DIE DREI RINGE - Elke Stolzenburg - E-Book

DIE DREI RINGE E-Book

Elke Stolzenburg

0,0

Beschreibung

Drei Ringe - drei Kulturen - und mehr als drei Geheimnisse Alles beginnt damit, dass die 15-jährige Maria während einer Israelfreizeit überraschend auf eine Doppelgängerin trifft, deren Spur sie aber gleich wieder verliert. Nach einer zunächst erfolglos-chaotischen Suche finden sich die beiden doch und stehen ratlos vor ihrer Vergangenheit. Zurück in Deutschland tun sich dunkle Abgründe in der Geschichte von Marias Familie auf. Sie entdeckt, dass drei Kulturen hier auf ungewöhnliche Weise aufeinanderprallen. Doch auch die Gegenwart stellt Maria vor einige Probleme. Sie muss mit Mobbing und dem Verlust von Freundschaft klarkommen. Auf der Suche nach ihrer wahren Herkunft scheinen die Überraschungen kein Ende zu nehmen... Eine ganz neue Rahmengeschichte rund um Lessings Ringparabel für junge Leute ab 14 Jahren

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 332

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Elke Stolzenburg ist Lehrerin, verheiratet und Mutter von drei Kindern.

Sie lebt mit ihrer Familie in Norddeutschland.

Die drei Ringe ist ihr erstes Buch.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Teil 2

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil 3

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Anhang

Geschichte des Tempelberges in Jerusalem

Erklärungen von Begriffen und Personen

Teil 1

April 2000

Kapitel 1

Maria hatte noch einige Straßen vor sich. Es begann zu regnen. Kalt und ungemütlich blies der Wind ihr die feinen Tropfen ins Gesicht. Mittlerweile war sie auf einer Strecke angelangt, an der keine anderen Schüler mehr zu sehen waren. Je näher sie der nächsten Straßenecke kam, desto unsicherer wurden ihre Schritte.

„Unsinn!”, sagte sie sich. „Heute wird nichts passieren! Was sollen die jetzt noch wollen!”

Sie bemühte sich, wieder zügiger zu gehen und sich nicht groß umzusehen. Das mulmige Gefühl wurde sie jedoch nicht los. Da waren Schritte ... oder bildete sie sich das nur ein?

Dann ging alles ganz schnell. Sandy, Sabrina, Melanie und Katrin umringten sie.

„Hallo, Löwenzähnchen, geht’s dir auch gut? Sollen wir vielleicht etwas nachhelfen?”

„Oh nein, ihr wird ganz schlecht. Gleich kippt sie um!” rief Sabrina und versetzte Maria einen kräftigen Stoß.

Sie taumelte und fiel gegen Katrin, konnte sich dann aber wieder fangen.

„He, lass Katrinchen in Ruhe!” empörte sich Melanie nun und schubste Maria in die andere Richtung. Diesmal fiel Maria wirklich hin. Schnell wollte sie nach ihrer Tasche greifen, die sie verloren hatte, aber es war zu spät.

„Wollen wir doch mal sehen, ob die heilige Maria auch alles Wichtige dabei hat!” meinte Sandy und öffnete die Tasche.

„Also nein, was für eine Unordnung!”, fuhr sie fort und kippte den Inhalt auf die regennasse Straße. „Die schönen Bücher! Das wird Mami aber gar nicht gefallen!”, höhnte sie.

„Alles wird dreckig und ... Was ist das denn?“, unterbrach sie sich selbst. Sandy hatte die Geschichts-Unterlagen von Marias Freundin Anja entdeckt. „Haben wir dir nicht gestern erst gesagt, dass es gar nicht gut für dich ist, zu viel über die Weimarer Republik zu wissen?!”

Sandy blätterte die Papiere kurz durch und ließ sie dann in eine große Pfütze fallen.

„Oh, das tut mir aber leid”, kam es schadenfroh. „Die Weimarer Republik ist im Eimer! Nun können die gute Maria und die brave Anja übermorgen gar nicht mehr mit ihrem Wissen glänzen!”

Melanie, Sabrina und Katrin lachten. „Tja, ich fürchte, wir müssen weiter. Es war schön, geplaudert zu haben. Leider haben wir keine Zeit mehr, dir beim Aufsammeln zu helfen.”

Die vier wandten sich zum Gehen. „Und vergiss nicht unsere kleine Abmachung darüber, dass du keinem davon erzählen wolltest, dass die bösen Mädchen dich geschubst haben. Es würde sowieso jeder lächerlich finden!”

Kurz darauf waren sie verschwunden. Wütend stemmte Maria sich hoch und holte als Erstes die Blätter aus der Pfütze. Alle Seiten waren total nass und die Tinte so verlaufen, dass man kaum noch ein Wort erkennen konnte.

