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Jeden Abend erzählt Jonathan seinem kleinen Bruder Krümel vom Land Nangijala - dem Land der Sagen und der Märchen. Nangijala ist das Land, in das die Menschen nach dem Tode kommen. Und bald ist es soweit - Jonathan und Krümel treffen sich in dem geheimnisvollen Paradies, in dem alle Menschen friedlich zusammen leben. Doch das Leben in Nangijala wird von einem grausamen Tyrannen bedroht - und damit beginnt ein aufregendes Abenteuer für die Brüder Löwenherz … Astrid Lindgrens fantastischer Abenteuerroman für Kinder wurde vielfach ausgezeichnet und u. a. für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Jeden Abend erzählt Jonathan seinem kleinen Bruder Krümel von Nangijala – dem Land der Sagen und der Märchen. Nangijala ist das Land, in das die Menschen nach dem Tod kommen. Und bald ist es so weit – Jonathan und Krümel treffen sich in dem geheimnisvollen Paradies, in dem alle Menschen friedlich zusammen leben. Doch das Leben in Nangijala wird von einem grausamen Tyrannen bedroht – und damit beginnt ein aufregendes Abenteuer für die Brüder Löwenherz …
Jetzt will ich von meinem Bruder erzählen. Von ihm, Jonathan Löwenherz, will ich erzählen. Es ist fast wie ein Märchen, finde ich, und ein klein wenig auch wie eine Gespenstergeschichte, und doch ist alles wahr. Aber das weiß keiner außer mir und Jonathan.
Anfangs hieß Jonathan nicht Löwenherz. Er hieß mit Nachnamen Löwe, genau wie Mama und ich.
Jonathan Löwe hieß er. Ich heiße Karl Löwe und Mama Sigrid Löwe. Papa hieß Axel Löwe, doch als ich zwei Jahre alt war, ging er weg von uns und fuhr zur See, und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.
Aber ich wollte ja erzählen, wie es kam, dass mein Bruder Jonathan zu Jonathan Löwenherz wurde. Und all das Seltsame, was dann geschah.
Jonathan wusste, dass ich bald sterben würde. Ich glaube, alle wussten es, nur ich nicht. Sogar in der Schule wussten sie es, denn ich lag ja nur zu Hause, weil ich hustete und immer krank war. Das letzte halbe Jahr hatte ich überhaupt nicht mehr zur Schule gehen können. Alle Frauen, für die Mama Kleider nähte, wussten es auch. Einmal redete eine mit ihr darüber, und ich hörte es zufällig, ohne dass ich es wollte. Sie dachten, ich schlafe. Ich lag aber nur mit geschlossenen Augen da. Und das tat ich auch weiterhin, denn ich wollte mir nicht anmerken lassen, dass ich dieses Schreckliche gehört hatte – dass ich bald sterben würde.
Natürlich wurde ich traurig und bekam furchtbare Angst, und das wollte ich Mama nicht zeigen. Aber als Jonathan nach Hause kam, erzählte ich es ihm.
»Weißt du, dass ich bald sterben muss?«, fragte ich und weinte.
Jonathan dachte ein Weilchen nach. Er antwortete mir wohl nicht gern, doch schließlich sagte er: »Ja, das weiß ich.«
Da weinte ich noch mehr.
»Wie kann es nur so was Schreckliches geben?«, fragte ich. »Wie kann es so was Schreckliches geben, dass manche sterben müssen, wenn sie noch nicht mal zehn Jahre alt sind?«
»Weißt du, Krümel, ich glaube nicht, dass es so schrecklich ist«, sagte Jonathan. »Ich glaube, es wird herrlich für dich.«
»Herrlich?«, sagte ich. »Tot in der Erde liegen, das soll herrlich sein?!«
»Aber geh«, sagte Jonathan. »Was da liegt, ist doch nur so etwas wie eine Schale von dir. Du selber fliegst ganz woandershin.«
»Wohin denn?«, fragte ich, denn ich konnte ihm nicht recht glauben.
»Nach Nangijala«, antwortete er.
Nach Nangijala – das sagte er so einfach, als wüsste das jeder Mensch. Aber ich hatte noch nie etwas davon gehört.
