Die digitale Pille - Elgar Fleisch - E-Book

Die digitale Pille E-Book

Elgar Fleisch

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Beschreibung

Unser Gesundheitssystem steht unter hohem Veränderungsdruck: Wir leben aufgrund bahnbrechender medizinischer Fortschritte immer länger, jedoch führt unser zunehmend ungesunder Lebensstil dazu, dass wir immer häufiger an chronischen Krankheiten leiden. Dies treibt die Kosten im Gesundheitswesen in die Höhe und bringt unser erfolgreiches System ins Wanken. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu forcieren, ist ein möglicher Weg, den Kostensteigerungen zu begegnen und gleichzeitig Kranke besser zu versorgen. Am Beispiel von fünf chronischen Erkrankungen zeigen uns die Autorin und die Autoren, was digitale Innovationen schon heute leisten können, und nehmen uns mit auf eine spannende Reise in die digitale Zukunft unseres Gesundheitssystems.

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Elgar Fleisch, Christoph Franz, Andreas Herrmann, Annette Mönninghoff

DIE DIGITALE PILLE

Eine Reise in die Zukunft unseres Gesundheitssystems

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Unser Gesundheitssystem steht unter hohem Veränderungsdruck: Wir leben aufgrund bahnbrechender medizinischer Fortschritte immer länger, jedoch führt unser zunehmend ungesunder Lebensstil dazu, dass wir immer häufiger an chronischen Krankheiten leiden. Dies treibt die Kosten im Gesundheitswesen in die Höhe und bringt unser erfolgreiches System ins Wanken. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu forcieren, ist ein möglicher Weg, den Kostensteigerungen zu begegnen und gleichzeitig Kranke besser zu versorgen. Am Beispiel von fünf chronischen Erkrankungen zeigen uns die Autorin und die Autoren, was digitale Innovationen schon heute leisten können, und nehmen uns mit auf eine spannende Reise in die digitale Zukunft unseres Gesundheitssystems.

Vita

Dr. Elgar Fleisch ist Professor für Informations- und Technologiemanagement an der ETH Zürich und der Universität St. Gallen. Der gebürtige Österreicher ist Initiator des wissenschaftlichen Center for Digital Health Interventions, Mitgründer mehrerer Start-ups und Mitglied in verschiedenen Aufsichts- und Verwaltungsräten.

Dr. Christoph Franz ist Honorarprofessor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen. Der gebürtige Frankfurter ist außerdem Verwaltungsratspräsident der Roche AG.

Dr. Andreas Herrmann ist Professor an der Universität St. Gallen, wo er die Forschungsstelle für Customer Insight leitet. Als Autor und Ko-Autor hat er bereits 15 Bücher veröffentlicht. Außerdem ist er Gründer zweier Unternehmensberatungen mit Sitz in Mainz und St. Gallen.

Annette Mönninghoff ist Projektleiterin und Doktorandin am Institut für Customer Insight an der Universität St. Gallen. Ihr Forschungsgebiet ist die Schnittstelle zwischen Konsumentenverhalten und Digitaler Medizin.

Inhalt

Vorwort

Geleitwort

Teil I – Wird das Gesundheitssystem Opfer seines Erfolgs?

Kapitel 1Der medizinische Fortschritt ist eine Erfolgsgeschichte mit Folgen

Kapitel 2Chronische Krankheiten strapazieren unser Gesundheitssystem

Kapitel 3Digitalisierung ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für das Gesundheitssystem von morgen

Teil II – Digitale Technologien verändern Patienten und Gesundheitssystem

Einleitung

Kapitel 4Do-it-yourself-Medizin

Kapitel 5Digitale Patienten-Arzt-Beziehung

Kapitel 6Digitale Therapien

Kapitel 7Digitale Gesundheitsdaten und Datensicherheit

Kapitel 8Ergebnisorientierte Medizin

Kapitel 9Digitale Medikamentenentwicklung

Teil III – Die fünf Pfeiler des Gesundheitssystems von morgen

Einleitung

Kapitel 10Neue Rollenverteilung: Patienten an die Macht – und in die Pflicht

Kapitel 11Digitale Gesundheitsdaten und Infrastruktur: Datenspenden ist das neue Blutspenden

Kapitel 12Präzision: Die Pille nur für mich

Kapitel 13Ergebnisorientierung und Transparenz: Bezahlt wird erst bei Lieferung

Kapitel 14Prävention: Vorsorge statt Reparatur

Glossar & Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen & Quellen

Vorwort

Ein Buch über die Chancen digitaler Technologien im Gesundheitswesen zu schreiben stellt eine besondere Herausforderung dar. Jeden Tag und überall auf der Welt entstehen Gesundheits-Apps und innovative Ansätze, um aus Patientendaten neue Therapien zu entwickeln. Sie haben die Kraft, die Rolle von Patienten und Ärzten neu zu definieren, medikamentenbasierte Therapien durch digitale zu ergänzen und aus einer «Reparaturmedizin» eine «Vorsorgemedizin» zu entwickeln. Auch besteht die große Chance, die in vielen Ländern unterfinanzierten und an ihrer Leistungsgrenze agierenden Gesundheitssysteme zu entlasten und viel mehr Menschen als bislang eine angemessene medizinische Versorgung zukommen zu lassen.

All diese technologischen Entwicklungen zu überschauen, zu durchdringen oder schon jetzt abschließend zu bewerten ist nicht möglich. So liefert das Buch keinen in allen Details ausgearbeiteten Entwurf über die digitalen Technologien im Gesundheitswesen, sondern entspricht eher den gesammelten Tagebüchern einer Reise, die noch gar nicht abgeschlossen ist. Gleichwohl erscheint es lohnenswert, diese Reise anzutreten, da jetzt die einmalige Chance besteht, unser Gesundheitssystem völlig neu zu denken und tatsächlich auch zu verändern. Es ist der Zeitpunkt gekommen, um diese digitalen Optionen im Gesundheitswesen auf die Bühne der gesellschaftlichen Diskussion zu befördern und damit einen Beitrag zu leisten, dass sie unser Leben zum Besseren verändern. Daher ist das Buch als Sachbuch für den interessierten Laien geschrieben, nicht als rein wissenschaftliches Werk oder Fachbuch. Es orientiert sich am Patienten und weniger an den Abläufen in Krankenhäusern oder Arztpraxen.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema hat auch uns Autoren bewegt und fasziniert, vor allem deswegen, weil es nur auf den ersten Blick um Technologie, Apps, Algorithmen, Daten und Sensoren geht. Viel spannender sind die Geschichten dahinter, das heißt die neuen Möglichkeiten, die die digitale Welt den Menschen eröffnet. Neben all den Chancen bewegt uns eine andere Einsicht ganz besonders: Noch immer besitzen keineswegs alle Menschen Zugang zu bester medizinischer Versorgung. Mithilfe von Apps, digitalen Arzthelfern, automatisierten Mini-Kliniken, Telemedizin und vielem anderen könnten künftig viel mehr Menschen, egal wo sie leben und welche finanziellen Möglichkeiten sie besitzen, kostengünstig und wirkungsvoll medizinisch versorgt werden. Damit tragen diese digitalen Technologien quasi zur Demokratisierung des Gesundheitswesens bei, was ein wichtiger Schritt ist, um Menschen gerade auch in Entwicklungsländern eine Perspektive zu vermitteln.

Die Pandemie 2019 hat uns vieles vor Augen geführt. Sie hat uns auch gezeigt, wie wichtig die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist, um es auch in Zeiten der physischen Distanz am Laufen zu halten und um schnell und zuverlässig Daten zu erfassen und zu konsolidieren, wenn die öffentliche Gesundheit in Gefahr ist. Zudem haben uns die zurückliegenden Monate gezeigt, dass wir als Gesellschaft zu Veränderungen in Richtung Digitalisierung fähig sind!