Anja würde ärgerlich sein. Sicher – man konnte auch aus Büchern lernen und einiges wusste Maria sowieso noch. Aber wie sie Anja das klar machen sollte, wusste sie nicht. Es war schon schwierig genug gewesen, die Aufzeichnungen auszuleihen, ohne zu erklären, wo ihre eigenen waren. Sie schämte sich und wollte nicht, dass irgendjemand – auch nicht Anja – erfuhr, dass die vier es immer wieder schafften, sie so fertig zu machen. Und ... hatte Sandy nicht sogar Recht? Im Grunde hatten sie sie ja nur geschubst und nichts Schlimmeres gemacht. Wahrscheinlich würden alle sie für eine wehleidige Petze halten, wenn sie einem Erwachsenen davon erzählte. Warum hatte sie sich nicht Sandys Clique gegenüber behaupten können? Warum waren ihr nicht ein paar kühne, schlagfertige Worte eingefallen, die sie ihnen entgegen schleudern konnte?

Niedergeschlagen sammelte sie Bücher und Hefte wieder ein und machte sich auf den Weg nach Hause.

Es gab Spaghetti. Die Jungs waren glücklich, nur Johannes wehrte sich, als die Mutter seine Nudeln kurz schneiden wollte: „Jo alleine!!! Jo alleine!!!”

„Deine Sorgen möchte ich haben!”, murmelte Maria leise vor sich hin.

„Hast du was gesagt?”, fragte ihre Mutter.

„Nein, nicht wirklich. Ist schon gut.”

„Also hast du doch was!”, hakte die Mutter noch mal nach.

„Nein. Mir liegt nur die Geschichtsarbeit im Magen.” Das stimmte zumindest bis auf das Wörtchen nur.

„Na gut. Umso besser. Ich muss nämlich gleich mit Paul zum Arzt. Dann kannst du bitte so lange auf die Jungs aufpassen.”

„Aufpassen? Auf Simon muss ich ja wohl nicht mehr aufpassen! Im Gegenteil, der könnte sich auch mal um Johannes kümmern!”, protestierte Maria.

„Die Diskussion hatten wir doch schon hundertmal! Außerdem kriegt Simon nachher Besuch von Max!”

Na, das konnte ja heiter werden. Max, der Schrecken aller Eltern und Lehrer! Meistens flippte Simon in seiner Gegenwart auch aus. Hoffentlich ließen die beiden sie und Johannes in Ruhe.

„Was ist mit mir? Morgen schreib' ich Englisch, dafür muss ich auch noch lernen. Und Geschichte ...“

„Du schaffst das schon.“ Damit war die Diskussion beendet.

Nachdem die Mutter mit Paul aufgebrochen war, nahm Maria ihre Hausaufgaben und ihre Englisch-Vokabeln und setzte sich zu Johannes ins Zimmer. Das ging besser als umgekehrt. So bestand wenigstens eine geringe Chance, dass sie in Ruhe lernen konnte.

Mathe, Deutsch und Physik hatte sie tatsächlich schnell hinter sich gebracht, während Johannes friedlich mit Duplo baute. Vielleicht konnte Simon ja ihre Vokabeln abhören, bevor Max kam. Sie ging hinüber ins Nachbarzimmer um zu fragen.

Simon war nicht gerade begeistert, erklärte sich nach einigen Diskussionen aber doch bereit. Als sie zusammen zurückkehrten, war Johannes verschwunden. Sein Bauwerk stand verlassen im Zimmer und überall lagen Duplo-Steine.

Maria rief nach Johannes – keine Antwort.

„JOHANNES!!!” Diesmal schrie sie.

Aber noch immer regte sich nichts.

„Das gibt es doch gar nicht! Er war doch gerade noch hier!”

„Vielleicht wollte er zu Mama”, warf Simon ein.

„Du meinst, er ist auf die Straße gelaufen?”, fragte Maria voller Schrecken.

„Könnte doch sein”, meinte Simon.

Maria antwortete nicht und rannte nach draußen. Nirgends eine Spur von Johannes. Weder im Garten noch auf der Straße. Wenigstens hörte sie auch keine quietschenden Reifen oder irgendwelche Geräusche, die auf einen Unfall schließen ließen. Wie weit konnte sich ein kleines Kind in der kurzen Zeit entfernt haben?

„Komm wieder rein, Maria”, rief Simon.

„Hast du ihn?” Maria klang erleichtert.

„Ähm, ich meine nur, dass du dich mal im Haus umsehen solltest.”

Maria suchte und suchte. Ihr kamen die Tränen, wenn sie sich ausmalte, wie sie das ihrer Mutter klar machen sollte. Bestimmt war irgendetwas Schreckliches passiert. Je länger Johannes weg war, desto sicherer wurde sie sich. Seltsam, dass sie sich heute Mittag noch Sorgen wegen der Schule und Sandys Clique gemacht hatte. Wie unwichtig ihr das auf einmal schien! Spätestens in ein paar Jahren würde sie die los sein. Aber wenn Johannes etwas Schlimmes passiert war ...

Es klingelte und Max kam. Simon verschwand ungerührt mit ihm in seinem Zimmer. Maria hörte die beiden kichern. So kaltblütig konnte man doch gar nicht sein! Überhaupt war Simon während der Suche sehr oft in seinem Zimmer verschwunden.

Maria kam langsam ein Verdacht. Sie öffnete die Tür zu Simons Zimmer – und tatsächlich, da saß Johannes in der Ecke hinter dem Bett.

Er strahlte: „Jo -stecken spielt! Jo versteckt!”

Zuerst war Maria einfach nur erleichtert, aber dann stieg eine unglaubliche Wut auf Simon in ihr hoch.

