Die Burg - Ursula Poznanski - E-Book + Hörbuch

Die Burg Hörbuch

Ursula Poznanski

4,2

Beschreibung

Willkommen zu einem mörderischen Escape Game: Der KI-Thriller »Die Burg« von Bestseller-Autorin Ursula Poznanski kombiniert Mittelalter-Atmosphäre mit einem top-aktuellen KI-Szenario zu Nervenkitzel, der atemlos macht! Es hat ihn buchstäblich Unsummen gekostet – doch Milliardär Nevio hat die halbverfallene Burg Greiffenau nicht nur einfach instandsetzen lassen: Die unterirdischen Geheimgänge, Gruften und Verliese wurden mithilfe modernster Technik zu einer einzigartigen Escape-Welt ausgebaut. Eine künstliche Intelligenz sorgt dafür, dass das Spiel auf jede Besuchergruppe individuell zugeschnitten ist. Ob mittelalterliche Festung, Vampirschloss oder Fantasywelt – Burg Greiffenau kann alles sein, was sich die Spieler wünschen. Um sein grandioses Werk zu testen, lädt Nevio eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Experten ein. Niemand ahnt, dass die KI längst beschlossen hat, ihr eigenes Spiel zu spielen. Und darin ist ein Happy End nicht vorgesehen. Was passiert, wenn eine KI über dein Schicksal entscheidet – auf eine Weise, die niemand vorhersagen kann? Wendungsreich und hochspannend spielt Ursula Poznanskis KI-Thriller mit Szenarien, die ganz nah am Puls der Zeit sind. Entdecken Sie auch Ursula Poznanskis Thriller-Reihe »Vanitas« um eine Blumenhändlerin mit tödlicher Vergangenheit und die temporeiche Krimi-Reihe um die junge Wiener Kommissarin Fina Plank (»Stille blutet« und »Böses Licht«).

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Zeit:11 Std. 6 min

Sprecher:Rainer Strecker
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Buecherwurm1910

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Ein super-spannender Thriller von Ursula Poznanski über künstliche Intelligenz, die einmal losgelassen nicht mehr aufgehalten werden kann, bevor nicht alle Bedingungen und Vorgaben erfüllt wurden. Koste es was es wolle. Die wunderbare Stimme von Rainer Strecker verleiht dem Hörbuch viel Tiefe.
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irveliest

Gut verbrachte Zeit

Tolle Idee, stellenweise etwas heftig, einige Längen, interessante Wenden. Super Sprecherleistung. "Überlege dir gut, was du dir wünschst!"
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Ursula Poznanski

Die Burg

Thriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Es hat ihn buchstäblich Unsummen gekostet – doch Milliardär Nevio hat die halbverfallene Burg Greiffenau nicht nur einfach instand setzen lassen: Die unterirdischen Geheimgänge, Grüfte und Verliese wurden mithilfe modernster Technik zu einer einzigartigen Escape-Welt ausgebaut. Eine künstliche Intelligenz sorgt dafür, dass das Spiel auf jede Besuchergruppe individuell zugeschnitten ist. Ob mittelalterliche Festung, Vampirschloss oder Fantasywelt – Burg Greiffenau kann alles sein, was sich die Spieler wünschen. Um sein grandioses Werk zu testen, lädt Nevio eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Experten ein. Niemand ahnt, dass die KI längst beschlossen hat, ihr eigenes Spiel zu spielen. Und darin ist ein Happy End nicht vorgesehen.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Karten und Pläne

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

Für eine vergrößerte Darstellung der Abbildungen bitte die folgende Seite aufrufen: www.droemer-knaur.de/buch/ursula-poznanski-die-burg

1.

Wenn du versagst, zahlst du mit deinem Blut.« Die blasse Gestalt verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Oberlippe hoch. Entblößte lange, scharfe Reißzähne. »Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, Fremder.«

Beinahe ohne es zu merken, war Maxim einen Schritt zurückgewichen, als einer der Schatten auf dem zerklüfteten Steinboden plötzlich Form und Gestalt angenommen hatte. Der Vampir hatte sich wie aus dem Nichts manifestiert; erst als monströse Fledermaus, doch dann hatten sich die Flügel binnen Sekunden in ein Cape verwandelt. Zugleich waren aus dem dunklen Tiergesicht mit den schmalen Nüstern und den spitzen Ohren die blassen Züge eines Mannes geradezu herausgeplatzt. Silbrige Augen blickten kalt auf Maxim herab.

»Wahnsinn«, murmelte er.

»Ganz recht, Fremder.« Der Vampir schien weiter zu wachsen. »Wahnsinn ist es, in den ich dich treiben werde, während ich und die Meinen dir langsam das Leben aussaugen.« Er spreizte die langen Finger, hob gleichzeitig ein Stück vom Boden ab, der unter ihm in Bewegung zu geraten begann. Die groben Steine schmolzen, verformten und wanden sich. Da und dort zuckte ein eckiger Schlangenkopf hoch, züngelte in Maxims Richtung. Ein Windstoß ließ ihn frösteln und wehte – es war unbegreiflich – gleichzeitig seinem Angreifer das Haar aus dem Gesicht.

»Nicht die Zwölf und nicht die Neun.« Es war, als käme die Stimme von überallher, ein dröhnender Bass, der den ganzen Kerker erfüllte. »Regen, nicht Feuer. Dein nacktes Spiegelbild in ewiger Verdammnis.«

Maxim riss den Blick los von der schwebenden Gestalt, von den Steinmauern hinter ihr, aus deren Fugen nun Blut quoll. Mit ein paar Schritten war er bei der Tür des Kerkers. Direkt daneben baumelte ein verwittertes Brett an einer Kette. Ein Brett, an dem fünfzehn Schlüssel hingen.

Das Rätsel war nicht schwierig, da hatte Maxim sich schon deutlich Komplizierteres einfallen lassen. Unter den bizarren Gebilden vor ihm suchte er nach einem Schlüssel, der weder zwölf noch neun Zinken aufwies. Der rostig war vom Regen, nicht verbogen, weil Feuer ihn angeschmolzen hatte.

Auf vier der fünfzehn trafen diese Attribute zu. Einer sah aus, als hätte man ihn aus einem sehr kleinen Schwert geschmiedet – der schied aus. In den zweiten waren Wölfe eingraviert, die ein menschliches Opfer zerrissen, doch die ewige Verdammnis symbolisierte wohl eher das Pentagramm, das als Anhänger am dritten Schlüssel hing. Dessen Griff geformt war wie ein Totenschädel.

Mein nacktes Spiegelbild, dachte Maxim und legte zwei Finger flach auf die entsprechende Stelle des Touchpads.

Die Tür sprang auf, in seinem Rücken grollte, wie zum Abschied, ohrenbetäubender Donner. Dann war er draußen und stand vor dem Mann, der ihn hierher eingeladen hatte. Nevio strahlte ihn erwartungsvoll an.

»Es ist einmalig, oder? Ist es nicht großartig, was die KI auf die Beine stellen kann? Und dabei haben Sie nur einen Raum gesehen. Da wartet noch so viel! Fünf unterirdische Labyrinthsysteme, Höhlen, Hallen, Gruften, ein Felsendom!«

Maxim lächelte und nickte, obwohl ihm weh ums Herz war. Enigmata Escape, sein eigenes kleines Netz von Escape-Rooms, konnte sich mit dieser Anlage ebenso wenig messen wie ein Dreirad mit einem Sportwagen. Wer diese Burg einmal besucht hatte, würde von da an jeden anderen Escape-Room schäbig finden.

»Es ist fantastisch«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab. »Leider.«

Nevio, der das letzte Wort offensichtlich für einen Witz gehalten hatte, lachte die ganze Zeit, während sie sich über die feuchte Steintreppe zurück ans Tageslicht arbeiteten.

»Ich wusste, Sie würden es lieben!«, sagte er, als sie im Turnierhof angekommen waren. »Es ist einzigartig, und jedes Abenteuer ist anders: Ich habe schon eine Teufelssekte zerschlagen, war Teil von König Artus’ Tafelrunde und habe, auch wenn Sie’s lächerlich finden, sogar eine Prinzessin befreit.« Er klopfte mit der flachen Hand auf einen der mächtigen Quader der Befestigungsmauer. »Seit ich ein Kind war, wollte ich eine solche Burg besitzen, einfach nur, um dort zu spielen.« Er breitete die Arme aus, als wollte er damit diese riesige, mittelalterliche Anlage umfassen. »Und jetzt können das alle tun.«

Sofern sie genug Geld in der Tasche haben, dachte Maxim, als er die Treppen zum Osttor hinaufstieg, denn auf die Frage nach den Preisen hatte Nevio nur die Schultern gezuckt. Dafür hatte er ihm Details zur Technik erläutert: Riesige LED-Wände kleideten die Gruften und Kerker, die Höhlen und Verliese aus. Eine Technologie, die aus der Filmbranche kam. Statt vor Greenscreens wurde zunehmend vor täuschend echt wirkenden Szenarien gedreht, die nicht nur jeden beliebigen Hintergrund zeigen, sondern auch in einem Raum normaler Größe endlose Weite simulieren konnten, sofern alle vier Wände mit den Schirmen bedeckt waren. Stürmisches Meer, Wüste, Weltall – alles kein Problem mehr. »Ich habe sogar eine eigene Firma gegründet, die die Screens noch mal auf ein neues Level gehoben hat. BGB, steht für Backgroundbreaking. Verstehst du das Wortspiel? Verstehst du es?«

Ja, das tat Maxim. Und während Nevio davon schwärmte, wie viel unempfindlicher und flexibler diese LED-Wände waren, wie gut sie auch die Unebenheiten alter Burgmauern ausglichen, dachte er an seinen Kredit bei der Bank. Und an Leyla. Er wusste nicht, was mehr schmerzte.