Bei aller Begeisterung für digitale Technologien – sie sind für uns nie Selbstzweck, sondern immer ein wichtiges Mittel, um die medizinische Versorgung der Menschen zu verbessern. Deshalb zielt dieses Buch nicht nur darauf ab, den Werdegang der Gesundheitssysteme zu skizzieren und digitale Anwendungen am Beispiel bestehender Start-ups und bereits etablierter Unternehmen oder Organisationen im Gesundheitssektor zu verdeutlichen. Vielmehr sollen auf Basis der technologischen Möglichkeiten die wesentlichen Wirkungsmuster und Eckpfeiler eines neuen Gesundheitswesens hergeleitet und ausgeführt werden. Diese stellen wir zur Diskussion, überzeugt davon, dass wir mit ihrer Umsetzung die medizinische Versorgung der Menschen zum Besseren verändern könnten. Mit den 25 Mustern und fünf Pfeilern des Gesundheitssystems von morgen wollen wir einen Diskurs anregen, Bestehendes infrage stellen, gerne auch anecken, Kritik und Zustimmung erfahren, aber viel wichtiger noch: den Weg aufzeigen zu einem wirkungsvolleren und effizienteren Gesundheitswesen.

Der Vergleich mit einem Laubbaum versinnbildlicht das Ziel, das wir mit diesem Buch verfolgen, vielleicht am greifbarsten: Wir wollen nicht nur Digitalisierungsbeispiele aus der ganzen Welt sammeln und sie einem bunten Blätterhaufen gleich darstellen. Vielmehr wollen wir anhand der Beispiele den Baum nachzeichnen, an dem die Blätter hängen – mit seinen Wurzeln, seinem Stamm, seinen tragenden Ästen und feingliedrigen Zweigen. Denn sie sind es, die dem Baum seine Struktur und Stabilität geben und ihn zu dem machen, was er ist: ein über Jahrzehnte beständiger Organismus, der sich dennoch laufend weiterentwickelt und erneuert, neue Triebe bildet und Ausgedientes abwirft. Die Blätter kommen und gehen jedes Jahr, Wurzel, Stamm und Äste bleiben.

Dieses Werk befasst sich mit den wichtigsten fünf chronischen Krankheiten – Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen, Diabetes, Krebs und psychische Erkrankungen wie Depressionen. Sie verursachen enormes Leid bei den Patienten und beeinträchtigen die Lebensqualität vieler Menschen. Sie sind auf dem Vormarsch und bringen die Gesundheitssysteme vieler Länder an die Belastungsgrenze. Die gute Nachricht ist jedoch, dass diese chronischen Krankheiten durch einen entsprechenden Lebensstil und eine medizinische Vorsorge verhindert oder zumindest abgeschwächt werden können. Genau hier kommen die digitalen Technologien ins Spiel, mit deren Hilfe Lebensstile verändert, die Vorsorge und medizinische Betreuung verbessert und innovative Therapien entwickelt werden können. Gelingt uns dies, können wir nicht nur das Leid der Menschen mindern, sondern auch die Gesundheitssysteme entlasten. Wir zeigen die digitalen Muster des Gesundheitswesens am Beispiel der chronischen Krankheiten, weil sie global das größte Leid und die höchsten gesellschaftlichen Kosten verantworten. Die meisten Muster gelten jedoch genauso für akute und ansteckende Krankheiten.

Wir haben das Buch in drei Teile gegliedert. Jeder Teil kann für sich gelesen werden ohne Vorwissen aus den anderen Teilen. Wer Interesse an der Entwicklung und den Konsequenzen der chronischen Krankheiten hat, der steigt bei Teil 1 ein. Wer sich gleich in die 25 Muster der Digitalisierung stürzen will, der kann das Buch mit Teil 2 beginnen. Teil 3 fasst die Erkenntnisse der ersten beiden Abschnitte zu fünf Pfeilern des Gesundheitssystems von morgen zusammen.

In der engsten Auslegung bedeutet Digitalisierung lediglich das Übersetzen von Informationen in ein digitales, maschinenlesbares Format. Wenn wir in diesem Buch von Digitalisierung sprechen, so meinen wir die umfassende Auslegung des Begriffes: die Anwendung aller möglichen Informationstechnologien, um neue Produkte, Dienstleistungen, Kundenerlebnisse, Formen der Zusammenarbeit und Geschäftsmodelle hervorzubringen. Und was meinen wir mit dem Buchtitel Die digitale Pille? Unter der in sich schon fast widersprüchlichen und daher anregenden Begriffskombination verstehen wir nicht nur eine Tablette oder Therapie, die Bits und Bytes enthält, sondern jeglichen Einsatz von digitalen Technologien, der unser Gesundheitssystem verändert, den medizinischen Fortschritt beschleunigt oder neue Therapie- oder Vorsorgemöglichkeiten schafft.

Dieses Buch hätte nie geschrieben werden können ohne die inspirierenden, kritischen und erhellenden Gespräche mit vielen Menschen, die daran arbeiten, digitale Technologien für das Gesundheitswesen zu entwickeln und am Markt zu erproben. Troy Cox, Dough Hirsch, Andrew Thompson, Nat Turner, Zach Weinberg, Frank Westermann, Torsten Wirkes und viele andere – sie alle werden mit ihrer medizinischen Erfahrung, ihrem Pioniergeist und Unternehmergeist in den nächsten Jahren unseren Umgang mit digitalen Therapien prägen. Mit ihrem Wissen tragen sie maßgeblich dazu bei, dass Apps, innovative Datenanalysen und vieles mehr ihren Weg ins Gesundheitswesen finden werden. Wir bedanken uns, dass sie sich Zeit genommen haben, um mit uns ihre Erkenntnisse und Überzeugungen zu teilen.

Viele Ärzte, Mitarbeiter, Kollegen, Experten und herausragende Persönlichkeiten aus Medizin, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben uns Anregungen und Impulse vermittelt. Unser Dank gilt ihnen allen für die Bereitschaft, all ihr Wissen und alle ihre Erfahrungen einzubringen. Zu ihnen zählen Lisa Marsch, Gerald Fleisch, David Gorgan, Tobias Kowatsch, Tim Jäger, Joseph Kvedar, Dave Kotz, Sandy Pentland, Florian von Wangenheim, Florian Wirth und Felix Wortmann. Besonders wertvoll waren die detaillierten, kritischen Reviews, Hinweise und Kommentare von Martin Brutsche, Thierry Carrel, Steffi Gassmann und Christoph Stettler sowie auch jene von Daniel Grotzky. Er hat die Entstehung dieses Buchs von Anfang an begleitet und überall dort, wo wir uns nicht sicher waren, stets den Rat seiner medizinischen Kollegen bei der F. Hoffmann-La Roche AG eingeholt. Ganz besonders danken wir Niall Kennedy vom Emerald Verlag und Patrik Ludwig vom Campus Verlag für ihre Unterstützung. Sie konnten sich von Anfang an für dieses Projekt begeistern.

Wir hoffen, dass ein Buch entstanden ist, das aus vielfältigen Perspektiven dazu beiträgt, eine offene, ehrliche, vielschichtige und differenzierte Diskussion über die digitalen Anwendungen im Gesundheitswesen zu führen. Wir Autoren sind enorm inspiriert von den Möglichkeiten der Digitalisierung. Und auch uns bewegen die Fragen und Herausforderungen, die in diesem Zusammenhang entstehen und in diesem Buch angesprochen werden.

Elgar Fleisch

Christoph Franz

Andreas Herrmann

Annette Mönninghoff

Quelle: Eigene Darstellung

Geleitwort

Die Gesundheitssysteme dieser Welt kommen durch Erfolge moderner Medizin an ihre Belastungsgrenzen – die sich einseitig drehende Kostenspirale gefährdet zunehmend den Zugang sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen und hierdurch vermehrt den sozialen Frieden. Kann die »digitale Pille« unsere Gesundheitssysteme mit einem veritablen Quantensprung kurieren?

