DIE BÜCHERFREUNDIN - BIANKA MINTE-KÖNIG - E-Book

DIE BÜCHERFREUNDIN E-Book

Bianka Minte-König

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Beschreibung

Eine Geschichte über die Macht des erzählten Wortes in krisenhaften Zeiten HERBST 1949 : Alles steht in Deutschland auf Anfang, da führt das Schicksal drei Menschen in einem kleinen Buchladen zusammen: Eine junge Buchhändlerin, kurz vor der Pleite und nahe daran ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ein geheimnisvolles, lesebegeistertes Mädchen, welches, wie vom Himmel gefallen in ihrem Laden auftaucht und alles verändert. Einen äußerst besorgten Mann, der verzweifelt nach seiner kleinen Nichte sucht, die ihm in den Nachkriegswirren davongelaufen ist. Die drei haben zwar den Krieg und bittere Verluste überlebt und vor ihnen liegt der Beginn eines neuen Lebens, aber sie haben noch längst nicht wieder Frieden und Heimat für ihre Herzen gefunden. Und so ahnt keiner von Ihnen, dass ausgerechnet ein kleiner Buchladen in der Provinz zum Ort einer schicksalhaften Begegnung für sie werden wird. Es ist schließlich die Macht des erzählten Wortes, die Verständnis schafft, Misstrauen in Zuneigung wandelt, Fremde zu Freunden werden lässt und der Liebe eine Chance gibt.

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BIANKA MINTE-KÖNIG

DIE BÜCHERFREUNDIN

Für Buchliebhaber und Menschenfreunde!Eine biografisch inspirierte Geschichte über Bücher, Menschen und die Macht des erzählten Wortes, die in krisenhaften Zeiten Verständnis schafft, Misstrauen in Zuneigung verwandelt, Fremde zu Freunden werden lässt und der Liebe und dem Leben eine Chance gibt

Inhaltsverzeichnis

DIE BÜCHERFREUNDIN

EIN LESENDES MÄDCHEN

VOM SUCHEN UND VERSTEHEN

VERTRAUEN FASSEN

VORWÄRTS UND NIE VERGESSEN

IM NIEMANDSLAND

EIN LANGER WEG

WAS WAR WIRD NIE MEHR SO SEIN

HEIMAT FINDEN

EPILOG

NACHWORT UND QUELLEN

IMPRESSUM

Impressum

DIE BÜCHERFREUNDIN

Für meinen Vater

Einen Buchhändler aus Leidenschaft

EIN LESENDES MÄDCHEN

Ein Buchladen ist die Verkleinerung des Universums auf ein paar mit Regalen vollgestellte Quadratmeter, die auf Entdecker warten.

1

Herbst 1949, eine Kleinstadt in Westfalen,

Der Tag war drauf und dran der schwärzeste meines Lebens zu werden. Zumindest seit dem Kriegsende. Zwar gab es zuvor auch schon dunklere Tage, aber nun, wo alles so wunderbar aufwärtsging und auch ein kleiner, wohlbestückter Buchladen wie der meine seine Besitzerin ernähren sollte, da war es doch ein Desaster.

Am Vormittag hatte mir mein Vermieter Herr Domanski nämlich eröffnet, dass er meinen Mietvertrag leider nicht verlängern könnte. Der liefe ja ohnehin in zwei Monaten aus und sowohl das kleine Ladengeschäft als auch die winzige Kammer darüber stünden zur Disposition.

Was das heißen solle, fragte ich ihn und er erklärte mir, dass es profitable Zuschüsse für Neubauvorhaben gäbe und ein Investor Interesse hätte, neben der angrenzenden halben Ruine mit dem Obstladen auch das heruntergekommene Fachwerkgebäude mit meinem Buchladen zu erwerben. Er wolle auf der Fläche beider Häuser einen dieser modernen Konsummärkte bauen, in denen es alles zu kaufen gäbe, wovon man als Kunde bei einem Tante-Emma-Laden nur träumen könnte.

„Mit Selbstbedienung“, meinte er ganz am Puls der neuen Zeit.

„Unten das große Ladengeschäft über die gesamte Breite und in den Obergeschossen Komfortwohnungen mit Zentralheizung und fließend Warmwasser. Falls Sie Interesse haben, merke ich Sie gerne vor.“

„Ich brauche kein fließendes warmes Wasser und auch keine Zentralheizung, was ich brauche ist Lager- und Verkaufsfläche für meine Bücher.“

„Aber, Frollein“, erwiderte er, „Sie sind nun schon abermals mit der Miete in Verzug und doch wohl sicher nicht deswegen, weil Ihr Laden so gut läuft. Seien Sie ehrlich zu sich und geben Sie zu, dass Sie praktisch nichts verkaufen. Was ein Jammer ist in einer so günstigen Innenstadtlage. Das hat auch der Bürgermeister im Bauausschuss klar und unmissverständlich dargelegt.“

„Der ist nicht zufällig der Schwager von Bau-Heinze?“, wagte ich dezent einzuwerfen.

„Frollein“, wurde mein Vermieter aber nun gleich grob, „bedenken Sie es gut, ob Sie sich dem Fortschritt in den Weg stellen wollen. Ich vermittle Ihnen gerne eine andere Wohnung, aber dann müssen Sie auch umgehend räumen.“

„Das kann ich nicht und will ich auch nicht“, hatte ich trotzig gesagt und wusste doch, dass ich gegen ihn und die Bau-Lobby im Rathaus nicht die geringste Chance haben würde. Schließlich stammte ich nicht einmal aus dem Ort, war nur eine Zugereiste und hatte hier lediglich eine Tante gehabt, die aber bald, nachdem ich meinen Laden eröffnet hatte, an den Folgen der Altersschwäche verstorben war. Eines natürlichen Todes wie man so schön sagt und worüber man froh sein kann, nach all dem widernatürlichen Sterben der letzten Jahre.

Dennoch fehlte mir nach ihrem Dahinscheiden meine Vertraute und einzige Ansprechpartnerin.

So war meine Einsamkeit ohnehin schon groß und nun auch noch meinen Laden zu verlieren, erschien mir wie das Ende eines langen, glücklosen Weges.

Zwischen den Büchern meines im Frühling verstorbenen Vaters hockend, einem Buchhändler aus Leidenschaft, sehnte ich mich dahin, wo ich ihn wiedersehen und in seiner Liebe geborgen sein würde.

Ich war nicht verzweifelt, sondern nur unendlich traurig, so traurig, dass ich mein Leben einfach nicht mehr lebenswert fand und darüber nachdachte wie ich es möglichst schmerzlos beenden könnte.

Doch dann kam dieses Mädchen hereingeschneit … verfroren, klein und blass, in einem fadenscheinigen Kleid und ausgetretenen Sandalen, ohne Kniestrümpfe, Jacke oder gar Mütze und somit völlig unpassend für die Jahreszeit gekleidet.

Die schmale Nase war an der Spitze rot und ein Tropfen hing daran. Das Haar, naturkraus und widerspenstig, mit einer Spange gebändigt, wirkte etwas stumpf, war aber von einem ursprünglich wohl hellen Kastanienbraun.

Die Augenfarbe konnte ich im Dämmerlicht nicht erkennen, aber ich stellte sie mir seltsamerweise sofort grün vor. Vielleicht weil der leichte Rotstich des Haares diese Kombination klischeehaft nahelegte.

Es trat unter dem Gebimmel der Türglocke ein, flüsterte etwas Unverständliches, was eine Begrüßung hätte sein können, trat an eins der Regale und zog dem Anschein nach völlig wahllos etwa auf seiner Augenhöhe ein Buch heraus. Damit hockte es sich auf das abgewetzte altenglische Ledersofa. Das einzige Möbelstück, was ich aus unserer ausgebrannten Berliner Wohnung in den Westen gerettet hatte.

Das merkwürdige Mädchen drückte sich in eine der Ecken, streifte die Sandalen von den Füßen, zog die Beine an und begann schweigend und konzentriert zu lesen. Lediglich das Geräusch der in recht flotter Abfolge umgeblätterten Seiten durchdrang in kurzen, regelmäßigen Abständen die Stille des Raumes.