»Nangijala«, sagte ich, »wo liegt denn das?«
Da sagte Jonathan, das wisse er auch nicht genau. Es liege irgendwo hinter den Sternen. Und er fing an von Nangijala zu erzählen, sodass man fast Lust bekam, auf der Stelle hinzufliegen.
»Dort ist noch die Zeit der Lagerfeuer und der Sagen«, sagte er, »und das wird dir gefallen.«
Von dort, aus Nangijala, stammten alle Märchen und Sagen, sagte Jonathan, denn gerade dort passiere ja all so was. Wenn man dort hinkomme, erlebe man von früh bis spät und sogar nachts Abenteuer.
»Das ist was, Krümel!«, sagte er. »Das ist was anderes als im Bett liegen und husten und krank sein und nie spielen können.«
Jonathan nannte mich Krümel. Das hatte er schon getan, als ich noch klein war, und als ich ihn einmal fragte, warum er mich so nannte, sagte er, weil er Kuchenkrümel sehr gern möge, besonders solche Krümel wie mich. Ja, Jonathan hatte mich gern, und das war merkwürdig. Denn ich war schon immer ein recht hässlicher und ziemlich dummer, ängstlicher Junge mit krummen Beinen gewesen. Ich fragte Jonathan, wie er einen so hässlichen und dummen Jungen mit krummen Beinen bloß gernhaben könne, und da antwortete er:
»Wenn du nicht so ein liebes und hässliches kleines Blassgesicht mit krummen Beinen wärst, dann wärst du ja nicht mein Krümel, den ich gernhabe.«
Aber an dem Abend, als ich mich so vor dem Sterben fürchtete, sagte er mir, dass ich in Nangijala sofort gesund und stark und sogar hübsch sein würde.
»Genauso hübsch wie du?«, fragte ich.
»Hübscher«, antwortete Jonathan.
Doch das konnte er mir nicht einreden. Denn einen so hübschen Jungen wie Jonathan hat es noch nie gegeben und kann es nirgends geben.
Einmal hatte eine von Mamas Kundinnen gesagt: »Liebe Frau Löwe, Sie haben einen Sohn, der wie ein Märchenprinz aussieht!«
Und damit hatte sie nicht etwa mich gemeint, das steht fest!
Jonathan sah wirklich wie ein Märchenprinz aus. Sein Haar glänzte wie Gold, und er hatte schöne dunkelblaue Augen, die richtig leuchteten, und schöne weiße Zähne und ganz gerade Beine.
Und nicht nur das. Er war auch gut und stark und konnte alles und verstand alles und war der Beste in seiner Klasse, und alle Kinder unten auf dem Hof hingen, wo er ging und stand, wie die Kletten an ihm, und er erfand Spiele für sie und zog mit ihnen auf Abenteuer aus. Ich konnte nie dabei sein, denn ich lag ja nur tagaus, tagein in der Küche auf meiner alten Schlafbank. Aber wenn Jonathan nach Hause kam, erzählte er mir alles, was er erlebt hatte. Stundenlang konnte er bei mir auf der Bettkante sitzen und erzählen. Jonathan schlief auch in der Küche, aber auf einem Klappbett, das er abends aus der Abstellkammer holte. Und wenn er zu Bett gegangen war, erzählte er mir Märchen und Geschichten, bis Mama aus dem Zimmer rief: »Jetzt ist aber Schluss! Karl muss schlafen.«
Aber wenn man husten muss, kann man nicht gut schlafen. Manchmal stand Jonathan mitten in der Nacht auf und machte mir heißes Honigwasser, um meinen Husten zu lindern. Ja, Jonathan war lieb!
An jenem Abend, als ich mich so vor dem Sterben fürchtete, saß er viele Stunden bei mir, und wir sprachen von Nangijala, aber ziemlich leise, damit Mama uns nicht hörte. Sie blieb wie gewöhnlich lange auf und nähte, und die Nähmaschine steht in der Stube, dort, wo Mama schläft – wir haben ja nur diese eine Stube und die Küche. Die Tür war angelehnt, und wir konnten Mama singen hören. Sie sang immer dasselbe Lied vom Seemann weit draußen auf dem Meer, wahrscheinlich dachte sie dabei an Papa. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran und weiß nur noch ein paar Zeilen daraus, und die gehen so:
Liebste, fall ich zum Raube dem wilden Meer,
fliegt eine weiße Taube zu dir hierher.
