Die drei Hochzeiten von Manolita - Almudena Grandes - E-Book

Die drei Hochzeiten von Manolita E-Book

Almudena Grandes

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Beschreibung

Almudena Grandes´ Vermächtnis – ein großer Roman über Solidarität und Liebe in finsteren Zeiten

Manolitas einziger Vorsatz ist es, „nie den Fehler zu begehen, einen schönen Mann zu heiraten“. Sie ist bekannt als Señorita „Zählt-nicht-auf-mich“, doch als ihre Eltern nach Francos Machtergreifung im Gefängnis landen, muss sie sich um die Familie kümmern. Obwohl sie mit dem kommunistischen Widerstand nichts zu tun haben will, wird sie heimlich zur Botin für die Oppositionellen. Um Informationen ins Gefängnis zu schmuggeln, gibt sie vor, mit dem schüchternen und stotternden Silverio liiert zu sein. Ist dieser politische Häftling wirklich der Mann, den sie dreimal heiraten wird? Ein Roman voller Farben, Wendungen und Überraschungen. Das meisterhafte Vermächtnis der großen spanischen Autorin Almudena Grandes.

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Über das Buch

Almudena Grandes´ Vermächtnis — ein großer Roman über Solidarität und Liebe in finsteren ZeitenManolitas einziger Vorsatz ist es, »nie den Fehler zu begehen, einen schönen Mann zu heiraten«. Sie ist bekannt als Señorita »Zählt-nicht-auf-mich«, doch als ihre Eltern nach Francos Machtergreifung im Gefängnis landen, muss sie sich um die Familie kümmern. Obwohl sie mit dem kommunistischen Widerstand nichts zu tun haben will, wird sie heimlich zur Botin für die Oppositionellen. Um Informationen ins Gefängnis zu schmuggeln, gibt sie vor, mit dem schüchternen und stotternden Silverio liiert zu sein. Ist dieser politische Häftling wirklich der Mann, den sie dreimal heiraten wird? Ein Roman voller Farben, Wendungen und Überraschungen. Das meisterhafte Vermächtnis der großen spanischen Autorin Almudena Grandes.

Almudena Grandes

Die drei Hochzeiten von Manolita

Roman

Aus dem Spanischen von Roberto de Hollanda

Hanser

Für Luis.

Wieder einmal und doch nie oft genug.

Heute ist dir dein Land nicht mehr notwendig,

doch bleibt es dir in diesen Büchern lieb und nötig,

wirklich und traumgleicher als das andere:

nicht jenes, sondern dieses ist heute dein Land,

das, welches Galdós dich kennen lehrte,

tolerant wie er selbst, loyal im Widerspruch,

weltumfassend nach dem Vorbild des Cervantes,

heldenhaft lebend, heldenhaft kämpfend

für die Zukunft, die die seine war,

nicht für das unheilvolle Gestern, dem das andere erneut verfiel.

Wirklich ist für dich nicht dieses Spanien, obszön und erdrückend,

in dem heute der Pöbel regiert,

sondern das lebendige, von jeher edle Spanien,

das Galdós in seinen Büchern schuf.

Dieses heilt und tröstet uns hinweg über das andere.

Luis Cernuda, »Spanisches Diptychon II« (Auszug), Desolación de la Quimera (1956—1962)

Für Eduardo Mendicutti,

Gefährte der Seele

und des Widerstands

Am Ende der Schlacht,

und tot der Kämpfer, trat ein Mann auf ihn zu

und sagte: »Stirb nicht, ich liebe dich so!«

Aber der Leichnam, ach, starb weiter.

Es näherten sich zwei und wiederholten:

»Verlass uns nicht! Mut! Kehr ins Leben zurück!«

Aber der Leichnam, ach, starb weiter.

Zwanzig liefen herbei, hundert, tausend, fünfhunderttausend,

und riefen: »So viel Liebe, und keine Macht

gegen den Tod!«

Aber der Leichnam, ach, starb weiter.

César Vallejo, »Masse«, Spanien, nimm diesen Kelch von mir (1937)

Hätte ich des Himmels Macht,

in dieser brunnenschwarzen Nacht,

ich bräche wie des Mondes Klinge,

der Zellengitter feste Ringe.

Wär ich die Königin des Lichts,

des Windes und der See,

Ich scheute Sklavenfesseln nicht,

Wär deiner Freiheit gute Fee.

O weh und ach!

Wie eine Explosion,

Zermalmt mich dieses Ungemach!

Als wär es ein Zyklon.

Es ist Gewölk der Finsternis.

Ein jämmerliches Steinverlies

Ein durchgegangenes Fohlen,

Voller Kapriolen.

Eine Wüste aus Sand,

Von der Sonne verbrannt.

O weh und ach!

O weh und ach!

Rafael de Léon (Quintero, León y Quiroga), »¡Ay, pena, penita, pena!« (1952)

1. Señorita »Zählt-nicht-auf-mich«

In guten Zeiten heiraten junge Frauen aus Liebe, in schlechten Zeiten aus Interesse. Ich heiratete in der schlimmsten aller Zeiten wegen zwei Vervielfältigungsmaschinen, die kein Mensch bedienen konnte. Ich war achtzehn, und bevor mein Bruder auf die Idee kam, mir das Leben schwer zu machen, wusste ich nicht einmal, dass es solche Maschinen gab.

»Bist du verrückt geworden«, schrie ich ihn an. »Als hätte ich nicht schon genug …«

… um die Ohren wollte ich sagen, doch Toñito sprang auf, hielt mir mit einer Hand den Kopf fest und mit der anderen den Mund zu.

»Schrei nicht so!«, flüsterte er wütend, und es klang, als würde er jede einzelne Silbe zwischen den Zähnen zermalmen. »Weißt du, wie viele Polizisten da unten hocken könnten?« Ich nickte mit geschlossenen Augen, woraufhin er mich langsam wieder losließ. »Verrückt bist du, Manolita.«

Señor farolero que enciende el gas, dígame usted ole por caridad, por caridad … Die schrille, ein wenig verstimmte Stimme von Jacinta, die normalerweise die Tänzerinnen dazu aufforderte, mit einer Hand die Röcke zu heben, um ihre Beine zu zeigen und aufzustampfen, als hätten sie noch eine Rechnung mit den Brettern der Bühne offen, hallte so klar und deutlich durch den Raum, als wären wir Gäste des Hauptkommissars, für den stets ein Tisch neben den Scheinwerfern reserviert war, direkt unter der Garderobe, wo die Frauen meinen Bruder versteckt hatten. Kurz darauf steckte Dolores, die Schneiderin, mit fragend erhobenen Augenbrauen und angespanntem Mund den Kopf durch die Tür. Doch Toñito bedeutete ihr mit einem stummen Kopfschütteln und einer Handbewegung, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Als die Tür wieder ins Schloss schnappte, hörten wir erneut Jacintas Stimme, ¡ay, ole con ole, y olé, y olá!, und rührten uns nicht von der Stelle, bis die Zuschauer in tosenden Beifall ausbrachen.

»Hör mir zu.« Erst da wandte sich mein Bruder, der die Vorstellung auswendig kannte, wieder an mich. »Ich will nur, dass du mir zuhörst.«

Der quadratische Raum war von zwei an den Wänden befestigten Eisenstangen geteilt, an denen unzählige Flamencokostüme und eine Flut bunter Fransen und Volants hingen. In dem Teil neben der Tür, wo Toñito auf mich gewartet hatte, standen nur ein Tisch und ein Stuhl. Das war Dolores’ Büro; hier führte sie Buch über die Kostüme, die zur Reinigung gebracht werden mussten oder von dort zurückkamen, kaputte Reißverschlüsse und Schuhe, die neue Absätze oder Halbsohlen brauchten. Während die Tänzerinnen eine nach der anderen stampfend die Bühne verließen, schob mein Bruder mit beiden Händen hastig die Kleider in der ersten und anschließend in der zweiten Reihe zur Seite und schuf einen Durchgang zwischen den Volants. Als auch ich die andere Hälfte des Raums erreichte, begleitete Palmera mit seinen Kastagnetten gerade die letzte Tänzerin in die Garderobe, und noch ehe seine Finger innehielten, hingen alle Kleiderbügel wieder an ihren Plätzen und Toñito saß in einem Sessel und ich auf einem Hocker ihm gegenüber.

Auf der anderen Seite der schwankenden Wand aus bunten, gepunkteten Kleidern befand sich das Fenster, durch das mein Bruder nach Belieben in seinem Raum ein und aus ging, der der Truppe als Ankleideraum diente. Ein Versteck, in dem sich die Flamencotänzerinnen in Ruhe umziehen konnten, während Dolores sie mit einem halben Dutzend Stecknadeln zwischen den Zähnen aufmerksam begutachtete. Seit dem Ende des Bürgerkriegs war diese Hälfte des Zimmers auch das Wohnzimmer von Antonio Perales García, Mitglied der JSU (Juventudes Socialistas Unificadas, Vereinte Sozialistische Jugend), der am 7. März 1939 untergetaucht war und von dem ich bis Weihnachten desselben Jahres nur eins gewusst hatte.

»Es geht ihm gut.«

Zwei Wochen, nachdem mein älterer Bruder verschwunden war und wir jeden Morgen in der Gewissheit aufwachten, dass Franco jeden Augenblick in Madrid einmarschieren würde, und mit einem Gefühl von Unsicherheit zu Bett gingen, das schlimmer war als das der Niederlage, hatte ich die Frau, die im Hauseingang auf mich wartete, nicht wiedererkannt. Als sie sich dessen bewusst wurde, nahm sie das dunkle Kopftuch ab, das ebenso ungewohnt war wie der weite Mantel, den sie trug, und flüsterte mir diese vier Worte zu. Es geht ihm gut. Sie hätten genügen müssen, doch ihre Stimme verdutzte mich dermaßen, dass ich das, was meine Augen sahen, nicht mit dem, was ich gerade gehört hatte, in Zusammenhang bringen konnte. Ich war so überrascht, dass ich nicht einmal nickte.