Grundsätzlich steht jedes Gesundheitssystem unter einem erheblichen Veränderungs- und Digitalisierungsdruck. Bereits heute wäre vieles machbar. Trotzdem werden von vielen Dienstleistern häufig nach innen gerichtete Papierprozesse digitalisiert und die Chance einer echten partnerschaftlichen digitalen Transformation vertan. Selten resultiert durch neue Anwendungen mehr Zeit für die praktische Arbeit am Patienten – meist rückt die Computerarbeit mehr und mehr in den Vordergrund. Dabei steht für die einzelnen am Veränderungsprozess Beteiligten zu viel auf dem Spiel – Ängste um Mindereinnahmen, der Verlust des Arbeitsplatzes oder potenziell weniger interessante Arbeitsinhalte dominieren den Diskurs. So findet weltweit eine Vernichtung von Geld aufgrund von wenig nachhaltigen IT-Insellösungen statt. Auch die Mühlen der Gesetzgebung, die ausgeprägte Segmentierung im Gesundheitsmarkt, die Trägheit der Zulassungsbehörden und schließlich die allseitig weit verbreitete Angst vor Veränderung leisten ihren Beitrag zur Konservierung des Status quo. Es gilt zu bedenken, dass Veränderungen in Gesundheitssystemen nicht nur die im Gesundheitsmarkt tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern grundsätzlich jeden Bürger und somit uns alle betreffen. Die Geheimhaltung der Privatsphäre jedes Einzelnen stellt höchste Ansprüche an Ethik, Prozesse und Technik und wirft die Frage auf, wem die Daten gehören sollen, wer diese verwaltet und wer daran Bares verdient. Obwohl die Privatsphäre ungeteilt dem Individuum gehört, kann jedes Individuum durch das Beisteuern seiner anonymisierten Gesundheitsdaten jedweder Herkunft einen wichtigen Beitrag für die Gesundheit der gesamten Gesellschaft leisten. Dabei ist die Masse an Daten entscheidend – je mehr, je vollständiger und je besser die Qualität der Daten, desto größer das Potenzial, das mittels künstlicher Intelligenz gehoben werden kann. Der notwendige gesellschaftspolitische Kraftakt, der zumindest in westlich geprägten Demokratien notwendig ist, um eine solche Datenallianz auf die Beine zu stellen, ist vergleichbar mit der Leistung, die im Europa des 20. Jahrhunderts zu den wichtigen Sozialwerken geführt hat. Erzielte Erträge gehören, einem logischen Schluss folgend, den Innovatoren am Gesundheitsmarkt, aber hauptsächlich dem Individuum und der Gesellschaft. In der Tat scheinen die Hürden dieser Anforderungen und Erwartungen übermenschlich hoch. Digitale Transformation braucht Zeit für Kulturwandel und sozialen Schulterschluss.

Die Steuerung von Gesundheitssystemen läuft in vielen Ländern über die Finanzierung. Die Medizin hängt sozusagen am »Geld-Tropf«. Es regiert ein unheiliger, pseudo-freier Gesundheitsmarkt, der auf Geldanreize reagiert. Häufig erfolgt die Steuerung nicht nach medizinischen Kriterien, sondern ist im kompartimentalisierten Gesundheitssystem den Partikularinteressen der Dienstleister und Berufsgruppen ausgesetzt. So besteht das immanente Risiko, dass das Verlagern von neuen Anreizen zu weiteren Verzerrungen im Gesundheitsmarkt führt, die nicht ausreichend am Patientennutzen ausgerichtet sind. Solange genügend Ressourcen im System verfügbar sind, besteht wenig Druck für revolutionäre Veränderung. Es gilt die Volksweisheit »(Erst) Not macht erfinderisch«. Gesundheitssysteme bringen aber Volkswirtschaften überall auf der Welt in absehbarer Zeit in Bedrängnis, sodass der Umstand von Not langsam, aber sicher die Welt erfassen wird beziehungsweise in ärmeren Regionen dieser Welt nie einen Status außerhalb von Not erreichen konnte. Veränderung wird also kommen – lasst sie uns rechtzeitig und kontrolliert angehen.

Die Covid-19-Pandemie seit dem Frühjahr 2020 hat der Welt im Zeitraffer aufgezeigt, wie es funktionieren könnte. Auf einmal mussten innerhalb von Tagen medizinische Konzepte auf die Beine gestellt werden. Die medizinische Erkenntnis änderte sich teils im Stundenrhythmus – selbst Gesundheitsprofis waren auf ausschließlich internetbasierte Information angewiesen. Auf einmal fand während des Lockdowns in vielen Ländern eine kleine Revolution der Arbeitsmodalitäten statt. Homeoffice, virtualisierte Meetings und Veranstaltungen der Aus-, Fort- und Weiterbildung wurden salonfähig. Nachdem primär alle Veranstaltungen abgesagt wurden, entstanden binnen weniger Wochen digitale Angebote, die nach kurzer Zeit mehr als nur Behelfslösungen wurden und sich nachhaltig durchgesetzt haben. Innerhalb von Tagen wurden plötzlich Konsultationen via Videotelefonie abrechenbar, rege benutzt und geschätzt. Der Einsatz von Contact Tracing Apps wurde aufgrund des zu erwartenden Nutzens plötzlich höher bewertet als die absolute Privatsphäre von Bürgern – ein Novum zumindest für Europa. Veränderung geht also!

Digitale Transformation braucht einen Kulturwandel – einen Blick aus der Vogelperspektive und von außen. Und genau hier ist dieses Buch eine Goldgrube, aus der es zu schürfen lohnt. Strikt Hegelscher Dialektik folgend, kartografiert dieses Buch in verständlicher und angenehm zu lesender Sprache den IST-Zustand der Gesundheitssysteme dieser Welt. Dies im Hinblick auf deren aktueller Tragfähigkeit bei der Bewältigung der Herausforderung, Prävention, Behandlung und Kosten der immer häufiger werdenden Nichtübertragbaren Erkrankungen vor dem Hintergrund der sich verändernden Bevölkerungspyramide mit zunehmender Überalterung stemmen zu können. Das Buch skizziert dabei das immense, derweil nicht ausgeschöpfte Potenzial der digitalen Transformation im Bereich der Gesundheitserhaltung und Therapie, aus dem sich schließlich, wie Phönix aus der Asche, ein realistisches und positiv-geprägtes ZIEL-Bild für ein den Herausforderungen gewachsenes Gesundheitssystem ergibt. Das Buch ist reichhaltig mit anschaulichen und berührenden Beispielen aus verschiedenen Ecken dieser Welt bebildert. Vermittelt werden 25 praktische Lösungsansätze, im Buch »Muster« genannt, die kombiniert die Resilienz, Fitness und Agilität von Gesundheitssystemen verbessern und somit den Erfolg für Patienten materialisieren lassen. Gebührend Erwähnung findet dabei die weltweit äußerst kreative und wegweisende Start-up-Szene im Bereich der digitalen Gesundheit und Medizin. Möglichen Risiken der neuen Technologien wird genügend Raum gegeben. Schließlich gibt es keine Entwicklung, die neben positiven nicht auch negative Effekte zulässt. Letzteren gilt es, mit geeigneten flankierenden Maßnahmen entgegenzutreten. Den Risiken der digitalen Transformation müssen auch die Risiken einer Auslassung beziehungsweise verspäteten Umsetzung gegenübergestellt werden.

Es muss und wird uns gelingen, mittels digitaler Medizin zukunftsgerichtete Gesundheitssysteme zu konsolidieren, die den Herausforderungen der zunehmenden Nichtübertragbaren Krankheiten der alternden Gesellschaft mittels vermehrter Anstrengungen im Bereich der Gesundheitserhaltung, smarter Betreuungsmodelle und Therapien, digital unterstützter Forschung und Innovation gewachsen sind. Durch die Skalierbarkeit der digitalen Gesundheit und Medizin kann der Zugang allen Bevölkerungsschichten, Gruppierungen, Regionen und selbst Ländern dieser Welt im Sinne eines kostengünstigen Gesundheitssystems gewährt werden.