Lass sie, o Liebste, zum Fenster hinein!
Mit ihr wird meine Seele dann bei dir sein.
Es ist ein schönes, trauriges Lied, finde ich. Doch als Jonathan es an jenem Abend hörte, lachte er und sagte:
»Du, Krümel, vielleicht kommst auch du eines Abends zu mir geflogen. Aus Nangijala. Und sitzt als schneeweiße Taube auf dem Fensterblech, tu das doch bitte!«
Gerade da fing ich an zu husten, und er richtete mich auf und hielt mich umfasst wie immer, wenn es am schlimmsten war, und dann sang er:
Kommt sie, mein Krümel, zum Fenster hinein,
dann wird deine Seele bei mir sein.
Erst da musste ich daran denken, wie es in Nangijala ohne Jonathan sein würde. Wie einsam ich ohne ihn wäre. Was nützten mir denn die Sagen und Abenteuer, wenn Jonathan nicht dabei war. Ich würde nur Angst bekommen und mir nicht zu helfen wissen.
»Ich will nicht dorthin«, sagte ich und weinte. »Ich will da sein, wo du bist, Jonathan!«
»Aber ich komme ja auch nach Nangijala«, sagte Jonathan. »So mit der Zeit.«
»So mit der Zeit, ja«, sagte ich. »Aber du wirst vielleicht neunzig Jahre alt, und bis dahin muss ich allein dort sein.«
Da erzählte Jonathan, dass die Zeit in Nangijala nicht ebenso sei wie hier auf Erden. Selbst wenn er neunzig Jahre alt würde, käme mir das vor, als dauerte es nur etwa zwei Tage, bis er da wäre. Denn so sei es, wenn es keine richtige Zeit gebe.
»Zwei Tage wirst du wohl allein aushalten können«, sagte er. »Du kannst ja inzwischen auf Bäume klettern und dir ein Lagerfeuer im Wald machen und an einem kleinen Bach sitzen und angeln. Du kannst all das tun, wonach du dich immer so sehr gesehnt hast. Und gerade, wenn du einen Barsch an der Angel hast, komme ich angeflogen, und dann sagst du: ›Ja, meine Güte, Jonathan, bist du schon da?‹ «
Ich versuchte mit dem Weinen aufzuhören, denn ich dachte, zwei Tage würde ich es wohl aushalten können.
»Aber stell dir vor, wie gut es wäre, wenn du zuerst da wärst«, sagte ich. »Wenn du schon dort sitzen und angeln würdest.«
Das fand Jonathan auch. Er sah mich lange an, so liebevoll, wie er es immer tat, und ich merkte, dass er traurig war, denn er sagte leise und fast bekümmert:
»Stattdessen muss ich ohne meinen Krümel hier auf Erden leben. Vielleicht neunzig Jahre lang!«
Ja, das glaubten wir!
Jetzt komme ich zu dem Schrecklichen. Zu dem, woran ich nicht zu denken wage. Und woran ich doch ständig denken muss.
Mein Bruder Jonathan – er könnte ja noch immer bei mir sein, mir abends etwas erzählen, in die Schule gehen und mit den Kindern auf dem Hof spielen, mir Honigwasser wärmen und all das, doch so ist es nicht … so ist es nicht!
Jonathan ist jetzt in Nangijala.