»Dein Bruder Antonio«, erklärte sie leise, aber klar und deutlich, als spräche sie mit einem zurückgebliebenen Kind. »Es geht ihm gut. Er ist bei mir.«

Danach schlang sie das Kopftuch wieder über den Kopf und trat, ohne sich zu verabschieden, auf die Straße hinaus. Allein wegen ihrer flachen Schuhe hätte ich sie nicht erkannt, denn bis zu diesem Morgen war mir noch nie aufgefallen, dass sie kaum größer war als ich.

Der Gang war das Auffälligste an ihr gewesen. Mit ihren spitzen, hohen Absätzen, die sie weit über ihren Ruf hinaus erhoben, bewegte sie sich so anmutig wie eine barfüßige Ballerina auf Zehenspitzen. Bei jedem Schritt drohte sie, ihr wundersames Gleichgewicht zu verlieren, doch es gelang ihr immer, sich aufrecht zu halten, indem sie die Hüften schwenkte, nach rechts, nach links, und so die Illusion einer verwirrenden Instabilität erweckte, die ihren ganzen Körper einschloss. Vor dem Krieg hatte sie sich Abend für Abend für ihren Auftritt zurechtgemacht und auf dem Weg zur Arbeit einen unvergleichlichen Anblick geboten.

»Verdammt, Eladia …« Mein Bruder war um Punkt halb neun die Treppe hinuntergelaufen, hatte sich neben dem Hauseingang an die Fassade gelehnt und aus nächster Nähe dieses einzigartige Phänomen bewundert. »Du siehst umwerfend aus.«

Carmelilla de Jerez — das war der Künstlername auf den Plakaten des Flamencolokals in der Calle de la Victoria, wo sie um neun Uhr abends auftrat — hatte einen langen weißen Hals, der ebenso straff und schlank war wie ihre Arme und Beine. Manchmal drehte sie sich im Gehen um und warf ihrem Verehrer einen so geringschätzigen Blick zu, dass er lachen musste.

»Glotz nicht so, Antoñito, sonst wird dir noch schwindelig.« Und wenn sie guter Laune war, was allerdings nur selten vorkam, beleidigte sie ihn sogar. »Nicht einmal dazu bist du Manns genug.«

»Sie ist verrückt nach mir.«

»Klar!«, zog ich ihn auf. »Das ist nicht zu übersehen.«

Dass diese Frau ihm das Leben gerettet hatte, hätte mich nicht wundern sollen. Die Eladia, die mich im März 1939 aufsuchte, trug denselben Namen und sah genauso aus, und doch war sie eine andere. Der Krieg hatte das Beste, aber auch das Schlechteste in uns allen hervorgebracht. Am Ende waren wir alle andere Menschen als die, die wir gewesen wären, hätten wir weiter in Friedenszeiten gelebt.

Im Frühjahr 1936, als ich noch keine vierzehn war, erkannte ich in Toñito nicht mehr den Jungen wieder, der früher mein älterer Bruder gewesen war. Seit er in der Samenhandlung meines Vaters in der Calle Hortaleza sein eigenes Geld verdiente, kam er nur noch nach Hause, um sich im Badezimmer einzuschließen und es wie aus dem Ei gepellt wieder zu verlassen. Anschließend wartete er vor dem Hauseingang darauf, dass Eladia an ihm vorbeistolzierte, verschwand erneut und kehrte so spät nach Hause zurück, dass er morgens kaum aus den Federn kam. Dann rannte er aus dem Haus, ohne zu frühstücken. Seit unserem Umzug nach Madrid war er viel schneller gewachsen als ich, äußerlich wie innerlich, und hatte mit einem Satz vorzeitig die Mauer übersprungen, die den Garten der Kindheit vom Dschungel der Erwachsenen trennt. Doch als ich ihn fast schon für verloren hielt, gab der Krieg ihn mir zurück.

Nicht nur, weil er die Nachmittage plötzlich wieder zu Hause verbrachte, sondern wegen seiner neuen Begeisterung, dieser jugendlichen, unverhofften Energie, die von einem auf den anderen Tag die kraftlose Trägheit eines gutaussehenden jungen Mannes abgelöst hatte, eine rätselhafte, fröhliche Ausgelassenheit, die er in nächtlichen Exzessen kultivierte, von denen ich mir nicht einmal ansatzweise eine Vorstellung machen konnte. Seine Freunde aus der Nachbarschaft, Julián, Puñales, Manitas und Orejas hatten manchmal vergeblich nach ihm gefragt. Was für ein Kerl!, sagten sie dann, eher bewundernd als neidisch, wenn ich ihnen wieder einmal erzählte, dass er weggegangen war, ohne zu sagen wohin.

»Ich habe die Nase voll von deinem Sohn, hörst du?« Im Gegensatz zu ihnen hatte unsere Stiefmutter für seine neuen Gewohnheiten wenig übrig. »Wenn er alt genug ist, sich herumzutreiben, dann sollte er auch sein Gehalt zu Hause abgeben.«

»Warum?« Auch mein Vater war ein leidenschaftlicher Herumtreiber, deshalb ergriff er stets Partei für den Jungen, der ihm äußerlich wie innerlich immer ähnlicher wurde. »Ich gebe doch schon meins ab, oder etwa nicht? Soll er seinen Spaß haben, er ist noch jung …«

Alles hing davon ab, mit welchem Fuß María Pilar an dem jeweiligen Morgen aufstand. Wir wussten, dass mein Vater einen Teil der Einkünfte aus dem Geschäft für seine privaten Ausgaben einbehielt und dass er sich vermutlich drei Tage nicht hätte blicken lassen, wenn seine Frau ihm das vorgeworfen hätte. Oder dass Toñito ihn im Geschäft mit Aufmerksamkeit überschüttete, so wie umgekehrt er seinen Sohn, wenn der erst mittags verkatert zur Arbeit erschien. Deshalb hielt María Pilar meistens den Mund, während ich mir schwor, dass ich nie im Leben einen gutaussehenden Mann heiraten würde.

Mein Vater und mein Bruder waren beide groß gewachsen, kräftig, muskulös, vor allem aber sehr attraktiv. Sie hatten warme Augen, eine charaktervolle Nase, ein markiges Kinn und schmale Lippen. Von weitem sahen sie einander so ähnlich, dass sogar ihre Bewunderinnen sie gelegentlich verwechselten. Und obendrein hatten sie so viel Erfolg bei Frauen, dass manche, etwa Luisi, die Tochter der Pförtnerin, mit beiden flirteten.

Ich dagegen kam mehr nach meiner Mutter: Ich hatte ihr rundliches Gesicht geerbt, die Pausbäckchen und auch die kleinen Augen, die so dunkel wie Knöpfe waren. Am wenigsten gefiel mir mein Haar, ein struppiges Durcheinander winziger Locken, das aussah, als hätte ein Stromschlag es versengt. Jede Woche gab ich mein ganzes Taschengeld für Haarbänder, Zierkämme und Haarnadeln aus. Ich wusste einfach nicht, was ich mit dieser wilden Haarpracht anfangen sollte, die sich über mich lustig zu machen schien. Sie war genauso ein Rätsel wie meine kurzen Beine, die Puppenhände, der winzige Rumpf, der mich immer wie ein kleines Mädchen aussehen ließ, in einer Familie, deren Männer baumlang und deren Frauen gertenschlank waren. Ja, ich kam nach meiner Mutter, aber nicht ganz, denn ich hatte nicht ihren Körper geerbt, sondern eine Miniaturausgabe davon, eine getreue Nachbildung, nur einen Kopf kleiner als das Original. Meine Schwester Isabel war neun, vier Jahre jünger als ich, aber nur zwei Fingerbreit kleiner.

Vielleicht freute ich mich deshalb so sehr über Toñitos Rückkehr. Wenn er sich wieder wie ein älterer Bruder benahm, würde ich den Platz an seiner Rechten einnehmen und mich darauf beschränken, seine Autorität, die er mir mit seiner Flucht vorzeitig aufgenötigt hatte, einfach widerzuspiegeln. Obendrein war es eine Freude, ihn anzusehen. Noch nie war er mir so anziehend erschienen wie jetzt, wenn er das Erstbeste überstreifte, was er im Schrank fand, sich mit beiden Händen durchs Haar fuhr und sich anschließend mit geröteten Wangen und flammenden Augen an den Küchentisch setzte und Zettel bekritzelte, die später im ganzen Haus verstreut waren. Niemals hatte ich ihn so viel lächeln sehen wie an jenen Nachmittagen im Sommer 1936, wenn die Wohnungsklingel und ein endloser Schwall von Umarmungen den Abend ankündigten. Manitas, Orejas, Puñales und viele andere kamen zu uns, Mädchen ebenso wie Jungen. Einige kannte ich vom Sehen, andere nicht.

Luisi war nicht die Einzige, die den revolutionären Eifer meines Bruders mit eingebildeten Anzeichen einer Zuneigung verwechselte, die Toñito für keins der Mädchen empfand, die unser kleines Wohnzimmer füllten. Da ich wusste, wem sein Herz gehörte, beobachtete ich vom Balkon aus die Straße, und wenn ich sah, wie María Pilar die Straße heraufkam, gab ich ihm sofort Bescheid.