Nach etwa einer Stunde, in der ich nahezu bewegungslos an meinem Bürotisch im Hintergrund des Verkaufsraums klebte und den Blick nicht von dem Kind wenden konnte, erhob sich das Mädchen, stellte das Buch wieder zurück an seinen Platz, nuschelte etwas, was ein Abschiedswort hätte sein können, und verließ unter dem Bimmeln der Türglocke meinen Laden.

Das ging nun schon seit einigen Tagen so.

Die kleine Bücherfreundin kam herein, griff nach einem Buch, hockte sich auf das Sofa, las etwa eine Stunde, stand auf, stellte es wieder ins Regal und verschwand nahezu wortlos.

Wir sprachen kaum mit einander, teilten aber auf freundliche Weise die Stille zwischen uns. Doch bald fragte ich mich, wo das hinführen sollte?

Das Erscheinen des Mädchens hatte etwas Unwirkliches und ich verstand selber nicht, warum ich es nicht mit ein paar einfachen Worten und Sätzen zu etwas Wirklichem machte? Warum scheute ich davor zurück seine Realität anzuerkennen, das Schweigen zu brechen und ein paar ganz selbstverständliche Worte an die Kleine zu richten wie bei anderen Kunden auch? So etwas wie „Guten Tag“ oder „Womit kann ich dienen?“ zum Beispiel!

Natürlich hatte ich mich bereits bei ihrem ersten Auftauchen an jenem schwarzen Tag, nachdem sich die Verwirrung bei mir gelegt hatte, mit der Frage beschäftigt, wer die Kleine wohl war, wer sie geschickt haben könnte und was außer dem Lesen von Büchern vielleicht noch hinter ihrer Anwesenheit bei mir stecken könnte?

Wenn so ein seltsames Wesen genau in dem Moment bei einem aufkreuzt, wo man gerade dabei ist mit seinem Leben abzuschließen, drängt sich einem zwangsläufig der Gedanke an einen Engel oder doch zumindest eine schicksalhafte Fügung auf.

Aber Gott war tot in Deutschland oder doch zumindest in mir, weswegen es mir schwerfiel das Mädchen als Engel – gar noch als einen rettenden - zu akzeptieren.

Ich hatte genau genommen auch keinen Engel verdient, denn mein Leben war ja für niemanden nützlich und schon gar nicht wertvoll genug, um gerettet zu werden. Es war einfach nur sinnlos und verdiente darum auch keine himmlische Fürsorge in Form eines Schutzengels.

Zudem hätte ich mir so ein Wesen anders vorgestellt. Nicht in ausgelatschten Sandalen, einem zerschlissenen Kleid und mit einem verschlossenen Mund.

Engel sangen Psalter, frohlockten und sprachen zu den Menschen, denen sie frohe Botschaften brachten. So hatte ich es gelernt, als der Gott der Deutschen noch nicht Adolf Hitler hieß.

Ich fragte mich also bald, wo das Mädchen jeden Tag herkam und wohin es ging, wenn es nicht bei mir auf dem alten Ledersofa hockte und selbstvergessen Seite um Seite aus einem meiner Bücher in sich hineinfraß.

Auch legte ich mir jeden Abend, wenn ich schlaflos im Bett lag, ein paar schöne und sensibel formulierte Sätze zurecht, mit denen ich ein bisschen mehr über seinen Hintergrund aus ihm hervorlocken wollte.

Doch stets, wenn ich am folgenden Tag kurz davorstand das Mädchen anzusprechen, zögerte ich und gestand mir ein, dass ich den gegenwärtigen Zustand eigentlich recht schön fand und auf keinen Fall riskieren wollte, dass es nur wegen meiner Neugier künftig fortblieb.

Ich schätzte die Verlässlichkeit an der Kleinen und genoss ihre schweigende Gegenwart tagtäglich mehr.

Ja, es beglückte mich geradezu ihre Konzentration in der Stille zwischen den Regalen zu spüren und festzustellen wie sich mir diese Zurückhaltung und zugleich auch wunderbare Präsenz ihrer Persönlichkeit mitteilte.

Schon nach ein paar Tagen erwartete ich geradezu fieberhaft das Bimmeln der Ladenglocke und obwohl ich mir den Anschein gab an meinem Schreibtisch wichtige Dinge erledigen zu müssen, verbrachte ich dort eigentlich meine Zeit nur noch mit dem Warten auf meine junge Bücherfreundin.

Es war mir bald klar, dass die Kleine kein Geld hatte, um sich ein Buch bei mir zu kaufen, und manchmal dachte ich, dass mein Buchladen ja eigentlich keine öffentliche Bücherhalle war, in die jedermann einfach hereinspazieren und sich ein Buch unter die Nase klemmen konnte.

Es machte mir nichts aus, wenn sie das tat, solange die Buchstaben, Wörter und Sätze noch in den Büchern an ihrem Platz waren, nachdem sie diese verschlungen hatte.

Aber warum ging das Mädchen nicht die wenigen Schritte über den Kirchplatz zur Bücherei der katholischen Kirche hinüber? Man konnte von meinem Ladenfenster aus den roten Backsteinbau zwischen den Stämmen der riesigen alten Kastanien hindurchschimmern sehen. Es war wirklich nur ein Katzensprung wie man so sagt. Wenn es ihm nur um die Bücher ginge, wäre das doch immerhin der logischere Weg.

Es gab dort auch eine ganz nett bestückte Kinderbuchabteilung mit Vorkriegsbüchern wie zum Beispiel den Abenteuern der Familie des Musiklehrers Pfäffling, bei deren siebenköpfiger Kinderschar immer etwas los war.

Wäre es nicht eigentlich viel passender sich dort einen Leihausweis zu besorgen, als wortlos in einen Buchladen zu marschieren und ihn zu seinem privaten Lesezimmer zu machen?

Meist saß ich in diesem verregneten September mit einem dicken Mantel bekleidet im Laden um Holz und Kohlen zu sparen, aber seit das Mädchen jeden Nachmittag kam, heizte ich meinen kleinen gusseisernen Ofen immer kräftig ein. Allein bei dem Gedanken an die nackten Füße und das dünne Kleid überfiel mich ein Frösteln und ich wollte es dem Kind, während es bei mir las, gemütlich warm machen.

Allerdings wurde mir bei jedem Gang in den Kohlenkeller bewusst, dass der Vorrat an Koks und Eierkohle bedenklich schrumpfte und von mir leider auch nicht ohne ein paar Buchverkäufe aufgefüllt werden konnte. Meine letzte und wirklich eiserne Notreserve hatte ich für die Zahlung meiner Mietschulden verwendet. Das musste sein, denn ich wollte nicht einen sofortigen Rauswurf durch Herrn Domanski riskieren.

So blieb mir wenigstens die reguläre Kündigungsfrist … obwohl ich immer noch nicht sah, wohin ich danach mit meinem Hab und Gut gehen sollte.

Persönlichen Besitz hatte ich in meiner kleinen Wohnung kaum, aber die Unmengen von Büchern aus der Hinterlassenschaft meines Vaters konnte ich ja schließlich nicht unter einen Alleebaum an der Straße stellen und seine Schätze wie eine fliegende Händlerin oder lauthals wie ein Marktweib anpreisen.

Das Wissen darüber wie mein Vater diesen Bücherschatz unter größter persönlicher Gefahr zusammengetragen, verteidigt und vor dem Zugriff der Nazis versteckt hatte, machte ihn mir unendlich kostbar.

Auch konnte es doch nicht sein, dass diese wundervollen Bücher zwar Feuerhölle und Bombardierungen überstanden hatten, nun jedoch sozusagen als Konkursmasse weit unter Wert verschleudert wurden, statt mir meine zukünftige Existenz zu sichern wie mein Vater es sich noch auf dem Sterbebett gewünscht hatte.