Es ist schwer, ich kann, nein, ich kann es nicht erzählen. Aber so stand es hinterher in der Zeitung:
Gestern Abend wütete hier in der Stadt im Viertel Fackelrose eine entsetzliche Feuersbrunst, die eines der dortigen Holzhäuser einäscherte und ein Menschenleben forderte. In einer daselbst befindlichen Wohnung im zweiten Stock lag der zehnjährige Knabe Karl Löwe allein und krank zu Bett, als das Feuer ausbrach. Kurz danach kehrte sein Bruder, der dreizehnjährige Jonathan Löwe, heim und stürzte sich, ehe ihn jemand daran zu hindern vermochte, in das bereits lichterloh brennende Haus, um den Bruder zu retten. In Sekundenschnelle war jedoch auch das ganze Treppenhaus ein einziges Flammenmeer, und den beiden durch das Feuer eingeschlossenen Knaben blieb als einzige Rettung der Sprung aus dem Fenster. Die vor dem Haus versammelte entsetzte Menschenmenge musste machtlos mit ansehen, wie der Dreizehnjährige seinen Bruder auf den Rücken nahm und sich mit ihm, während das Feuer hinter ihm loderte, ohne Zaudern aus dem Fenster stürzte. Bei dem Aufprall auf dem Erdboden verletzte sich der Knabe Jonathan so schwer, dass er fast unmittelbar darauf starb. Der jüngere Bruder Karl hingegen, den er bei dem Sturz mit seinem Körper geschützt hatte, kam unverletzt davon. Die Mutter der beiden Brüder, die zur Zeit des Geschehens eine Kundin besuchte – sie ist Schneiderin – , erlitt bei der Heimkehr einen schweren Schock. Die Ursache für das Entstehen der Feuersbrunst ist bisher noch ungeklärt.
Auf einer anderen Seite der Zeitung stand mehr über Jonathan. Seine Lehrerin hatte es geschrieben. Dort hieß es:
Lieber Jonathan Löwe, hättest du nicht eigentlich Jonathan Löwenherz heißen müssen? Weißt du noch, wie wir in der Schule im Geschichtsunterricht von einem mutigen englischen König namens Richard Löwenherz lasen? Weißt du noch, wie du damals sagtest: »So mutig, dass später darüber in den Geschichtsbüchern berichtet wird, so mutig würde ich nie sein können.« Lieber Jonathan, selbst wenn in den Geschichtsbüchern nichts über dich geschrieben steht, so warst du im entscheidenden Augenblick doch ganz gewiss ebenso mutig, ganz gewiss warst auch du ein Held. Deine alte Lehrerin wird dich nie vergessen. Auch deine Kameraden werden deiner lange gedenken. In der Klasse wird es uns ohne unseren fröhlichen, hübschen Jonathan leer vorkommen. Aber wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben. Jonathan Löwenherz, ruhe in Frieden!
Greta Andersson
Jonathans Lehrerin ist ziemlich albern, aber sie hat Jonathan sehr gerngehabt, genau wie alle anderen. Und dass sie sich das mit dem Namen Löwenherz ausgedacht hat, war gut, wirklich gut!
In der ganzen Stadt gibt es bestimmt keinen einzigen Menschen, der nicht um Jonathan trauert und der es nicht besser gefunden hätte, wenn ich statt seiner gestorben wäre.
Das ist mir durch all die Frauen klar geworden, die hier dauernd mit ihren Stoffen und Spitzen und all dem Krimskrams angelaufen kommen. Wenn sie durch die Küche gehen, sehen sie mich an und seufzen und sagen dann zu Mama: »Arme Frau Löwe! Ausgerechnet Jonathan, der so etwas Besonderes war!«
Jetzt wohnen wir im Haus nebenan in genau so einer Wohnung, nur dass sie im Erdgeschoss liegt. Von der Fürsorge haben wir ein paar gebrauchte Möbel bekommen, und auch die Frauen haben uns allerlei geschenkt. Ich liege auf fast der gleichen Bank wie früher. Alles ist fast genauso wie früher. Und alles, aber auch alles ist anders als früher! Denn hier gibt es keinen Jonathan mehr. Niemand sitzt abends bei mir und erzählt mir etwas, ich bin so allein, dass es in der Brust wehtut. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als die Worte leise vor mich hin zu sagen, die Jonathan kurz vor seinem Tode gesprochen hat, als wir beide nach dem Sprung auf der Erde lagen. Zuerst lag er mit dem Gesicht nach unten da, aber dann drehte ihn jemand auf den Rücken, sodass ich sein Gesicht sah. Aus dem Mundwinkel floss ein wenig Blut, und er konnte kaum sprechen. Doch es schien, als versuchte er trotzdem zu lächeln, und er brachte ein paar Worte hervor. »Weine nicht, Krümel, wir sehen uns in Nangijala wieder!«
Nur diese Worte hat er gesagt, sonst nichts. Dann schloss er die Augen, und es kamen Leute und trugen ihn fort, und ich habe ihn nie wieder gesehen.