Ende Juli hatte sich unsere Stiefmutter praktisch selbst entlassen, nachdem sie fünf Jahre als Köchin in einem Haushalt gearbeitet hatte. Ihr Arbeitgeber, ein Aristokrat, hatte ihr drei Monatsgehälter im Voraus bezahlt, ehe er zu seiner Sommerresidenz in Cestona aufgebrochen war. Als feststand, dass er nicht zurückkehren würde, nahm María Pilar eine neue Arbeit in der Küche des Hotels Gran Vía an, dessen strategische Lage — gegenüber dem Gebäude der Telefónica und nur einen Katzensprung von der Puerta del Sol entfernt — sein Restaurant zu einem der begehrtesten der Stadt gemacht hatte.

»Niemals!« Als Toñito mich überreden wollte, mich ihnen anzuschließen, weigerte ich mich. »Zählt nicht auf mich.«

Ich fand mich lediglich bereit, Schmiere zu stehen, damit sie die Wohnung verlassen konnten, ehe die Dame des Hauses von der Arbeit zurückkehrte. Während sie die Treppen hinunterrannten, leerte ich die Aschenbecher, sammelte die Gläser ein, wischte den Glastisch mit einem feuchten Tuch ab und schüttelte die Kissen auf, doch ich schaffte es nie so gut, dass María Pilar keinen Verdacht schöpfte.

»Wie oft soll ich dir das noch sagen?« Als Lohn musste ich auch noch einen Anpfiff über mich ergehen lassen. »In meinem Haus wird keine Politik gemacht! Wer Politik machen will, soll auf die Straße gehen, wo die Hungerleider zu Hause sind!«

Für sie, die ein Leben lang für vornehme Herrschaften gearbeitet hatte, war die Ausrufung der Republik eine Katastrophe, ähnlich dem Untergang des Abendlandes. Das Gebaren der Dame von Welt, die ihre Röcke zusammenraffte, um sich nicht am Staub ihrer armen Nachbarn schmutzig zu machen, wenn sie die Treppen hinaufstieg, war ebenso abstrus wie Toñitos Überzeugung, dass der befreiende Impuls der spanischen Massen nach dem Vorbild der glorreichen sowjetischen Revolution die Saat der Emanzipation, des Wohlstands und der Zukunft der Menschheit in sich trug.

»So kann man nicht leben«, sagte sie, weil niemand mehr kam, um das Foto zu sehen, auf dem die Herzogin in ihrem Palast Königin Victoria Eugenia empfing. Im Hintergrund sah man ihre Köchin, mit entsprechendem Gesichtsausdruck und einer steif gestärkten Schürze, die ganz von allein aufrecht stand. »Dieses üble Gesindel, das jeden duzt und vor nichts Respekt hat … Wo wird das enden, bei so viel Respektlosigkeit!«

Manchmal dachte ich, wenn ich in die JSU eintrat, so wie Toñito es wollte, könnte auch ich die Treppe hinunterrennen und das Wohnzimmer wie einen Schweinestall hinterlassen. Dann würde sie selbst es aufräumen müssen und könnte ihre Wut an dem Kanarienvogel auslassen. Doch ich war zu müde, um mir eines der Ministerien aufzuhalsen, die mein Bruder und seine Freunde fröhlich unter sich aufteilten, als glaubten sie tatsächlich daran, dass die Entscheidungen, die sie auf ihren Versammlungen trafen, auf unser aller Schicksal Einfluss haben würden.

Ich hatte nichts gegen Toñito und seine Genossen, im Gegenteil, ich mochte sie sehr gern. Ich nahm sie zwar nicht ernst, aber ich wusste, dass sie brave Jungs waren mit guten Vorsätzen, und obwohl ich mich insgeheim über Orejas lustig machte, gefiel er mir. Er sah nicht besonders gut aus, aber er war schlau, witzig und sehr galant. Er verfügte über ein ganzes Arsenal an Anekdoten, mit denen er sogar einen Stein hätte umgarnen können.

»Gehen Sie mit Gott, Señora«, sagte er immer, wenn María Pilar und ich ihm auf der Straße über den Weg liefen. »Und die Kleine mit mir!«

Obwohl ich wusste, dass Orejas seine Komplimente freigiebig unter allen Mädchen des Viertels verteilte, erlag ich gelegentlich der Versuchung, mir trotz seiner verwirrenden Wankelmütigkeit Illusionen zu machen. Die anderen Freunde von Toñito behandelten mich immer gleich, mit derselben vertrauten Gleichgültigkeit, mit der sie auch meine Schwestern bedachten. Doch er, der meistens an mir vorbeiging, als wäre ich Luft, tat manchmal so, als sähe er mich plötzlich mit anderen Augen.

»Gestern habe ich dich aus der Metro kommen sehen und dich nicht erkannt, Manolita. Ehrlich, ich bin dir sogar nachgelaufen, bis ich dich im Hauseingang verschwinden sah. Du bist ja eine richtige Frau geworden, kaum zu glauben …«

Ich traute dem Braten nicht, errötete aber trotzdem, woraufhin er lächelte, als freute er sich über die Macht, die er über meine Wangen hatte. Möglich, dass er sich deshalb genauso viel oder gar mehr Mühe gab, mich zu rekrutieren und es ihm um ein Haar auch gelungen wäre.

»Dieser Orejas ist wirklich unverschämt …«

Bis ich eines Nachmittags Luisi begegnete, die auf der Haustreppe ihre Cousine tröstete. Leonor hatte erfahren, dass Orejas María, die Stieftochter der Pförtnerin in der Nummer 15, in die Gruppe aufgenommen und sich bei seinen Freunden damit gebrüstet hatte, ihr einige Tage zuvor nachgelaufen zu sein, um sich ihre Beine anzusehen. »Sie hat sich ganz schön gemausert, ohne dass wir es mitgekriegt haben«, hatte er verkündet.

Obwohl er mir deshalb nicht weniger gefiel, beschloss ich, nie wieder zu erröten, was zur Folge hatte, dass sich sein sprühender Witz an mir rächte. Er war es nämlich, der mir diesen komischen Spitznamen gab, über den sogar ich gelacht hätte, wenn er mir nicht so missfallen hätte.

»Seht mal, wer da ist«, rief er eines Nachmittags, als er mich auf dem Balkon sah. »Unsere Señorita ›Zählt-nicht-auf-mich‹!«

In meiner Familie war der Krieg jedem wunderbar bekommen, außer mir. Die Männer hatten sich erfolgreich vor der Front drücken können, denn sie hatten sich so überstürzt freiwillig gemeldet, dass man den einen abgelehnt hatte, weil er zu alt, und den anderen, weil er zu jung war. Immerhin war mein Vater mit seinen siebenunddreißig Jahren noch imstande, der Sturmgarde beizutreten und mein Bruder mit seinen achtzehn Jahren reif genug, um eine Stelle im Büro des Generalkapitanats anzunehmen. Eine Woche nach dem Staatsstreich hatten beide einen Zeitvertreib, der viel spannender war, als stundenlang hinter dem Tresen zu stehen und Vogelfutter zu verkaufen.

María Pilar ihrerseits hörte früher auf zu jammern, als sie sich hätte vorstellen können. Nachdem sie ihren Ruf als Schmuckexpertin eingebüßt hatte, der sämtliche Frauen des Viertels ihre Klunker zur Begutachtung brachten, und sie nicht länger als Meisterin des Protokolls galt, die wohlhabende Standbesitzer auf dem Mercado Antón Martín bei ihren Hochzeiten und Taufen beriet, stürzte die fluchtartige Abreise des Hofes aus der Stadt sie in einen Abgrund unerträglicher Bedeutungslosigkeit, bis sie Ende November 1936 den Tiefpunkt erreichte und endlich wieder Auftrieb bekam.

Als niemand mehr daran zweifelte, dass sich der Krieg in die Länge ziehen würde, entdeckte María Pilar dank ihrer neuen Arbeit im Hotel Gran Vía, dass vor ihrer Nase eine neue Aristokratie aus ausländischen Journalisten, berühmten Schriftstellern, gebildeten Diplomaten, Militärberatern und skandalösen Spanierinnen, die wie die Französinnen rauchten und mächtige Männer umschwirrten, entstand. Geheimnisvolle Zirkel, in denen man über den Verlauf des Krieges debattierte. Kurz und gut, es handelte sich um eine erlesene Elite von wenigen, die wussten, was man wissen musste, ein Milieu, in dem María Pilar sich bewegte wie ein Fisch im Wasser. Von diesem Tag an schloss sie neue Freundschaften, eroberte sich neue Geschäftsfelder und blühte auf wie nie zuvor. Im Winter 1937, nachdem sie sich endgültig wieder gefangen hatte, vertrieb sie rücksichtslos Toñitos Genossen aus dem Wohnzimmer, das fortan zum Treffpunkt einer höchst seltsamen Gesellschaft wurde.

»Einen wunderschönen Tag, mein Kleines …« Als der ungepflegte Mann mit dem alten, halb zerfledderten und an den Rändern abgewetzten Zylinder und einem Gehrock aus dem vorigen Jahrhundert vor mir stand, hielt ich ihn für einen Schauspieler. »Hättest du wohl die Güte, der Dame des Hauses mitzuteilen, dass der Butler des Marquis de Hoyos sie sprechen möchte?«

»Wie bitte?«, fragte ich verdutzt.