Sie brüllte ihn an. Johannes begann zu weinen. Max grinste. Simon sagte nur: „Ich weiß nicht, was du hast. Er hat dich gesucht und ist deshalb in dein Zimmer gegangen. Wenn du nur einmal logisch nachgedacht hättest, anstatt gleich panisch nach draußen zu rennen, wärst du auch darauf gekommen. Ich habe ihn gleich gefunden. Und da du ja immer willst, dass ich mich auch mal mit ihm beschäftige, haben wir uns dieses kleine Spiel ausgedacht.”

Max begann zu wiehern und konnte sich kaum noch einkriegen. Johannes hatte aufgehört zu weinen und schaute unsicher zwischen den dreien hin und her.

Maria war außer sich. Sie schrie und brüllte, sodass auch Johannes wieder mit Geheule einsetzte. Schließlich knallte sie die Tür zu und verschwand in ihrem Zimmer. Dort malte sie sich aus, was sie den beiden Idioten am liebsten antun würde.

Oder vielleicht sollte sie einfach abhauen. Dann würde Simon mal sehen, wie das war! Wenn man sich Sorgen machte. Wenn man sich Vorwürfe machte. Aber vielleicht war Simon ja selbst dazu nicht imstande. Wahrscheinlich besaß er keine Gefühle. Nur ihren Eltern konnte sie das nicht antun. Und Paul und Johannes auch nicht.

Die Tür öffnete sich und Johannes kam herein. „-Ria böse?”, fragte er zaghaft.

„Komm her”, winkte sie ihn heran. „Nein, ich bin nicht böse. Ich hab dich ganz doll lieb!” Sie nahm Johannes auf ihren Schoß.

„Simon böse?”, wollte er jetzt wissen. Anscheinend verstand er doch schon mehr als Maria gedacht hatte.

„Nein, Simon ist auch nicht böse”, begann sie zögernd. „Er ist nur ein bisschen ... verrückt.”

„Simon bisschen -rückt”, wiederholte Johannes.

„Na ja, so ungefähr. Jetzt habe ich aber immer noch nicht meine Vokabeln geübt. Und das Problem mit der Geschichtsarbeit ist auch noch nicht gelöst. Ich muss jetzt wirklich lernen.”

„Lieber spielen”, forderte Johannes.

Maria seufzte. „Du hast ja recht. Machen wir lieber was Schönes zusammen.”

Die nächste Stunde verlief ohne weitere Zwischenfälle und als Marias Mutter mit Paul zurück kam, schien sie Maria sehr dankbar zu sein.

„Ich bin wirklich froh, dass du aufgepasst hast. Mit Johannes wäre es dort bestimmt eine Katastrophe geworden. War denn hier alles normal? Bist du überhaupt zum Lernen gekommen?”

„Nun, tja, Johannes war der Meinung, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt”, erwiderte Maria.

„Ich kann dich ja mal ein paar Vokabeln abfragen”, schlug die Mutter vor.

So machten sie es und bald fühlte Maria sich für die Englisch-Arbeit gut gerüstet. Leider war damit nicht das Problem mit Geschichte und Anjas Blättern gelöst. Inzwischen waren die Unterlagen getrocknet, aber das meiste war unlesbar. Maria stöhnte. Sie versuchte die Texte aus dem Gedächtnis und mit Hilfe der Bücher zu rekonstruieren. Fast alles schrieb sie neu auf. Dabei stellte sie sich immer wieder vor, wie Sandy selbst einmal im Matsch landen würde.

Schließlich war sie halbwegs mit ihrem Ergebnis zufrieden. Trotzdem graute ihr vor morgen. Beim Abendessen probte sie innerlich noch den passenden Satz, um ihrer Freundin den Verlust der Blätter schmackhaft zu machen:

„Hey, gute Nachricht: Es gibt nur halb so viel für Geschi zu lernen, wie du dachtest.“

Oder: „Herzlichen Glückwunsch! Du hast schon immer richtig getippt, hiermit ist es amtlich: Ich bin ein Obertrottel.“

Oder vielleicht: „Wollen wir die Graumann mal so richtig überraschen? Würde sich doch mal lohnen, zu sehen, was sie für Augen macht, wenn ausgerechnet wir leere Blätter abgeben?“

Aber wahrscheinlich würde sie nichts davon sagen. Sie würde sich tausendmal bei Anja entschuldigen und dann mit ihr gemeinsam lernen. Dabei konnte sie ihrer Freundin alles über die Weimarer Republik erklären und versuchen, den Verlust der Blätter irgendwie wieder gut zu machen.

Langsam tauchte sie aus ihren eigenen Gedanken wieder auf und begann, die Familie um sich herum wahrzunehmen.

„Simon bisschen -rückt”, erzählte Johannes gerade.

„Wie bitte? Wie kommst du denn darauf?”, erwiderte der Vater erstaunt.

„Simon bisschen -rückt, nicht böse! -Ria auch nicht böse!”, setzte Johannes hinzu.

Die Eltern sahen sich an. „Ich glaube, jetzt ist eine Erklärung fällig!”, forderten sie.

„Nichts Wichtiges“, brummte Maria, während Simon einen auffallend unbeteiligten Blick aufsetzte.

„Simon?“, fragte sein Vater streng.