In der ersten Zeit danach wollte ich mich nicht daran erinnern. Doch etwas so Schreckliches und Schmerzliches lässt sich nicht vergessen. Ich habe hier auf meiner Bank gelegen und an Jonathan gedacht, bis ich glaubte, der Kopf werde mir zerspringen; mehr, als ich mich nach ihm gesehnt habe, kann man sich nicht sehnen. Angst habe ich auch gehabt. Mir kam der Gedanke: Wenn es nun nicht wahr ist, dies mit Nangijala! Wenn es nur einer von den vielen lustigen Einfällen war, die Jonathan so oft gehabt hat. Ich habe viel geweint, ja, das habe ich. Aber dann ist Jonathan gekommen und hat mich getröstet. Er kam, und alles war beinahe wieder gut. Selbst dort in Nangijala wusste er wohl, wie es mir ohne ihn ging, und meinte, er müsse mich trösten. Deshalb ist er zu mir gekommen, und jetzt bin ich auch nicht mehr so traurig, jetzt warte ich nur noch.
Er kam eines Abends vor nicht allzu langer Zeit. Ich war allein zu Hause und lag da und weinte und war so ängstlich und so unglücklich und krank und elend, wie es sich gar nicht sagen lässt. Das Küchenfenster stand offen, denn jetzt im Frühling sind die Abende warm und schön. Ich hörte draußen die Tauben gurren. Auf dem Hinterhof gibt es haufenweise Tauben. Und jetzt im Frühling ist es ein ewiges Gegurre.
Da geschah es: Wie ich dort liege und in das Kissen weine, höre ich dicht neben mir ein Gurren, und als ich aufblicke, sitzt eine Taube auf dem Fensterblech und sieht mich mit freundlichen Augen an. Eine schneeweiße Taube, wohlgemerkt, nicht so eine graue wie die Tauben auf dem Hof! Eine schneeweiße Taube – niemand kann verstehen, wie mir zumute war, als ich sie sah. Denn es war ja genauso wie im Lied: »… fliegt eine weiße Taube zu dir hierher …« Und mir war, als hörte ich wieder Jonathan singen: »Dann wird meine Seele bei dir sein.« Doch jetzt war er es, der zu mir gekommen war.
Ich wollte etwas sagen, konnte aber nicht. Ich lag nur still da und hörte die Taube gurren, und durch dieses Gurren oder in diesem Gurren, oder wie ich es sagen soll, hörte ich Jonathans Stimme. Auch wenn sie anders klang als sonst. Es war wie ein Gewisper in der ganzen Küche. Das hört sich fast wie eine Spukgeschichte an, und man hätte sich fürchten können, aber das tat ich nicht. Ich freute mich so sehr, dass ich am liebsten an die Decke gesprungen wäre. Denn was ich da hörte, war wunderbar.
Aber gewiss doch, natürlich war es wahr, das mit Nangijala! Ich solle mich beeilen, auch dorthin zu kommen, sagte Jonathan, denn dort habe man es gut, rundherum gut. Man stelle sich vor, als er dorthin gekommen war, hatte er ein Haus vorgefunden, ein eigenes Haus ganz für sich allein. Das hatte dort in Nangijala auf ihn gewartet. Es sei ein altes Gehöft, sagte er, Reiterhof heiße es und liege im Kirschtal, klinge das nicht herrlich? Und das Erste, was er erblickt hatte, als er zum Reiterhof gekommen war, war ein kleines grünes Schild an der Gartenpforte, und darauf stand: Die Brüder Löwenherz.
»Und das bedeutet, dass wir beide dort wohnen werden«, sagte Jonathan.
Man stelle sich vor, dass auch ich Löwenherz heißen soll, wenn ich nach Nangijala komme! Darüber freue ich mich, denn ich möchte ja am liebsten genauso heißen wie Jonathan, auch wenn ich nicht so mutig bin wie er.
»Komm, so schnell du kannst«, sagte er. »Und wenn du mich nicht zu Hause auf dem Reiterhof findest, dann sitze ich unten am Fluss und angle.«
Danach wurde es still, und die Taube flog davon. Schnurgerade über die Hausdächer. Zurück nach Nangijala.