»Don Eusebio!« In diesem Augenblick streckte María Pilar dem Besucher in einem seidenen, mit Flitter und Glasperlen bestickten Gewand, passend zu dem Turban auf ihrem Kopf, die Arme entgegen, als forderte sie ihn zu einem Charleston auf. »Welch ausgesprochenes Vergnügen, Sie in meinem Haus empfangen zu dürfen!«

»Haben Sie tausend Dank, meine Liebe, für eine Ehre, die ich nicht verdiene, aber sagen Sie …« Während ich beobachtete, wie er ihr salbungsvoll die Hand küsste, begriff ich, dass ich nicht so falschgelegen hatte, denn dieser hohle, pompöse Dialog konnte nur aus einem Lustspiel stammen. »Bin ich etwa der Erste?«

»Aber nein. Doña Milagros wartet bereits auf uns.« Allerdings kam ich weder auf das Werk noch den Autor. »Hier entlang, bitte, folgen Sie mir …«

Milagros war Haushälterin bei einem Berater der Bank von Vizcaya gewesen. Trotzdem rümpfte sie die Nase und streckte die Hand aus, damit Eusebio sie mit seinen Lippen streifen konnte, als hätten ihre früheren Herrschaften einem uralten Adelsgeschlecht angehört. Und es kamen noch mehr: Epifanio, der ehemalige Kammerdiener des aristokratischen Generals Weyler, María Teresa, die erste Zofe der Herzogin von Alba, Mateo, Butler im Haus der jüngsten Tochter des Herzogs del Infantado und Antonia, die Haushälterin der Ruiz Maldonados, einer wohlhabenden Bankiersfamilie aus Santander. Allesamt umstrahlt von einer Eleganz aus besseren Zeiten, als könnten die Kleidung, Handschuhe und feinen Manieren, mit denen sie sich wie mit Edelsteinen schmückten, und die Regeln eines geheimnisvollen, scheinbar unschuldigen Spiels sie vor den Zeichen einer feindlichen Zeit beschützen.

»Sie haben ja keine Vorstellung, wie sehr ich Sie vermisst habe.« Nachdem sie ihren Katalog affektierter Floskeln und Verbeugungen erschöpft hatten, nahmen sie Platz, und María Pilar ergriff das Wort. »Als Allererstes möchte ich mich herzlich bedanken, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.«

»Wir haben zu danken, Doña María Pilar, für Ihre Großzügigkeit, die sich höchstens mit Ihrer Begabung messen kann.« Epifanio richtete sich in seinem Stuhl auf, tauchte eine Feder ins Tintenfass und wandte sich mit der ganzen Autorität seiner militärischen Vergangenheit an seine Kollegen. »Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir zuallererst eine Tagesordnung beschließen sollten. Meiner Meinung nach genießt die Frage der Mitgliedschaft allerhöchsten Vorrang.«

In diesem Augenblick stand María Pilar auf und schloss die Tür, ohne zu merken, dass ich dahinter stand. Ich fürchtete schon, nichts mehr mitzubekommen. Kurz darauf übertönte der Klang eines Glöckchens das diskrete Murmeln der Unterhaltung. An jedem anderen Tag hätte ich mich dumm gestellt. Ich war nicht María Pilars Hausmädchen, nicht einmal ihre Tochter. Es gab überhaupt keinen Grund, auf das Glöckchen zu reagieren, doch dann siegte meine Neugier.

»Was die Beschlagnahmungen angeht …« Als ich die Tür öffnete, sprach noch immer Epifanio, so steif, als hätte er einen Besen verschluckt. »Gibt es diesbezüglich etwas Neues, Doña Antonia?«

»Entschuldigung«, unterbrach ich ihn höflich. »Hast du mich gerufen, María Pilar?«

»Ja, Manolita, ich dachte … Was könnten wir den Herrschaften anbieten? Ein Gläschen Anislikör, vielleicht?« Was sonst, dachte ich, denn abgesehen von der Flasche Anislikör, die sie an diesem Tag im Hotel organisiert hatte, war nur noch der Wein zum Kochen im Haus. »Hätte jemand Lust?«

Alle stimmten bereitwillig zu, als wüssten sie, was ich wusste. María Pilar reichte mir lächelnd den Schlüssel der Anrichte, und nachdem ich ihr die Flasche gebracht hatte, öffnete ich die Vitrine und holte die bunten, geriffelten Gläschen, die sie mehr liebte als ihre eigenen Kinder, einzeln heraus. Während ich sie mit einer Serviette abstaubte und mir dabei eine Menge Zeit ließ, konnte ich Antonias Antwort hören und noch so manches mehr.

»O ja, leider, Don Epifanio, und nichts Gutes. Auf mein Haus können wir nicht zählen.«

»Hat es sich Ihre Enkelin etwa anders überlegt?«, wollte Mateo wissen.

»Viel schlimmer noch …« Ich drehte mich vorsichtig um und sah, dass alle Anwesenden sie erwartungsvoll anblickten. »Señorita Inés, die Jüngste … Nun ja, sie ist jetzt eine Revolutionärin.«

»Was Sie nicht sagen!« Epifanio machte große Augen.

»Glauben Sie mir«, bestätigte Antonia traurig. »Meine Enkelin und sie duzen sich mittlerweile, sie sprechen sich sogar mit Genossin an, daher …«

»Genau wie mein Herr!«, stöhnte Eusebio. »Wo soll das bloß enden?«

»Niemand hat auch nur noch einen Funken von Respekt«, nickte María Pilar, während sie die Flasche öffnete und einschenkte. »Das ist doch kein Leben mehr in dieser Stadt.«

»Nun, nun, verfallen wir nicht gleich in Panik.« Epifanio hob die Hand und bat um Ruhe. »Die Ausnahme bestätigt bekanntlich die Regel. Die meisten Herrschaften wissen genau, wo ihr Platz ist.«

»Und der liegt glücklicherweise viele Kilometer weit weg«, betonte Mateo mit einem vorsichtigen Lächeln.

»Da haben Sie recht«, nickte Antonia, während ihre kleinen Mausaugen schelmisch funkelten. »Offensichtlich hat meine Virtudes zusammen mit ihrer Herrin ein Büro der Internationalen Roten Hilfe eröffnet. Was also die Mitgliedschaft angeht …«

»Das ist eine großartige Nachricht, meine Liebe.« Epifanio fasste neuen Mut. »Diese Neuigkeit ist wichtiger, als man denkt, gewiss …«

»Danke, Manolita.« Als ich gerade hoffte, etwas Wichtiges zu erfahren, bemerkte María Pilar, dass ich immer noch neben dem Tisch stand. »Du kannst jetzt gehen.«

Am 1. April 1937 kam meine Stiefmutter am helllichten Vormittag mit einer Armbinde der Internationalen Roten Hilfe am rechten Ärmel nach Hause. Sie trug eine dunkle Bluse aus einfachem Stoff, die kein bisschen zu der blauen Hose passte, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben angezogen hatte. Ich sah sie nicht, weil ich im Geschäft war, doch Isa erzählte mir später, dass sie ihre Stellung im Hotel eigenmächtig gekündigt hatte.

»Na warte, bis Vater das erfährt …«

Doch da irrte ich mich, denn während des Abendessens erhob niemand die Stimme, und seit diesem Tag war unser Essen in dem Maße besser, wie das unserer Nachbarn schlechter, und María Pilar erkaufte sich hinter dem Rücken ihres Mannes Stillschweigen, indem sie völlig grundlos Geld verteilte. Kleine, aber regelmäßige Beträge, begleitet von der immer gleichen Warnung, behaltet es für euch, gebt nicht damit an, und sagt niemandem, dass ihr es von mir habt oder ihr seht nie wieder einen Céntimo. Irgendwann verschwand mein Vater für zwei Tage, und danach nahm alles wieder seinen gewohnten vertrauten Gang, ohne dass auch nur ein Wort gefallen wäre über die auffälligen Aktivitäten seiner Frau oder die geheimnisvollen Versammlungen, bei denen nie wieder ein Glöckchen geläutet wurde und deren Tür ab dem zweiten Treffen immer verschlossen blieb.

Ich war sicher, dass María Pilars plötzlicher Reichtum dem Mysterium dieser verschlossenen Tür geschuldet war, denn ihre Mitverschwörer hatten dieselbe unverständliche Metamorphose hinter sich, die aus Möchtegernherrschaften falsche Milizionäre gemacht hatte. Die Gestalten, die sich noch vor wenigen Wochen wie Schauspieler einer aus der Mode geratenen Komödie gekleidet hatten, verschanzten sich nun ungeachtet der radikalen Proletarisierung ihres Äußeren und ihrer Kleidung hinter anachronistischen Dialogen, tausend Dank, verehrter Freund, hier entlang, bitte, erlauben Sie. Jetzt trugen die Männer einen Blaumann, ohne Hut, ohne Handschuhe, ohne Halstuch und waren unrasiert, die Frauen schminkten sich nicht mehr, sie hatten sich in Autorinnen statt Protagonistinnen eines fremden Werkes verwandelt, eines dunklen doppeldeutigen Genres, dessen Aufführungen sich den Blicken der Zuschauer entzogen. Und trotzdem konnten ihre Vorsichtsmaßnahmen nicht verhindern, dass ich auf eine Weise, die sie niemals hätten voraussehen können, hinter die Handlung kam.

»Manolita?«

»Zu Diensten.«

»Sprich bitte in das Hörrohr, sonst höre ich dich nicht. Ich bin nämlich so gut wie taub.«

Der Mai war gekommen, und seine strahlenden Tage luden zu langen Spaziergängen ein, sodass ich keine Zeit gehabt hatte, mich zu langweilen. Abgesehen von den beliebten Tüten mit Vogelfutter, dem wichtigsten Produkt unseres Geschäfts zu jeder Jahreszeit, solange in den Wohnungen von Madrid noch Vögel gehalten wurden, verkauften wir jetzt Unmengen von Saatgut an mutige Widerstandskämpfer, die den Frühling nutzen wollten, um in jeder verfügbaren Ecke Gemüse anzubauen, in Hinterhöfen, in öffentlichen Parks und sogar in Töpfen.