Aber ich musste der betrüblichen Tatsache ins Auge sehen: Ich war pleite, alle Ersparnisse waren aufgebraucht und am Ende des Monats würde ich es meinem Vermieter gestehen müssen. Dann würde er die Miete ein- und mich aus dem Haus treiben lassen. Und dann blieb mir doch nichts weiter übrig als mich in den nächsten Fluss zu werfen und meinem Leben ein Ende zu bereiten.

Klingt gewiss dramatischer als es dann letztlich ist …

Aber noch war da dieses Mädchen, das ich in die katholische Bücherei hätte schicken können, dem ich stattdessen jedoch lieber den Laden einheizte und mittlerweile auch einen Pfefferminztee mitkochte, den ich am späteren Nachmittag immer ganz gerne trank.

Beim ersten Mal hatte es den Becher nicht angerührt, als ob es befürchtete von mir vergiftet zu werden. Aber am nächsten Tag ließ ich ihm den Duft einfach erneut in diese kleine rote Nase ziehen und sein Widerstand war gebrochen.

„Nimmst du Zucker?“, fragte ich und es war direkt ein wenig seltsam in der Gegenwart der Kleinen zu sprechen.

Sie nickte und so rührte ich ihr einen gehäuften Löffel des kostbaren Stoffes in ihren Tee. Sie genoss die Süße und schnupperte dem Aroma der Pfefferminze mit einer spontanen Sinnenfreude hinterher.

Plötzlich schien der ganze Laden von ihrer Lebendigkeit erfüllt, da war ein Knistern in der Luft, welches die tödliche Langeweile der letzten Wochen elektrisierte und umwandelte – lahme Moleküle in heitere Schwingungen versetzte … Christian Morgenstern ging mir durch den Sinn und ich musste schmunzeln.

Lass die Moleküle rasen …

Aber ich glaubte so einen Unsinn in diesem Moment tatsächlich, fühlte ein Prickeln auf der Haut, geriet in eine Art euphorische Ekstase und war erregt wie seit Monaten nicht mehr. Da war mit einem Mal eine Form von Leben in meiner Bücherbude, die mich infizierte, ansteckte, wachkitzelte!

Im Licht der Leselampe, die ich aus meiner Kammer geholt und neben das englische Sofa platziert hatte, erkannte ich, dass die Augen des Mädchens tatsächlich grün waren. Hellgrün wie die Wasserlinsen auf einem Teich im Frühling.

Mit einer Anspielung auf die Lampe, fragte ich:

„Kannst du jetzt besser lesen? Ich dachte mir, dass es ein wenig zu dunkel werden könnte hier in der Sofaecke und warum sollten wir den Umstand, dass es neuerdings wieder Elektrizität gibt, nicht ausnutzen?“

Es nickte erneut und wendete sich dann wieder dem Buch zu, las schweigend und konzentriert wie an all den anderen Tagen und verließ den Laden schließlich mit dem üblichen unverständlichen Abschiedsmurmeln. Die Tür fiel wie immer bimmelnd ins Schloss und ich war allein.

Wie jeden Abend. Und wie jeden Abend seit etwa zwei Wochen grübelte ich darüber nach, wohin dieses wundersame Wesen nun wohl gehen würde und wann der Tag kommen würde, an dem es mehr als nur ein paar unverständliche Begrüßungs- und Abschiedsfloskeln von sich geben würde.

Manchmal dachte ich morgens, dass doch alles keinen Zweck mehr hätte und ich einfach im Bett liegen bleiben könnte, bis man mich aus der Wohnung und meinem Laden rauswarf.

Je weniger Menschen meine Buchhandlung aufsuchten, desto sinnloser erschien mir mein Tun. Wer interessierte sich in diesen Zeiten denn überhaupt für Bücher? Insbesondere für solche Bücher wie sie sich in meinem Laden stapelten.

Mehr als ein Jahrzehnt hatten sie in diversen Kellern versteckt die Nazidiktatur und die Bücherverbrennungen in Berlin überstanden und nun sollten sie hier auf dem platten Land außer in einem kleinen, merkwürdigen Mädchen immer noch keine Leser finden?

Ich konnte es nicht verstehen, denn mein Vater hatte mir wiederholt erklärt, dass wir diese Bücher unbedingt retten müssten, weil sich nach dem Zusammenbruch der Diktatur die Menschen darauf stürzen würden. Sie wären literarisch ausgehungert und würden begierig nach dem freien Wort mutiger und aufrechter Autoren verlangen und mir die Bücher aus den Händen reißen. Börne, Freiligrath, Heine, Heinrich Mann, Tucholsky, Kästner und so viele mehr.

Es erstaunte mich dann in der Tat, dass die Menschen verwerflicher Weise weder daran dachten, umgehend ihr literarisch-kulturelles Defizit der letzten Jahre auszugleichen, noch mir auf diese Weise ein auskömmliches Leben zu ermöglichen.

Wie es schien waren die Leute alle viel zu sehr mit der Arbeit am Wiederaufbau und geselligeren Vergnügungen beschäftigt, als dass ihnen noch Zeit zum Lesen blieb.

Vielleicht hatten sie unter den Nazis aber auch ganz einfach das Lesen guter Geschichten verlernt und keine Lust mehr auf die da erfahrene Form gedruckter Propaganda, weshalb sie lieber Radio hörten und im Kino Musikfilme ansahen.

Wenn sich solche Gedanken in mir breitmachten, dann erschien es mir jedes Mal wieder einzig sinnvoll und konsequent den Laden zu schließen, bis man mich mitsamt meinen Büchern vor die Tür bugsierte.

Aber dann dachte ich darüber nach, dass die Kleine am Nachmittag vor der verschlossenen Tür stehen und vielleicht nie mehr wiederkommen würde und stellte fest, dass ich diesen Gedanken noch viel weniger ertragen konnte. Und es stimmt ja: Nur wer seine Türen öffnet, kann die Herzen der Eintretenden gewinnen.

So raffte ich mich immer wieder auf, feuerte an und setzte mich an meinen kleinen Schreibtisch über Akten und Listen, die Geschäftigkeit vortäuschen sollten, damit sich das Mädchen frei und unbeobachtet fühlen konnte.

Ich hatte auch schon einmal begonnen mein Sortiment zu erweitern und Schreibwaren und Packungen mit Sammelbildern aufgenommen. Doch außer, dass der Lehrer mal ein Paket Papier und einen Bleistiftanspitzer kaufte, war das nicht eingeschlagen und der Reiz der Sammelbilder erwies sich nicht als groß genug, um Kinder und Eltern regelmäßig in den Laden zu locken.

Vielleicht sollte ich ganz andere Dinge verkaufen, Kinderkleidung, Seidenstrümpfe, Werkzeuge oder Delikatessen. Dinge, welche die Menschen brauchten oder die ihnen sofortigen Genuss ohne die Mühe des Lesens versprachen.

Ich musste wohl allmählich begreifen, dass ich es hier in dieser dörflichen Kleinstadt mit Bauern zu tun hatte, die Lesen als Fortsetzung der Arbeit und nicht als intellektuelles Vergnügen empfanden. Die also, anders als das lesebegeisterte Publikum einer Großstadt wie Berlin, nur schwer Zugang zu Büchern fanden.

Dass mein Vater mich genötigt hatte wegen der Blockade Berlin zu verlassen, erschien mir mittlerweile übereilt und schon von seinem absehbaren Tod überschattet gewesen zu sein. Natürlich glaubte er mich bei der Tante im Westen sicherer und hatte nur mein Glück im Sinn, aber von Sicherheit allein wurde niemand satt und glücklich schon gar nicht.

Nun gut, es half ja nichts, ich war jetzt hier und musste zusehen wie ich mich mit den Umständen arrangierte.

Vielleicht war der Laden auch einfach zu klein und vollgestopft, wobei nicht einmal ein Bruchteil der Kisten aus der Hinterlassenschaft meines Vaters ausgepackt war. Ich hatte einfach damit aufgehört, weil die Regale überquollen.

Die Lust war mir dann gänzlich vergangen, als nach der Eröffnungswoche, welche manchen Neugierigen in den Laden gespült hatte, die Türklingel weitgehend stumm blieb.