»Wir können es sogar regnen lassen«, hörte er Nevio wie von ferne sagen. »Ich habe ein ausgeklügeltes Leitungssystem anlegen lassen. Versteckte Düsen, weißt du?« Er strahlte Maxim an, der das Lächeln gleichermaßen pflichtbewusst wie reflexartig erwiderte, das plötzliche Du widerspruchslos hinnahm. »Die KI kann Gerüche mischen – Waldluft, Kellermief, frisches Blut –, alles, was ein Szenario erfordert.«

Ja, das mit dem frischen Blut war Maxim nicht entgangen. »Es ist wirklich unglaublich«, murmelte er. Zu seiner Erleichterung verabschiedete sich der Milliardär kurz darauf, weil er persönlich die Werbefolder kontrollieren wollte, die eben angeliefert worden waren.

Einen davon drückte er Maxim zum Abschied in die Hand. Das Titelbild zeigte eine beeindruckende Luftaufnahme der Burg, innen gab es eine Liste mit den Preisen – die leider moderater waren, als ihm lieb sein konnte – und eine Zeichnung, die einen Überblick über die Anlage gab und offenbar bewusst weniger einschüchternd, ja beinahe niedlich gestaltet war. Auf der zweiten Seite sah man ein drolliges Gespenst, das die Arme ausbreitete und grinste. Archibald begrüßt unsere jüngsten Gäste, stand darunter.

Maxim rollte den Folder zusammen und steckte ihn in die hintere Hosentasche, während er zwischen den Zinnen hindurch ins Tal blickte, auf dichten Wald und das Dorf, das dahinterlag. Alles in ihm verlangte nach einem großen Bier, von dem er hoffte, dass es den eben erhaltenen Schlag abfedern würde. Seine Kette umfasste bisher fünf Niederlassungen, zwei davon waren kaum fünfzig Kilometer von hier entfernt. Eine sechste wollte er in drei Monaten eröffnen. Das sollte er sich besser noch mal überlegen.

Bislang war die Gesamtanlage der Burg nicht in Betrieb, aber die Burgschenke hatte erfreulicherweise bereits geöffnet. Für Handwerker, das Entwicklungsteam und vorzeitige Gäste wie Maxim selbst. Der sich immer noch fragte, was er eigentlich hier verloren hatte, aber immerhin hatte die letzte Stunde Leyla fast völlig aus seinen Gedanken verdrängt.

Vor einem Monat, beim Eintreffen der Einladung, war er zunächst geschmeichelt gewesen, hatte dann aber schnell vermutet, dass man ihn auf den Arm nehmen wollte, denn warum sollte ein Multimillionär wie Nevio einem Kleinunternehmer schreiben? Der Mann hatte einen Weltkonzern aufgebaut, besaß einen Fernsehsender, ein Fußballteam und, nach allem, was man hörte, eine eigene Insel.

Maxim dagegen hatte es bisher nur auf seine Minikette von fünf – zugegeben brillanten – Escape-Rooms und einen Berg Schulden gebracht. Der Brief, davon war er überzeugt gewesen, musste ein Scherz sein, trotz des handgeschöpften Papiers mit dem beeindruckenden Adlerwappen in der rechten oberen Ecke. Oder gerade deshalb.

Doch dann kam ein Anruf von einer sehr energischen Frau, die Deutsch mit amerikanischem Akzent sprach und sich als Nevios Assistentin ausgab. Die Einladung sei echt und durchaus ernst gemeint, erklärte sie. Man werde ihn übernächstes Wochenende abholen, in ein exklusives Hotel bringen, wo er eine Schweigeklausel zu unterzeichnen habe, bevor man ihm das neue Projekt zeige. Nach drei Tagen Aufenthalt werde man ihn um eine Beurteilung und etwaige Verbesserungsvorschläge bitten. Für eine Entlohnung von siebzigtausend Euro.

Bei der Nennung der Summe hatte er erneut an einen Scherz geglaubt, aber trotzdem nicht aufgelegt. Das Geld würde ihm einen gewaltigen Teil seiner Sorgen nehmen, wenn er es wirklich erhielt.

Er schaufelte sich die drei Tage frei, war aber bis zum letzten Moment überzeugt davon, dass der angekündigte Wagen nie auftauchen würde. Doch das hatte sich als Irrtum erwiesen, und vier Stunden später hatte er tatsächlich Nevio gegenübergestanden, diesem Mann, der – wie Cher, Prince oder Zendaya – keinen zweiten Namen brauchte, um weltbekannt zu sein.

Maxim hatte ihn sich größer vorgestellt, ihn aber trotzdem auf den ersten Blick erkannt. Die wirren Locken, deren dunkles Braun bereits in Grau überging. Die vor Leben sprühenden Augen hinter den runden Brillengläsern. Die prägnante Nase.

Die Energie, die von dem Mann ausging, degradierte jeden in seiner Nähe zu einer Nebenfigur, was Maxim zu Beginn irritiert hatte. Doch mittlerweile beschäftigte ihn hauptsächlich die Frage, ob er die versprochene Summe auch dann erhalten würde, wenn er zu dem Projekt nicht den geringsten Verbesserungsvorschlag bringen konnte.

 

Die Taverne lag erhöht, direkt an der westlichen Befestigungsmauer. Von Maxim abgesehen waren nur fünf Gäste anwesend, sie alle trugen blaue Arbeitsoveralls und freuten sich hörbar auf das bevorstehende Wochenende.

Er fragte sich, ob die Rußschwärze an den Gewölbemauern künstlich war und woher die Musik kam. Flöten und Trommeln suggerierten mittelalterliche Marktstimmung, aber es waren weder Musikanten noch Lautsprecher zu sehen.

Die Frau, die seine Bestellung aufnahm, trug eine Leinenhaube; die Schürze über ihrem dunklen Kleid war fleckig, und auch der Wirt hinter dem Schanktisch wirkte wie für einen Film gecastet. Ein rundes Gesicht, ein ebensolcher Bauch, ein mehrfach geflicktes braunes Schnürhemd. Es waren Gäste wie er selbst, dachte Maxim, die mit ihren Jeans und T-Shirts die Mittelalter-Illusion zerstörten.

Oder mit Glitzersneakers, wie die blonde junge Frau, die nun die Schenke betrat. Sie blieb im Eingang stehen, hob ihr Handy auf Augenhöhe und bewegte es langsam von links nach rechts. Filmte den Innenraum, bevor sie Maxim entdeckte und auf ihn zuging.

»Hallo, bist du auch für den Testlauf hier?« Sie streckte ihm eine Hand entgegen. Goldreifen klirrten.

Er hoffte, dass sein Lächeln nicht gezwungen wirkte. »Ja.«

»Sehr cool. Bist du Sponsor, oder sollst du die Burg promoten?«

»Weder noch.« Maxims Bier wurde gebracht, in einem Humpen, der von außen wie ein bauchiges Holzfass aussah, innen aber mit Edelstahl verkleidet war. Er nahm einen Schluck, bevor er weitersprach. »Ich betreibe selbst einige Escape-Rooms.«

»Das ist ja interessant.« Sie hob die Hand und winkte die Bedienung zurück. »Bekomme ich hier Prosecco?«

Die Frau wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Nein. Aber Met, Apfelwein und Traubensaft. Die Karte ist noch nicht vollständig, leider.«

»Dann ein Wasser, bitte. Mit Sprudel.« Wieder zückte sie das Handy und vollführte einen Kameraschwenk von dem riesigen Fass an der linken Wand bis zu den bunten Glasfenstern an der rechten Seite der Taverne.

»Sie durften Ihr Handy behalten?«, fragte Maxim. »Ich musste meines abgeben. Keine Fotos, keine Videos erlaubt.«

Sie umschloss das Gerät mit ihren vielfach beringten Fingern und strahlte ihn an. »Es ist keine SIM-Karte drin. Aber ich muss Content produzieren, ich soll die Burg schließlich auf meinen Kanälen promoten – sobald die Sperrfrist vorbei ist.«

Wieder streckte sie ihm die Hand hin. »Yvonne, übrigens.«

»Ah. Freut mich. Maxim.«

»Maxim«, wiederholte sie, wobei sie das I in die Länge zog. »Wir sind Glückspilze, nicht wahr?«

Da war er nicht so sicher, wenigstens nicht, was ihn betraf. Die knappe Stunde, die er vorhin in dem Raum verbracht hatte, entfaltete erst jetzt ihre ganze einschüchternde Wirkung, was die Konsequenzen für sein Unternehmen anging.

Auf Nevios Aufforderung hin hatte er der künstlichen Intelligenz ein paar Eckdaten hingeworfen – Vampire, Sturm, mittlerer Schwierigkeitsgrad, hohes Grusellevel, lösbar innerhalb einer Stunde. Und, weil er sehen wollte, was dann passieren würde, hatte er noch Frosch als Spielelement hinzugefügt. Zehn Minuten später hatte das Programm all das geliefert. Hatte das Kerkerabteil in eine Turmkammer verwandelt, vor deren Fenstern ein Orkan tobte und auf deren Boden eine Frauenleiche lag, die von – genau – Fröschen langsam aufgefressen wurde. Warzenübersäten Fröschen, die groß waren wie Kürbisse und in deren Mäulern messerscharfe Zähne blitzten.

Dann waren die Vampire gekommen, flatternd, kreischend, und hatten ihm fünf Rätsel aufgegeben, die er lösen musste, wenn er den Raum lebend verlassen wollte. Keines dieser Rätsel hatte ihn ernsthaft gefordert, trotzdem war Maxims Zeit knapp geworden. Einfach, weil er von dem Spektakel, das ihn umgab, so fasziniert gewesen war. Von den Soundeffekten und der Weite, die die Szenarien auf den LED-Wänden suggerierten.

Einmal war er tatsächlich erschrocken, als links von ihm an einer Wand, die er für eine normale Steinmauer gehalten hatte, eine monströse Fledermaus erschienen war, unter schmerzhaft lautem Kreischen.