„Mann, was ist denn? Ich hab doch gar nichts gemacht! Warum immer ich? Was kann ich denn dafür?“

„Wofür? Wofür kannst du angeblich nichts? Mehr will ich gar nicht wissen.“

Widerwillig erzählte Simon die ganze Geschichte.

„Und da hast du kein schlechtes Gewissen gegenüber deiner Schwester?“, hakte die Mutter nach.

„Ich dachte, das wäre eine coole Sache, um Max zu beeindrucken. Hat ja auch geklappt. Kann sein, dass es nicht so geil für Maria war.”

„Nicht dieses Wort!”, unterbrach die Mutter.

„Lass doch. Das bedeutet, er meint es ernst”, widersprach Maria, „das klingt ja schon fast nach Einsicht.“

„Geil -Ria“, wiederholte Johannes.

Paul begann zu kichern und auch Maria konnte sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen, während sich nun ein Donnerwetter über die Geschwister ergoss, in dem alle vier über einen angemessenen Wortschatz belehrt wurden.

***

Die „heißersehnte“ Englischarbeit stand am folgenden Tag direkt als erstes auf dem Programm. Auch wenn Maria damit keine Probleme hatte, so hatte sie doch die ganze Zeit dieses Drücken in der Magengegend, welches sie hoffen ließ, dass Anja in einem überraschenden Anfall von Alzheimer vergessen würde, die Unterlagen zurückzufordern.

Danach war Deutschunterricht. Jeder musste ein Referat über ein klassisches Werk und seinen Autor halten. Die meisten Vorträge verbreiteten einfach nur unermessliche Langeweile und schreckten eher ab.

„Noch zwei Wochen!”, stöhnte Anja. „Ich glaube, das halte ich nicht mehr aus.”

„Immerhin hast du dein Thema schon hinter dir”, flüsterte Maria zurück, „ich quäle mich noch damit herum.”

„Dürfte ich die Damen um Ruhe bitten!” Die spitze Stimme von Frau Müller-Klein ertönte. „Oder habt ihr so viel zu erzählen, dass ihr noch ein extra Referat halten wollt?”

Anja und Maria schwiegen.

„Sandy, meine Liebe, fahre bitte mit deiner Schilderung fort. Ich hoffe, dass wir nicht noch mal unterbrochen werden!”

Maria versuchte nun wieder, Sandys Bericht über Schillers Leben und den Inhalt von Wilhelm Tell zu lauschen, doch sie hatte den Eindruck, dass Sandy selbst nicht richtig verstanden hatte, was sie da erzählte. Also versuchte Maria sich vorzustellen, wie es wohl aussehen würde, wenn man einen Apfel auf Sandys kunstvoll drapierter Frisur abstellen würde. Am besten einen Bratapfel, der zu matschigem Brei zerplatzte, wenn ein Armbrustpfeil ihn traf.

Bei dem Gedanken besserte sich ihre Laune, die normalerweise immer im Keller war, wenn sie Sandy nur ansah. Aber sie wollte jetzt nicht daran denken. Krampfhaft versuchte sie, sich auf den Rütli-Schwur zu konzentrieren, den Ms. Bratapfel nun schilderte.

Nach einer halben Ewigkeit begann endlich die Pause.

„Das war ja total spannend, Sandy”, witzelte Anja, als diese an ihnen vorbeiging. Wütend starrte Sandy sie an und schickte dann einen kalten Blick in Marias Richtung.

„War das jetzt eigentlich nötig?”, hörte Maria sich sagen, nachdem Sandy sich mit ihrer Clique entfernt hatte. Dabei hätte sie ihrer Feindin am liebsten noch ganz andere Dinge an den Kopf geworfen.

„Bist du neuerdings zu ihrem Fan-Club übergelaufen oder was?”, gab Anja zurück.

„Nein, ich meine nur ... davon wird es nicht besser ...“ – (Warum blubberten immer so schrecklich vernünftige Sachen aus ihrem Mund?) – „Aber egal, lass uns das Thema wechseln, sonst wird mir noch schlecht.”

„Ich bin froh, wenn endlich die Ferien anfangen“, griff Anja den Vorschlag auf. „Morgen noch Geschichte, dann noch eine Woche und das war’s dann erst mal.”

Geschichtsarbeit – ganz schlechtes Thema! Das flaue Gefühl in Marias Magen meldete sich. Schnell griff sie den anderen Faden auf. „Für dich vielleicht. Ich hab ja noch das Referat vor mir ... Lessing und Nathan der Weise ... weil ich Ostern nach Jerusalem fliege, meinte sie, das würde ja – juhu – soooo schön passen! Wahrscheinlich komme ich eh erst nach den Ferien dran. Ich muss das dann den ganzen Urlaub über vor mir herschieben.”

„Immerhin unternimmst du was! Israel, das klingt doch echt spannend!”

„Ja, klar!“ Maria verdrehte vielsagend die Augen. „Gut, irgendwie freu’ ich mich schon, ich hab' es mir ja selbst so ausgesucht, aber ich hab' auch Angst, dass es total öde werden könnte, wenn wir von morgens bis abends nur Besichtigungen machen.”