Eigentlich hatte ich nur eine einzige treue Kundin gewinnen können. Eine alte Dame mit Turban, die in den 20er Jahren als Sängerin Triumphe gefeiert hatte, das sogenannte Dritte Reich aber nur versteckt in einer Dachkammer bei Freunden überleben konnte.

Sie war eine eifrige Leserin und ich brachte ihr jede Woche ein neues Buch vorbei, dessen Autor und Titel sie mir jeweils mit säuberlicher Handschrift auf einen Zettel notierte. Erst letzte Woche eine Gedichtsammlung von Heinrich Heine.

Sie las mir ein paar überaus romantische Zeilen aus seinem normannischen Liebesgesäusel vor, sprach von den goldenen Jahren und schwärmte mit ihrer zarten Alte-Damen-Stimme von vergangenen Zeiten, in denen auch sie geliebt und verehrt worden war.

Ich saß stumm neben ihr und die Worte plätscherten an meinen Ohren vorbei wie das Rauschen eines Baches, dem man ja auch nicht antwortet.

In der Woche darauf fand ich sie tot in ihrem Bett, sanft über einem der Liebesgedichte entschlafen.

Ach ja, Liebe … ist das nicht auch nur ein Wort?

2

Es war dies die Zeit, wo ich das Gefühl bekam meine Sprache gänzlich zu verlieren, weil ich kaum noch Kunden oder Kontakte zu anderen Menschen hatte. Da auch meine kleine Bücherfreundin nicht eben gesprächig war, beschlich mich eine Angst, die immer größer und größer wurde und eines Tages war meine Furch davor nicht mehr reden zu können so übermächtig geworden, dass ich in Panik das Mädchen ansprach.

„Du kommst nun schon recht lange jeden Tag …“, begann ich vorsichtig und konnte meine Erleichterung darüber kaum verbergen, dass meine Stimme mir noch gehorchte. Doch ehe ich das Glücksgefühl vollends auskosten und den Satz zu Ende bringen konnte, sprang das Mädchen mit allen Anzeichen des Entsetzens vom Sofa auf, schlug das Buch zu und sagte mit leise bebender Stimme:

„Ich wollte nicht stören.“

Ehe es zum Regal stürzen konnte, um das Buch zurückzustellen, trat ich dazwischen. Dieses Missverständnis musste ich sofort aufklären.

„Du störst mich ganz und gar nicht. Du siehst, ich arbeite an meinem Schreibtisch … Es war nur eine mehr allgemeine Feststellung. Ich habe nicht geahnt, dass ich dich erschrecken könnte.“

„Hast du aber. Ich dachte du jagst mich nun auch fort.“

Ich fühlte mich schuldig, irgendwie, außerdem wollte ich ja nichts weniger als das. Aber nun war ich neugierig geworden.

„Wer jagt dich weg?“

„Alle. Alle Menschen jagen einen weg oder sie sperren einen ein.“

„Aber ich würde weder das eine noch das andere tun!“ entgegnete ich und klang wohl ein wenig empört. „Das darfst du nicht einmal denken.“

Das Mädchen wirkte skeptisch.

„Das sagst du jetzt nur so. Warum sollte ich dir glauben?“

„Weil ich dich seit über zwei Wochen in meinen Laden ein- und ausgehen lasse als ob er dir gehören würde. Ich heize den Ofen für dich an und koche dir Tee. Was muss ich noch tun, damit du mir vertraust? “

„Na gut. Hier …“ Es reichte mir das zugeklappte Buch. „Ich denke darüber nach. Vielleicht komme ich morgen wieder.“

„Natürlich, mach das, würde mich freuen. Ich hebe das Buch für dich auf. Auf keinen Fall werde ich es inzwischen verkaufen.“

Das Mädchen wirkte nun belustigt.

„Die Gefahr ist wohl nicht so groß.“

„Nein, ist sie in der Tat nicht.“

„Es sei denn, die Kunden werden dir von heute auf morgen die Tür einrennen.“

„Damit ist kaum zu rechnen“, sagte ich, „eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ein echter Kunde durch diese Ladentür.“

Die Kleine lachte und das Lachen klang rein und glockenhell. Zum ersten Mal fragte ich mich ernsthaft wie alt das Mädchen wohl sein mochte.

Es war zierlich, ausgezehrt von den Hungerjahren, vielleicht durch die Mangelernährung in der körperlichen Entwicklung etwas gebremst. Das betraf viele Kinder heutzutage, weswegen man sie auch an die Nordsee oder in die Berge zur Erholung verschickte, wo sie ordentlich aufgepäppelt wurden.

Wie auch immer, das Mädchen sprach klüger als es aussah.

„Ich bin Elf, im Sommer geworden“, sagte es in meine unfertigen Gedanken hinein. Das verblüffte mich, ich hätte es jünger geschätzt.

„Du bist klein für dein Alter“ rutschte es mir in meiner Überraschung heraus.

Das Mädchen ging zum Ausgang ohne sich noch einmal umzudrehen, murmelte sein undefinierbares Abschiedswort und bimmelnd fiel die Tür hinter ihm zu.

„Bis Morgen“, rief ich der Kleinen noch nach, ärgerte mich aber sogleich darüber, denn es könnte wie eine Aufforderung auf sie gewirkt haben wie ein Zwang wiederzukommen. Hektisch stürzte ich zur Tür, riss sie auf und rief in die einfallende Dämmerung hinein:

„Natürlich nur, wenn du magst!“

Ich wollte niemanden einsperren, aber vertreiben wollte ich die kleine Bücherfreundin auch nicht. Genau genommen sehnte ich mich mittlerweile geradezu nach ihrer Gesellschaft und hoffte irgendwann, wenn wir uns besser kannten, vielleicht ihre Freundschaft zu gewinnen.

Ein heftiger Regenschauer kündigte mit prasselnden Tropfen den Herbst an. Der Altweibersommer schien nun wohl endgültig vorbei. Kunden waren bei diesem Wetter nicht mehr zu erwarten und meine seltsame Bücherfreundin hatte ihre heutige Portion Lesefutter ja auch schon intus. So beschloss ich den Laden abzuschließen.

Im selben Moment nahm ich einen Schatten vor dem Schaufenster wahr, der sofort auf die Tür zustürzte. So als hätte ihn das Geräusch des klappernden Schlüsselbundes magisch angezogen. Ich trat zur Seite, um den Eingang freizugeben, denn selbst ein später Kunde war mir natürlich angesichts meiner klammen Situation willkommen.

Wenn er denn auch ein Käufer war, wonach es bei dem eintretenden, pudelnassen Mann jedoch nicht aussah. Vielmehr schien er nur Schutz vor dem Sturzregen bei mir zu suchen. Er nahm seinen Hut ab, schüttelte die Tropfen ab und klopfte das Wasser von seinem langen Trenchcoat. Er hatte dunkles, dichtes Haar und mochte Anfang Dreißig sein, gehörte also einer Altersgruppe von Männern an, die nach den Verlusten dieses Krieges eher selten geworden war.

Lange aufhalten wollte er sich offensichtlich nicht, denn als ich fragte, womit ich dienen könnte, schaute er sich etwas unkonzentriert im Laden um und meinte dann:

„Ganz schön viele Bücher, die Sie hier haben.“

„Für eine Buchhandlung nicht ungewöhnlich“, sagte ich etwas schnippisch, weil mir in diesem Moment klar wurde, dass ich an ihn bestimmt nichts verkaufen würde. Er merkte nun wohl selbst, dass er nicht eben höflich gewesen war, denn er sagte entschuldigend:

„Sie müssen verzeihen, aber ich bin schon viel zu lange in diesem Sauwetter unterwegs.“

Warum sagte er mir das? Hatte er kein Zuhause? Ich würde ihm bestimmt nicht bis zum Erscheinen eines Regenbogens hier Asyl anbieten.

Dennoch blieb ich geschäftsmäßig freundlich:

„Wenn ich helfen kann …Vielleicht ein schönes Buch als Einschlaflektüre …?“

Er sah sich noch mal um.