Und ich liege hier auf meiner Bank und warte nur darauf, hinterherfliegen zu können. Hoffentlich ist es nicht zu schwierig, dort hinzufinden. Aber Jonathan hat gesagt, dass es gar nicht schwer ist. Sicherheitshalber habe ich die Adresse aufgeschrieben:
Die Brüder Löwenherz
Reiterhof
Kirschtal
Nangijala
Schon zwei Monate lang wohnt Jonathan dort allein. Zwei lange, schreckliche Monate habe ich ohne ihn sein müssen. Aber jetzt komme ich auch bald nach Nangijala. Bald, bald werde ich dorthin fliegen. Vielleicht heute Nacht. Mir ist, als könnte es heute Nacht sein. Ich will einen Zettel schreiben und ihn auf den Küchentisch legen, damit Mama ihn morgen früh findet.
Und das soll auf dem Zettel stehen:
»Weine nicht, Mama! Wir sehen uns wieder in Nangijala!«
Dann geschah es. Etwas Seltsameres habe ich nie erlebt. Ganz plötzlich stand ich einfach vor der Gartenpforte und las auf dem grünen Schild: Die Brüder Löwenherz.
Wie kam ich dorthin? Wann flog ich? Wie konnte ich den Weg finden, ohne jemanden danach zu fragen? Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich plötzlich dort stand und das Namensschild an der Gartenpforte sah.
Ich rief nach Jonathan. Mehrmals rief ich ihn, doch er antwortete nicht. Und da fiel es mir ein. Er saß natürlich unten am Fluss und angelte.
Ich lief los. Den schmalen Pfad hinunter zum Fluss. Ich lief und lief – und dort unten auf der Brücke saß Jonathan. Mein Bruder, er saß dort, sein Haar leuchtete im Sonnenschein, und auch wenn ich es hier zu erzählen versuche, so lässt sich doch nicht beschreiben, welch ein Gefühl es war, ihn wiederzusehen.
Er hörte mich nicht kommen. Ich versuchte »Jonathan« zu rufen, weinte aber wohl, denn ich brachte nur einen leisen, komischen Laut hervor. Jonathan hörte mich trotzdem. Er blickte hoch. Zunächst schien es, als erkenne er mich nicht wieder. Doch dann schrie er auf, warf die Angel ins Gras, stürzte auf mich zu und packte mich, als wolle er sich vergewissern, dass ich wirklich gekommen war. Und da weinte ich nur noch ein bisschen. Warum sollte ich denn noch weinen? Ich hatte mich ja nur so sehr nach ihm gesehnt.
Doch Jonathan lachte, und wir standen dort auf der Uferböschung und hielten uns umschlungen und freuten uns darüber, dass wir wieder zusammen waren, mehr, als ich sagen kann.
Und dann sagte Jonathan: »Na also, Krümel Löwenherz, jetzt bist du endlich da!«
Krümel Löwenherz, das klang wirklich komisch, wir kicherten beide darüber. Und dann lachten wir und lachten immer mehr, als wäre es das Lustigste, das wir je gehört hatten. Dabei war es wohl nur so, dass wir etwas zum Lachen brauchten, weil es vor Freude in uns blubberte. Und während wir noch lachten, fingen wir an, miteinander zu rangeln, hörten dabei aber nicht auf zu lachen. Nein, wir lachten so, dass wir ins Gras fielen und uns kugelten und immer noch mehr lachten, und schließlich rollten wir vor Lachen in den Fluss und lachten im Wasser weiter, bis ich dachte, wir ertrinken.
Stattdessen aber fingen wir an zu schwimmen. Ich habe nie schwimmen können, obwohl ich mir immer gewünscht hatte, es zu lernen. Jetzt konnte ich es plötzlich.
Ich schwamm richtig gut.
»Jonathan, ich kann schwimmen!«, schrie ich.
»Klar kannst du schwimmen!«, rief Jonathan. Und da fiel mir etwas auf.