Prof. Dr. Dr. Martin Brutsche

Chefarzt Klinik für Pneumologie und Schlafmedizin, KSSG und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Pneumologie (bis 2018)

Im Mai 2020

Teil I – Wird das Gesundheitssystem Opfer seines Erfolgs?

Kapitel 1Der medizinische Fortschritt ist eine Erfolgsgeschichte mit Folgen

Zusammenfassung

Die Kernthesen in diesem Kapitel:

Der medizinische Fortschritt der vergangenen 100 Jahre ist das Investment des Jahrhunderts. Innerhalb von nur 100 Jahren hat sich unsere Lebenserwartung verdoppelt.

Antibiotika und Impfungen waren entscheidend im Kampf gegen Infektionskrankheiten.

Der medizinische Fortschritt ist eine Erfolgsgeschichte mit Folgen: Wir leben länger, aber bezahlen immer mehr für die Behandlung von Krankheiten.

Die Lebenserwartung steigt, nicht aber immer die Lebensqualität im Alter. Die dazugewonnenen Jahre werden vielfach von chronischen Krankheiten begleitet. Wir überleben dank medizinischem Fortschritt Krankheiten wie Herzinfarkte oder Krebserkrankungen heute besser, jedoch leben wir als Konsequenz immer häufiger mit Krankheiten.

Ohne die Solidargemeinschaften der Krankenversicherten oder der Steuerbürger (bei staatlicher Finanzierung) kommt der medizinische Fortschritt nicht bei allen Menschen an.

Mehr als die Hälfte aller Amerikaner, die Privatinsolvenz anmelden, tun dies aufgrund von unbezahlten Arztrechnungen.

Alles beginnt mit einer guten Nachricht: Innerhalb von nur 100 Jahren hat sich unsere Lebenserwartung verdoppelt. Und das nicht nur in wohlhabenden, entwickelten Ländern. Anfang des 20. Jahrhunderts konnte ein Mensch damit rechnen, etwa 40 bis 46 Jahre alt zu werden. Inzwischen ist die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit betrachtet auf 72 Jahre gestiegen. In Indien lebt ein Mensch heute gar dreimal so lange wie seine Vorfahren vor 100 Jahren; dort hat sich die Lebenserwartung von 24 Jahren Anfang des 20. Jahrhunderts auf stolze 69 Jahre erhöht.1 Hinter diesen Zahlen stecken Milliarden von Menschenleben, die heute wohlhabender, gebildeter und länger leben als je eine Generation auf diesem Planeten zuvor. Wenn man bedenkt, dass es uns Menschen bereits seit mehr als 150 000 Jahren gibt, dann sind diese Entwicklungen innerhalb von nur 100 Jahren als geradezu spektakulär zu bezeichnen.

Was hat diesen unglaublichen Erfolg möglich gemacht? Natürlich ist nicht allein der medizinische Fortschritt dafür verantwortlich. Auch der wachsende Wohlstand, die bessere Ernährung und die gestiegene Hygiene – sauberes Trinkwasser, geregelte Müll- und Abwasserentsorgung – sowie die Befriedung Europas und der Welt nach den Weltkriegen haben ihren Beitrag geleistet. Der entscheidende Grund für den Anstieg der Lebenserwartung ist jedoch der Fortschritt bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Diese waren bis vor wenigen Jahrzehnten die häufigste Todesursache; sie kamen allzu oft einem Todesurteil gleich und rissen Menschen in großer Zahl bereits in der Kindheit aus dem Leben. Anfang des 20. Jahrhunderts starb in den USA noch jedes zehnte Kind vor seinem ersten Geburtstag. Die häufigsten Todesursachen für Kleinkinder waren damals Lungenentzündungen, Grippe, Tuberkulose oder Magen-Darm-Infekte.2

Doch dann wendete sich das Blatt. Zwei medizinische Entwicklungen sind mehr als alle anderen für die gestiegene Lebenserwartung verantwortlich. Es handelt sich um besonders wirkungsvolle Waffen im Kampf gegen Infektionskrankheiten: Antibiotika und Impfungen. Die Geschichte von der Entdeckung des Penicillins als erstem Antibiotikum ist legendär, fast jeder hat sie während seiner Schulzeit erzählt bekommen: Der Bakteriologe Alexander Fleming betrat nach einem ausgedehnten Sommerurlaub mit der Familie sein Labor in London. Er hatte einen Ruf als exzellenter Forscher, war aber auch für seine Unordnung bekannt. Vor seinem Urlaub hatte Fleming einige Bakterienkulturen in Petrischalen angesetzt. Als er diese nach seiner Rückkehr betrachtete, fiel ihm auf, dass eine der Kulturen verunreinigt war. In der Petrischale wuchs Schimmel. Bei genauem Hinschauen fiel Fleming auf, dass um den Schimmelpilz herum die Bakterienkultur zurückgegangen war. Er begann daraufhin, diesen Schimmelpilz zu untersuchen, und fand heraus, dass er der Gruppe Penicillium angehörte. Deshalb nannte er die neue Substanz, die er daraus gewann, Penicillin – das damals wirkungsvollste Mittel gegen bakterielle Infektionen.

Mit Flemings Entdeckung begann das Zeitalter der Antibiotika. »Manchmal findet man, was man nicht sucht. Als ich am 28. September 1928 kurz nach Sonnenaufgang aufwachte, hatte ich sicherlich nicht vor, die gesamte Medizin zu revolutionieren, indem ich das weltweit erste Antibiotikum oder den ersten Bakterienkiller entdeckte. Aber ich nehme an, das war genau das, was ich getan habe«3, sagte Fleming später. Antibiotika wie Penicillin haben Hunderte Millionen von Menschenleben gerettet. Genaue Schätzungen sind schwierig, allein Antibiotika der Firmen Pfizer, GlaxoSmithKline und Roche wurden seit ihrer Zulassung milliardenfach verschrieben. Zudem ermöglichten diese medizinischen Fortschritte wie Organtransplantationen, die ohne Antibiotika nur schwer denkbar gewesen wären.

Neben den Antibiotika trug die Entwicklung von Impfstoffen einen großen Teil zur höheren Lebenserwartung bei. Besonders deutlich wird der Erfolg von Impfungen, wenn man auf die erste virale, also durch Viren verursachte Erkrankung schaut, für die eine Impfung entwickelt wurde: die Pocken. Wolfgang Amadeus Mozart hatte sie, Abraham Lincoln und Josef Stalin ebenfalls. Die drei überlebten, zum Teil schwer gezeichnet. Pocken sind eine der gefährlichsten und tödlichsten Krankheiten für den Menschen – jeder dritte Mensch, der an Pocken erkrankt, erliegt den Folgen. Noch im 20. Jahrhundert starben mehr als 300 Millionen Menschen an den Pocken, seit 1980 gilt die Krankheit als ausgerottet.4

Der Grund? Die Erfindung und Verbreitung der Pockenimpfung! Bei einer Impfung werden gesunden Menschen abgeschwächte Viren verabreicht, die die Bildung von Antikörpern im Immunsystem anregen. Kommt der Geimpfte später in Kontakt mit dem eigentlichen Erreger, ist sein Immunsystem vorbereitet und kann das Virus bekämpfen.