„Mann! Echt. Kann man es dir eigentlich auch mal recht machen?! Es ist eine Jugendfreizeit. Also! Ich wäre gern mitgekommen, aber na ja, du weißt ja ...!”

Es war kein Geheimnis, dass Anjas Eltern immer knapp bei Kasse waren und schon das ganze Jahr für einen Türkei-Urlaub im Sommer sparten. Außerdem war Anja von ihrer Mutter darüber belehrt worden, wie gefährlich es doch sei, nach Israel zu reisen.

Als Maria ihren Eltern davon erzählt hatte, waren ganz ähnliche Sprüche gekommen. „Meine Idee war diese Freizeit nicht, das weißt du!“, hatte ihr Vater immer wieder betont. „Aber wie würde es denn aussehen, wenn ausgerechnet ich es dir verbieten würde?“ Zu seinem Leidwesen war er Pfarrer der Kirchengemeinde, die diese Reise anbot. Maria hatte ihn mal wieder ekelhaft gefunden.

„Ich darf die ganzen Ferien hier herumsitzen”, fuhr Anja fort, „und mich langweilen. Selbst Sandy zu treffen, wäre dann schon eine willkommene Abwechslung.”

„Das klingt nach echter Not! Übrigens ...” Beim Stichwort Sandy waren Maria schon wieder die Unterlagen eingefallen. Sie musste das jetzt einfach hinter sich bringen. „ ... wollen wir nicht heute zusammen für Geschichte lernen? Ich ... ähm ... kann dir eine Menge erklären, wir brauchen die Aufzeichnungen dabei gar nicht ...“

„Ach stimmt. Die sind ja bei dir. Kannst du sie mir gleich, wenn wir reingehen, geben, bevor ich es wieder vergesse? Ich muss mir erst noch mal alles durchlesen.“

„Ja, klar, ähm, ich habe 'ne kleine ... ähm ... übersichtliche Übersicht erstellt, die ist viel besser ... ähm ... übersichtlicher.“

Anja betrachtete Maria überrascht. „Was ist denn jetzt los?“

Diese wurde rot. „Ich ... hab die Blätter ... auch ... verloren. Genau wie meine.“ Sie hoffte, dass Anja keinen Verdacht schöpfen würde.

„Verloren? Geht's noch? Was treibst du denn immer mit den Geschichtsaufzeichnungen? Du bist doch sonst so ordentlich! Wie hast du die denn verloren?“

„Ich habe keine Ahnung, wie und wo, sonst könnte ich sie ja wieder holen! Es tut mir echt leid.”

Anja schüttelte ungläubig den Kopf. „Also irgendwas stimmt nicht mit dir. Aber – na gut. Treffen wir uns heute. Ich hab' wohl ohnehin keine Wahl.“

Nachdem sie in der Mathe- und der Biologiestunde erfahren hatten, dass in der nächsten Woche noch zwei weitere Arbeiten anstanden, und sie sich zwei Stunden künstlerisch betätigt hatten, war die Schule endlich für heute zu Ende. Anja und Maria gingen ein kurzes Stück gemeinsam, dann trennten sich ihre Wege und für Maria begann die unangenehme Wegstrecke.

***

Irgendwie schleppten sich die letzten Schultage dahin und nun war es soweit: Endlich Ferien! Zweieinhalb Wochen, in denen sie Sandy, Katrin, Sabrina und Melanie nicht sehen brauchte. Zweieinhalb Wochen ohne Büffeln für Klassenarbeiten. Zweieinhalb Wochen, in denen sie zumindest etwas länger schlafen konnte. Wenigstens hoffte sie das. Schließlich sollte eine Jugendfreizeit so etwas wie Urlaub sein.

Die ersten Ferientage waren bereits vorbei und morgen würde es dann losgehen. Schade, dass Anja nicht mitkam, und auch sonst niemand, mit dem sie viel zu tun hatte.

Natürlich kannte sie die meisten vom Jugendkreis: Mattes und Svenja z.B. waren ja einzeln ganz nett, aber sie klebten zur Zeit immer derart aneinander, dass mit ihnen nicht viel anzufangen war. Nils – unterirdisch, der war überhaupt nicht ihr Typ. Isabelle und Esther waren zwei Jahre älter, aber sonst eigentlich ganz in Ordnung. Außerdem waren da noch die Zwillinge, Karsten und Kirsten, die erst vor kurzem hierhin gezogen waren. Sie hatten noch nicht viel Anschluss gefunden. Maria wusste echt nicht, wie sie die beiden einschätzen sollte. Auf jeden Fall merkwürdig, weil sie nicht nur fast gleiche Namen hatten, sondern sich auch sonst sehr „zwillingsmäßig” verhielten: Obwohl sie Junge und Mädchen waren, trugen sie meistens die gleiche Kleidung und machten alles gemeinsam – und das mit vierzehn! Die anderen Teilnehmer der Freizeit kannte Maria noch nicht. Michael und Jessica, die Leiter, hatten aber in der letzten Woche noch einmal Werbung gemacht und angeblich noch ein paar Last-Minute-Teilnehmer aufgetrieben. Vielleicht war ja jemand Bekanntes dabei. Abwarten. Morgen würde sie es wissen.