Kurz vor Ladenschluss hielt ein großer schwarzer Mercedes vor dem Laden. Ich hatte nur wenige ähnlich prachtvolle Luxuskarossen im Leben gesehen, und trotzdem konnte sie mich nicht beeindrucken. Eine ungeschickte Hand hatte CNT (Confederación National de Trabajo, Konföderation anarchosyndikalistischer Gewerkschaften in Spanien) auf die Tür gemalt und nicht vermeiden können, dass dabei dünne weiße Farbnasen wie schmutzige Tränen herabgeronnen waren. Der Mann, der beim Aussteigen die beiden ersten Großbuchstaben vom dritten trennte, passte nicht zu den Leuten, die in Madrid sonst solche Wagen fuhren.

Mein erster Gedanke war, dass er zu María Pilars Clique gehören musste. Er war um die fünfzig, hochgewachsen, korpulent, fast kahlköpfig und sehr steif. Er trug zwar etwas, das einem Blaumann nicht unähnlich war, aber aus teurem, glänzendem Stoff bestand und dazu einen Gürtel, der eine gewisse Schlaffheit betonte, Fleisch, das in besseren Zeiten üppiger gewesen war. Der Unbekannte war in zweierlei Hinsicht authentisch. Als Aristokrat und als Anarchist zugleich.

»Ja«, schrie ich in das Hörrohr, das er an das linke Ohr hielt. »Ich bin Manolita.«

»Sehr erfreut.« Er streckte mir die makellos gepflegte Hand eines Mannes entgegen, der sich seinen Lebensunterhalt nie mit harter Arbeit hatte verdienen müssen. »Ich heiße Antonio de Hoyos y Vinent …« Er überlegte, ob er noch etwas hinzufügen sollte und tat es dann. »Ich bin der Sohn des Marquis de Hoyos.«

»Ach ja!« Als ich den Titel hörte, zählte ich eins und eins zusammen. »Ich kenne Ihren Butler, Eusebio.«

»Meinen ehemaligen Butler«, berichtigte er mich mit einem rätselhaften, kaum merklichen Lächeln. »Inzwischen hat er eine andere Beschäftigung. So wie die Frau deines Vaters, nicht?« Ich deutete nur eine Kopfbewegung an, da ich zu wenig wusste, um Zustimmung zu nicken. »Ein gutaussehender Mann, dein Vater, nicht wahr?«

»Nun.« Diese Bemerkung verwirrte mich mehr als sein Wagen, sein Titel oder das Monokel. »Kennen Sie ihn?«

»Nur vom Sehen«, lächelte er. »Aber ich kenne deinen Bruder, der genauso gut aussieht wie er.«

Bevor der Krieg mich zwang, hinter dem Tresen zu stehen, gab es keinen Ort in Madrid, den ich so liebte wie die Samenhandlung von Antonio Perales. Ich fühlte mich wie ein Mädchen vom Land, das man in ein wenig Erde von Villaverde in die Hauptstadt verpflanzt hatte, und jener dunkle Laden, der nach dem Wachs roch, mit dem wir den Tresen auf Hochglanz polierten, kam mir vor wie eine Brücke, eine Insel, ein kleiner maßgeschneiderter Garten. Als ich im Herbst 1930 nach Madrid kam, war ich acht Jahre alt. Drei Monate nach dem Tod meiner Mutter verstand ich weder ihre Abwesenheit noch die Ereignisse, die er ausgelöst hatte, darunter die zweite, pompöse Hochzeit ihres Witwers, der beschlossen hatte, alles zu verkaufen, unser Haus, die Huerta und das kleine Wäldchen, um in eine fremde Wohnung im vierten Stock der Calle Santa Isabel zu ziehen, deren drei Balkone auf ein ohrenbetäubendes Durcheinander von Lärm und Geschrei hinausgingen, während meine Füße die ganze Zeit über einen künstlichen Boden aus Fliesen und Pflastersteinen laufen mussten. Das Stadtleben. Du wirst dich schon daran gewöhnen, sagten mir Vater, María Pilar und Toñito, der zwei Wochen nach unserer Ankunft Madrid bereits erobert hatte. Doch die Zeit verging, und ich fühlte mich nicht weniger fremd. Verwirrende Neuigkeiten nahmen überhand. Das Colegio Acevedo, der Spitzname, den meine Schulkameraden mir verpassten, ohne sich dafür zu interessieren, wie ich in Wirklichkeit hieß, die Schwangerschaft meiner Stiefmutter. 1932, als meine Schwester Pilarín geboren wurde, bestand mein einziger Trost darin, dass man mich nicht mehr »He, du Landei«, sondern »Manolita, das Landei« nannte.

Während ich das Gefühl hatte, dass ich nie ein Teil dieser Stadt werden würde, dass ich mir ihre Fliesen und Pflastersteine niemals zu eigen machen könnte, war jener große Laden, in dem es trotz der auf die Straße zeigenden Schaufenster so dämmrig blieb wie in einer Höhle, der einzige Ort, den ich verstand. Außerdem kam es mir vor, als spielte ich Verkäuferin, wenn ich mit den Gewichten in allen Größen, der Holzschaufel und den Papiertütchen hantierte, und deshalb verbrachte ich so viel Zeit wie nur möglich im Laden.

In den ersten Jahren, als ich noch zur Schule ging, beschränkte sich diese Zeit auf die Samstagnachmittage, aber 1934 wurde María Pilar erneut schwanger, und als würde die Aussicht auf ein neues Geschwisterchen mich augenblicklich in eine Erwachsene verwandeln, wechselte das Szenario meiner Pflichten von einem Tag auf den anderen. Mit zwölf lernte ich den Fahrplan der Metro auswendig und fuhr jeden Tag zum Geschäft, um meinem Vater und meinem Bruder das Mittagessen zu bringen. Gelegentlich kehrte ich auch nachmittags noch einmal zurück, um ihnen im Laden auszuhelfen, doch das gefiel mir weniger, weil dann meistens auch er da war.

»Wer, Palmera?« Toñito lachte, als ich es ihm erzählte. »Der ist doch herzensgut! Schwul, ja, aber ansonsten … Er würde keiner Fliege etwas zuleide tun.«

Ich war da anderer Meinung, und manchmal hatte ich das Gefühl, dass er sich einen Spaß daraus machte, mich zu erschrecken, indem er mich mit seinen schwarz umrandeten Augen anstarrte. Manchmal träumte ich, dass er mich entführte, um mich zu töten, dann wachte ich schweißgebadet auf, und mein Herz schlug so heftig, als wollte es mir in der Brust zerspringen.

Ich habe erst viel später erfahren, woher dieser Mann kam, der jeden Nachmittag ebenso beharrlich auf Toñito wartete wie mein Bruder auf sein tägliches Rendezvous mit der hochnäsigen Eladia. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er es nicht auf mich abgesehen hatte und sein Opfer auch nicht töten würde, falls es ihm überhaupt gelänge, jemanden aus meiner Familie zu entführen. Seine Beziehung zu Toñito beschränkte sich darauf, ihn langsam nach Hause zu begleiten, entweder zu Fuß oder in der Metro, wenn der Abend zu kalt oder auch zu heiß war. Gelegentlich winkte er sogar ein Taxi herbei, wenn es allzu stark regnete, damit mein Bruder nicht nass wurde, obwohl der sich für die Großzügigkeit seines Begleiters nie erkenntlich zeigte.

»Was habe ich dir gesagt, Palmera?«, hörte ich ihn manchmal sagen, wenn ihm sein Bewunderer zu nahe trat. »Ansehen ja, aber nicht anfassen.«

Seinen Spitznamen hatte er nicht, weil seine ausgezehrte Silhouette, die in den zittrigen Quasten seines Strohhuts endete, Ähnlichkeit mit einer Dattelpalme gehabt hätte, wie ich anfangs glaubte, sondern weil er als Palmero oder Händeklatscher in demselben Flamencolokal arbeitete, in dem Eladia tanzte. Das erklärte sein Äußeres und auch die Schminke und den kurzen Anzug, die ich nicht mit seiner Beschäftigung hatte in Verbindung bringen können. Oder warum er sämtliche Texte der Lieder, mit denen er auf die Grobheiten meines Bruders antwortete, auswendig kannte.

Serranillo, serranillo, no me mates, gitanillo … Seine Stimme war hässlich, heiser und verstimmt, doch das glich er mit übertrieben verzweifelten Gesten aus. »Du bist so herzlos zu mir! Was habe ich dir getan?«

Toñito nahm ihn am Arm. »Na, komm schon, gehen wir, bevor es noch anfängt zu regnen.«

Ich wusste nicht, woher Palmera aufgetaucht war, aber ich hatte den Verdacht, dass es etwas mit dem verborgenen Leben meines Bruders zu tun hatte, jenen langen, gefährlichen Nächten, von denen er mit geröteten Augen und einem inneren Lächeln zurückkam, hinter dem sich ein heimliches Vergnügen verbarg.

»Das Laster ist dir ins Gesicht geschrieben, Antoñito«, warf ihm meine Stiefmutter vor. »So jung und schon so verdorben!«

»Du musst gerade reden«, erwiderte mein Bruder. »Sollen wir unsere Laster vergleichen?«

Dann verkürzte der Marxismus seine Nächte, verlängerte seine Tage und verwandelte ihn in einen gewissenhaften Arbeiter, verantwortungsbewusster und ausdauernder, als er jemals gewesen war. Er versetzte ihn in sein wirkliches Alter zurück, eine Jugend, die eng mit dem revolutionären Fieber verbunden war. Doch obwohl er nun die meiste Zeit mit seinen Freunden aus dem Viertel konspirative Pläne schmiedete, verschwand Palmera nicht gänzlich aus seinem Leben.