Alle diese Erscheinungen wichen zurück, wenn man ihnen zu nahe kam, denn natürlich ließ sich die vorgespiegelte Welt nicht betreten, ließen sich die Geschöpfe nicht berühren. Doch selbst das zerstörte die Illusion nicht. Es war nur, als würde man von einer unsichtbaren Barriere aufgehalten, als wäre das Weitergehen durch eine Glaswand versperrt.

Maxim graute davor, in drei Tagen wieder nach Hause fahren zu müssen. Er wusste, wie schäbig ihm seine eigenen Räume nach dieser Erfahrung vorkommen würden. Dass er sie, ob er wollte oder nicht, von nun an immer mit dem vergleichen würde, was Nevio geschaffen hatte.

Ein leichter Schubs von der Seite riss ihn aus seinen Gedanken. Yvonne hielt ihm ihr Handy hin. »Wäre es okay für dich, mich aufzunehmen, während ich mich ein bisschen in der Schenke umsehe? Einfach nur draufhalten, Schnitt und Voiceover mache ich in der Nachbearbeitung.«

Er hatte nicht die geringste Lust dazu, aber auch keine höfliche Ausrede parat. Also folgte er Yvonne, die zwischen den Möbeln umherschlenderte, mit der Hand über vernarbte Holztische strich, sich dekorativ gegen Stützbalken lehnte und mit dem Wirt an der Theke lachte.

Erst jetzt, durch das Display betrachtet, wurde ihm klar, was ihn von Anfang an an ihr gestört hatte: Sie hatte eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit Leyla. Vor allem in ihren Bewegungen. Kraftvoll, nie zögerlich. Das lange Haar, bei Leyla dunkel und meist hochgesteckt, fiel Yvonne in blonden Wellen über den ganzen Rücken. Leyla war vielleicht drei oder vier Zentimeter kleiner und mit ihren zweiunddreißig Jahren wohl ein wenig älter, aber die Parallelen zwischen den beiden Frauen waren nicht zu leugnen.

Oder er hatte einfach einen wirklichen Schaden davongetragen und sah seine Ex jetzt in jeder Frau, die ihm begegnete. Maxim lehnte das Handy gegen Yvonnes Wasserglas, griff nach seinem Bierhumpen und leerte ihn auf einen Zug. Siebzigtausend Euro, sagte er sich. Dafür würde er auch diese Quälerei in Kauf nehmen.

2.

Ist Melerski schon da?« Wie gewohnt war Nevio in den Kontrollraum geplatzt, ohne sich vorher anzukündigen, und erwischte Alissa mit vollem Mund, ein angebissenes Thunfischsandwich in der Hand. Antworten unmöglich. Sie schüttelte den Kopf, zuckte bedauernd mit den Schultern und griff nach dem Diensthandy.

Nein, keine Nachricht von dem Professor. Sie kaute schneller, schluckte. »Er hätte vor einer halben Stunde eintreffen sollen. Vielleicht steckt der Wagen im Stau, aber wir haben ja noch fast zwei Stunden bis zur Präsentation.«

Nevio wippte auf den Zehenballen, fuhr sich durchs wirre Haar. Er war nervös, aber auf die gute Art, die ihn vor Tatendrang beinahe platzen ließ. Alissa kannte ihn mittlerweile lange genug, um das einschätzen zu können. Sie rollte mit ihrem Drehstuhl von der Wand mit den Überwachungsmonitoren weg zum Büro-PC. Klickte die Gästeliste an.

»Also, Maxim Ascher ist da, aber dem hast du ja schon eine kleine Kostprobe gegeben.« Das Du fiel ihr ihm gegenüber auch nach mehr als zwei Jahren nicht immer leicht, aber Nevio bestand darauf, dass sich alle im Team mit dem Vornamen ansprachen. In seinem Fall mit dem einzigen Namen.

»Yvonne Rothe ist vor einer Stunde eingetroffen, Petra Seifert vor zehn Minuten. Sie ist auf ihr Zimmer gegangen und will noch duschen, bevor sie zu den anderen stößt.«

»Die Handys sind eingezogen?« Nevio zerrte an einer Haarsträhne; es wirkte, als müsse es wehtun, aber er verzog keine Miene.

»Ja. Die sind im Safe der Security, bis auf das von Rothe, weil …«

»Sonderregelung, ich weiß«, unterbrach ihr Chef sie. »Was ist mit Strauss?«

Alissa zog eine Grimasse. »Der hat verschlafen. Der Fahrer musste ihn aus dem Bett klingeln, aber sie sind auf dem Weg. Bei ihm ist die Anfahrt am kürzesten, ich denke, er wird etwa gleichzeitig mit Professor Melerski eintreffen.«

Allerdings nicht alleine. Dieses Detail, das der Fahrer Alissa anvertraut hatte, behielt sie im Moment noch für sich. Emil Strauss würde mit seiner neuesten Freundin anreisen. Und nach allem, was der Fahrer angedeutet hatte, war »neu« höchst wörtlich zu nehmen. Wenn er Strauss richtig verstanden hatte, dann kannten die beiden sich erst seit letztem Abend.

»Ich möchte, dass keiner von ihnen die Demonstration verpasst.« Nevio stellte sich ans Fenster. »Verschiebe zur Sicherheit das Abendessen um eine Stunde nach hinten.«

»Okay.« Alissa suchte auf ihrem Handy die Nummer der Catering-Firma. »Aber dann sollten wir für Snacks sorgen, bevor ihr nach unten geht. Ich kümmere mich darum.«

 

Nicht mein Job, dachte sie, als sie wieder alleine war. Eigentlich war Cem für alles zuständig, was Gastronomie und Hotels betraf, aber der hatte sich noch einmal eine Woche freigenommen – damit er die Eröffnung mit voller Kraft angehen könne. Das Team der Taverne habe er bis ins Detail instruiert, außerdem werde es Alissa wohl kaum überfordern, notfalls ein paar Zusatzanweisungen zu geben?

Freizeichen bei der Catering-Firma, kurz darauf ein genervt klingender Mitarbeiter, bei dem sie die Lieferung des Abendmenüs um eine Stunde nach hinten verlegte, dafür aber eine zusätzliche Häppchenbestellung aufgab. Möglichst bis fünf Uhr, danke.

Ihr eigenes Sandwich lag immer noch angebissen auf dem Teller. Alissa griff danach und stellte sich ans Fenster. Von hier aus überblickte sie die Zufahrtsstraße, auf der sich jetzt endlich eine der Limousinen näherte und auf dem großen Besucherparkplatz hielt.

Heraus stieg ein fülliger Mann mit grauem Bart und Glatze, der ausführlich gähnte, bevor er sich auf den Weg zum Tor machte, gefolgt von dem Fahrer mit seinem Gepäck.

Melerski war da. In Gedanken hakte Alissa den Namen des Professors auf der Liste ab. Fehlte also nur noch Emil Strauss, bei dem sie nach wie vor nicht begriff, warum Nevio ihn dabeihaben wollte.

Wieder legte sie ihr Brot ab, wusch sich schnell die Hände und lief die Wendeltreppe nach unten in den Hof der Vorburg, am Richtplatz vorbei und über den Zwinger bis zum Torturm. Dort war Lothar Melerski stehen geblieben und begutachtete den brusthohen Wappenstein an der Fassade. Ein Adler mit dem Unterleib eines Löwen, der seine Schwingen über gekreuzten Schwertern ausbreitete; an der oberen Wappenkante ein Vollvisierhelm, rechts und links Wölfe als Schildhalter.

»Professor Melerski?« Alissa versuchte, die Aufmerksamkeit des Neuankömmlings auf sich zu lenken, doch sie hatte kein Glück. Er wandte nicht einmal den Kopf, sondern trat näher an den verwitterten Stein heran. Strich mit zwei Fingern über die Flügel des rechten Greifs. »Eine Schande«, sagte er leise.

»Schön, dass Sie da sind«, fuhr Alissa mit eiserner Freundlichkeit fort. »Nevio erwartet Sie schon.«

Der Mann brummte etwas Unverständliches, dann trat er einen Schritt zurück. »Vierzehntes Jahrhundert«, murmelte er. »Mit den Wölfen als Schildhalter. Wussten Sie, dass es nur dem Hochadel erlaubt war, diese Elemente anzufügen? Die Familie von Greiffenau hat damals eine Schlüsselrolle im Reich gespielt. Trotzdem wissen wir viel zu wenig über sie.« Er hob den Kopf, blickte in Richtung des mächtigen Wehrturms. »Und jetzt wird aus ihrer Burg ein Rummelplatz gemacht.«

Alissa hatte nicht gewusst, dass Nevio bewusst einen Kritiker des Projekts eingeladen hatte. Der ging auf seine Kappe, anders als zum Beispiel die Influencerin, die Alissa selbst ausgesucht hatte.

Ihrer Information zufolge war Melerski als fachkundiger Historiker hier, der überprüfen sollte, wie authentisch die KI Mittelalter produzieren konnte. Nicht, um die Idee in Grund und Boden zu verdammen.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo Sie wohnen werden.« Sie ging voran, verlangsamte ihr Tempo aber sofort, als sie merkte, dass Professor Melerski auf der leichten Steigung nicht Schritt hielt. Es war schwer zu entscheiden, ob er nicht konnte oder es einfach nicht wollte.

»Sagen Sie es mir gleich: Haben Sie den Burgpalas in ein Holiday Inn umgebaut?«, rief er.

Innerlich seufzend ging Alissa zu ihm zurück. »Ganz im Gegenteil. Nevio hat sehr viel Geld in die Hand genommen, um die Burg fachgerecht restaurieren zu lassen. Sie müssen doch wissen, in was für einem schlechten Zustand sie war. Die Unterkünfte wurden alle in Nebengebäuden untergebracht. Außerhalb der Mauern wurden zwei neue Hotels gebaut, aber Ihr Zimmer befindet sich in den alten Stallungen.«

Sie wandte sich um und ging weiter auf das mittlere Burgtor zu. Hinter sich hörte sie Melerski schnaufen. Bestens, er folgte ihr.