Edward Jenner, ein Landarzt aus England, gilt als einer der Väter der heute weit verbreiteten Massenimpfungen. Viele seiner Patientinnen waren Melkerinnen, die häufig an Kuhpocken, einer abgemilderten Form des Pockenvirus, erkrankten. Und Jenner fiel auf, dass keine der Melkerinnen die gefährliche oder sogar tödliche Form des menschlichen Pockenvirus bekam. Er entwickelte daher eine Methode, bei der er das Sekret aus einer Kuhpockenerkrankung gesunden Menschen verabreichte, darunter auch seinem eigenen Sohn. Die Probanden durchlebten danach eine leichte Pockenerkrankung. Später infizierte Jenner dieselben Personen mit dem gefährlichen Pockenvirus – und wundersamerweise blieben sie gesund. Damit war die Massenimpfung geboren, die bis heute als Vakzination bezeichnet wird und damit auf den Ursprung ihrer Erfindung verweist. Denn »vacca« bedeutet auf Lateinisch nichts anderes als »Kuh«.5

Die Aufgabe ist nicht zu Ende. Infektionskrankheiten müssen weiter in Schach gehalten werden, dies zeigte zuletzt schmerzhaft die Corona-Virus-Pandemie. Es muss an neuen Generationen von Virostatika oder Impfstoffen geforscht werden, neuartigen Viren und Bakterien muss durch gute Pandemievorbereitung begegnet werden. Die Skepsis vor Impfungen in Teilen der Bevölkerung und somit zu niedrige Impfraten verursachten ein Wiederaufflackern von fast vergessenen Krankheiten wie Masern. Auch hier sind Intervention und Überzeugungsarbeit wichtig. Aber fest steht: Impfungen und Antibiotika haben zu einer Wende in der Bekämpfung der Infektionskrankheiten geführt, die zu einer fundamentalen Veränderung in unserem Verständnis von Gesundheit wurde. 1990 lässt sich noch jeder dritte Todesfall weltweit auf Infektionskrankheiten zurückführen, heute nur noch weniger als jeder fünfte. Mit diesen Fortschritten stieg auch die Lebenserwartung an, zuletzt von 65 Jahren im Jahr 1950 auf heute 72 Jahre. Diese Entwicklung zeugt vom Erfolg des medizinischen Fortschritts, ist aber auch Quelle von neuen Herausforderungen.

Wir werden älter und sterben seltener an Infektionskrankheiten: Lebenserwartung und Anteil Todesfälle aus Infektionskrankheiten

Quelle: Institute for Health Metrics and Evaluation, University of Washington (2019)

Gewonnene Jahre – Krankheitsjahre?

Zusätzliche Lebensjahre bedeuten zumeist zusätzliche Lebensqualität. Früher war es normal, dass in einer Familie mindestens ein Kind früh starb. Ein Urenkelkind zu erleben war selten. Die Lebenserwartung beispielsweise in Deutschland schnellte zwischen 1950 und 2000 von 64,6 Jahren für Männer und 68,5 Jahren für Frauen auf 78,4 beziehungsweise 83,4 Jahre hoch.6 Doch das verlängerte Leben stellt Gesellschaft und Einzelne auch vor neue Probleme.

Der medizinische Fortschritt hat nicht nur zum Rückgang von Infektionskrankheiten geführt, sondern erlaubt es auch, viele nicht ansteckende Krankheiten erfolgreich zu behandeln, die vor 100 Jahren fast sicher zum Tod geführt hätten, wie Herz-Kreislauf-Schwächen oder Krebs. Dabei gibt es allerdings einen fundamentalen Unterschied zur Bekämpfung von Viren und Bakterien: Anders als Infektionskrankheiten werden Nichtübertragbare Krankheiten häufig nicht gestoppt – sondern nur aufgehalten oder verlangsamt. Eine Studie der University of Southern California zeigt, dass wir nicht per se »gesünder« geworden sind und daher länger leben. Vielmehr überleben wir dank medizinischem Fortschritt Krankheiten wie Herzinfarkte oder Krebserkrankungen heute besser, jedoch leben wir als Konsequenz immer häufiger mit Krankheiten.7

Vor den großen medizinischen Innovationen des 20. Jahrhunderts stand oft genug am Ende einer Krankheit entweder der Tod oder die Genesung. Heute sind viele der gewonnenen Jahre oft zugleich Jahre, in denen eine oder mehrere Krankheiten einen Menschen begleiten. Das kann erhebliches Leid für Erkrankte und deren Angehörige mit sich bringen und stellt Gesundheitssysteme vor neue Herausforderungen.

Gesundheitsökonomen haben dafür Ende der 1990er-Jahre eine Kennzahl entwickelt, die sie YLD nannten. YLD steht für »Years Lost to Disability« – auf Deutsch kann diese Statistik mit »Krankheitsjahren« übersetzt werden. Gemeint sind Jahre, die man »verloren« hat, weil man sehr stark durch seine Krankheit eingeschränkt war. Manchmal wird die Kennzahl auch als »Years Lived with Disability« übersetzt, was ein etwas milderes Bild zeichnet: Jahre, die man mit Einschränkungen lebt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berechnet diese Kennzahl, indem sie die prozentuale Anzahl der Erkrankten mit der durchschnittlichen Dauer einer Krankheit und einem Gewichtungsfaktor multipliziert.8 Der Gewichtungsfaktor beurteilt die gesundheitliche Beeinträchtigung durch eine Krankheit. Diese ist zum Beispiel bei Diabetes geringer als bei Krebserkrankungen.

Wir leben viele Jahre mit Krankheiten: Krankheitsjahre in Millionen

Quelle: World Health Organization (2017). Die durch Infektionskrankheiten verursachten Krankheitsjahre inkludieren maternelle, perinatale und ernährungsbezogene Fälle

Schaut man nun den Trend der Krankheitsjahre an, erkennt man einen steilen Anstieg, seit der Jahrtausendwende um etwas mehr als ein Viertel. Das heißt: Weltweit leben immer mehr Menschen mit einer schweren Krankheit. Viele leiden über Jahre hinweg, sind teilweise arbeitsunfähig und im Alltagsleben sehr eingeschränkt. Weltweit summierten sich im Jahr 2016 diese Krankheitsjahre auf 767 Millionen. Treiber hinter dieser Entwicklung sind nicht übertragbare, chronische Krankheiten, die im Fachjargon »NCDs« genannt werden: Non Communicable Diseases. Besonders stark war in den vergangenen Jahren der Anstieg von psychischen Krankheiten. Wir werden auf die NCDs später im Buch noch ausführlich eingehen.

Dauer des Lebens und Lebensqualität gehen nicht immer Hand in Hand. Nur weil wir Krankheiten heute öfter »überleben« als früher, wird das menschliche Leiden nicht weniger.

Als Zwischenbilanz bleibt festzuhalten: Der medizinische Fortschritt ist eine Erfolgsgeschichte. Wir werden immer älter, aber wir leben auch immer länger mit Krankheiten. Diese verursachen oft großes menschliches Leid für die Betroffenen und deren Familien.

Die Erfolge der Medizin bringen auch neue Herausforderungen

Neben Impfungen und Antibiotika hat die Medizin in den vergangenen 100 Jahren viele weitere neue Diagnosemethoden und Therapieansätze hervorgebracht, die den Kampf gegen Krankheiten erleichtern. Bildgebende Verfahren wie Computertomografen, Ultraschall- und Röntgengeräte helfen Ärztinnen und Ärzten dabei, Krankheiten zu diagnostizieren. Mit Strahlentherapien, chirurgischen Eingriffen und Chemotherapien lässt sich Krebs bekämpfen, und Dialysegeräte säubern das Blut bei Nierenversagen. Die Liste der Erfolge ist umfassend und bedeutsam.

Was sind die Folgen des Erfolgs? Wir leben immer länger, wir leben in größerem Wohlstand, wir siegen immer öfter im Kampf gegen Krankheiten. Immer mehr Großeltern dürfen nicht nur erleben, wie ihre Enkel auf die Welt kommen, sondern auch, wie sie heranwachsen und gedeihen, eine Ausbildung absolvieren, heiraten und eine Familie gründen. Dies war früher keineswegs selbstverständlich. Dieser Erfolg bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich.

Ökonomische Folgen

Die Medizin wurde in den vergangenen Jahren durch den Fortschritt immer teurer. Die krankheitsbezogenen Kosten steigen seit Jahren erheblich. Schauen wir uns dies am Beispiel von Nierenversagen an: Es war einst gleichbedeutend mit einem Todesurteil – heute überleben diese Patienten dank Dialyse und Nierentransplantationen viele Jahre. Die Kosten für eine Dialysebehandlung belaufen sich in Deutschland pro Patient und Jahr auf mehr als 25 000 Euro.9 Wo früher keine Kosten entstanden, müssen heute Hunderttausende Euro aufgebracht werden. Eine wichtige Frage, die daraus resultiert: Wer zahlt dafür?