Am Tag darauf gab es eine Überraschung. Maria empfand es als ziemlich böse Überraschung. Es war in der Tat noch jemand Bekanntes dazu gekommen:

Als sie zum Treffpunkt kamen, an dem der Reisebus starten sollte, wartete dort Katrin mit gepackten Koffern.

Die beiden starrten sich an. Auch Katrin hatte nicht gewusst, dass Maria mitfahren würde.

Maria wandte sich schließlich ohne ein Wort ab. Alle Vorfreude der letzten Tage war dahin. Warum bitte hatte das jetzt passieren müssen?! Was würde nun aus dem Urlaub werden?

Kapitel 2

Im Bus setzte Maria sich gleich auf den freien Platz neben Nils, damit nur ja keine Gefahr bestand, neben ihrer Feindin zu landen. Leider war das auch nicht die beste Wahl. Nils hatte natürlich sofort seinen Gameboy gezückt und war in andere Welten abgetaucht. So war die Fahrt nicht besonders spannend. Katrin dagegen, die weiter vorne neben Jessica saß, schien sich gut zu unterhalten. Die Leiterin erzählte vom Jugendkreis und lud Katrin ein, nach den Ferien mal vorbeizuschauen.

„Auch das noch ...!”, dachte Maria.

Nach ewig langer Warterei in den verschiedenen Zonen des Flughafens ging es endlich los. Diesmal hatte Maria es besser getroffen. Sie saß in einer Reihe mit Karsten und Kirsten und hatte noch dazu einen Fensterplatz. Das Wetter war wolkenlos und dadurch hatte sie einen atemberaubenden Ausblick. Zunächst konnte sie viele Einzelheiten von Frankfurt noch gut erkennen, später versuchte sie, andere Gegenden von Deutschland zu identifizieren. Alles schien sich in eine Modelleisenbahnlandschaft mit immer kleinerem Maßstab zu verwandeln.

Irgendwann wurde dann aber das Essen serviert. Sie entschied sich für Hühnchen, während Karsten und Kirsten – natürlich beide – das Rinderfilet wählten. Dazu gab es Reis und Bohnen. Alles schmeckte ungewohnt orientalisch und lecker – fand jedenfalls Maria.

In der Reihe vor ihr spielte sich dagegen ein Drama ab. Dort saß ein rundlicher Mann, dem man anscheinend nichts recht machen konnte. Er beschwerte sich, dass es keinen Speck zu den Bohnen gab und keine Sahnesoße zum Rindfleisch. Ob die Juden etwa ihre Sitten allen aufzwingen wollten?! Außerdem wollte er gerne ein scharfes Messer. Das Plastikbesteck sei eine Zumutung. Oder würde etwa jemand glauben, dass man ein Besteckmesser als Waffe benutzen könne? Dass man in der First Class Metallbesteck bekäme und hier nicht, sei eine Verletzung der Menschenwürde. Und überhaupt sei das Essen abgepackt wie Fertigfraß. Dagegen würden ihm die deutschen Fast-Food-Ketten ja wie Feinschmeckerlokale vorkommen. Er habe sich schon mehrmals auf Flugreisen beschwert, aber es habe sich immer noch nichts geändert. Ob denn die Fluggesellschaften alle schwer von Begriff seien?

Nachdem die Stewardess, die auf alle seine Äußerungen freundlich geantwortet hatte, sich entfernte, hörte Maria ihn vor sich hinmurmeln, dass die Mode ja total altbacken sei und man den Stewardessen unbedingt kürzere Röcke anziehen solle. Diese hier solle allerdings erst mal zehn Kilo abnehmen.

Während Maria einigermaßen entsetzt war, begann Kirsten plötzlich zu kichern. „Ich wusste gar nicht, dass es solche Leute tatsächlich gibt, er erinnert mich total an Onkel Vernon”, flüsterte sie Maria zu.

Maria schaute verständnislos zurück: „Wer ist das?”

„Wer – Onkel Vernon? Ach so. Nur eine erfundene Person aus einem Buch. Ich dachte, du kennst es vielleicht. Aber egal. Jedenfalls ist Onkel Vernon ein ziemliches Ekel und ich hielt das immer für übertrieben.”

Bald waren Maria und Kirsten in ein Gespräch über ihre Lieblingsbücher vertieft und schneller als gedacht stand die Landung im Ben-Gurion-Flughafen an.

Bis sie aus dem Flughafen raus waren, dauerte es noch einmal ziemlich lange, aber „Onkel Vernon” sorgte mit seinem Gemeckere dafür, dass es nicht langweilig wurde.

Inzwischen war es Abend und die Fahrt nach Jerusalem in zwei Sammeltaxis – wieder neben Nils – erschien Maria ziemlich endlos. Mittlerweile war sie neugierig auf ihr Ziel und außerdem sehr müde.

Im Hotel angekommen gab es das nächste Essen, danach wurden die Zimmer eingeteilt. Einige hatten sich vorher bereits abgesprochen. Maria wollte nun gerne mit Kirsten zusammen wohnen. Katrin hatte sich mit Svenja zusammen getan. Und so kam es, wie es kommen musste: Die vier landeten gemeinsam in einem Vierbettzimmer. Maria wäre am liebsten sofort wieder abgereist. Schlimmer hätte es gar nicht werden können. Kirsten und Svenja waren ständig mit Karsten bzw. Mattes zusammen – und wer blieb dann übrig?!