Die Zimmer in den Stallungen würden künftig die teuersten sein. Sie zu betreten war, wie in der Zeit zurückzureisen – helle Steinmauern und gewölbte Decken, die Möbel aus dunklem poliertem Holz, die Wandleuchten wie kupferne Feuerschalen. Gleichzeitig boten die Räume allen denkbaren Komfort. Alissa hielt dem Professor die Tür auf. »Hier. Ich hoffe, es gefällt Ihnen.«

Er trat ein, sah sich um, wortlos. Setzte sich dann an den Rand des Betts und strich über den geschnitzten Drachen, der den Kopfteil krönte.

»Sobald alle eingetroffen sind, gibt es einen kleinen Imbiss, und anschließend bekommen Sie eine kurze Demonstration in einem der Keller, von Nevio persönlich. Morgen, nach dem Frühstück, beginnt dann das Spiel.«

Melerski nickte ergeben. »Ich kann es kaum erwarten.«

 

Auf dem Weg zurück in die Zentrale traf Alissa auf Petra Seifert, der sie bei ihrer Ankunft nur kurz begegnet war, weil Jannek es übernommen hatte, sie auf ihr Zimmer zu bringen. Seifert hatte ihren Aufenthalt einer Art Preisausschreiben zu verdanken. Sie war eine von vier Personen, die alle Level des Onlinerätsels hatte lösen können, und unter ihnen hatte Nevio sie ausgewählt. »Weil wir noch keine Frau mittleren Alters dabeihaben«, war seine Überlegung gewesen.

Die zwanzigtausend Euro Preisgeld waren an eine Überraschungsreise gebunden gewesen – Abholung mit der Limousine, Fahrt an einen geheimen Ort, drei Tage Aufenthalt und ein neues Rätselspiel.

Vor Unterzeichnung des Vertrags hatte Petra Seifert also nicht gewusst, was sie erwarten würde. Entsprechend angespannt wirkte sie nun, wie sie zwischen den Burgmauern umherspazierte. Sie war sichtlich froh, auf eine weitere Person zu treffen.

»Hallo!« Sie lächelte Alissa zu. »Ich weiß nicht genau, was als Nächstes auf dem Programm steht – bekomme ich eine Führung durch die Burg?«

»Viel besser.« Alissa deutete zu Boden. »Sie bekommen bald eine Führung unter die Burg. Ein erstes Kennenlernen unserer Spielstätten. Warten Sie nur ab, Sie werden staunen.«

Die Frau lachte, aber etwas in ihrem Gesicht verriet Unbehagen. »Ich musste vorhin unterschreiben, dass ich weder an Klaustrophobie leide noch Angst vor der Dunkelheit habe. Und dass ich zu den ersten Besuchern eines Escape-Rooms gehöre. Der liegt unter der Burg?«

»Genau. Und für Sie als Meisterin im Rätsellösen wird es hoffentlich ein ganz besonderes Vergnügen werden.«

Seifert fuhr sich durchs rotbraune Haar, aus dem sowohl die Farbe als auch die Dauerwelle herauszuwachsen begannen. »Ich war noch nie in einem Escape-Room.«

»Das macht gar nichts«, versicherte Alissa. »Sie werden schnell verstehen, was zu tun ist. Schneller als die anderen vermutlich.«

»Mhm. Sind diese anderen denn auch schon hier?«

Das Letzte, was Alissa wollte, war, dass Seifert jetzt auf den missmutigen Professor stieß. »Lassen Sie uns hinauf zur Burgschenke gehen, ja? Ich glaube, dort werden wir fündig.« Sie ging voran, die Stufen hinauf, die direkt an der Innenseite der Mauer entlang zur Schenke führten. Ein Blick durch die Zinnen zeigte ihr, dass die Zufahrtsstraße wie ausgestorben dalag. Emil Strauss ließ sich offenbar alle Zeit der Welt.

 

In der Schenke trafen sie wie erhofft auf Maxim Ascher und Yvonne Rothe, die Seifert sofort an ihren Tisch einluden. Alissa umarmte Yvonne, die ihr dank der vielen Nachrichten, die sie gewechselt hatten, am vertrautesten war. Dann kehrte sie mit gutem Gewissen zum Kontrollraum zurück, in der Hoffnung, dass Jannek seine Pause mittlerweile beendet hatte.

Er war als Letzter zum Team gestoßen, war aber gleichzeitig der Erste gewesen, den Alissa interessant gefunden hatte. Seine freundliche Art. Die Grübchen, wenn er lächelte. Sein konzentrierter Blick, wenn er mit ihr sprach. Er war, genau wie sie, als Game Master hier angestellt und für die Rundumbetreuung der Gäste zuständig. Mit ihm würde die Zusammenarbeit am engsten sein.

Den Gedanken, dass zwischen ihnen beiden etwas entstehen konnte, das über Freundschaft hinausging, hatte sie nach dem ersten Jahr allerdings aufgegeben; sie hatte lange genug versucht, ihm auf subtile Weise zu signalisieren, dass sie interessiert war. Irgendwann, bei einer gemeinsamen Flasche Rotwein, die sie bei Sonnenuntergang oben auf dem Waffenturm geleert hatten, war sie deutlicher geworden. Hatte nach seiner Hand gegriffen, doch er hatte sie sofort weggezogen. »Ich habe eine Freundin, tut mir leid.«

Daran schien sich nichts geändert zu haben. Die Freundin hatte ihn hier allerdings nie besucht, und bei den wenigen Gelegenheiten, an denen Alissa die Sprache auf sie gebracht hatte, war Jannek jedes Mal ausgewichen. Vielleicht hatte er also nur eine freundliche Ausflucht gefunden, damit er Alissa nicht gestehen musste, dass er sie nicht attraktiv fand.

Als sie nun hereinkam, saß er vor dem Kontrollpult und führte gerade einen letzten Check der Anlage durch. Er hatte sich Raum E5 groß auf den Bildschirm geholt. »Turm, Ruinenmauer, Blick aufs Meer, Sturm«, sagte er ins Mikro, und Sekunden später verwandelten sich die Kellerwände in die Brüstung eines Wachturms mit Blick auf vom Wind aufgepeitschte See. Meterhohe Wellen brachen sich an Felsklippen, am Horizont kämpfte ein Dreimaster mit zerfetzten Segeln gegen das Kentern an. Der Sturm heulte.

Jannek schaltete von Kamera drei auf Kamera vier und ließ sie einmal um die eigene Achse rotieren. »Passt«, stellte er zufrieden fest. Die Dreihundertsechzig-Grad-Illusion war perfekt, das Meer umbrandete den Raum von drei Seiten. Die vierte zeigte eine weitläufige Burganlage, zu der der Wachturm gehörte. An den Flaggen der anderen Türme riss der Sturm.

E6, einen der kleinsten Keller, verwandelte Jannek in eine Holzhütte, die zu brennen begann, E4 in einen nächtlichen Wald, in dem Trolle ihr Unwesen trieben. Wipfelrauschen und Wolfsgeheul inklusive.

»Ist jetzt der dritte Systemcheck«, sagte er. »Ich glaube, Nevio kann beruhigt sein, er wird sie alle beeindrucken. Das System lernt jedes Mal dazu, hast du eben die Glühwürmchen gesehen? Die waren neu.«

»Solange nicht wieder das Soundsystem zu spinnen beginnt«, warf Alissa ein, »müsste es ein rauschender Erfolg werden. Ich wüsste wirklich zu gerne, was da letztens passiert ist.«

Sie erinnerte sich mit Schaudern daran. Bei dem Testlauf war sie selbst in E5 gewesen, in einem Probespiel rund um einen versteckten Templerschatz, als plötzlich aus allen Lautsprechern gleichzeitig entsetzliches Kreischen gedrungen war. Es war kaum zu ertragen gewesen, wie eine auf Maximalvolumen hochgedrehte Rückkoppelung. Alissa hatte sich beide Hände auf die Ohren gepresst, doch das war so gut wie nutzlos gewesen. Schließlich war ihr nichts anderes übrig geblieben, als das Safeword zu brüllen und zu hoffen, dass es durch den Höllenlärm dringen würde.

Es hatte geklappt, die Türen waren aufgesprungen, aber noch zwei Tage lang hatte ständiges Pfeifen in den Ohren sie begleitet. So beharrlich, dass sie schon befürchtet hatte, es würde ein Tinnitus zurückbleiben.

Sollte so etwas morgen wieder passieren, konnte Nevio mit saftigen Schmerzensgeldforderungen rechnen.

Wo der Fehler gelegen hatte, wussten sie nach wie vor nicht, möglicherweise hatte die KI etwas missverstanden. Die Programmierer, allen voran Sam und Chris, hatten die letzten drei Nächte durchgearbeitet und neue Tabus definiert, damit Missgeschicke dieser Art künftig ausgeschlossen waren.

Deshalb waren sie jetzt auch nicht hier, Chris hatte tags zuvor kaum noch die Augen offen halten können. Sein Bulldoggengesicht, üblicherweise freundlich entspannt, hatte in schmerzgeplagten Falten gelegen, aber er hatte Nevio versichert, dass sie der KI Benehmen eingetrichtert hatten. So, wie es aussah, hielt sie sich daran.

Chris war es auch gewesen, der der künstlichen Intelligenz ganz zu Beginn den Namen SpooKI verpasst hatte, woraufhin Nevio, plötzlich nicht mehr der entspannteste Chef der Welt, ihm mit Rausschmiss gedroht hatte. Der Name ließ diese überlegene Intelligenz, von der Alissa nie begreifen würde, wie sie funktionierte, irgendwie … niedlich wirken. Niedlich war das Gegenteil von beeindruckend und ruinierte damit das Konzept.