Historisch war das natürlich der Patient und seine Familie, bis sich ab Anfang des 20. Jahrhunderts die Solidargemeinschaften der Krankenversicherten oder der Steuerbürger bei staatlich finanzierten Gesundheitssystemen herausbildeten. In der Praxis findet man in vielen Ländern heute Mischformen aus diesen drei Finanzierungssäulen.

Nicht immer werden heute die Kosten ganz oder überwiegend von der Solidargemeinschaft getragen. Für viele Menschen bedeutet Krankheit ökonomische Unsicherheit. Besonders in Ländern ohne eine obligatorische, allgemeine Krankenversicherung wie den USA, den meisten afrikanischen Ländern und einigen asiatischen Staaten führt Krankheit nicht selten zum Verlust des erarbeiteten Wohlstandes. Während in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz selten jemand wegen einer schweren Erkrankung massiv in sein Vermögen eingreifen muss, schlittern in Afrika jährlich schätzungsweise elf Millionen Menschen in die Armutsfalle, weil sie die Kosten für eine medizinische Behandlung durch Kredite finanzieren müssen oder diese nicht mehr zahlen können.10 In Indien kommen Patienten für 62 Prozent aller Krankheitskosten privat auf. Viele leben deshalb in großer Sorge: Nicht nur die Krankheit selbst macht ihnen Angst, sondern vor allem die finanziellen Folgen, die ihre Existenz gefährden können.11

In einer ganz besonderen Situation sind viele Menschen in den USA. In wohl keinem anderen Land ist der Gegensatz zwischen den enormen Errungenschaften des medizinischen Fortschrittes und einem herausgeforderten Gesundheitswesen eklatanter. In keinem anderen Land wird mehr medizinische Forschung betrieben oder werden neue Medikamente schneller zugelassen, nirgendwo gibt es so viele Spitzenspitäler oder Pharma- und Biotech-Firmen. Doch zugleich steht das Land in bestimmten Bereichen seit Langem vor echten Herausforderungen in der Versorgung aller Bevölkerungskreise mit moderner Medizin.

Eindrücklich zeigt sich die finanzielle Not von Menschen ohne Krankenversicherung auch, wenn man sich die amerikanische Plattform »Go Fund Me« anschaut. Auf der Seite können Spendenaufrufe gestartet werden, die sich dann viral über das Internet verbreiten lassen. Meistens spenden Hunderte Menschen jeweils kleine Summen von 5 bis 50 US-Dollar. Die Schicksale, die den Spendenaufrufen zugrunde liegen, sind oft herzzerreißend. Auf der Plattform finden sich neben Müttern und Vätern, die wegen ihrer Krebserkrankung ihre Familie nicht mehr finanziell versorgen können, auch Eltern von kleinen, schwerkranken Kindern, die mit der Last der medizinischen Kosten überfordert sind. Wie muss es sich anfühlen, seinem kranken Kind nicht die beste medizinische Versorgung zukommen lassen zu können, weil das nötige Geld fehlt?

Rund ein Drittel aller Spendenaufrufe auf »Go Fund Me« sind medizinischer Natur. Jedes Jahr wenden sich rund 250 000 verzweifelte Amerikaner an ihre Mitmenschen, weil sie mit den Kosten ihrer Krankheit überfordert sind. Pro Jahr kommen so mehr als 650 Millionen US-Dollar zusammen, die manchmal Leben retten.12

Für Anamaria Markle, eine Frau aus New Jersey, wurden die medizinischen Kosten irgendwann untragbar. Die britische Zeitung Guardian berichtete von ihrem tragischen Fall.13 Mit 50 Jahren erhielt Anamaria die Diagnose, dass sie an Eierstockkrebs erkrankt war, kurz darauf verlor sie ihren Job und damit auch ein Jahr später ihre Krankenversicherung. Sich privat zu versichern konnte sie sich schlicht nicht leisten. Die Rechnungen für Operationen, Chemotherapie und Medikamente stapelten sich. Mit nur 52 Jahren starb Anamaria Markle an ihrer Krebserkrankung, weil sie kein Geld mehr für eine weitere Behandlung hatte. Sie hinterließ zwei Töchter.

Schicksale wie jenes von Anamaria zeigen, dass der medizinische Fortschritt nicht zwangsläufig bei allen ankommt. In Systemen ohne allgemeine Krankenversicherung führt er zu einer Zweiklassenmedizin, in der Reiche den Zugang zu moderner Medizin haben, ärmere Menschen aber nicht mehr mithalten können. Es ist ein unbarmherziges System, das zeigt auch eine eindrückliche Statistik: Was ist der häufigste Grund für Privatinsolvenzen in den USA? Antwort: Arztrechnungen!14

Doch es gibt auch einen Hoffnungsschimmer, in Asien zum Beispiel, wo Regierungen versuchen, die ökonomischen Folgen von Krankheit zu lindern.

China unternimmt derzeit große Kraftanstrengungen, um das Gesundheitswesen zu reformieren und seiner Bevölkerung auch neue, innovative Spitzenmedizin zukommen zu lassen. Die Regierung hat seit 2008 die Ausgaben für Gesundheit – allerdings ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau – mehr als vervierfacht, das Spitalwesen überholt und die Zulassung und Vergütung für neue Medikamente beschleunigt.15

Thailand hat 2002 ein allgemeines Krankenversicherungssystem eingeführt. Zuvor war nur jeder vierte Thailänder krankenversichert. Heute haben dank des steuerfinanzierten Systems auch ärmere Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung.16

Auch Indien hat 2018 eine Krankenversicherung eingeführt, die weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten Zugang zu medizinischer Versorgung geben soll. 500 Millionen Menschen können sich in dem Programm mit dem Namen »Ayushman Bharat« versichern. Der Guardian berichtete in einer Reportage beispielhaft von Rajiv Gupta, einem Schneider, dessen Mutter dringend eine künstliche Hüfte gebraucht hätte. Sie konnte vor Schmerzen nicht mehr gehen.17 Die Kosten für die Operation beliefen sich auf über 2 000 Euro, was die finanziellen Mittel von Rajiv überstieg. Durch die neue Krankenversicherung kam seine Mutter dann doch noch zu ihrer neuen Hüfte. Thailand und Indien sind beeindruckende Beispiele, wie selbst Schwellenländer eine medizinische Grundversorgung der ganzen Bevölkerung zukommen lassen können.

Demografische Folgen

Die Erfolge in der Medizin führen zu einem erheblichen demografischen Wandel, und auch dieser treibt unsere Gesundheitskosten in die Höhe. Wir werden heute doppelt so alt wie noch vor 100 Jahren. Gleichzeitig bekommen wir besonders in den hoch entwickelten Industriestaaten weniger Kinder. Begünstigt durch den wachsenden Wohlstand, die sexuelle Aufklärung und die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln ging die Geburtenrate seit 1950 um die Hälfte zurück, von fünf Geburten pro Frau auf durchschnittlich nur noch 2,5. Die Folgen sind bereits deutlich sichtbar. Die Studie eines Forscherteams aus Singapur sagt voraus, dass im Jahr 2050 jeder fünfte Mensch über 80 Jahre alt sein wird. In den wohlhabenden, entwickelten Ländern wird sogar fast jeder dritte über 80 Jahre alt sein.18

Quelle: Eigene Darstellung

Dies hat gravierende Auswirkungen auf unser Gesundheitssystem. Mit dem Alter werden wir anfälliger für Krankheiten, unser Körper wird verletzlicher, und unser Immunsystem und unsere Organe werden schwächer. Je älter wir werden, desto höher ist die Gefahr, dass wir an Krebs erkranken. Die medizinischen Kosten in den USA für Menschen über 65 sind viermal so hoch wie die für jene zwischen 20 und 45.19 In Europa zeigt sich ein ähnliches Bild. Ein Blick auf die Schweiz verdeutlicht, dass die Gesundheitskosten auch dort nach dem 65. Lebensjahr exponentiell steigen. Ein Mensch über 80 verursacht dort mehr als doppelt so hohe Kosten wie ein 60-Jähriger.20 Was bedeutet die Alterung der Gesellschaft für die Gesundheitskosten, und wer soll das bezahlen?