»Ach, Toñito, was bist du langweilig geworden!«

Als er ihn zum ersten Mal zu Hause abholte, war der Sommer 1936 noch nicht zu Ende, doch auch er hatte sich verändert. Ich erkannte ihn kaum wieder, als ich die Tür aufmachte.

»Palmera!« Toñito dagegen lachte laut. »Wie siehst du denn aus?«

Der Paradiesvogel war ungeschminkt, trug keinen Hut, unter dem er seinen Kahlkopf hätte verbergen können, dafür aber ein weißes Hemd mit durchgescheuertem Kragen, ein graues Jackett, das ihm viel zu groß war, eine Cordhose und billige Schuhe. Er fuhr mit dem Zeigefinger vom Kopf bis zu den Füßen an sich herab, und seine Mundwinkel zitterten wie die eines Kindes, das kurz davor ist loszuheulen.

»Wie ein Bauer?« Mein Bruder nickte, und er verdrehte die Augen. »Na ja, die Zeiten sind nicht gerade dazu angetan, sich herauszuputzen. Dieses ganze Gerede von der Revolution … Die deinen geben sich so zugeknöpft wie der Reißverschluss eines Toreros, und das Mädchen, na ja, darüber brauchen wir erst gar nicht zu reden.«

Mit dem Mädchen war Eladia gemeint, die den Passanten, die ihr nachmittags in der Calle Santa Isabel begegneten, noch immer den Atem raubte, nun allerdings nicht wegen des engen Rocks oder der hochhackigen Schuhe, die früher die Männer angezogen hatten wie ein Magnet. Jetzt gingen sie ihr lieber aus dem Weg, wenn sie sie in ihrem militärischen Aufzug, mit CNT-Mütze und riesiger Pistole am Gürtel auf sich zukommen sahen.

»Verdammt, Eladia.« Mein Bruder war der einzige ihrer Bewunderer, der noch nicht desertiert war, denn nicht einmal ihr militärisches Auftreten konnte ihn davon abbringen, pünktlich zu ihren Rendezvous zu erscheinen. »Egal, was du trägst, du siehst einfach umwerfend aus!«

»Pass auf, Antoñito!« Wie eine Furie wandte sie sich ab, aber immer nur so rasch, dass sie ihm, wenn er sie wortlos vorbeiließ, noch einen herausfordernden Blick zuwerfen konnte. »Du gehst mir auf den Wecker, weißt du? Nicht, dass es dir eines Tages noch leidtut.«

»Leidtut?« Eines Nachmittags traute er sich sogar, ihr eine Kusshand zuzuwerfen. »Du wirst mir schon noch geben, was ich will.«

»Ah!« In diesem Augenblick überquerte ich die Straße und sah, wie Eladia die Pistole aus dem Gürtel zog und sie von allen Seiten inspizierte. »Wirklich?«

Toñito ließ sich nicht beirren. »Ja, und viel eher, als du glaubst.«

»Wenn du dich da mal nicht irrst.« Noch ehe ich mich zwischen die beiden stellen konnte, steckte sie die Waffe wieder in den Gürtel und grinste meinen Bruder höhnisch an.

Im Mai des nächsten Jahres spielte Antonio de Hoyos y Vinent auf der anderen Seite des Tresens in der Samenhandlung mit imaginären Kastagnetten und flößte mir mehr Angst ein als Palmera. Ich hatte mich daran gewöhnt, ihn als eine schlafwandelnde, exotische Ausgabe von Puñales, Orejas, Manitas oder Julián anzusehen, einen von Toñitos Kumpeln, der ihn gelegentlich abholte, um in einer Kneipe auf die alten Zeiten anzustoßen. Wenn ich auf das Angebot des ungewöhnlichsten Kunden, den ich je bedient hatte, einging, dann nicht, weil seine offensichtliche Liebe zum Flamenco eine Art Garantie darstellte, sondern aus reiner Neugier.

»Hör mal, Manolita, ich muss ein paar Wertgegenstände verkaufen und … Na ja, ich könnte Eusebio fragen, gewiss, aber diese Genugtuung würde ich ihm nur ungern verschaffen. Daher habe ich mir gedacht, dass ich lieber mit deiner Mutter verhandeln würde, wenn es dir nichts ausmacht, zwischen uns zu vermitteln. Man hat mir erzählt, dass du ein braves Mädchen bist, und es wäre für eine gute Sache, das kannst du mir glauben.«

Er sah mich mit erhobenen Brauen an und wartete auf eine Antwort, die ich ihm nicht geben konnte. Stattdessen starrte ich auf das Geheimnis seines Monokels, das die Veränderungen seines Gesichtsausdrucks unbewegt hinnahm.

»Ich weiß nicht«, stammelte ich schließlich. »Was müsste ich denn tun?«

»Nichts.« Ich hatte vergessen, dass ich in das Hörrohr sprechen musste, doch er hatte meine Frage erraten und lächelte mich an. »Mich nach Hause begleiten, sonst nichts. Wir fahren mit dem Wagen, dann zeige ich dir die Gegenstände, und anschließend bringt dich einer meiner Jungs wieder nach Hause. Bei passender Gelegenheit erzählst du deiner Stiefmutter, was du gesehen hast, und sagst ihr, dass sie mich besuchen soll. Ich bin sicher, dass es sie interessieren wird.«

»Na schön.« Bis Ladenschluss waren es nur noch zehn Minuten, und trotz der Zeiten, in denen wir lebten, und des Klimas, dass in Madrid herrschte, hielt ich es nicht für gefährlich, zu einem Unbekannten ins Auto zu steigen. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, dass er mir etwas antun könnte. »Wenn es nicht zu lange dauert.«

Von allem, was ich an jenem Tag im Palast des Marquis de Hoyos zu Gesicht bekam, beeindruckte mich das, was er mir hatte zeigen wollen, am wenigsten. Noch nie im Leben hatte ich so viele Wertgegenstände auf einmal gesehen, doch der Schmuck, das Porzellan, die Silbertabletts — all das ergab einen Sinn. Diese Kostbarkeiten waren in einem solchen Haus nicht fehl am Platz. Seine Bewohner dagegen umso mehr.

Als wir in die Calle Marqués de Riscal einbogen, hupte der Milizionär, der als Fahrer diente, und jemand öffnete von innen das große Tor, durch das man zu dem Anwesen gelangte. Seine Fassade wirkte aus der Ferne so bescheiden wie die aller Madrider Paläste. Doch die diskrete Tarnung löste sich schon in dem aus Granit gebauten Eingangsbereich auf. Die spektakuläre Treppe aus weißem Marmor war mit einem roten Perserteppich bedeckt. Etwas weiter weg, auf der anderen Seite des Innenhofs, den der Mercedes auf dem Weg in die Garage durchquerte, sah man durch einen Bogen hindurch auf das Grün der Gartenanlage hinter dem Gebäude. Dorthin steuerte jetzt mein Gastgeber, und als ich ihm folgte, sah ich durch die Fenster auf volle Wäscheleinen im Innenhof, bevor ich das Geschrei der Kinder hörte, die quer durch den Hof um die Wette auf den Herrn im Blaumann zurannten.

»Langsam, langsam …«

Lachend versuchte Hoyos das Gleichgewicht zu halten, während zwei Dutzend kleine Hände ihn in alle Richtungen zerrten. Erst, als es ihm gelungen war, verstand ich, was ich sah. Der Hausherr hatte sämtliche Taschen voller Süßigkeiten, Bonbons, Lutscher, Lakritze und Pralinen, die in leuchtend bunte Papierchen gewickelt waren, doch er verteilte seine Geschenke erst, nachdem die Kinder sich beruhigt und in einer Reihe aufgestellt hatten.

»Man könnte meinen, wir geben ihnen nicht genug zu essen, was?«, sagte er zu mir, als die Kleinen, ohne sich zu bedanken, ebenso schnell wieder davonliefen, wie sie gekommen waren. »Hier.« Er zog einen kleinen Schokoriegel aus der Tasche und reichte ihn mir. »Der ist für dich. Wie alt bist du?«

»Vierzehneinhalb«, antwortete ich, während ich den Riegel ansah, ohne zu wissen, was ich damit machen sollte. »Im Oktober werde ich fünfzehn.«

»Dann bist du ja noch jung genug, um Schokolade zu essen. Na los, nimm ihn.«

Als ich hineinbiss, führte er mich in den ersten Stock hinauf. Auf der Treppe kamen uns zwei Frauen mit einem Wäschekorb entgegen und grüßten ihn so natürlich, als wären sie Nachbarn. Bevor er es mir erklärte, hatte ich bereits realisiert, dass sie es tatsächlich waren, denn die riesigen Räume, die wir durchquerten, waren mit Hilfe von Laken, Schnüren und Wäscheklammern in kleine Abteile unterteilt, in denen ganze Familien wohnten. Die Laken, die als Türen dienten, waren zurückgezogen, und während wir durch die provisorischen Korridore gingen, sah ich die Matratzen auf dem Boden und daneben Koffer aus Pappkarton, Haufen von gefalteter Wäsche, billige Spielzeuge, Handtücher und Waschschüsseln.