„Hören Sie, Fräulein, ich möchte nichts kaufen“, sagte er nun zu meiner Enttäuschung ganz deutlich, „ich suche kein Buch, sondern ein Kind, aber anscheinend hält es sich bei Ihnen auch nicht auf.“

Sofort wurde ich argwöhnisch und blockte ab.

„Ein Kind, alleine? Um diese Tageszeit? Und dann noch bei einem solchen Unwetter? Was für ein merkwürdiger Gedanke.“

„Da haben Sie vermutlich recht“, meinte er, ging inspizierend an den Regalen vorbei und warf auch noch, was ich ziemlich dreist fand, einen Blick in mein winziges Büro. Dann strebte er bereits wieder dem Ausgang zu.

Dort drehte er sich noch einmal um und ich sah in ein gut geschnittenes Gesicht, aus dem mich ein Paar tiefdunkle Augen betrübt anblickten und sogleich mein Herz berührten. Was für ein beeindruckender Mann, dachte ich unwillkürlich und fragte mich, wo der wohl herkam und wie er es dort geschafft hatte den Krieg ganz offensichtlich unbeschadet zu überstehen?

Aber ehe ich diese Fragen an ihn richten konnte, setzte er den Hut wieder auf, tippte an die Krempe und meinte zum Abschied.

„Entschuldigen Sie die Störung, ich hatte gehofft das Kind vielleicht tatsächlich bei Ihnen zu finden. Es handelt sich um ein kleines Mädchen, aber augenscheinlich interessiert es sich nicht für Bücher. Nichts für ungut, dafür können Sie ja nichts.“

Über das Bimmeln der Ladenglocke hinweg wünschte er mir noch einen angenehmen Feierabend und war rasch hinter einem sintflutartigen Regenvorhang verschwunden.

Ich stand wie versteinert. Seine Erwähnung des kleinen Mädchens, das er in meinem Laden vermutet hatte, ließ meinen Herzschlag stolpern. Nachdem ich einige Male tief durchgeatmet hatte, ging es mir wieder besser und ich schloss erst einmal den Laden ab.

Dann kochte ich mir einen Beruhigungstee mit Melisse und hoffte, dass der Fremde nie wiederkommen würde. Denn wer immer er auch war, nach diesem Auftritt lag es ziemlich klar auf der Hand, dass er meine kleine Bücherfreundin suchte. Und das war ein Gedanke, den ich überhaupt nicht ertragen konnte.

Ich bin verrückt, dachte ich abends in meinem kalten Bett, denn für das Heizen in meiner Kammer reichten die Kohlen nun wirklich nicht mehr. So zog ich mir das Federbett bis über das Kinn und drückte den Kopf tief ins Kissen. Und als ich die Augen schloss, konnte ich mir einmal mehr nicht erklären, warum von diesem Mädchen so eine Faszination ausging.

Auch heute war ich mir gar nicht sicher gewesen, ob es wirklich ein Wesen aus Fleisch und Blut war und nicht irgendeine mystische Gestalt, die mich einzig und alleine durch ihre Rätselhaftigkeit davon abhalten sollte eine irreversible Dummheit zu begehen.

Aber nun, wo dieser Mann nach dem Kind suchte, holte uns unweigerlich die Realität ein.

Wenn sie morgen wiederkommt, werde ich die Kleine nach ihrem Namen fragen, beschloss ich mit diesen Fantastereien endlich Schluss zu machen. Sie ist ein ganz normaler Mensch und wird darum auch einen ganz normalen Namen haben.

Es stimmt, sie ist seltsam und überraschend und anders als alle Menschen, insbesondere Kinder, die ich bisher kennengelernt habe. Aber das heißt ja nicht, dass sie nicht dennoch ein ganz normaler Mensch sein kann, also vielleicht nicht im Sinne der Norm, aber aus Fleisch und Blut, mit Gefühlen und Träumen.

Vielleicht sind es genau die, ihre Träume, welche die Kleine zu mir in den Laden führen, weil sie diese nur in meinen Büchern erfüllt sieht. Weil ihr Leben sonst leer und ohne Hoffnung wäre, genau wie das meine.

Über diesen verbindenden Gedanken schlief ich ein.

Es blieb nicht aus, dass ich mir nach diesem merkwürdigen Besuch, noch intensiver Gedanken über das seltsame Mädchen machte. So verspürte ich am nächsten Morgen auch zum ersten Mal und zwar sehr dringend das Bedürfnis nachzusehen, was es eigentlich für ein Buch las.

Ja, es mag seltsam erscheinen, dass ich mich nicht schon früher um seinen Lesestoff gekümmert hatte, denn die Wahl der Lektüre könnte ja sicher allerlei über meine kleine Bücherfreundin aussagen.

Andererseits, war es mir so vorgekommen, als hätte sie einfach wahllos in eins der Regale gegriffen, weswegen der Aussagekraft des Buches eher ein geringerer Wert beizumessen wäre. Da sie jedes Buch – bis auf gestern - auch immer wieder ordentlich zurückgestellt hatte, wäre es allerdings gar nicht so leicht gewesen es zwischen all den anderen herauszufinden. Wie auch immer, heute piesackte mich die Neugier und ich wollte es einfach wissen.

Nach einem kargen Frühstück, welches aus einem schwachen Muckefuck und einer dünn mit Erdbeermarmelade bestrichenen Scheibe Brot bestand, zog ich mich warm an und ging dann gleich hinunter in den Laden.

Kunden erwartete ich bei dem immer noch vom Himmel stürzenden Regen keine und lächelte bei dem bloßen Gedanken daran resignierend. Ich tat ja gerade so als ob ich zu anderen Zeiten welche erwartet hätte.

So heizte ich gar nicht erst ein, sondern ging schnurstracks an dem Öfchen vorbei zu meinem Schreibtisch, auf welchen ich ihr Buch mit dem Versprechen gelegt hatte, es auf keinen Fall zu verkaufen.

Es lag auf der Titelseite und so drehte ich es herum und las:

Alice im Wunderland, von Lewis Caroll.

Ein passendes Buch für ein kleines Mädchen, dachte ich und freute mich wirklich, dass es so eine sichere Hand bei der Auswahl bewiesen hatte. Auch mich hatte die Teerunde des verrückten Hutmachers als Kind verblüfft und das Buch brachte viel Spaß, besonders wenn mein Vater vorlas und die kuriosen Gestalten Carolls mit seinem schauspielerischen Talent zum Leben erweckte.

Genau das sagte ich der Kleinen, als sie am Spätnachmittag wiederauftauchte und mit den Worten:

„Na, hast du es verkauft?“, nach dem Buch fragte.

Das klang direkt ein wenig ironisch, was mich bei einem so jungen Mädchen doch einigermaßen verwunderte.

Noch mehr verblüfften mich allerdings ihre nächsten Worte, denn sie schien meine Begeisterung für die Geschichte keineswegs zu teilen.

„Das Buch ist böse“, sagte sie nämlich für mich völlig überraschend. „Ich habe gedacht, Alice findet im Wunderland das Glück, aber sie kommt in eine Welt, in der die Menschen irre, bösartig oder zynisch sind, gerade wie in der Wirklichkeit. Das macht keinen Spaß.“

„Woher weißt du, was zynisch ist?“, fragte ich nun doch irritiert, obwohl es eher noch ihre Analyse als das Wort war, was zur Verwunderung Anlass gab. Aber beides ist für ein elfjähriges Kind etwas ungewöhnlich. Die junge Bücherfreundin sah mich mit ihren großen frühlingsgrünen Augen an und sprach dann sehr ruhig und mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erschütterte:

„Großvater hat mal gesagt wie Goebbels über die Juden spricht ist zynisch. Und weil ich wissen wollte, was es bedeutet, hat er es mir dann erklärt. Aber danach meinte Großvater, eigentlich wäre es zu schwach, das Wort, Goebbels spricht doch eher menschenverachtend über sie.“

„Ist das nicht ein etwas unpassendes Thema für ein Kind?“, wagte ich einen erstaunten Einwand.