Chris, unfähig, Wortspielen zu widerstehen, kreierte daraufhin einen neuen Namen, der bei Nevio auf mehr Gegenliebe stieß: KIsmet, was so viel bedeutete wie Schicksal. »Treffend«, hatte er gesagt. »Für die Zeit, die du buchst, ist die KI dein Schicksal.«

Der Name der Erlebniswelt, der auf der Homepage und allen Hochglanzbroschüren stehen würde, blieb allerdings der, den Nevio von Beginn an vorgesehen hatte: Die Burg. Das klang stolz, eindrucksvoll, mächtig. So, als wäre seine Burg die einzige, die zählte.

Und dabei war es geblieben.

3.

Seit Petra Seifert in der Schenke zu ihnen gestoßen war, hatte Maxim sich mehr oder minder auf die Rolle des schweigenden Zuhörers zurückgezogen, denn sie und Yvonne hatten sofort einen Draht zueinander gefunden.

Viel freudiger als zuvor er selbst nahm Petra Yvonnes Handy entgegen, um die Jüngere in allen Posen zu fotografieren und zu filmen. »Es tut so gut, unter Menschen zu sein«, hörte Maxim sie sagen. »Seit ich meine Mutter pflege, komme ich so gut wie gar nicht mehr aus dem Haus.«

Das erklärte natürlich ihr Redebedürfnis. Innerhalb einer halben Stunde kannte Maxim alle Eckdaten von Petras Lebensgeschichte. Jung geheiratet, zwei Kinder, die bereits ausgezogen waren. Scheidung, gebrechliche Mutter, die nach einem Schlaganfall vor eineinhalb Jahren ständig Hilfe brauchte. »Wir haben begonnen, gemeinsam Rätsel zu lösen. Vor allem, um ihren Kopf zu trainieren«, erklärte Petra. »Und jetzt bringt mir das einen solchen Batzen Geld, ist das nicht unglaublich?«

Yvonne hatte die Frau umarmt, mit einer Herzlichkeit, die nicht gespielt wirkte; dann hatte sie mit ihr gemeinsam ein Selfie geschossen. Maxim bestellte sich das dritte Bier, in der Hoffnung, dass die gute Laune der beiden ihn dann endlich anstecken würde.

Er wünschte sich sein Smartphone herbei, auf dem er Mails checken oder durch News-Seiten hätte scrollen können. Einfach nur hier zu sitzen und daran zu denken, dass die gute Buchungslage seiner Escape-Rooms bald Geschichte sein würde, war eine einzige Qual.

Denn da machte er sich nichts vor: Nevios Burg würde neue Standards setzen, und es würden sich genügend begüterte Unternehmer finden, die eine Lizenz seiner KI erwerben und ähnliche Anlagen aus dem Boden stampfen würden. Seine kleine, liebevoll hochgezogene Kette würde sich dagegen ausnehmen wie ein Holzkreisel gegen eine Playstation.

Die beiden Standorte, die kaum eine Stunde von der Burg entfernt lagen, konnte er eigentlich sofort schließen. Um diesen Verlust auszugleichen, waren auch die siebzigtausend zu wenig.

Das dritte Bier half kein Stück, im Gegenteil, es verdüsterte Maxims Laune weiter. Was hatte Nevio sich dabei gedacht, ihn einzuladen? Wollte er live dabei sein, wenn Maxim sich geschlagen gab? Oder hatte er vor, ihm einen Job hier anzubieten, für den Zeitpunkt in naher Zukunft, zu dem er bankrott sein würde?

Ein Laut wie ein Schuss ließ ihn hochfahren. Jemand hatte die metallbeschlagene Holztür mit solcher Wucht geöffnet, dass sie gegen die Mauer gekracht war. Das Licht des beginnenden Abends fiel herein, und in diesem Licht stand ein breitschultriger Mann mit kurzem, hellblondem Haar. Er kam Maxim vage bekannt vor, und so, wie Petra dreinsah, ging es ihr ebenso. »Strauss, ist das nicht Strauss?«, flüsterte sie Yvonne zu.

Ah. Bei Maxim fiel der Groschen. Emil Strauss, ehemals Olympiaschwimmer, danach als C-Promi immer wieder auf C-Events zu sehen. Zuletzt von einem Privatsender angeheuert, als Moderator irgendeiner Realityshow, bei der Maxim reflexartig weiterzappte.

»Hallo, ich bin Emil!« Er schüttelte erst Yvonnes, dann Petras Hand, bevor er auf Maxim zukam. »Wir sind die gut bezahlten Versuchstiere, nicht wahr?« Er lachte, wandte sich um und wies zur Tür. »Darf ich vorstellen, das ist Vivi. Meine … Begleitung.«

Die Begleitung – groß, dunkelhaarig und überschlank – war ganz offensichtlich nicht begeistert von der Gesellschaft in der Taverne. Sie blieb in der Tür stehen, hob nur nachlässig eine Hand in Richtung des Tischs. »Ich würde gern duschen«, sagte sie. »Emil, weißt du schon, wo unser Zimmer ist?«

»Finden wir gleich heraus!« Strauss setzte sich mit an den Tisch und winkte dem Wirt. »Bekomme ich auch ein Bier?« Er blickte strahlend in die Runde, sein Blick blieb an Yvonne hängen. »Kennen wir uns nicht?«

»Nein.« Sie wies zur Tür. »Willst du deine Freundin nicht herbitten?«

Falls Strauss das gewollt hätte, reagierte er zu spät. Von Vivi war nichts mehr zu sehen, mutmaßlich hatte sie sich alleine auf die Suche nach der Unterkunft gemacht.

»Also, sie ist nicht meine Freundin«, erklärte er mit gedämpfter Stimme. »Wir kennen uns erst ganz kurz, aber sie wollte unbedingt mitkommen. Ich fürchte, sie hat sich einen romantischen Ausflug erwartet, und ich durfte ja nichts sagen, wegen der Verschwiegenheitsklausel.«

Maxim kannte die anderen kaum, trotzdem glaubte er, in ihren Gesichtern den gleichen Gedanken lesen zu können, der sich auch ihm aufdrängte. »Nichts verraten, aber sie dafür mitnehmen war die bessere Entscheidung?« Es hatte überheblicher geklungen, als er es gewollt hatte, doch Emil Strauss schien für derlei Nuancen keine Antennen zu haben.

»Du weißt doch, wie sie sind.« Er zwinkerte, ungeachtet der Tatsache, dass Yvonne sich mit verschränkten Armen und bösem Lächeln in ihrem Stuhl zurücklehnte. Sie.

»Nein, ich fürchte, das weiß ich nicht«, sagte Maxim. Er war sich undeutlich dessen bewusst, dass sein Widerspruch nicht reiner feministischer Empörung entsprang, sondern einer wachsenden Abneigung diesem Emil gegenüber. An dem Maxim guten Gewissens seinen aufgestauten Frust auslassen konnte.

»Lieber ein irritierter Gastgeber als eine wütende Lady«, erklärte Emil lachend. »Ich weiß, war nicht geschickt von mir, aber ich hätte es unanständig gefunden, sie nach der vergangenen Nacht einfach stehen zu lassen und abzuhauen.« Er sah in die Runde, sichtlich auf der Suche nach Zustimmung. »Findet ihr doch auch, nicht wahr? Ich weiß, ich bin ein Klotz, aber ein …«

Er unterbrach sich, als sich die Tür erneut öffnete und die Frau mit dem roten Lockenkopf eintrat, die zuvor schon Petra zu ihnen geführt hatte und die vor ein paar Stunden auch Maxim selbst in Empfang genommen hatte. Alissa. Hinter ihr erschien Vivi und blieb wieder im Türrahmen stehen, die Schlauchbootlippen missmutig verzogen.

»Herr Strauss, Sie haben jemanden mitgebracht? Es tut mir sehr leid, aber das ist gegen die Vereinbarung. Ich muss Nevio informieren, der wird nicht glücklich sein.«

»Ach, das mache ich gerne selbst.« Er stand auf, gerade als der Wirt sein Getränk brachte. »Kann ich das mit nach draußen nehmen? Oder ist das auch gegen die Vereinbarung?« Lachend ging er auf die Rothaarige zu. »Nenn mich Emil. Und du bist?«

Sie lächelte das verbindliche Lächeln einer Flugbegleiterin gegenüber einem schwierigen Gast. »Alissa. Ich bin Game Masterin und für die Kundenbetreuung zuständig.« Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche. »Wir werden das gleich klären. Jedenfalls freue ich mich, dass jetzt alle hier sind. Ich gebe Nevio Bescheid, dann wird es bald losgehen. Erst mit einem kleinen Imbiss, dann mit der Präsentation.«

Mit dem ans Ohr gedrückten Smartphone trat sie ein paar Schritte zur Seite, drehte sich jedoch wieder um, als Vivi ihr auf die Schulter tippte. »Ich möchte jetzt auch mein Handy zurück.«

Alissas Stewardessenlächeln verrutschte kein Stück. »Tut mir leid, das kommt nicht infrage.«

»Sie können mir nicht einfach meine Sachen wegnehmen.« Vivi streckte die Hand aus. »Geben Sie es mir sofort wieder!«

»Selbstverständlich. Sobald Sie das Gelände verlassen«, entgegnete Alissa ungerührt und wandte Vivi den Rücken zu. »Nevio? Ja, es sind jetzt alle da.« Kurze Pause. »Mehr als alle.«

 

Ihr Weg führte sie durch zwei Innenhöfe, dann betraten sie hinter Alissa das Haupthaus der Burg, den Palas, wie sie erklärte. Ja, ohne T am Ende. Maxim schlenderte auf den hohen Rundbogen zu, beide Hände in den Hosentaschen, den Blick auf den steinernen Raubvogelkopf über dem Tor gerichtet.