Nach dem Einräumen der Zimmer trafen sich alle noch einmal in einem Gruppenraum. Neben den Teilnehmern, die Maria schon kannte, waren noch spontan Steffen und Timo mitgekommen, die Maria vom Sehen aus der Schule kannte. Außerdem waren da noch Anna, Christina, Pia, Fritjof und Jan aus dem Nachbarort. Ganz offensichtlich waren Pia und Jan auch ein Paar. 16 Leute also, plus Michi, Jessica und Tamar, eine Mitarbeiterin, die hier vor Ort wohnte.

Die unvermeidlichen Kennenlernspielchen standen an. Hinterher wusste sie, dass sie die gleiche Zahnpastasorte wie Fritjof benutzte und dass Isabelle keine Mehlwürmer mochte. Nie hätte sie erwartet, dass die Zwillinge an ihren Lieblingsfarben zu unterscheiden waren – ein in Richtung Beige gehendes Apricot gegen ein erdiges Terrakotta – und dass Nils die größten Füße von allen hatte: Schuhgröße 49.

Danach gab es noch ein Israelquiz, bei dem Marias Gruppe – bestehend aus allen ehemaligen Blockflötenspielern – sogar am besten abschnitt und die Blinddarm-Wurmfortsatz-Befreiten knapp besiegte. Die Immer-noch-Windows95-Benutzer belegten Platz drei vor den Hochbettbesitzern, zu denen erfreulicherweise auch Katrin gehörte.

Zum Abschluss stellte Michi die Ausflugsziele für den nächsten Tag vor: Es sollten zunächst die berühmtesten Punkte angesteuert werden. Nach dem obligatorischen Blick vom Ölberg auf die Stadt ging es zur Klagemauer in der Altstadt. Auch die sogenannte Via Dolorosa, der Kreuzigungsweg Jesu, inklusive Grabeskirche stand schon morgen auf dem Programm. Am Freitag, der gleichzeitig der Karfreitag war, würde es dort laut Michi nämlich ein totales Massengedränge geben. Maria stöhnte innerlich und machte sich auf ein paar langweilige Vorträge gefasst.

Auf dem Viererzimmer herrschte anschließend frostige Nordpolstimmung. Kirsten und Svenja versuchten mehrmals ein vernünftiges Gespräch in Gang zu bringen, aber sie scheiterten am eisigen Schweigen der beiden anderen.

„Echt! Ihr seid vielleicht Idiotinnen! Hättet ihr uns nicht vorwarnen können?! Dann hätte ich mir andere Mitbewohner gesucht. Ich weiß ja nicht, was da zwischen euch los ist, aber ich habe keine Lust, mir von euren Spinnereien den Urlaub verderben zu lassen!”, fauchte Svenja schließlich.

„An mir liegt es nicht”, ließ sich nun Maria vernehmen.

„Tatsächlich?”, warf Katrin ein. „Nun, an mir auch nicht.”

Dann schwiegen beide wieder.

Svenja verdrehte die Augen. „Ich glaube, ich brauche frische Luft!”, sagte sie und rauschte zur Tür.

„Warte, ich komme mit!” Kirsten folgte ihr.

Nun waren Maria und Katrin allein. Doch es gab keine Aussprache. Wortlos ging Maria ins Bad, putzte die Zähne und legte sich dann ins Bett. Natürlich konnte sie lange nicht einschlafen, aber sie schloss die Augen. Katrin machte es genauso.

Bald darauf kehrten die anderen kichernd zurück und legten sich schließlich auch ins Bett. Sie gaben sich keine Mühe, leise zu sein.

„Die schlafen eh noch nicht”, meinte Svenja zu Kirsten, „auch wenn sie sich einbilden, sie müssten so tun als ob.”

Stundenlang unterhielten sich die beiden noch über alle möglichen Themen, während Maria darüber nachdachte, dass sie es mal wieder geschafft hatte, alle Zimmergenossinnen gegen sich aufzubringen.

Erst lange Zeit, nachdem sie von den dreien gleichmäßige Atemzüge hörte, schlief auch sie ein.

***

Der neue Morgen begann mit einem interessanten Frühstücksbüfett. Es gab alle möglichen bekannten und unbekannten Sachen, nur eines fehlte: Wurst, Würstchen und anderes Fleisch.

Mattes, der am gleichen Tisch saß wie Maria, jammerte ein bisschen herum, denn er aß morgens immer nur Wurstbrote.

Svenja stöhnte: „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Wenn man in einem anderen Land ist, kann man sich ja wohl ein bisschen anpassen, oder? Sonst sollte man lieber zu Hause bleiben. Außerdem kannst du auch Fisch essen!”

„Fisch?! Zum Frühstück? Brr!!!” Mattes schüttelte sich.

Kirsten kicherte. „Vernon zwei”, raunte sie Maria zu. Maria lächelte erleichtert zurück. Anscheinend war Kirsten nicht ernsthaft sauer auf sie.

„Ich finde das Essen hier toll”, erklärte Kirsten und schob sich einen Löffel voll von einer roten Substanz in den Mund.