„Nicht unpassender als zwischen Kriegsfronten aufzuwachsen“, entgegnete das Mädchen ein wenig altklug. Aber so waren sie wohl unsere Kriegskinder, früh gereift und unterernährt. Mitleid flutete mich, aber da ich nicht den Eindruck hatte, dass die Kleine gerade jetzt über ihr Schicksal sprechen wollte, verkniff ich mir das Nachhaken und kehrte stattdessen zu Lewis Caroll zurück.

„Nun ja, der Dichter hat übrigens genau wie dein Großvater die Wirklichkeit auch nicht immer schön gefunden. Und der Glaube, dass man nur in ein Wunderland entfliehen muss, um einer bösartigen Realität zu entkommen, wäre wohl sowieso ein Irrtum.“

„Aber es ist gemein einem Buch so einen Titel zu geben und dann nur die Bösartigkeiten des Lebens in Kostüme zu stecken und wie schlechte Schauspieler ihre Rollen aufsagen zu lassen.“

Einen Moment verschlug mir ihre Äußerung die Sprache. Die Kleine war wirklich erstaunlich klug, also sollte sie von mir auch eine vernünftige Erklärung bekommen.

„Schriftsteller unterlagen häufig der Zensur, was heißt, dass der Staat ihre Werke kontrollierte und nur das erlaubte, was ihm passte. Das freie kritische Wort zu wählen war oft mit einem persönlichen Risiko verbunden. Damit ihre Bücher nicht sofort bei Erscheinen verboten wurden, haben Autoren damals wie heute fantastische Geschichten benutzt, um gesellschaftliche Missstände anzuprangern.“

„So habe ich es bisher nicht betrachtet. Dann ist es also ein politisches Buch und nicht nur ein Märchen zur Unterhaltung.“

Ich nickte beglückt über ihren wachen Intellekt.

„Ja, so kann man es sehen. Auch in einem Wunderland ist nur das schön, was nicht durch übertriebenen Ehrgeiz, Habgier, Gemeinheit, Bosheit und Eigennutz verunreinigt wird.“

„Kann ich es trotzdem zu Ende lesen?“

„Natürlich, setzt dich nur auf das Sofa. Ich koche uns inzwischen einen Tee.“

Sie las sehr konzentriert, trank dann ohne ihre Lektüre zu unterbrechen den Tee und knabberte zwei Kekse. Ich wagte nicht sie zu stören. Schließlich stand sie auf, gab mir das Buch zurück und sagte dabei:

„Ich habe gedacht, dass es ein Buch ist, in dem Alice einen Traum hat, einen schönen Traum, von einer schöneren Welt. Das hätte mich froh gemacht. “

Als sie sich zum Gehen wandte, hielt ich sie mit Worten zurück, die mich ausgerechnet aus meinem Mund ziemlich erstaunten:

„Du hast Recht, wir alle brauchen gute Träume, denn sie geben uns Hoffnung.“

Hatte ich das wirklich gesagt?

Sie drehte sich noch einmal um.

„Meinst du, wir haben das Schlimmste überstanden?“

Ich nickte. „Ja, ganz bestimmt.“

Sie schien mir nur bedingt Glauben zu schenken, denn sie zuckte die Schultern und meinte etwas lakonisch klingend:

„Wenigstens bin ich schon mal im Westen … und frei.“

Sekunden später fiel die Ladentür bimmelnd hinter ihr ins Schloss.

Ich hockte mich noch einen Moment an den warmen Ofen und stocherte in der verglimmenden Kohle.

Die kleine Bücherfreundin ging mir nicht aus dem Kopf. Ich wüsste so gerne mehr von ihr und ihrem familiären Hintergrund, mehr von diesem offensichtlich klugen und gebildeten Großvater … und natürlich ihren Eltern? Wer und wo waren sie eigentlich? Warum ließen sie die Kleine so dürftig gekleidet herumlaufen? Ach, ich hätte so viele Fragen.

Aber noch waren wir nicht vertraut genug miteinander, als dass ich mir das Recht herausnehmen dürfte, diese an sie zu stellen. Ich musste Geduld beweisen, wenn ich nicht durch ungebührliche Neugier alles vermasseln wollte. Aber dann fiel mir dieser merkwürdige Fremde ein, der nach ihr suchte, und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass mir die Zeit zwischen den Fingern zerrinnen würde.

Ich stand auf, um das Buch zurück an seinen Platz im Regal zu stellen, setzte mich dann aber doch damit auf das Sofa, legte die Beine hoch und fing an, unter die Decke gekuschelt darin herumzublättern. Irgendwie las ich mich schließlich fest und begann es noch einmal neu für mich zu entdecken. Entweder hatte mein Vater mir einige Szenen nicht vorgelesen oder ich hatte sie ob ihrer Grausamkeit verdrängt. Wie unbestechlich klar die Kleine doch war. Alice erlebte im Wunderland tatsächlich keinen Traum, sondern stolperte förmlich von einem Albtraum zum nächsten …

Ihre Abenteuer waren ganz anders als die Geschichten in den deutschen Jungmädel-Büchern, die ich natürlich ebenfalls verschlungen hatte. Im Vergleich dazu hatte das Buch durchaus etwas Verwirrendes, um nicht zu sagen erschreckend Chaotisches an sich und je tiefer ich mich noch einmal hineinversenkte, desto mehr zog es mir den Boden unter den Füßen weg und ließ mich in einer fragwürdigen Welt zurück, in der nichts war wie es zu sein schien.

Es verunsicherte mich plötzlich so sehr, dass ich die Decke beiseiteschob, aufstand und mir noch einen Tee kochte.

Natürlich wurden Bücher wie dieses verboten, ja sogar verbrannt, denn sie konnten Augen öffnen über das, was hinter den spiegelnden Fassaden von Reichsparteitagen und Inszenierungen wie den Olympischen Spielen lauerte.

Heute könnte ich die bildhafte Sprache von Caroll mit Bildern eines surrealistischen Malers wie etwa Max Ernst vergleichen, welchen die Nazis als entartet diffamiert hatten. Bildern, die mein Vater revolutionär und genial nannte, denen aber eben auch eine brutale Absurdität innegewohnt hatte, die mich als Kind durchaus ängstigte.

Ähnlich surreal und verunsichernd mussten auf meine kleine Bücherfreundin wohl auch einige Figuren in den Geschichten von Alice gewirkt haben. Wenn ich genauer darüber nachdachte, gefror mir jetzt bei mancher Szene das Lachen, aber zugleich war ich davon beeindruckt wie sprachlich geschickt und bildhaft dieses Buch mir die Relativität unseres Denkens und Tuns vor Augen führte.

Ich hätte es längst einmal wieder lesen sollen, dachte ich, und war froh, es nun angeregt durch das fremde Mädchen getan zu haben.

Dennoch fragte ich mich, ob ich dem Mädchen tatsächlich nach dem ganzen Kriegselend nichts anbieten konnte, was kindgerechter war. Etwas, was ihm den Weg in ein glückliches Land ebnete, in dem die Menschen gut waren und fröhlich und die Zukunftsaussichten rosig.

Träumen war doch nun nach all den Verboten der Nazidiktatur endlich wieder erlaubt.

Ich seufzte, weil ich so gar nicht mehr an meine eigenen Träume glauben wollte. Aber es ist ein Kind, dachte ich gleichzeitig, wo kämen wir hin, wenn nicht einmal mehr Kinder träumen dürften!

3

Ich stand auf um die Regale nach einem Buch zu durchforsten, welches mir für ein elfjähriges Mädchen besser geeignet erschien. Eins, welches ihm die schönen Seiten des Lebens nahebrachte und ihm den Weg zum wirklichen und wahren Glück zeigte. Wobei ich sehr simpel unterstellte, dass es so etwas in dieser Welt nach all dem Grauen der letzten Jahre künftig tatsächlich wieder geben könnte.

Erneut fand ich meine Gedankengänge einigermaßen erstaunlich, ja nachgerade merkwürdig für jemanden, der sich noch vor wenigen Tagen seine Zukunft allenfalls als Wasserleiche vorstellen konnte.

Nun gut, das war jetzt nicht das Thema.