»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es hier vor den Restaurationsarbeiten ausgesehen hat.« Alissa deutete in einer allumfassenden Bewegung auf das Haupthaus, den Bergfried und ein Gebäude mit ovalem Grundriss, das Maxim für die Kapelle hielt. »Das Gelände konnte man nur unter Lebensgefahr betreten, Teile der Burg waren einsturzgefährdet – und seht sie euch jetzt an!« Sie wies auf das Raubvogeltor. »Hier im Palas sind alle historischen Wohn- und Repräsentationsräume zu finden. Lasst uns reingehen. Nevio wartet im St.-Georgs-Saal.«

Was sich als nicht ganz richtig herausstellte, denn bei dem Mann, der auf dem Steinboden kniete, um die Beinschienen einer prächtig verzierten Rüstung aus der Nähe betrachten zu können, handelte es sich um jemand anderen. Er war vermutlich nicht viel älter als Nevio, aber die Jahre waren weniger gnädig zu ihm gewesen. Ein grauer Haarkranz umrahmte den ansonsten kahlen Kopf, ein ebenso grauer Bart kaschierte sein Doppelkinn.

»Professor, Sie sind schon hier, sehr gut!« Alissa wandte sich zu der Gruppe um. »Ich möchte euch Professor Lothar Melerski vorstellen. Er ist einer der bekanntesten Mediävisten deutscher Sprache und hat bisher neun Bücher über das Leben im Mittelalter verfasst.«

Melerski richtete sich auf, ächzend und mit gerötetem Gesicht. »Freut mich«, sagte er, es klang unaufrichtig.

»Mit seiner Expertise wird der Professor diesen Bereich beurteilen, so wie Maxim Ascher«, Alissa nickte ihm zu, »die Qualität der Rätsel.«

»Rätsel?«, hörte er Vivi murmeln und sah, wie ein kurzer Ruck durch Alissa ging.

»Nun«, fuhr sie fort, »Nevio wird gleich hier sein.« Sie deutete auf einen schmalen Tisch aus poliertem dunklem Holz, auf dem Platten mit Brötchen und kleinen Kuchenstücken angerichtet waren. »Bis dahin – bedienen Sie sich bitte.«

Nevio betrat den Saal, als Maxim sich gerade zwei Lachsbrötchen auf eine mit dem Burg-Logo bedruckte Serviette gelegt hatte. Umarmte jeden von ihnen zur Begrüßung, auch den Professor, dem man ansah, dass er sich nichts weniger wünschte als Körperkontakt.

Nur vor Emil Strauss und Vivi blieb er stehen. »Es tut mir so unendlich leid«, sagte er. »Aber die junge Dame kann nicht teilnehmen.«

Strauss lachte, versuchte, ihm auf die Schulter zu klopfen, aber Nevio wich zurück. »Es ist mein Ernst. Ich habe Sie alle sehr bewusst ausgewählt. Für Ihre Begleitung lasse ich gern ein Zimmer in meinem Hotel außerhalb bereitstellen, oder einer meiner Fahrer soll sie nach Hause bringen. Aber dass sie teilnimmt, ist ausgeschlossen.«

Maxim war nur mäßig darüber erstaunt, dass Emil nach kurzem Zögern nickte und in einer resignierten Geste die Arme ausbreitete. »Tja, Mäuschen, tut mir leid«, sagte er, zu Vivi gewandt. »Das wusste ich nicht.«

Falls er gehofft hatte, dass das Mäuschen sich so einfach abschütteln ließ, hatte er sich getäuscht.

»Ich habe überhaupt keine Lust, alleine in irgendeinem Hotelzimmer rumzuhocken!«, zischte sie. »Wenn du bleibst, fahre ich sicher noch nicht nach Hause!« Sie versetzte Emil einen sanften Schubs gegen den Arm. »Wir wollten doch Zeit zusammen verbringen. Warum erklärst du ihm das nicht?«

»Weil es diese Vereinbarung schon wesentlich länger gibt, als ich dich kenne«, erwiderte Strauss, dem das Bedauern darüber, sie mitgenommen zu haben, nun deutlich anzusehen war. »Sei nett, ja? Lass dich zurückchauffieren, ich bin sicher, du bekommst eine Flasche Schampus mit.«

»Selbstverständlich!« Nevio winkte einen der Caterer heran. »Seien Sie so freundlich, ja? Packen Sie der Dame alles ein, was sie gerne möchte, und begleiten Sie sie dann zu den Wagen. Vielen Dank!«

Ein paar Sekunden lang trat Schweigen ein; die Situation war nicht nur Maxim unangenehm. Auch Yvonne betrachtete auffällig intensiv den Wandteppich, der einen Barden mit Laute zeigte, kniend vor einer Dame in hellroten Gewändern. Die Szene, stellte Maxim fest, konnte tatsächlich in diesem Saal stattgefunden haben. Die Fenster waren dieselben.

»Dann bleibe ich lieber im Hotel«, verkündete Vivi, mit einem Seitenblick auf Yvonne. »Emil, wir sind gemeinsam gekommen, wir sollten auch gemeinsam wieder fahren, findest du nicht?«

Wenn Maxim sich nicht täuschte, entging Emils zunehmende Genervtheit niemandem im Raum, außer vielleicht Melerski, der hoch konzentriert die nächste Rüstung unter die Lupe nahm. Auch Vivi musste spüren, dass ihre Beharrlichkeit Strauss lästig war, aber wie es schien, war sie nicht bereit, ihren Platz an der Seite eines zweifelhaften Promis so schnell aufzugeben.

»Dann haben wir das geklärt«, sagte Nevio. »Alissa, sei so nett und begleite die Dame hinüber ins Château, Flora soll eine der Suiten für sie bereitstellen und der Küche sagen, dass sie mein Gast ist.« Er strahlte Vivi an. »Vielen Dank für dein Verständnis!«

Alissa stand mit diskret gesenktem Blick daneben, als Vivi Emil zum Abschied ein wenig zu ausdauernd küsste, dann führte sie sie aus dem Saal. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss.

»Es tut mir wirklich leid!«, platzte Emil heraus, kaum dass die beiden Frauen draußen waren. »Mir war nicht klar, wie ernst das mit der Geheimhaltung genommen wird. Sie war einfach so süß heute Morgen und wollte unbedingt mit, da dachte ich, das wird schon okay sein.«

Nevio klopfte ihm auf den breiten Rücken. »Das haben wir jetzt ja geregelt. In Zukunft empfehle ich dir, Vertragsklauseln ein bisschen genauer zu lesen. Ich will nicht, dass vorab Informationen über das Projekt tröpfchenweise an die Öffentlichkeit gelangen. Es gibt Pläne für den Launch, einen exakten Zeitablauf.« Seine Miene wurde ernst, die Umgänglichkeit war wie mit einem Schlag daraus verschwunden. »Der wird um jeden Preis eingehalten.«

»Sorry. Ja. Wie gesagt, ich dachte mir nichts dabei. War dumm von mir.«

Nevio widersprach nicht, wandte sich, nun wieder lächelnd, Petra zu und empfahl ihr am Buffet die Lauchtörtchen, bevor er einen Kellner mit einem Tablett voller Sektflöten heranwinkte. »Es ist Zeit, anzustoßen. Ich freue mich darauf, euch gleich mein Herzensprojekt präsentieren zu können. Willkommen, liebe Freunde!«

Zustimmendes Murmeln, ein Danke von da und dort. Emil hob sein Glas und leerte es auf einen Zug. »Auf einen guten ersten Eindruck«, murmelte er und hielt Ausschau nach dem nächsten Getränkekellner.

Maxim betrachtete ihn von der Seite, nahm erste Falten unter den Augen und am Hals wahr. Ungeachtet seines jugendlichen Auftretens musste Strauss die vierzig schon vor einiger Zeit überschritten haben; Vivi dagegen konnte höchstens fünfundzwanzig sein, wahrscheinlich nicht einmal das.

Aber das ging ihn nichts an. Er gesellte sich zu dem Professor, der immer noch neben den polierten Rüstungen stand und sich eben eine Mini-Quiche in den Mund steckte. »Da fragt man sich doch«, sagte er, im Bemühen, Small Talk zu machen, »welche Schlachten in diesen Panzern geschlagen wurden, nicht wahr?«

Melerski kaute und schluckte. »Gar keine«, erwiderte er trocken. »Das waren Turnierrüstungen. Viel zu schwer für einen echten Kampf, die wären ein Todesurteil gewesen. Waren sie manchmal auch, für Reiter und Pferd.«

»Aha. Interessant.« Er hatte gehofft, der Professor würde weitersprechen, doch der schien überhaupt kein Problem mit unbehaglichem Schweigen zu haben. Nicht, solange noch Häppchen auf seinem Teller lagen.

Bevor Maxim eine weitere Frage einfiel oder er sich verabschieden konnte, stand Nevio bei ihnen, die Brille ein wenig schief auf der Nase, die Augen voller Erwartung. »Alle satt geworden? In ein paar Minuten geht es los, und danach gibt es noch mal richtiges Essen.« Er strahlte Melerski an. »Du musst ja schon unglaublich gespannt sein!«

Der Professor, von der vertraulichen Anrede sichtlich irritiert, blinzelte mehrmals, bevor er lustlos nickte.

»Und du«, fuhr Nevio fort und nahm Maxim ins Visier, »hast vorhin nur einen kleinen Vorgeschmack bekommen – das geht noch viel besser, du wirst gleich sehen.«

»Ich freue mich«, erklärte Maxim in dem Bemühen, Melerskis mangelnden Enthusiasmus auszugleichen. Wenige Minuten später brachen sie auf, folgten Nevio die Treppe hinunter zurück in den Hof. Dort wartete bereits Alissa auf sie, neben einer fast zwei Meter hohen Holztafel mit dem Lageplan der Burg.

