbahngeschichte allein konnte aus ihr doch nicht dieses Häuflein Elend gemacht haben?
«Das ist weder dumm, noch hat das etwas damit zu tun, dass du aus der Stadt bist. Jedem ist unwohl, wenn er bei Sturm in einer Seilbahnkabine festsitzt. Noch dazu ganz allein.»
Während Victoria ihr einen dankbaren Blick zuwarf und dann geräuschvoll schnäuzte, knackte Lenas Funkgerät, und Jonas meldete sich. «Alles in Ordnung?», wollte er wissen.
«Ja, alles gut. Es ist nur eine Person zu bergen», gab Lena zurück. «Ist die Bodenmannschaft schon bereit?»
«Nein, leider nicht. Es gibt ein Problem: Wir haben nicht genug Leute. Die Straße nach Garmisch ist zwar inzwischen wieder frei, aber die Verstärkung ist noch nicht eingetroffen, und die beiden Sanitäter sind mit dem Gleitschirmflieger beschäftigt. Ferdi musste daher unten bleiben und einen älteren Mann versorgen, der Herzprobleme hat, und alle anderen sind noch damit beschäftigt, die übrigen Passagiere ins Tal zu bringen. Es sind im Moment nur wir zwei hier oben.»
Lena fluchte leise. «Wie schnell kannst du unter der Gondel sein?»
«Mit dem Skidoo komme ich da nicht hin. Da ist der Ochsengraben dazwischen. Ich kann zu Fuß kommen, aber das wird eine Weile dauern, weil ich auch erst den Graben umgehen muss. Meinst du, es reicht überhaupt, wenn nur ich alleine komme? Sollen wir nicht besser auf die anderen warten?»
Lena sah aus dem Fenster nach unten. Der Ochsengraben bildete direkt unter der Kabine eine schwarze Furche im schneebedeckten Weiß der Seilbahntrasse. Es bestand die Gefahr, dass Victoria beim Abseilen angesichts des Windes, der immer stärker wurde, selbst mit einem Führungsseil dem Graben zu nahe kam. Jonas hatte recht: ein einziger Bodenretter allein war definitiv zu wenig, um Victoria sicher zu bergen.
Lena warf einen Blick auf den Stützpfeiler unterhalb. Etwa zweihundert Meter, schätzte sie und fasste einen Entschluss. «Wie schnell kannst du mit dem Skidoo am Stützpfeiler drei sein?», fragte sie.
«Zehn Minuten, höchstens. Ich kann über die Piste kommen, die kreuzt die Trasse etwas oberhalb.»
«Dann machen wir’s so. Ich bringe sie über den Stützpfeiler nach unten.»
«Aber dann müsst ihr zusammen das Seil runterfahren. Das ist schon ziemlich krass für jemanden, der das nicht gewohnt ist.»
Lena warf Victoria, die blass und mit bangem Gesichtsausdruck wartete, einen Blick zu. «Sie schafft das.»
«Was schaffe ich?», fragte Victoria mit dünner Stimme, nachdem Lena das Gespräch mit Jonas beendet hatte.
«Wir steigen über den Stützpfeiler ab», sagte Lena und deutete nach draußen, wo der unterhalb liegende Stützpfeiler als dunkler Schemen im Nebelgrau zu erkennen war. Victoria folgte ihrer Geste und wurde, wenn möglich, noch blasser. «Aber … was … wie kommen wir dahin?»
«Auf demselben Weg, wie ich zu dir runtergekommen bin. Mit dem Seilfahrgerät.» Lena reichte ihr das Sitzgeschirr, doch Victoria griff nicht danach. Sie starrte Lena entgeistert an. «Du meinst, wir fahren an dem Seil runter? Wir zwei zusammen?»
Lena nickte. «Das ist so ähnlich wie diese Seilrutschen auf den Spielplätzen. Du bist als Kind doch sicher schon mit so etwas gefahren.»
«Auf dem Spielplatz? Als Kind?», wiederholte Victoria verwirrt und nahm mit leicht abwesendem Gesichtsausdruck das Sitzgeschirr entgegen. Es fiel ihr offenbar schwer zu begreifen, dass Lena es ernst meinte mit dem, was sie gerade gesagt hatte.
Lena half ihr hineinzusteigen und sicherte sie. «Mach einfach alles, was ich dir sage, und sieh vor allem nicht nach unten. Es dauert nur ein paar Minuten. Wir packen das ganz easy, glaub mir.» Sie kletterte durch die Öffnung in der Kabinendecke nach oben, sicherte sich und reichte Victoria dann ihre Hand. «Stoß dich am Sitz ab. Ich zieh dich hoch», sagte sie ermunternd, als Victoria sich mit zittrigen Bewegungen abmühte, durch die Öffnung nach oben zu steigen. Kurz darauf hatte sie es geschafft. Auf allen vieren kniete Victoria auf dem schwankenden Dach der Kabine. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, und Schneegraupel trafen ihre ungeschützten Gesichter wie kleine Eispfeile. Victoria war starr vor Angst. Als ein Windstoß die Kabine ins Schaukeln brachte, stieß sie einen leisen Schrei aus und krallte sich an der Luke fest.