Es galt erst einmal ein passendes Buch zu finden. Natürlich war ich auch mit Kinderliteratur aus der Vorkriegszeit gut bestückt und es befand sich alles darunter, was bei meinem Vater in Berlin bevorzugt über den Ladentisch gegangen war. Aber ob das den Geschmack und die Ansprüche meiner kleinen Bücherfreundin treffen würde, war eine ganz andere Sache und ich wollte sie schließlich bei ihrem nächsten Besuch nicht enttäuschen.

Also erschien es mir sinnvoll erst einmal bei dem anzusetzen, was ich selbst als Kind gerne gelesen hatte.

Da fielen mir sofort Magda Trotts beliebte Jungmädel-Bücher ein, mit denen ich zur Eröffnung meines Ladens einige Regalbretter gefüllt hatte. Allerdings ohne den gewünschten Erfolg. Wenn die Eltern nicht lasen, dann gaben sie auch kein Geld für Kinderbücher aus.

Seufzend inspizierte ich meinen Bestand.

Großartig, genau das, was ich für meine kleine Bücherfreundin brauchte. Magda Trott verstand es alltagsnahe und warmherzige Lebensgeschichten von der Kindheit bis in das Erwachsenenalter zu erzählen. Sie war selbst eine sehr emanzipierte und streitbare Frauenrechtlerin gewesen und so waren ihre Mädchenfiguren zwar im Zeitgeist erzählt, hatten aber dennoch einen nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit strebenden Charakter von der Autorin mitbekommen, der sich auch durch viel positiven Lebensmut und ein tapferes Herz auszeichnete. Ein in meinen Augen sehr erfreulicher Nebeneffekt war zudem der Umstand, dass es sich meistens um Serien handelte. Wenn der Kleinen der erste Band gefiel, würde sie gewiss alle anderen Bände der Reihe auch verschlingen wollen.

Ich dachte also schmunzelnd, dass diese Reihe eine lange Lesezeit mit meiner kleinen Bücherfreundin versprach und machte mir nicht die geringsten Gedanken darüber, ob die in den Büchern geschilderte heile Welt überhaupt noch zeitgemäß und darin vermittelte Werte einwandfrei waren. Immerhin hatte auch ich die zwölf Bände der Pucki - Reihe unbeschadet verschlungen. Wäre es anders gewesen, hätte mein Vater sie mir gewiss nicht zu lesen gegeben. Andererseits war ich mir sicher, dass er in eine der vielen Kisten auch eine Menge anderer Kinder- und Jugendbücher gepackt hatte, von verbrannten Dichtern wie Erich Kästner zum Beispiel, nur wusste ich nicht in welche.

Hinten im Laden stapelten sich die Kartons bis an die Decke übereinander, genau noch so wie die Umzugshelfer sie dort abgestellt hatten, und ich war alleine gar nicht in der Lage, darin nach irgendetwas zu suchen, geschweige denn, es ohne Kompass zu finden. Warum es also nicht mit dem Naheliegenden versuchen?

So stand ich nun, den Teebecher in der Hand am Verkaufstresen vor dem Regal mit den Kinderbüchern und wartete gespannt auf meine Bücherfreundin und hoffte, dass die Erzählweise von Magda Trott der Kleinen gefallen würde. Sehnten wir uns nicht alle nach einem Stück Vorkriegsidylle und unbeschädigter Natur und Heimat?

Und es war doch eine schöne Aussicht, dass diese Reihe über viele Tage hinweg ein Band zwischen dem Mädchen und mir knüpfen könnte, das mehr war als nur ein beiläufiges Hereinschneien, Lesen und wieder Gehen. Die Kleine würde anfangen mich zu brauchen, so wie ich sie mittlerweile brauchte. Sie war wie ein Strick für mich geworden, der mich in meiner aussichtslosen, fast schon verzweifelten Lage an das Leben fesselte. Die Pucki Geschichte konnte nun umgekehrt genauso ein Strick für sie werden, wenn sie deren Ende erfahren wollte, war sie auf mich angewiesen. Sie musste wiederkommen.

Der Gedanke machte mich um ein paar Grade zufriedener, vielleicht sogar ein wenig glücklich, denn ich wollte genau das – sie bei mir haben. Jeden Tag und jeden Tag ein wenig länger und ein bisschen mehr.

„Hier“, sagte die Kleine als sie ein paar Tage später wieder in den Laden stolperte. Die Nasenspitze röter als zuvor und ihre Hände blass vor Kälte. Zu den nackten Füßen in den ausgetretenen Sandalen mochte ich gar nicht runterschauen.

Hatte sie wirklich kein Zuhause? Warum achtete niemand darauf, dass sie warm angezogen war, bei diesem frühherbstlichen Wetter. Und in welchem Verhältnis stand dieser fremde Mann zu ihr, der nach ihr bei mir gesucht hatte? War er von der Polizei, ein Privatdetektiv, jemand vom Suchdienst oder gar ihr Vater? Von seinem geschätzten Alter her könnte es gerade hinkommen.

„Hier,“ sagte sie noch einmal griff nach meiner linken Hand und legte mir ein paar Rispen Johannisbeeren hinein. „Es sind die letzten für dieses Jahr, aber besonders süß.“

Rührung schwappte durch mich hindurch, wie eine Welle im Wellenbad. Dieses Geschenk kam so völlig unverhofft und machte mich verlegen. Meine stumme Reaktion verunsicherte sie.

„Magst du keine Johannisbeeren?“

„Doch, doch, sehr gerne. Da … Dankeschön … ich dachte nicht, dass es noch welche gibt.“

„Wenn man sie nicht erntet, halten sie lange am Strauch. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass sie geklaut sind.“

„Hast du sie …?“

„Na, klar! Ich habe schließlich keinen eigenen Garten.“

„Wenn sie bisher niemand geerntet hat, wird sie auch niemand vermissen“, sagte ich immer noch ein wenig verwirrt.

„Also findest du es nicht schlimm?“

„Eigentlich schon, aber …“

„Aber du würdest mich dafür nicht in ein Straflager schicken?“

„Um Himmelswillen, nein! Wie kommst du denn auf sowas? Doch nicht für eine solche Kleinigkeit und du bist ein Kind! Kinder bestraft man doch nicht für so ein bisschen Mundraub!“

Ich fand den Gedanken in diesen Zeiten völlig abwegig.

„Wenn ich ein Huhn oder ein Kaninchen geklaut hätte, aber schon oder?“

Was machte sie mit mir? Ich kam mir vor wie bei einem Verhör.

„Es käme darauf an …“, drückte ich mich um eine klare Stellungnahme herum. Ehrlich gesagt, hatte ich mich mit einer solchen Frage noch nie befasst.

„Auf was? Worauf käme es an? “

Ich zuckte die Schultern. Was sollte ich auch sagen? Wenn man kurz vorm Verhungern steht, ist alles erlaubt? Oder: die Bauern sind eh fett genug, die merken ein Karnickel mehr oder weniger gar nicht?

Immer noch verunsichert zog ich es vor zu schweigen, wusch die Johannisbeeren, legte sie auf eine angeschlagene Untertasse und stellte sie mit einem Dankeschön für die Spenderin auf den Hocker am Sofa, der mir als Beistelltisch diente.

Ich reichte ihr die ersten Bände der Pucki-Reihe.

„Das sind Bücher, die ich in deinem Alter gerne gelesen habe. Es geht um ein Mädchen, das sein Herz am rechten Fleck hat und sich als Försters Tochter gerne in der Natur aufhält. Willst du mal hineinlesen, während ich einen Tee koche.“

Sie war so freundlich mein Ablenkungsmanöver zu akzeptieren, doch kaum hatte ich ihr den Rücken gedreht, erscholl vom Ledersofa her Protest.

„Das ist ja was für Kleinkinder!“

Ich stellte den Tee vor sie hin und gab ihr einen warmen Schal von mir, damit sie ihn sich um ihre schmalen Schultern legte. Sie tat es anfangs nur zögernd, hatte sich aber bald tief in ihn eingemummelt. Offensichtlich war ihr doch kalt.