Wir durchquerten vier solche Säle, die durch weit geöffnete verglaste Türen miteinander verbunden waren. Im letzten, einer Bibliothek, an deren Wänden sich Glasvitrinen voller Bücher reihten, führte eine Treppe in den zweiten Stock zu einer mit Intarsien verzierten Tür, anscheinend die einzige im ganzen Haus, die abgeschlossen war.

»Hier entlang.« Auf der ersten Treppenstufe wandte er sich zu mir um und sah mich an. »Folge mir.«

Als wir oben ankamen, knöpfte er den Blaumann auf und kramte in seiner Brusttasche, und da uns hier oben niemand hören konnte, fragte ich:

»Was ist da los?« Ich zeigte auf das Menschengewimmel unten, ein Durcheinander wie auf den Fotos der Bahnsteige, die man jeden Tag in den Zeitungen zu sehen bekam. »All diese Leute.«

»Meine Familie«, entgegnete er belustigt, aber entschieden. »Letzten Sommer kannte ich noch keinen von ihnen, aber jetzt sind sie meine Familie, meine Geschwister, meine Kinder, meine Enkel.« Als er den Ausdruck in meinem Gesicht sah, hielt er inne und lächelte. »Flüchtlinge. Sie kamen im Sommer von überall her, manche aus dem Norden, andere aus dem Süden, alle auf der Flucht, mit den wenigen Habseligkeiten, die sie hatten retten können, bevor die Faschisten ihre Dörfer einnahmen … Ich sah, wie sie auf der Straße, auf den Treppen der Metro und im Freien schliefen, und in diesem Haus ist so viel Platz, da habe ich sie aufgenommen, zuerst auf eigene Kosten und später mit Hilfe meiner Genossen in der Gewerkschaft.«

»Die CNT?«, fragte ich laut.

»Ja, die CNT. Warum siehst du mich so an? Findest du das seltsam?«

»Seltsam? Nein, mehr als das.« Ich schnaubte skeptisch. »Dass jemand, der nie gearbeitet hat, einer Gewerkschaft angehört.«

»Und wer hat dir gesagt, dass ich nie gearbeitet habe?« Er lachte und schüttelte verwundert den Kopf. »Ich habe sogar sehr viel gearbeitet. Ich habe einen Haufen Bücher geschrieben.«

»Dann sind Sie Schriftsteller?« Er nickte. »Und was schreiben Sie?«

»Romane.«

»Wirklich?« Er nickte erneut. »Haben Sie welche hier?«

»Nun … Irgendwo wird es noch den einen oder anderen geben, aber du kannst sie nicht lesen.« Ehe ich ihn fragen konnte, wieso, erklärte er es mir. »Du bist noch zu jung, und meine Romane sind sehr unanständig. Die wären nichts für dich.«

»Doch«, protestierte ich. »Ich lese gern.«

»Ja, aber meine Romane handeln von lüsternen Frauen, von jungen Burschen, die Opium rauchen und in Bordellen verkehren, von Nachtschwärmern in verruchten Kneipen und dekadenten Liebhabern, alles …« Erst in diesem Moment, als er eine matte Geste machte, fand ich das Steinchen des Puzzles, das mir gefehlt hatte. Hoyos war so schwul wie Palmera, obwohl man es ihm auf den ersten Blick nicht ansah. »… wenig erbaulich.«

»Oder besonders revolutionär«, entgegnete ich und spürte zugleich, dass mich das nicht beunruhigte.

»Recht hast du.« Er lachte erneut. »Aber als ich sie schrieb, war ich noch kein Revolutionär.«

»Das sind Sie auch jetzt nicht«, erwiderte ich, als ich sah, was er in der Hand hielt. »Wenn diese Flüchtlinge wirklich Ihre Familie wären, hätten Sie diese Tür nicht abgeschlossen.«

»Da irrst du dich! Dass ich diese Tür abschließe, ist nur zu ihrem Wohl, um sie vor sich selbst zu schützen.« Ehe er den Schlüssel ins Schloss steckte, sah er mich an. »Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen, in ihrem tiefsten Innern hassen sie mich, und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Sie haben nie etwas besessen, und ich habe so vieles geerbt, ohne jemals etwas dafür getan zu haben … Sie sind keine schlechten Menschen, nur neidisch, habgierig, egoistisch, aber daran sind sie natürlich nicht selbst schuld. Es könnte nicht anders sein. Sie sind Menschen, arme Menschen, die es satthaben, zu hungern und zu leiden und ihre Kinder sterben zu sehen, kaum dass sie geboren sind. Ja, sie leiden. Aber nach der Revolution wird alles anders sein, und bis es so weit ist, bleibt diese Tür verschlossen, sonst würden sie alles stehlen und sich mit der Beute davonmachen. Sie würden ihre Beute für einen Apfel und ein Ei verkaufen, man würde sie übers Ohr hauen oder ihnen alles abnehmen und sie mit einem Messer aufschlitzen. Und wofür?« Er schloss die Tür auf, ließ mich aber noch nicht eintreten. »Für nichts. Um sie durchzubringen, ist es besser, wenn ich meine Schätze selbst verwalte, und dafür brauche ich deine Hilfe.«

Der Saal war nicht so groß wie die vorigen, aber schöner. Die hintere Wand wurde von einer großen verglasten Flügeltür eingenommen. Sie führte auf eine Terrasse hinaus, von wo man in den Garten blickte. Gardinen und Vorhänge waren zugezogen, trotzdem konnte man im gedämpften Licht der Mittagssonne die Gemälde an den Wänden, die Sofas und die Ledersessel in der Mitte des Raumes, eine mit weißem Samt bezogene Chaiselongue, Kerzenhalter, Pflanzen, Vitrinen mit Büchern und kleinere Gegenstände, darunter eine Sammlung orientalischer Ballerinen aus Bronze und Elfenbein auf den Fensterbänken deutlich erkennen. Auf der linken Seite blickte man durch eine halb geöffnete Tür in ein Schlafzimmer mit einem riesigen Himmelbett. Daneben gelangte man durch eine weitere Tür zu einem Arbeitszimmer mit einem schönen alten Schreibtisch aus Holz, der vor einem Bücherregal stand. Der Krieg, der sonst alles auf den Kopf stellte, hatte die Räume des Marquis de Hoyos nicht verändert. Und seltsamerweise schienen auch seine Gäste nicht betroffen zu sein.

»Jetzt will ich dir meine andere Familie vorstellen, die viel älter ist und mit den Arbeitern da unten nichts zu tun hat.« Damit deutete er auf ein halbes Dutzend Männer und Frauen, die mich unschlüssig und mit einer Mischung aus Neugier und Befremden anstarrten. »Meine Damen und Herren, Manolita, Schwester unseres geschätzten Freundes Antonio, die uns einen Besuch abstatten möchte.«

Dem hatte ich nichts hinzuzufügen. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich sagen sollte, daher musterte ich diese Herrschaften, die zu jeder anderen Zeit, an jedem anderen Ort, exzentrisch genug gewesen wären, im Madrid des Mai 1937 aber unvorstellbar, ja fast unmöglich erschienen, mit Ausnahme von zwei großen kräftigen Jungen. Beide trugen eine militärisch anmutende Uniform, die ich aber nicht zuordnen konnte.

Im künstlichen Halbdunkel dieses Nachmittags, wo die Tische noch voller überquellender Aschenbecher und leerer Flaschen waren, saß auf einem Sofa eine ältere Frau, in mehrere Lagen von Tüll gehüllt, die mich an die Häute einer Zwiebel erinnerten. Um die Stirn trug sie ein weißes Band, dessen Enden bis auf den Teppich reichten. Sie hob ihr Champagnerglas und grüßte mich. Mit der anderen Hand drückte sie eine junge Frau an sich, die den Kopf auf ihren Schoß gelegt hatte und ein kindliches Kleid trug, das ihre Oberschenkel kaum bedeckte. Ihnen gegenüber saß ein schlanker Mann, klein wie ein Kind, aber gepudert wie eine Diva. Er hatte das schüttere Haar mit Pomade angeklatscht, trug einen schmalen Schnurrbart und einen dunklen, gestreiften Anzug und warf mir einen missmutigen Blick zu. Als ich ihn erwiderte, fiel mir auf, dass ihm nur ein Strohhut fehlte, um wie eine Schaufensterpuppe aus dem vorigen Jahrhundert auszusehen, doch ich hatte keine Zeit, näher hinzusehen, weil ich in diesem Moment eine vertraute Gestalt in der Tür des Arbeitszimmers entdeckte.

»Hola, Manolita.«

Es war Eladia, besser gesagt, eine neue Eladia, ganz anders als jene, die ich kannte. Sie war ungeschminkt, das lose Haar fiel ihr über die Schultern, und sie trug einen lässig zusammengebundenen Morgenmantel für Männer. Die hochhackigen Schuhe waren der einzige Hinweis auf Carmelilla de Jerez, den ich an ihr ausmachen konnte. Trotzdem war sie mir niemals so schön erschienen wie in diesem Augenblick, vielleicht weil das Licht, das durch den Balkon des Arbeitszimmers fiel, sie wie eine Erscheinung erleuchtete. Ich ahnte, dass sie unter dem Morgenrock nackt war, und konnte mir nicht erklären, wie dieses unförmige, viel zu große Kleidungsstück ihr so gut stehen konnte.

»Komm, Manolita.« Hoyos nahm mich mit einer fast väterlichen Geste am Arm. »Das sind alles Faulpelze, und wir beide haben noch zu arbeiten.«

Er führte mich in sein Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Dann nahm er wieder seinen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete einen Teil des riesigen Schranks, der die ganze Wand einnahm. Im Innern, auf den Regalen, schlummerte sein Schatz.

