Die Brandstifter - Alexandra Sarnberg - E-Book

Die Brandstifter E-Book

Alexandra Sarnberg

4,8

Beschreibung

Die unkonventionelle Kleinunternehmerin Hannah Siegers wird von betrügerischen Bankern in den Ruin getrieben. Verarmt und ausgegrenzt bekommt sie nun den jahrelang gehegten tödlichen Hass der Bussi-Gesellschaft zu spüren. Als sie in einem Kaufhaus zusammenbricht, lernt sie den weitaus jüngeren tunesischen Medizinstudenten Habib Sarif kennen. Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte – mit überraschendem Ausgang.

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Es geschah mitten auf der Rolltreppe. Auf einer dieser modernen, schön geschwungenen - und extrem steilen, wie sie typisch sind für die Designer-Shoppingmalls, jene Einkaufstempel des neuen, schönen, starken Menschen, der alles verschlingt, was nicht so neu, schön und stark ist wie er. Genau wie seine Shoppingmalls, diese gierigen Kraken, alles verdrängen und in sich aufsaugen, marschiert er im gleichen Schritt und Tritt über alles hinweg, was für die gleichgeschaltete schöne neue Welt zu individuell ist. Der neue Mensch ist nicht Individuum, sondern Masse, eine gewaltige, brutale Dampfwalze, die alles zu einem farblosen Einheitsbrei zerquetscht.

Niemand beachtete die zierliche Frau, die mitten auf dieser Rolltreppe ins Wanken geriet, und, sich ans Herz greifend, fast rückwärts gestürzt wäre. Panisch riss sie ihren Mantel auf, mit fliegender Hand, während sich die Linke am Halteband festkrallte, schweißnass und glitschig. Ihr Herz raste, in unregelmäßigen Schlägen, schien für einen Sekundenbruchteil stillzustehen, um wie eine aus dem Takt geratene Pumpe mühsam saugend erneut einzusetzen. Durch die gläserne Seitenwand der Rolltreppe sah sie in den Abgrund, der sich unter ihr auftat, während sie ebenso rasch wie unaufhaltsam höher und höher getragen wurde. Eine kurze Panik trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, während der Abgrund sie anzog, magisch weiß, ein elegantes Grab, kalkweiß, wie das Zeug, mit dem man die Toten bedeckt, damit sie schneller… Entschlossen wischte sie sich über die Stirn, um den Gedanken zu vertreiben. Sie spürte die feinen Schweißperlen unter ihren Fingern, wie sie ihr heißes Gesicht allmählich kühl werden ließen. Vorsichtig strich sie sich über die Haut zwischen Nase und Oberlippe. Es ist nicht sehr hygienisch, sich mit derselben Hand, mit der man sich am Halteband einer Rolltreppe festgehalten hat, ins Gesicht zu fassen. Kaum etwas dürfte bakteriell so verseucht sein. Und sie hasste es, krank zu sein. Sie hasste es, schwach zu sein. Sie war schließlich ein moderner Mensch, ein Wesen der neuen Zeit. Wie alle anderen auch ein Kunstprodukt, eine Kreuzung zwischen Maschine und Mensch. Sie hielt sich krampfhaft aufrecht, während die Einkaufstüten, trotz allen Versuchen, sie nach oben zu ziehen, an ihren Armen abwärts glitten. Den Halt verlieren! Das fehlte gerade noch! Trotzig streckte sie ihren rechten Arm aus, an dem unbarmherzig die Einkaufstüte nach unten zog. Sie stemmte sich gegen das Gewicht, ließ die Tüte an ihrem Arm baumeln und krallte sich mit der Rechten auch an dem anderen Halteband fest. So stand sie da, wie ein Seemann bei Wellengang. Der Schweiß war auch an ihren Beinen ausgebrochen, unter ihren Kleidern war sie klitschnass. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, ein, aus, ein, aus. Gleich würde es wieder besser gehen, alles wäre in Ordnung, nur keine Panik.

Plötzlich stießen ihre Füße gegen eine Plattform - sie hatte nicht bemerkt, dass sie bereits oben angekommen war - instinktiv hielt sie sich weiter auf beiden Seiten fest, Halt suchend. Von hinten rempelte sie ein Typ an, bösartig knurrend, stieß ihren rechten Arm brutal zur Seite und gab ihr einen Stoß, dass sie vornüber kippte und mitsamt den schweren Einkaufstüten auf den Boden aufschlug.

Man stieg über sie hinweg.

Nicht nur einer - mehrere. Eine ganze Schlange. Sie gafften, ohne stehen zu bleiben, sahen sich satt an ihr, grinsten sich zu, über sie hinweg. Sie fühlten sich erhaben. Sie waren die Herren. Sie war nicht einmal ein Mensch. Sie hätte am liebsten aufgeschrien, wenn sie nicht so unglaublich überrascht gewesen wäre. Nie hätte sie so etwas für möglich gehalten. Half man einem Gestürzten nicht auf, besonders wenn er sich offensichtlich nicht gut fühlte? War das nicht der ganz normale menschliche Instinkt? Aber sie waren ja keine Menschen mehr. Sie waren Herrenmenschen.

Sie las die Verachtung in ihren Augen. Was am Boden liegt, wird gefressen. So will es das Gesetz der Raubtiere.

Das Verrückte war, dass sich in ihre Wut Verachtung mischte - für sich selbst. War sie nicht wirklich ein Haufen Dreck, weil sie Schwäche gezeigt hatte? Nie zuvor war sie in ihrem Leben ernsthaft krank gewesen. Ein schönes, starkes, arrogantes Raubtier, wie alle anderen auch. Doch sie war nie ein Herrenmensch gewesen. Also doch nicht wie alle anderen, stellte sie zugleich bekümmert und erleichtert fest. Denn ein Herrenmensch ist schlimmer als ein Tier, er steht unter jedem Tier, weil er bösartig ist.