„Nun sag, warum gibst du mir so ein Buch, hältst du mich für dumm?“

„Ich dachte, ich … äh, habe angenommen, du würdest vielleicht auch den Anfang der Geschichte lesen wollen, du liest ja recht schnell und bist dann bald bei dem Band, wo Pucki in deinem Alter ist. Jeder Band ist in sich abgeschlossen. Also kannst du natürlich auch mit einem späteren Band in die Reihe einsteigen. Gar kein Problem, mach es wie du möchtest. Es ist ja auch nur ein Angebot, sie stehen alle hier im Regal. Aber wir finden sicher auch noch anderes, was dir gefällt. Ich habe ja längst nicht alle Bücherkisten ausgepackt. Vielleicht willst du mir dabei einmal behilflich sein. Da finden wir sicher auch die Schriftsteller, die den Nazis nicht gefallen haben … Erich Kästner zum Beispiel hat ganz großartige Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton …“

Ich senkte meine Stimme und gab meinen letzten Worten etwas Konspiratives. Ja, ich versuchte es mit allen Tricks.

Wenn mein Buchladen für die Kleine eine Art Wunderland war, so war ich ein genauso selbstsüchtiges Wesen wie jene mit denen Caroll sein Buch bevölkert hatte.

Erkannte das Mädchen meine Absicht, es mit Lesestoffen zu ködern? Es schwieg jedenfalls erst mal ziemlich lange, aber hinter seiner blassen Stirn schienen die Gedanken zu arbeiten. Sein Blick wurde zunehmend finsterer.

Mich beschlich die Sorge, die Kleine vielleicht überfordert zu haben. Vermutlich wollte sie sich keinesfalls von mir wegen einer Buchgeschichte abhängig machen. Das, was mir eine Art Zuversicht schenkte, dass sie wiederkommen würde, konnte bei ihr möglicherweise Panik auslösen. Vielleicht war sie noch nicht bereit für so viel … dauerhafte Nähe.

Ich schalt mich egoistisch und ergänzte darum hektisch:

„Ist natürlich nur ein Vorschlag, nur so eine Idee, aber wenn du es nicht möchtest … “

„Ist gut“, unterbrach sie mein Gestammel und wieder sprach sie zwar leise aber sehr klar und bewusst, „wir können es ja mal versuchen. Zu sehen was du als Kind so gelesen hast, klingt amüsant.“

Sie schlug bei diesen Worten den dritten Band Pucki und ihre Freunde auf und ich verschluckte mich an meiner Spucke.

Wie kam dieses Kind zu einem solchen Wortschatz? Wieder der Großvater? Stammte das Mädchen aus einem so gebildeten Elternhaus?

Aber warum ließ man es dann so verwahrlosen?

Die Rätsel wurden einfach nicht weniger. Doch auch jetzt verbot ich es mir, meine stetig wachsende Neugier durch eine indiskrete Fragerei zu befriedigen. Nach wie vor befürchtete ich, dass die Kleine sonst möglicherweise für immer fortbleiben würde. Sicher schätzte sie meine Diskretion genauso sehr wie den warmen Ort intellektuellen Vergnügens auf dem Sofa in meiner Buchhandlung.

„Soll ich dir vorlesen?“, fragte sie. „Dann hast du auch was davon und vielleicht ein paar schöne Erinnerungen an deine Kinderzeit.“

Und weil ich das eine nette Idee fand, stimmte ich sofort zu. Allerdings hatte ich wirklich nicht mehr in Erinnerung, was für eine verharmloste, überzuckerte Welt sich in den Büchern auftat. Möglicher Weise hatte meine kleine Bücherfreundin das schon nach dem ersten Durchblättern gemerkt, während ich den Tee kochte, und genau deswegen das Vorlesen vorgeschlagen. Spielte sie mit mir?

Die Peinlichkeit stand bereits zum Schneiden dick im Raum, als das Mädchen plötzlich beim Namen einer Schulkameradin von Pucki stockte.

„Warum liest du nicht weiter?“, fragte ich irritiert.

„Ich, ich kannte auch einmal eine Meta … sie stammte aus Litauen … ich bin mit ihr einen weiten Weg gegangen …“

Es wirkte für einen Moment völlig abwesend und fügte dann abrupt hinzu:

„Aber das ist eine andere Geschichte, eine, die das wirkliche Leben schrieb … dunkel und bitter, nicht zuckersüß wie Eierkuchen.“

Damit war im Prinzip alles gesagt, sein Urteil über die Pucki-Reihe vernichtend.

„Du brauchst nicht weiterlesen“, schlug ich also ehrlich vor. „Ich empfinde die Geschichte und den Schreibstil mittlerweile genauso wirklichkeitsfremd wie du. Es waren andere Zeiten damals und obwohl ich in der Großstadt Berlin aufgewachsen bin, möchte ich sie nicht zurückhaben, denn auf ihrem Nährboden konnte der Nationalsozialismus wie ein giftiges Unkraut wuchern.“

„Bist du jetzt böse?“

„Nein, wie kommst du darauf? Ich bin nicht einmal traurig. Wir stehen ganz sicher am Beginn einer neuen, einer besseren Zeit. Aber vielleicht erzählst du mir etwas von dieser Meta, die du eben erwähnt hast.“

Und während ich das sagte, hegte ich tatsächlich die Hoffnung, nun endlich ein bisschen mehr über meine kleine Bücherfreundin in Erfahrung bringen zu können. Aber sie blockte mich ab.

„Ein anderes Mal vielleicht. Jetzt muss ich gehen.“

Die Kleine klappte das Buch zu und ich schaute sie verunsichert an.

Sie schien die Fragen, die mir auf der Seele brannten, förmlich zu riechen. Jedenfalls sprang sie abrupt auf.

„Du kommst doch morgen wieder?“ fragte ich über mich selbst verärgert dennoch.

Die Kleine reichte mir meinen Schal und zuckte die Schultern.

„Ich weiß es noch nicht. Mal sehen …“ Sie ließ den Satz offen.

„Nimm den Schal doch mit. Es wird schon dunkel und es weht ein kühler Wind.“

Ich wollte nicht fragen, ob sie kein anderes Kleid hatte und obwohl ich gerne gewusst hätte, wohin sie jeden Abend verschwand, fragte ich auch das nicht.

„Mach´s gut“, sagte ich lediglich.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

„Falls ich mal wiederkomme, kann ich mir dann wieder selbst ein Buch aussuchen?“

Mir war klar, dass ich sie mit den Pucki Büchern nicht überzeugt, sondern offensichtlich unterfordert hatte. Wer sich durch Alice im Wunderland gelesen hatte, dem konnte weder die schlichte Sprache noch der nicht weniger schlichte Inhalt genügen.

„Wie du meinst, es war nur ein gut gemeinter Versuch“, und mit einer alle meine Bücherregale umfassenden Geste fügte ich hinzu: „Du hast die freie Auswahl. “

„Danke“, sagte sie, legte den Schal über ein Regal neben der Tür und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Würde sie jemals wiederkommen?

VOM SUCHEN UND VERSTEHEN

Vielleicht brauchen wir Bücher, um das Leben zu verstehen.

1

Es war bereits dämmerig und nun begann es auch noch zu regnen. Die Tropfen wurden von einem böig auffrischenden Wind wieder so heftig gegen die Scheiben getrieben, dass es prasselte. Kunden würden sich bei diesem Sauwetter gewiss nicht mehr hierher verirren. Ich beschloss gerade den Laden zu schließen als mit ziemlichem Schwung die Eingangstür aufgestoßen wurde. Die Glocke ertönte irritierend heftig.

Ein Mann mit tief in die Stirn gezogenem Hut trat ein und schüttelte die Regentropfen von seinem langen, hellen Tuchmantel. Irgendetwas an Gestik und Verhalten kam mir bekannt vor.

Ich stand an meinem winzigen Verkaufstresen und schob soeben die dekorative antiquarische Ladenkasse zu, die ich darauf platziert hatte. Als zarten Hinweise für die Besucher, dass man bei mir nicht nur entspannt in Büchern stöbern, sondern sie auch käuflich erwerben konnte.

---ENDE DER LESEPROBE---