Maxim war schon bei der Anfahrt von der Größe des Baus beeindruckt gewesen, von seinen mächtigen Ausmaßen. Greiffenau. Die zweitgrößte erhaltene Burganlage Europas, stand auf der Tafel, und der Plan darunter verdeutlichte ihm nun, dass er bisher lediglich einen Bruchteil davon gesehen hatte. Dreiundsechzig Sehenswürdigkeiten waren auf der Karte markiert; jetzt befanden sie sich im inneren Burghof, zwischen Bergfried und Kapelle.

Doch da gab es noch viel mehr. Die Schmiede. Den Hexenturm. Die Rüstkammer. Den Schergenhof. Den Schinderturm. Die Richtstätte.

»Die Burganlage ist riesig. Nicht wahr?« Alissa blickte in die Runde. »Aber die unterirdischen Höhlen und Gänge sind noch viel weitläufiger. Was ihr gleich sehen werdet, ist nur ein Bruchteil davon.« Sie wies in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.

Maxim hielt sich neben ihr, während sie die Mauer entlang unterhalb eines hölzernen Wehrgangs auf einen der Türme zugingen. »Hat Vivi eigentlich ihr Handy zurückbekommen?«

Alissa lachte auf. »Selbstverständlich nicht.«

4.

Alissa würde oben bleiben, erklärte Nevio, und die Gruppe vom Kontrollraum aus im Auge behalten, dafür kam ein junger Mann namens Jannek mit, der ebenfalls als Game Master eingestellt war. Er sollte das Schlusslicht bilden und darauf achten, dass niemand zurückblieb.

Der Abgang in die unterirdischen Teile der Burg war so schmal, dass sie die Treppen nur einzeln hinabsteigen konnten. Aus den Bögen, die die gewölbte Decke trugen, leuchtete es rötlich.

Unten angekommen, ging Nevio voran – in die Dunkelheit, wie es schien. Maxim hätte nicht sagen können, woher das wenige Licht kam, das die Gänge in fahlen Schimmer tauchte und ihnen allen ein gespenstisch bleiches Aussehen verlieh.

Nach einigen Minuten wusste er auch nicht mehr, wie er im Fall der Fälle wieder hinausfinden sollte. Sie waren erst rechts, dann links abgebogen und hatten zwei denkbar unterschiedliche Räume durchquert. Einer kaum größer als eine Abstellkammer, der andere weit wie ein Ballsaal. An manchen Stellen waren die Gänge dazwischen so niedrig gewesen, dass Maxim gebückt hatte gehen müssen, um sich nicht den Kopf anzustoßen.

Bald danach waren sie in eine Grotte gelangt, die nicht wirkte, als wäre sie von Menschenhand in den Stein gehauen worden, sondern auf natürliche Weise entstanden. In einer Mulde rechts von ihnen erahnte er Wasser, einen kleinen See. Aber es war dunkel, vielleicht täuschte das.

»Der Burghügel ist seit der Zeit der Kelten besiedelt«, hallte Nevios Stimme durch die Höhle. »Diese Grotte war seit Menschengedenken nicht zugänglich, und so haben wir bei unseren Instandsetzungsarbeiten Münzen und Gefäße aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert gefunden. Die wurden natürlich alle fachgerecht von einem Archäologenteam geborgen«, fügte er an, als Melerski aufstöhnte. »Wir haben nichts zerstört, im Gegenteil, wir haben längst Verlorenes ins Heute zurückgeholt.«

Von der Höhle führte eine so enge Passage weiter, dass der Professor Mühe hatte, sich durchzuzwängen. Aber es war Petra, die schwer zu atmen begann. Sie ging direkt hinter Maxim, und er drehte sich zu ihr um, nahm ihre Hand. »Klaustrophobisch, nicht wahr?«

»Und wie.« Sie versuchte ein tapferes Lächeln. »Ein bisschen wie lebendig begraben sein. Ich bekomme die Vorstellung nicht aus dem Kopf, dass der Berg über uns einsacken könnte, da steht ja eine riesige Burg drauf …«

»Oh, keine Sorge«, rief Nevio, der ein ganzes Stück weiter vorne ging, aber über sehr gute Ohren verfügen musste. »Wir sind nicht mehr unterhalb der Burg. Das Tunnelsystem ist viel weitläufiger. Wir sind schon außerhalb der Mauern, über uns dürfte eigentlich nur Wald sein.«

Damit hatte Maxim nicht gerechnet. Großartig, er hatte bereits jegliche Orientierung verloren; er hätte nicht einmal sagen können, ob sie durch den Saal gekommen waren, in dem er vor einigen Stunden dem Vampir begegnet war.

Nachdem sie den engen Durchgang und eine kuppelförmige Halle hinter sich gelassen hatten, erreichten sie einen lang gezogenen, rechteckigen Raum, in dem Nevio haltmachte.

Während ihrer Wanderung durch das unterirdische Labyrinth hatte Maxim nur wenige Möbel oder Requisiten gesehen. Da und dort schimmerte manchmal ein Totenschädel aus dem Halbdunkel, halb in einer Wandnische verborgen. In ein paar Räumen waren ihm Hocker oder Bänke aufgefallen, doch meist war das, was abseits ihres Trampelpfads lag, von Finsternis verschluckt worden.

Doch jetzt waren sie offenbar am Ziel angekommen, und hier befand sich, unübersehbar, eine lang gezogene Tafel, die von ausladenden, holzgeschnitzten Stühlen umgeben war und an einer der Stirnseiten mit der Mauer verschmolz.

»Wir sind da«, verkündete Nevio, und der Saal hellte sich auf, es schien, als sickere das Licht aus den Fugen zwischen den mächtigen Mauersteinen. »Herzlich willkommen zu einer neuen, ganz außergewöhnlichen Erfahrung.«

Es waren nun alle um den Tisch versammelt, an dem auch die dreifache Anzahl von Menschen Platz gefunden hätte. Der Professor ließ sich auf einen der Stühle fallen; Yvonne tat es ihm nach und murmelte etwas über falsche Schuhe.

»Das richtige Spiel beginnt erst morgen«, fuhr Nevio fort, »aber heute möchte ich euch zeigen, wie großartig, wie unendlich die Möglichkeiten sind, die es bietet.« Er wandte sich an Jannek, der neben ihm stand. »Das System ist offen?«

»Ist es«, bestätigte der.

»Dann lasst uns beginnen.« Er blickte nach rechts, nach links, wie ein Zeremonienmeister, der sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden versichern will. »Verwunschener Wald. Morgenstimmung. Fabelwesen. Magische Elemente.«

Es verstrich kaum genug Zeit, um die Runde fragende Blicke austauschen zu lassen, da schien der Raum bereits seine Form zu verlieren, sich in eine nach allen Seiten offene Waldlichtung zu verwandeln. Grüngoldenes Licht fiel schräg durch die Blätter und brachte einen kleinen Wasserfall zum Funkeln, aus uralt wirkenden Bäumen drang Vogelgezwitscher. Etwas raschelte in den Büschen, kurz darauf huschte ein Tier davon, zu schnell, als dass Maxim hätte erkennen können, was es war.

Die Illusion war perfekt, wie schon bei seinem ersten Abstieg in die Eingeweide der Burg. Die Baumkronen rauschten, der Bach plätscherte. Alle Köpfe drehten sich zur Seite, als sich lautstarkes Summen näherte wie von einem sehr großen Insekt, doch noch bevor Maxim es sehen konnte, entfernte es sich schon wieder, flog in den Wald zurück. Akustisch zumindest.

Auch der Tisch, um den sie sich versammelt hatten, hatte sein Aussehen verändert, die zuvor blanke Oberfläche wirkte nun wie aus Stein gemeißelt. Die Platte war an einigen Stellen gesprungen, der Rand mit kryptischen Symbolen verziert. Maxim legte die Hand auf eine der Unebenheiten, was die Illusion ins Wanken brachte, denn die Fläche war völlig glatt geblieben. Natürlich war sie das, der Tisch war nichts anderes als eine liegende LED-Wand.

»Wahnsinn«, hörte er Yvonne murmeln. »Das ist ja irre, das ist …«

Sie unterbrach sich, als mit lautem Schnauben ein Zentaur aus dem Dickicht hinter ihr hervorbrach, unterdrückte einen Aufschrei, beide Hände gegen den Mund gepresst, bevor sie zu lachen begann. Das schien dem Wesen nicht zu gefallen.

»Was erheitert dich so, Mädchen?« Seine Stimme war ein tiefes Vibrieren, er senkte den Kopf, scharrte mit dem Vorderhuf.

»Nichts«, stieß Yvonne hervor, »gar nichts, echt.« Sie wandte sich Nevio zu, der strahlte wie ein stolzer Vater. »Das ist unglaublich«, flüsterte sie.

»Besser wäre, du glaubst es«, schnaubte der Zentaur. »Wir dulden nur ungern Fremde in unserem Revier. Die Herde ist unruhig. Ihr solltet gehen.« Er tänzelte ein Stück nach links, dann wendete er auf der Hinterhand und galoppierte davon. Da, wo er gestanden hatte, richtete das Gras sich nur langsam wieder auf, bemerkte Maxim ehrlich beeindruckt. Was für eine Liebe zum Detail.

Die zeigte sich auch bei dem Tier, das jetzt an einer anderen Stelle des Waldes neugierig einen Baum herunterkletterte. Ein drolliges, eichhörnchenartiges Gesicht, dazu aber Fledermausflügel und – zur allgemeinen Erheiterung der Gruppe – die Zunge eines Froschs, mit dem das Tier zielsicher eine blau glänzende Spinne aus ihrem Netz holte.