Der Erfolg des Gesundheitssystems bringt neue Probleme: Wir finden immer gewieftere Wege, Krankheiten zu bekämpfen, leben immer länger – vielfach mit einer hohen Lebensqualität. Zugleich nehmen für viele von uns die Jahre zu, in denen wir von Krankheiten gezeichnet leben, an denen wir leiden. Als Einzelne und als Gesellschaft stoßen wir an die Grenzen des Finanzierbaren. Das Gesundheitssystem ist in Gefahr, aus den Fugen zu geraten – gerade, weil es so wirksam ist.

Kapitel 2Chronische Krankheiten strapazieren unser Gesundheitssystem

Zusammenfassung

Die Kernthesen in diesem Kapitel:

Chronische Krankheiten (NCDs) sind die neue, große Herausforderung für das Gesundheitswesen. Milliarden von Menschen weltweit leiden an Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen sowie an psychischen Krankheiten.

Diabetes wird zum Wirtschafts- und Gesellschaftsrisiko in China: Jeder Zweite hat heute dort erhöhte Blutzuckerwerte.

Entwicklungsländer in Asien und Afrika sind doppelt belastet. Sie kämpfen immer noch mit Infektionskrankheiten und Säuglingssterblichkeit und werden zugleich von der Epidemie der NCDs erfasst.

Patienten mit chronischen Krankheiten leben über Jahrzehnte mit ihrer Krankheit. Geheilt werden die wenigsten, viele leiden.

Chronische Krankheiten verursachen in entwickelten Ländern 80 bis 90 Prozent der Gesundheitskosten. Wir geben einen immer größer werdenden Anteil unseres Einkommens für Gesundheit beziehungsweise den Kampf gegen Krankheit aus.

Das Kostenwachstum im Gesundheitswesen ist nicht nachhaltig. Auf Dauer stehen die Gesundheitssysteme am Rande der Finanzierbarkeit.

Pflege von kranken Angehörigen wird bald den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert wie Kinderbetreuung haben.

David Maldonado lebte viele Jahre lang den amerikanischen Traum. Er kam als Kind gemeinsam mit neun Geschwistern aus Mexiko in die USA und fasste Fuß in seiner neuen Heimat. Er heiratete, ergatterte einen guten Job als Verkäufer, verdiente bald mehr als 100 000 US-Dollar im Jahr. Das reichte für ein angenehmes, sicheres Leben in einem Vorort von Dallas, Texas. Seine beiden Kinder waren bekannt als strebsame Schüler, Davids Frau Maribel kümmerte sich um das Wohl der Familie und arbeitete nebenbei als Friseurin. Eine glückliche Familie, doch dann traf ein unerwarteter Befund ein.

Die Ärzte fanden bei Maribel Brustkrebs, sie verordneten eine Mastektomie: Beidseitig musste Brustgewebe entfernt werden. Danach war nichts mehr, wie es einmal war bei den Maldonados. Und das hat nicht nur mit Maribels Krankheit zu tun, sondern vor allem mit dem amerikanischen Gesundheitssystem. Der Nachrichtendienst Bloomberg hat das Schicksal der Familie Maldonado im Rahmen einer Serie über die Schwachstellen des US-Gesundheitssystems eindrücklich beschrieben und damit beachtliches Aufsehen erregt.1 Die Erkenntnis: Krankheiten können mittlerweile auch das Leben einer Familie aus der Mittelschicht von heute auf morgen zerstören; das Gesundheitssystem in den USA bietet ihnen keinen ausreichenden Schutz mehr.

Die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner sind über ihre Arbeitgeber versichert, da das US-Gesundheitssystem keine obligatorische Grundversicherung kennt. So auch Familie Maldonado, die über Davids Betrieb versichert war. David bezahlte monatlich eine Versicherungsprämie von 260 US-Dollar zusätzlich zu einer Selbstbeteiligung an den Arzt- und Medikamentenrechnungen. Die Kosten für die Operation bei Maribel und für die Nachbehandlungen trug die Versicherung. Doch nachdem das Schlimmste überstanden war, wurde David gemeinsam mit seinen Kollegen in das Büro des Chefs gerufen. Der verkündete, dass sich die Firma die rasant gewachsenen Prämien für die Krankenversicherung der Mitarbeitenden nicht mehr leisten könne. Zwar stünden keine Arbeitsplätze auf dem Spiel, aber ab sofort werde die Firma keine Krankenversicherung mehr finanzieren. Das Leben der Maldonados geriet aus den Fugen.

David bekam einen Brief von der Versicherung, aus dem hervorging, dass die monatliche Prämie von bislang 260 US-Dollar auf 1 375 US-Dollar steigen werde. Ein Jahr später erhöhte sich die Prämie nochmals, auf 1 900 US-Dollar. Zur selben Zeit wollte Sohn Cristian ein Studium beginnen. Für David war klar, dass er das alles nicht mehr finanzieren konnte, obwohl die Familie bereits auf Urlaubsreisen und viele andere Annehmlichkeiten verzichtete. Er entschloss sich, die Krankenversicherung für sich und für seinen Sohn zu kündigen und nur noch seine Frau und seine Tochter zu versichern. Damit ging die monatliche Prämie auf 750 US-Dollar zurück. Allerdings nur für eine kurze Zeit.

Im nächsten Jahr kam wieder ein Brief von der Versicherung, die Prämie sollte auf 1 060 US-Dollar steigen. Seither hat auch Davids Tochter Alexa keine Krankenversicherung mehr, und dies, obwohl sie seit ihrer Kindheit an Asthma leidet.

Die USA sind ein besonders extremes Beispiel dafür, was passiert, wenn Investitionen im Gesundheitswesen ineffizient eingesetzt werden. Denn obwohl die Gesundheitsausgaben mit zu den höchsten der Welt zählen und gerade auch deshalb ein sehr großer Teil medizinischer Innovationen aus diesem Land stammen, lag 2017 die Lebenserwartung im Durchschnitt der Bevölkerung bei rund 78 Jahren – niedriger als in der Schweiz (84 Jahre) und Deutschland (81 Jahre).2 Kein Wunder, dass in der Schweiz 87 Prozent der Menschen mit dem Gesundheitswesen zufrieden sind, in Deutschland 77 Prozent, aber nur 52 Prozent in den USA.3

Der größte Teil der Gesundheitsausgaben fließt in die stationäre und ambulante Betreuung von Patienten. Diese beiden Bereiche machen zusammen fast zwei Drittel der gesamten Gesundheitskosten aus und umfassen die Vergütung von Ärzten und Pflegepersonal in Praxen und Kliniken sowie den Klinikbetrieb. Rund 20 Prozent der Gesundheitskosten fallen für Medikamente und andere Medizingüter an. Die restlichen Kosten werden für Langzeitpflege von älteren oder sehr kranken Menschen sowie für andere Dienstleistungen aufgewendet. Insbesondere die Ausgaben für die Langzeitpflege wuchsen in den vergangenen Jahren wegen der weltweit gestiegenen Lebenserwartung stark.