Böse Augen sahen sie aus Schlitzen an: sie war ein Störfaktor. Sie musste weg, so oder so. Sie versuchte hochzukommen, auf allen Vieren. Dabei steckte sie so manchen Tritt ein, weil die Meute einfach weiterging ohne hinzuschauen. Wohl auch weil der eine oder andere bewusst zutrat.

Kopfschütteln, böse Blicke. Der Inhalt der Einkaufstüten hatte sich natürlich über den Boden ergossen, und so blieb es nicht aus, dass sie herumkriechen musste, um alles wieder zusammenzupacken. Was sich eigentlich erübrigte, weil man auf ihren Sachen herumgetrampelt war. Sie hätte heulen können. Es waren Weihnachtsgeschenke für die wichtigsten ihrer Kunden, kunstvoll eingepackt. Jetzt waren sie nur noch Müll. Kein Problem für jemanden, der Geld hatte und neue kaufen konnte. Sie hatte kein Geld, jedenfalls nicht dafür. Nach offizieller Definition war sie arm. Armut und Krankheit kommen zusammen, das ist halt so.

Sie schluckte ihre Wut hinunter. Schließlich war sie selbst schuld. Oder etwa nicht? Sie schätzte die Zeit: bei ihrem gegenwärtigen Zustand würden die Anfälle etwa alle 30 Minuten kommen. Ihr Blick fiel in einen Spiegel, aus dem ihr das eigene Gesicht fahl und erschöpft entgegenstarrte. Der Lippenstift hob den von Alters- und Bitterkeitsfalten umgebenen Mund hart hervor. Das Make-Up passte nicht. Angewidert wandte sie sich ab. Sie sollte aufhören, sich irgendein billiges Zeug in ihr altwerdendes Gesicht zu schmieren, das ohnehin nur alles schlimmer machte.

Schließlich raffte sie sich auf und ging weiter. Noch einige Besorgungen, dann in die Lebensmittelabteilung. Mit anderen Worten: mit den gleichen Rolltreppen abwärts ins Untergeschoß. Sie seufzte auf und ging tapfer los. Noch 25 Minuten.

Es war wie verhext, dass man dem Weihnachtstrubel nie ausweichen konnte. Und sie war weiß Gott nicht spät dran. Bis sie hier fertig war, waren die 25 Minuten längst um. Offenbar hatte ihr Körper ihr eine Gnadenfrist von einigen Minuten geschenkt. Selbst die Fahrt in den kalkweißen Abgrund hatte sie ohne besondere Vorkommnisse überstanden.

Jetzt also noch rasch die Lebensmittel. Sie merkte, dass sie schwerfällig ging, regelrecht watschelte. Schon wieder so ein Spiegel. Warum waren eigentlich Kaufhäuser derart versessen auf Spiegel an den unmöglichsten Orten, selbst in der Lebensmittelabteilung? Sie verabscheute die alte Frau, die ihr da aus dem polierten Glas entgegenstarrte. Die alte Watschelente mit dem unmöglichen Make-Up in der Visage. Du wirst alt, sagte etwas in ihr. Und nutzlos.

Kannst du nicht mal aufhören, dich selbst zu beschimpfen?, dachte sie.

„Ey, Mann, Alte, pass auf, wohin du tappst!”, röhrte die Stimme eines sich sehr cool vorkommenden Jugendlichen hinter ihr. Er stöhnte demonstrativ auf, rempelte sie an und schob sie beiseite. Die Wut wallte wieder in ihr auf - zusammen mit dieser hässlichen Mischung von Selbstverachtung. Wie ein allzu oft geschlagenes Tier gab sie einen Laut der Empörung von sich. Sie wollte nach dem Typen treten und schlagen, aber die Einkaufstüten schränkten ihre Bewegungsfreiheit ein. Außerdem war er viel zu schnell. Sie musste sich darauf beschränken, ihm ein - für ihre Verhältnisse - kräftiges “Vollidiot” nachzurufen, was ihr im selben Augenblick lächerlich erschien, zumal er nichts mehr davon mitbekam und die Umstehenden sie lediglich mit einer Mischung aus Verblüffung und Mitleid anstarrten. Die Alte wusste wohl nicht mehr, was sie tat. Eigentlich komisch, dachte sie, was man sich ab einem gewissen Alter und vor allem als Frau gefallen lassen muss. Sie fragte sich, wie oft sie heute schon getreten, gestoßen und beschimpft worden war. Sie wurde unendlich müde. Etwas in ihr hatte das Bedürfnis, sich einfach auf den Boden zu legen und auf den Tod zu warten, der sowieso unvermeidlich war. Ein Tier, ein zu Tode getroffenes Tier. Alles kam zusammen, wurde einfach zu viel. Ruhe. Schlafen. Für immer. Sie klammerte sich am Einkaufswagen fest. Ihr Gesichtskreis verengte sich, wurde zu etwas wie Tunnelblick.

Sich einfach fallen lassen…

Sie arbeitete gegen dieses furchtbare Gefühl der Lähmung an, das sie überkam. Nur noch ein paar Lebensmittel, zur Kasse…

Vor ihr schäkerte eine nicht mehr ganz junge Frau, um nicht zu sagen: eine bereits deutlich in die Jahre gekommene Matrone mit dem Kassierer, einem attraktiven Südländer, der ihr Sohn hätte sein können. Ende 20, Anfang 30? Oder doch erst Mitte 20? Sie verzog ungeduldig das Gesicht. Wenn eine alte Scheune brennt. Dass sich die Weiber nicht schämten… alte Hennen…