»Meine Güte!« Ich holte tief Luft, geblendet von dem Funkeln des Goldes und des Silbers. »Das ist ja wie in der Räuberhöhle von Ali Baba …«

»In der Tat«, lächelte er. »Noch. Du stehst vor der Beute, die die Marquis de Hoyos während vieler Jahrhunderte angehäuft haben, die es aber bald nicht mehr geben wird.«

»Wollen Sie all das verkaufen?«

»Natürlich. Wie du gesehen hast, muss ich eine ziemlich große Familie durchbringen. Aber ich will nicht alles auf einmal abstoßen, das würde die Preise verderben. Ich werde einige Sachen auswählen und sehen, was mir deine Mutter dafür bietet.«

Während er ein paar Kerzenleuchter, mehrere Silbertabletts und ein Diadem, das einer Kaiserin würdig war, auf das Bett legte, ging mir auf, womit María Pilar Geschäfte machte, doch dann überkamen mich Zweifel.

»Darf ich Sie etwas fragen?« Er drehte sich um und nickte. »Das hier muss doch ein Vermögen wert sein. Wieso vertrauen Sie mir?«

»Weil dein Bruder gesagt hat, dass ich dir trauen kann.« Er lächelte, ehe er es mir erklärte. »Ich bin zuerst zu ihm gegangen, schließlich sind wir alte Freunde, doch er meinte, er wolle sich da lieber raushalten. Das ist verständlich, er ist Kommunist und ich bin Anarchist, und wie du weißt, sind unsere jeweiligen Leute sich spinnefeind. Deshalb sagte er, ich solle mit dir reden, weil du keiner Seite angehörst … Sollte etwas schiefgehen oder deine Stiefmutter sich verquatschen, oder jemand das hier für etwas halten, was es nicht ist, wirst du keine Nachteile haben.«

»Verstehe, aber …«

Hoyos runzelte die Stirn in Erwartung eines Einwands, den ich nicht in Worte zu fassen vermochte, da ich die Bilder, die ich plötzlich im Kopf sah, nicht deuten konnte. Es waren bloß unzusammenhängende Erinnerungen, nicht mehr. Wie María Pilar die Haustür öffnete, nachdem jemand leise geklopft hatte, zwei Köpfe, die sich hinter der geriffelten Glastür des Wohnzimmers abzeichneten, ein leise gemurmelter Rat, täusch dich nicht in mir, Orejas, Indizien einer verborgenen Wahrheit, der die Offenbarungen jenes Tages einen gewissen Sinn verliehen, nichts weiter. Es war zu wenig, zu vage und zu wirr, um auch nur einen Verdacht zu äußern, doch Hoyos ließ nicht locker.

»Aber was?«

»Nichts.« Ich gab klein bei. »Ich glaubte, es wäre Orejas, der sich um so etwas kümmert.«

»Wer?« Ich beschrieb ihn, doch Hoyos schüttelte nur den Kopf. »Tut mir leid, meine Liebe, aber ich kenne keinen Orejas.«

Dann widmete er sich erneut dem Inhalt des Schranks, nahm Gegenstände heraus und legte sie wieder zurück, bis er eine Kollektion beisammenhatte, mit der er zufrieden war.

Als wir wieder aus dem Zimmer traten, sagte der Mann, der wie eine Schaufensterpuppe aussah: »Na, habt ihr euch gut amüsiert?«

»Narciso.« Hoyos rief einen der beiden militärisch gekleideten jungen Männer zu sich, als hätte er ihn nicht gehört. »Tust du mir einen Gefallen? Bringst du bitte Manolita nach Hause?«

Während wir durch die Straßen der verwundeten Stadt fuhren, vorbei an Barrikaden, Sandsäcken, Holzbalken, die die Fassaden der Gebäude stützten, die noch standen, und den Schutthaufen von Häusern, die unter dem Bombenhagel eingestürzt waren, dachte ich an das Madrid, das ich gekannt hatte, als ich noch jeden Tag um die Mittagszeit an der Plaza Antón Martín die Metro nach Tribunal nahm. In der Kneipe seines Freundes Manuel Rodríguez aßen mein Vater und Toñito den Eintopf, den ich ihnen brachte, und tranken dazu ein Kännchen Wein und zwei Gläser Anislikör. Zu dieser Stunde waren die Straßen, die Straßenbahnen und Wagen der Metro voller junger, mit Körben beladener Frauen, viele davon schwanger, die die Stadt in alle Richtungen durchquerten. In den Körben reiste das Mittagessen, das sie ihren Männern brachten. Um zwei Uhr nachmittags füllte sich Madrid mit Pärchen, Männern und Frauen, die zusammen auf kleinen Mauern, Bänken und den halb fertigen Wänden der Baustellen eng aneinandergeschmiegt saßen und mit einem Löffel in der Hand aus demselben Topf aßen. Ich beobachtete sie im Vorbeigehen, wie sie ruhig lächelten und sich freuten, sich mitten am Tag treffen zu können, um eine kurze Mahlzeit auf der Straße zu teilen und von längeren Nächten zu träumen. Es waren Anzeichen eines schlichten Glücks, so bescheiden wie die Tontöpfe, die sie vereinten. Ich betrachtete sie gern und spürte einen Anflug von Wärme, eine kleine neidische, aber nicht böse gemeinte Freude, weil sie mir klarmachte, dass das Leben dieser jungen, verliebten Frauen gut zu mir passen würde.

»Wir müssen reden.« Eines Abends, nachdem ich die Küche aufgeräumt hatte, stützte ich die Hände auf den Tisch, der Toñito als mobiles Büro diente, und deutete mit dem Kopf nach oben. »Sobald sie ins Bett gegangen sind.«

Eine halbe Stunde später schlossen wir geräuschlos die Tür hinter uns, stiegen die Treppe hinauf und setzten uns auf die oberste Stufe. Seit wir hierhergezogen waren, war dieser Absatz, der zur Mansarde führte, der Ort, an dem wichtige Besprechungen der Geschwister Perales García stattfanden, obwohl wir Isa dieses Mal weiterschlafen ließen.

»Das ist ganz einfach.« Und während ich Toñito zuhörte, konnte ich nicht fassen, dass ich nicht eher dahintergekommen war. »Alle gehören irgendeiner Hilfsorganisation an, die sich um die Flüchtlinge kümmert. Sie haben sich freiwillig gemeldet, sodass sie sich die Organisationen aussuchen konnten, und die Büros der Regierung, der Stadtverwaltung und der verschiedensten Parteien und Gewerkschaften unter sich aufgeteilt. Sie suchen sich die Häuser aus, werden mit einer Beschlagnahmeverfügung und ihren Ausweisen vorstellig und nehmen alle Wertgegenstände mit, die sie vorfinden, Silber, Uhren, Porzellan, Bilder, Möbel, und alles ist rechtens … Sie arbeiten mit Hehlern zusammen, die gut zahlen und keine Fragen stellen. Wenn sie den Lastwagen voll haben, stellen sie das, was sie nicht interessiert, wieder an seinen Platz, holen die Flüchtlinge ab, laden sie dort ab und gehen zum nächsten Haus.«

»Weiß Vater davon?« Mein Bruder schüttelte den Kopf. »Er ist bei der Sturmgarde, und das ist Diebstahl.«

»Klar ist es Diebstahl.« Er lachte und rauchte unbesorgt weiter. »Was hast du denn gedacht?«

»Ich weiß nicht, jedenfalls ist es ein Verbrechen, oder? Man müsste es verhindern, irgendwas tun …«

»Ja, schon.« Schließlich wurde er ernst. »Das weiß ich. Darüber habe ich schon nachgedacht und sogar mit Hoyos gesprochen, aber …« Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Ich würde ja nicht nur riesige Probleme zu Hause kriegen. Wenn wir sie auffliegen lassen, müssten wir alle auffliegen lassen, nicht? Die Presse würde darüber berichten, jeder würde es erfahren, und es würde genau das passieren, was immer passiert. Stell dir nur mal vor, was die Zeitungen der Faschisten in Burgos berichten würden. Madrid eine gesetzlose Stadt, Plünderungen, Chaos, also … Sie sind Diebe, das schon, aber sie tun ihre Pflicht, sie bringen die Flüchtlinge unter, leisten gute Arbeit und sind bei ihren Organisationen hoch angesehen. Viele wären bereit, sie zu decken, denn immerhin steht der Ruf der Hilfsorganisationen auf dem Spiel. Und das Wichtigste ist, dass wir den Krieg gewinnen. Nur das zählt. Später können wir sie uns vorknöpfen, aber jetzt wäre die Medizin schlimmer als die Krankheit.«

»Ich finde das nicht richtig«, wandte ich ein.

»Das kann ich mir vorstellen, aber … Du kannst dich damit trösten, dass Hoyos das genaue Gegenteil ist. Er gibt jeden Céntimo, den er hat, für Kohle, Kleidung und Lebensmittel aus, um die Leute durchzubringen, die er bei sich zu Hause aufgenommen hat. Und so sehr es dir gegen den Strich geht, im Augenblick können wir nichts anderes tun, als sie im Auge zu behalten.«

»Ja.« Da hatte ich das Gefühl, dass ich endlich verstanden hatte. »Hinter alledem steckt Orejas, nicht wahr?«

»Orejas?« Toñito runzelte die Stirn. »Nein. Wie kommst du darauf? Der hat keine Ahnung.«

»Was meinst du mit keine Ahnung? Natürlich weiß er davon.«

Er lachte.

»Aber nein! Er hat mit María Pilars Geschäften nichts zu tun.« Er schüttelte erneut den Kopf. »Du kannst ihn nur nicht leiden, weil du ihn mochtest, bis er dir diesen Spitznamen verpasste.«