»Jonathan, hast du was gemerkt?«, fragte ich. »Ich huste nicht mehr.«
»Klar hustest du nicht mehr«, sagte Jonathan. »Du bist ja jetzt in Nangijala.«
Ich schwamm eine ganze Weile umher, und dann kletterte ich auf die Brücke und stand dort pudelnass, das Wasser floss nur so aus meinem Zeug. Und weil die Hose an meinen Beinen klebte, konnte ich deutlich sehen, was geschehen war. Glaubt es oder nicht: Meine Beine waren jetzt kerzengerade, genau wie Jonathans.
Und da kam mir der Gedanke, ob ich wohl auch ebenso schön geworden war? Ich fragte Jonathan danach. Fragte ihn, ob ich vielleicht auch hübscher geworden sei.
»Schau doch in den Spiegel«, sagte er und meinte den Fluss damit. Denn das Wasser war so klar und still, dass man sich darin spiegeln konnte. Ich legte mich bäuchlings auf die Brücke und guckte über den Rand und sah mich im Wasser, konnte aber keine besondere Schönheit an mir entdecken. Jonathan legte sich neben mich, und wir lagen lange da und guckten uns, die Brüder Löwenherz, dort unten im Wasser an: Jonathan mit seinem Goldhaar und seinen Augen und seinem hübschen Gesicht und ich mit meinem strähnigen Haar und meiner Knubbelnase.
»Nein, dass ich schöner geworden bin, kann ich nicht finden«, sagte ich.
Doch Jonathan meinte, es sei ein großer Unterschied gegen früher.
»Und außerdem siehst du ganz gesund aus«, sagte er.
Und erst jetzt fühlte ich es. Erst jetzt auf der Brücke spürte ich, dass ich durch und durch gesund und froh war, und wozu brauchte ich dann auch noch schön zu sein? Mein ganzer Körper war ohnehin so glücklich, dass es darin irgendwie lachte. Wir lagen dort eine Weile und ließen uns von der Sonne wärmen und sahen den Fischen zu, die unter der Brücke hin und her schwammen. Aber dann wollte Jonathan heimgehen, und das wollte ich auch, denn ich war neugierig auf diesen Reiterhof, wo ich jetzt wohnen sollte.
Jonathan ging vor mir her den Pfad zum Haus hinauf, und ich trabte auf meinen feinen geraden Beinen hinterher. Die ganze Zeit über starrte ich nur auf meine Beine und freute mich, wie gut es sich damit gehen ließ. Erst als wir den Hang schon ein Stück hinaufgekommen waren, drehte ich plötzlich den Kopf.
Und da – da erblickte ich endlich das Kirschtal. Es war weiß von Kirschblüten weithin! Weiß und grün, von Kirschblüten und grünem, grünem Gras. Und durch all das Grün und Weiß wand sich der Fluss wie ein Silberband. Weshalb hatte ich das alles nicht früher bemerkt, hatte ich nur Jonathan gesehen? Doch jetzt blieb ich auf dem Pfad stehen und sah, wie schön es war, und ich sagte zu Jonathan: »Dies Tal ist wohl das schönste auf Erden, nicht?«
»Ja, aber nicht auf Erden«, antwortete Jonathan, und da fiel mir wieder ein, dass ich in Nangijala war.
Rund um das Kirschtal lagen hohe Berge, auch das war schön. Und die Hänge hinab strömten Bäche und Wasserfälle ins Tal, dass es nur so rauschte, denn es war ja Frühling.
Auch die Luft hatte etwas Besonderes. Am liebsten hätte man sie getrunken, so rein und frisch war sie.
»Von dieser Luft könnte man in unserer Stadt schon ein paar Liter brauchen«, sagte ich, denn mir fiel ein, wie sehr ich mich immer nach Luft gesehnt hatte, als ich auf meiner Küchenbank gelegen und das Gefühl gehabt hatte, es gebe gar keine Luft mehr.
Hier aber gab es sie, und ich sog davon so viel ein, wie ich nur konnte. Ja, ich konnte gar nicht genug davon bekommen.
Jonathan lachte mich aus und sagte: »Ein bisschen kannst du mir auch übrig lassen.«
Der Pfad, auf dem wir gingen, war weiß von herabgeschneiten Kirschblüten, von oben rieselten zarte weiße Blütenblätter auf uns herab, und sie blieben im Haar und überall hängen, aber ich mag schmale grüne Pfade voller weißer Kirschblütenblätter, ja, ich mag sie wirklich.