Gesundheitsausgaben nach Servicetyp OECD-Durchschnitt in 2017

Quelle: OECD (2019), Health at a Glance: OECD Indicators

Aber nicht nur in den USA, sondern weltweit sind die Kosten für Gesundheit in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen. Das liegt nicht nur daran, dass eine bestimmte Behandlung mehr kostet, sondern auch daran, dass Versicherungen immer mehr Behandlungen übernehmen. Im Jahr 2016 wurden global 7 800 Milliarden US-Dollar dafür ausgegeben.4 Man kann das für eine gute Sache halten, immerhin ist diese Summe das Fünffache der weltweiten Militärausgaben und entspricht etwa der Wirtschaftsleistung von Frankreich, Großbritannien und Italien zusammen – Gesundheit ist der Gesellschaft etwas wert. Global betrachtet machen die Gesundheitskosten etwa zehn Prozent der Wirtschaftsleistung aus. In den zurückliegenden 50 Jahren hat sich der Anteil mehr als verdoppelt. Doch die schiere Größe der Ausgaben erfordert einen genauen Blick darauf, wie effektiv mit Ressourcen umgegangen wird.

Gesundheit wird teuer: Gesundheitsausgaben pro Kopf und Jahr in US-Dollar

Quelle: OECD (2019), Health at a Glance: OECD Indicators

Die USA, David Maldonados Heimat, sind mit Abstand Spitzenreiter bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf: Mehr als 10 000 US-Dollar fallen pro Jahr an, der Betrag hat sich in den zurückliegenden 50 Jahren verdreißigfacht. Rechnet man die Inflation heraus, so haben sich die Kosten inflationsbereinigt immer noch verzwanzigfacht. 1970 lagen die Kosten lediglich bei jährlich rund 320 US-Dollar pro Person. Die Schweiz leistet sich das pro Kopf betrachtet zweitteuerste Gesundheitssystem der Welt mit jährlich 8 000 US-Dollar. In der Schweiz betragen die Gesundheitskosten das 18-Fache der Militärausgaben.5 In Deutschland sind es pro Kopf rund 6 000 Dollar, in Kanada und Australien rund 5 000, während es in China nur 700 US-Dollar pro Kopf sind.

Die Schweiz muss sich deshalb nicht unbedingt Sorgen um die Landesverteidigung machen, aber eines ist klar: Dauerhaft kann ein solches Ausgabenwachstum nicht gutgehen. Die Kosten für die Krankenversicherungspolicen haben sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt, während im gleichen Zeitraum die Löhne nur um etwas mehr als 20 Prozent stiegen.6 Die Kosten des Gesundheitssystems liegen sogar deutlich höher als die Summe der bezahlten Krankenkassenbeiträge. Folglich wird auch in der Schweiz das Gesundheitswesen in Teilen durch die öffentliche Hand finanziert. Und doch müssen die Menschen immer mehr selbst bezahlen. Der Kostenanstieg trifft vor allem Familien und Menschen mit geringem Einkommen. Bei Familien mit mittlerem Einkommen können die Gesundheitskosten bis zu 25 Prozent des verfügbaren Einkommens ausmachen. Daher ist es keine Überraschung, dass die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen laut Umfragen zu den großen Sorgen der schweizerischen Bevölkerung zählt.7

Auch in Deutschland sind die Ausgaben für die Gesundheit in den vergangenen Jahren weiter angestiegen. Im Jahr 2000 zählte das Statistische Bundesamt Gesundheitsausgaben von 214 Milliarden Euro. 2017 waren es 375 Milliarden.8 Ein ähnliches Bild zeigt sich an vielen anderen Orten der Welt. Für wohlhabende Länder wie die Schweiz oder Deutschland mag das Kostenwachstum noch verkraftbar sein. Andere Länder werden sehr bald schon in viel größere Probleme geraten. Die Versicherungen funktionieren nicht mehr wie früher, der Staat muss einspringen, die Menschen müssen immer mehr medizinische Untersuchungen, Behandlungen und Medikamente ganz oder teilweise selbst bezahlen.

Die Brisanz der Lage wird spätestens dann deutlich, wenn man die Entwicklung der Gesundheitskosten im Vergleich zur Wirtschaftsleistung betrachtet. Weltweit steigen die Kosten für Gesundheit deutlich schneller als die Wirtschaftsleistung. Deshalb müssen Familien einen immer größeren Teil ihres verfügbaren Einkommens für Gesundheit aufwenden.

Überproportionaler Anstieg der Gesundheitsausgaben: Anstieg Gesundheitsausgaben und Wirtschaftsleistung 1970–2017

Quelle: OECD (2019), Health expenditure and financing database: health expenditure indicators

In Großbritannien haben sich die Gesundheitskosten in den vergangenen 50 Jahren verdreißigfacht, wobei rund die Hälfte des Anstiegs inflationsbedingt ist. Die Briten haben ein staatlich finanziertes Gesundheitssystem, den National Health Service. Er wird rein aus öffentlichen Haushaltsbudgets und nicht aus zweckgebundenen Beiträgen von Arbeitgebern und -nehmern finanziert. Deshalb steht bei Haushaltsengpässen zuweilen weniger Geld zur Verfügung als zum Beispiel in versicherungsbasierten Systemen wie in den USA, Frankreich oder Deutschland. Die Folge für die Erkrankten sind teilweise sehr lange Wartezeiten für Operationen, eine eingeschränkte Ärztewahl und ein wachsender Kostenanteil, der von den Patienten selbst getragen werden muss.

Um die Versicherungskosten gering zu halten, wählen Amerikaner immer häufiger Versicherungen mit sehr hoher Selbstbeteiligung. In den vergangenen Jahren haben sich die selbst gezahlten Gesundheitskosten mehr als verdoppelt, während im gleichen Zeitraum die Löhne nur um 26 Prozent stiegen.9 Zudem gibt es in den USA, wie bereits erwähnt, keine verpflichtende allgemeine Krankenversicherung. Zuletzt waren rund neun Prozent der Amerikaner, also rund 28 Millionen, ohne Krankenversicherung. Bei den unter 35-Jährigen leistet sich sogar jeder Fünfte keine Versicherung,10 wohlwissend, dass jede Krankheit den sozialen Absturz bedeuten kann.

Wer aber denkt, steigende Gesundheitskosten seien ein Phänomen der westlichen Welt, der irrt: Zwischen 2006 und 2016 haben sich die Kosten im Reich der Mitte vervierfacht.11 Die Regierung ist in den vergangenen Jahren vermehrt bemüht, das Gesundheitswesen zu modernisieren, chronische Krankheiten verstärkt in den Mittelpunkt zu rücken, neue Medikamente rascher zuzulassen und die Versicherung und Versorgung auf breitere Bevölkerungsgruppen auszudehnen. Die Reformen der chinesischen Regierung und die Bereitschaft, mehr Geld für Gesundheit auszugeben, zeigen Wirkung: Von 2001 bis 2016 ist der Anteil der selbst zu tragenden Gesundheitskosten von 60 Prozent auf 29 Prozent gefallen.12

Asiatische und afrikanische Entwicklungsländer sind in einer schwierigeren Lage als die Wirtschaftsmacht China. Oft kämpfen sie immer noch mit Infektionskrankheiten (zum Beispiel HIV in Südafrika) und haben weiterhin hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeitsraten. So ist die Säuglingssterblichkeit in der asiatisch-pazifischen Region achtmal so hoch wie in der OECD. Die Gesundheitssysteme dieser Länder haben schon länger Herausforderungen wie fehlende öffentliche Gesundheitsinfrastruktur zu meistern, die große Investitionen erfordern. Nun kommen die nicht übertragbaren, chronischen Krankheiten dazu. Denn auch in Entwicklungsländern sind die NCDs stark im Anstieg. So ist der Anteil der übergewichtigen Menschen im asiatisch-pazifischen Raum auf fast 60 Prozent der Bevölkerung gestiegen.13 Diabetes und kardiovaskuläre Krankheiten häufen sich nicht nur in China, sondern auch in Singapur, Indonesien, Thailand und Pakistan. In Südafrika haben sich die Gesundheitskosten in den zurückliegenden zehn Jahren im Durchschnitt um 11,4 Prozent jährlich erhöht. Das sind rund fünf Prozentpunkte mehr als die allgemeine Inflation.