»Ihr habt es gehört, wir sollen gehen.« Nevio war bestens gelaunt. »Also dann. Neues Szenario: Nacht. Altes Kloster. Mönche, die sich den dunklen Mächten verschrieben haben. Blutopfer.«

In der nächsten Sekunde begann der Wald sich zu verdunkeln und der Raum zu schrumpfen. Das Gefühl von Weite verschwand, statt Bäumen ragten nun an allen Seiten Säulen empor. Der Tisch schien sich in die Wand hinein zu verlängern, und dort, wie ein Spiegelbild ihrer eigenen Gruppe, standen schweigende Gestalten in langen Kutten, die Gesichter von Kapuzen verborgen.

Spitzbogenfenster, durch die Mondlicht drang. Heiligenstatuen mit verrenkten Gliedern. Teufelssymbole, in den Tisch geschnitzt, dazwischen Flecken von getrocknetem Blut. Und nun begannen die Mönche zu singen, einen atonalen Chor in lateinischer Sprache, der von den Wänden widerhallte, als befänden sie sich in einer Kathedrale.

»Das ist unheimlich«, sagte Petra leise, woraufhin der Mönch an der Stirnseite des Tisches den Kopf hob. Seine Augen leuchteten im Dunkel wie die einer Katze. »Sit maledicti, mortales«, flüsterte es mehrstimmig von allen Seiten auf sie ein, »qui viam interdictam in aulas nostras ingressi estis.«

Die Stimmen überlagerten sich, wurden lauter, wiederholten die Worte wie eine Beschwörung. Ein Windstoß blies Maxim das Haar aus der Stirn, neben ihm lachte Emil unbehaglich auf. »Okay, das ist ziemlich gruselig.«

»Gruselig ist vor allem das schlechte Latein dieser Leute.« Es war das Erste, was Melerski von sich gab, seit die Präsentation begonnen hatte. Prompt wandte der Mönch sich ihm zu. »Ich sehe dein Ende vor mir, alter Mann«, zischte er, »und es wird schmerzhaft sein.«

»Schlimmer als mein Bandscheibenvorfall vergangenes Jahr?«, gab Melerski zurück. »Hm. Jetzt kriege ich doch Angst.«

»Schweig!« Der Mönch hob die Arme, und ein Blitz durchzuckte die Nacht, erhellte sekundenlang den Saal, der unmittelbar danach von Donner erschüttert wurde. So laut, dass Maxim automatisch nach oben blickte, um sich zu vergewissern, dass nicht die Decke auf sie herabstürzte.

»Ihr habt die Wahl.« Der Mönch stützte die Hände auf den Tisch, die eingeritzten Symbole begannen zu leuchten. »Legt den Eid ab – oder dient den Mächten der Finsternis als Opfer.« Der Bruder, der neben ihm stand, zog in einer bedächtigen Bewegung ein langes Messer aus dem Ärmel seiner Kutte.

Strauss, der neben Maxim schon die ganze Zeit über zappelig gewirkt hatte, hob die Hand. »Ich lege den Eid ab«, rief er. »Was muss ich sagen?«

»Anima mea pertinet fraternitati«, rezitierten die Brüder im Chor. »Factum meum facio instrumentum malitiae. Id sigillo sanguine meo confirmo.«

Strauss nickte. »Okay. Anima mea per… Wie ging’s dann weiter?«

Wieder ein Blitz, der Maxim die Augen schließen ließ, gefolgt von dem beängstigenden Grollen. »Du solltest dir mehr Mühe geben«, zischte der Mönch. »Einen Versuch gewähren wir dir noch. Erweist du dich erneut als unwürdig, sollen die Dämonen dein Blut trinken.«

»Was haben die überhaupt gesagt?«, flüsterte Yvonne. »Ist das …«

»Immer noch Latein«, fiel Melerski ihr ins Wort. Er wirkte gequält, als könne er nicht glauben, dass ein Mensch, der das nicht erkannte, die gleiche Luft atmen durfte wie er. »Heißt so ungefähr: Ich verschreibe meine Seele der Bruderschaft und mache mich zu einem Instrument des Bösen. Das besiegle ich mit meinem Blut.« Er seufzte, tief und ausdauernd. »Wir werden hier mit Klischees erschlagen.«

Melerski hatte nicht laut gesprochen, möglicherweise war es also nur Zufall, dass Nevio sich wenige Sekunden später an ihn wandte. »Lothar, willst du auch mal? Sag dem System, was du sehen möchtest, und lass uns wissen, wie gut es deine Aufgabe erfüllt.«

Der Professor blies die Backen auf, dann lächelte er. »In Ordnung. Wie wäre es damit: Ich möchte ins Globe Theatre im London des Jahres 1603.«

Es war, als ginge ein Ruck durch das System, fast, als hätte es sich verschluckt. Wie in einer rasend schnellen Abfolge von Filmschnitten wechselten die Schauplätze von einer Blumenwiese zu einer zerstörten Stadt, einer Felsküste und einer Bergkette, bevor die Gruppe plötzlich mitten in einem Rundbau mit offenem Dach stand. Maxim legte den Kopf in den Nacken – ja, auch die Decke war mit einem LED-Schirm verkleidet, man konnte den Himmel sehen.

Vor ihnen erstreckte sich die Bühne, deren hinteres Ende ein Haus mit Giebeldach bildete, in dem die Innenszenen der Stücke gespielt haben mochten. Zwei Säulen stützten ein Vordach, das über die ganze Bühne reichte und die Schauspieler wohl vor Regen hatte schützen sollen.

Doch da waren keine Schauspieler, ebenso wenig, wie auf den Balkonen und Rängen des Zuschauerraums Publikum zu sehen war. Sie waren die Einzigen hier, und Melerski, der sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte, nickte anerkennend. »Allerhand. Die architektonischen Details stimmen – und der Rest auch.«

»Na ja.« Im Gegensatz zu dem Professor schien Nevio nicht völlig zufrieden. »Leider nicht so spektakulär, wie ich es mir wünschen würde. Vielleicht hättest du sagen müssen, dass du eine Vorstellung sehen möchtest.«

Melerskis Lächeln vertiefte sich, bekam etwas Selbstzufriedenes. »Ich wollte das Globe im Jahr 1603 sehen. War ein kleiner Trick, weil ich wissen wollte, ob dieses System nur auf Effekt aus ist oder auch auf Authentizität.« Er blickte nach oben, in einen blauen Himmel mit langsam dahintreibenden Wolken. »1603 brach in London die Pest aus, und alle Theater mussten geschlossen werden. Dieses Spielzeug weiß das, im Gegensatz zu … dir.«

Es war das erste Mal, dass Melerski Nevio – oder irgendeinen von ihnen – duzte, und es klang weniger freundschaftlich als gönnerhaft. Was Nevio die Laune nicht im Mindesten zu verderben schien, im Gegenteil. »Siehst du«, rief er, »das System ist klüger als wir alle zusammen! Ist es nicht faszinierend?«

Falls er mit Melerskis Zustimmung gerechnet hatte, wartete er vergebens, denn der wollte seine eigene Intelligenz sichtlich nicht mit Nevios künstlicher verglichen wissen.

»Will noch jemand?« Nevio nickte Petra aufmunternd zu, die erst zögerte, dann aber etwas von Eishöhlen sagte.

Maxim hörte kaum hin, denn während alles um ihn sich in glitzerndes Weiß verwandelte, hatte Jannek Nevio ein Stück zur Seite gezogen.

»Du hast es gesehen, oder?«, murmelte er kaum hörbar. »Die Szenenwechsel vorhin? Hänger im System, ich glaube auch, dass das Tor zu E4 sich geschlossen hat. Einfach so.«

»Ich glaube nicht, dass das jemanden gestört hat«, sagte Nevio. »Und wir brauchen E4 nicht, um wieder rauszukommen.«

Janneks Lächeln wirkte gezwungen. »Ich weiß. Aber mir bereitet das Bauchschmerzen. Ich kann nicht erklären, was da passiert ist.«

»Vielleicht hat die KI einfach Lust bekommen, etwas auszuprobieren.«

»Hm. Und wenn sie morgen wieder Lust auf Extratouren kriegt? Jemand von der Technik sollte im Kontrollraum Dienst machen.«

Nevio legte Jannek eine Hand auf die Schulter. »Jaja. Wenn es dich beruhigt – Chris ist ja da. Und notfalls ruf Sam oder Fuxo an, die sollen noch mal einen Blick auf alles werfen.«

Was weiter gesagt wurde, hörte Maxim nicht mehr, denn Nevio zog seinen Angestellten dorthin, wo sich die hintere Wand des Saals befinden musste – was man aber nie hätte ahnen können, wenn man es nicht wusste; es sah aus, als stünden die beiden vor einem langen, von Eissäulen flankierten Korridor.

Maxim schlang sich die Arme um den Körper. Bildete er sich das nur ein, oder war es wirklich kälter geworden? Er hielt sich im Hintergrund, während Yvonne sich auf die Oberfläche eines fremden Planeten wünschte, blickte auf die beiden Monde, die dort am Himmel standen, und dachte über das nach, was Nevio gesagt hatte.

Vielleicht hat die KI Lust bekommen, etwas auszuprobieren.

Falls das stimmte, waren sie nicht bloß Nevios Versuchskaninchen.

5.

Nach draußen nahmen sie einen kürzeren Weg und gelangten innerhalb von fünf Minuten wieder unter freien Himmel. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und die sinkende Sonne verfärbte die Burgzinnen rötlich.

»Ich schlage vor«, sagte Nevio, »wir machen uns alle ein wenig frisch und treffen uns in einer Stunde im Rittersaal. Wer möchte, darf sich gerne entsprechend kleiden, ich habe euch passende Sachen in eure Zimmer bringen lassen.«

Damit war auch klar, warum Maxim in der Vereinbarung seine Konfektions- und Schuhgröße hatte angeben müssen. Wieder in seinem Zimmer, fand er eine Kleiderstange mit vier Kostümvorschlägen und jeweils einem angehefteten Zettel vor.

Wams, Strümpfe, Hose, Schaube, Barett,