Zu spät bemerkte sie, was es damit auf sich hatte. Sie begann zu husten und zu spucken und schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich eine Serviette vor den Mund zu halten, um nicht alles auf dem Tisch zu verteilen. Ihre Augen tränten und sie rang nach Luft.

„Das nenne ich wahre Begeisterung, Schwesterchen!”, spottete Karsten und auch Mattes und Nils grölten vor Lachen.

„Ihr seid echt fies!”, meinte Kirsten, als sie wieder sprechen konnte. Doch auch sie musste lachen. „Probiert das Zeug ruhig mal. Es ist total scharf, aber wenn man etwas weniger nimmt, schmeckt es sicher gut!”

„Mich würde trotzdem mal interessieren, warum das Frühstück hier so vegetarisch abläuft, abgesehen von dem Fisch”, kam Mattes wieder auf sein ursprüngliches Thema zurück. „Gestern Abend gab es doch auch Fleisch.”

„Wahrscheinlich ist es hier eben einfach nicht üblich, genauso, wie wir eben keinen Fisch frühstücken”, antwortete Svenja.

„Ich habe gehört, dass die hier Fleisch und Milchprodukte nicht gleichzeitig essen dürfen. Das gehört zu den Regeln vom koscheren Essen*”, meldete sich Maria zu Wort.

„Echt jetzt? Warum denn das? Ich dachte, die dürften nur kein Schweinefleisch essen, wie die Moslems.” Kirsten war ganz erstaunt.

Maria zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, warum das so ist. Vielleicht kann diese Tamar es ja erklären.“

Bereits der erste Tag brachte atemberaubend viele neue Eindrücke mit sich. Maria hatte sich vorher gar nicht vorstellen können, dass das alles so spannend sein würde und dass auch die Natur in Israel so wunderschön war.

Die Klagemauer mit ihren riesigen, uralten Quadern war beeindruckend. Auch Maria wurde ein Zettelchen los. Es war gar nicht so einfach, noch einen Platz in einer Ritze zu finden für ihren Wunsch. Und es erstaunte sie, dass Gott an dieser Stelle nicht danach zu fragen schien, ob man Christ, Jude oder noch etwas anderes war.

Wie viele Bitten um Frieden wohl in dieser Mauer steckten, die immer noch nicht erfüllt waren?

„Habt ihr auch so viel Kram gekauft?”, fragte Svenja, als sie abends wieder zu viert auf dem Zimmer waren. „Meine Güte, die verlangen ja saftige Preise in den Basarlädchen. Hoffentlich reicht mein Geld bis zum Ende.”

„Bist du denn wenigstens auf die Idee gekommen zu handeln?”, warf Kirsten ein. „Die planen eigentlich immer einen Preisnachlass mit ein, das gehört dazu.”

„Vergessen!”, stöhnte Svenja. „Und Mattes hat auch nicht dran gedacht.”

„Ich konnte mir bei dem Rummel gar nicht vorstellen, dass das der Weg sein sollte, den Jesus mit dem Kreuz gehen musste”, begann Katrin nun.

Maria horchte überrascht auf. Als wenn Katrin sich ernsthaft dafür interessieren würde!

„Ging mir ähnlich”, sagte Kirsten, „und der Rummel in der Grabeskirche und an der Klagemauer hat mich auch genervt. Was die alle mit den Zetteln wollten? Was soll das bringen?! Ist ja kein Zauber-Wunschbrunnen.”

„Also ich habe auch einen Zettel in die Ritzen gesteckt”, entgegnete Svenja mit verträumter Miene. „Ich habe mir gewünscht, dass Mattes und ich für immer zusammen bleiben. Und ihr beiden?”

Sie blickte zu Maria und Katrin. Maria glaubte schon zu wissen, dass von Katrin irgendein oberflächlicher Spruch kommen würde, doch diese antwortete leise: „Dass Papa wieder zu uns zurückkommt. Und ich habe gedankt, für Mama und meine kleine Schwester Klara.”

Danken. Katrin. Irgendwie ärgerte sich Maria, dass ihr selbst das nicht eingefallen war. Zum Beispiel dafür, dass sie eine heile und nette Familie hatte. Oder dafür, dass Johannes nichts passiert war, neulich.

Sie merkte, dass die anderen eine Antwort von ihr erwarteten. „Frieden. Für das Land hier und überhaupt. Und außerdem ...“ Maria verstummte und druckste herum.

„Noch was? Raus damit!”, forderte Svenja sie auf.

Warum eigentlich nicht?, dachte sie trotzig und fuhr fort: „Ich habe mir noch gewünscht, dass es in der Schule besser wird.”

„Noch besser?”, spottete Svenja. „Ich dachte, du wärst eh schon so ‘ne Überfliegerin. Wie viel Einsen willst du denn noch?”

Katrin war rot geworden. „Ich glaube, sie meint was anderes. Sie meint Sandy ... und mich.”

Jetzt wurde Maria auch rot, während Svenja nur verständnislos „Häh?” herausbrachte.

„Sandy ... und ihre Clique, zu der ich auch gehöre, wir ... wir sind nicht immer nett zu Maria.”

„Uiii”, Kirsten pfiff durch die Zähne, „jetzt wird mir einiges klar.”

„Höchste Zeit, das zu ändern”, kommentierte Svenja, „Maria ist doch eigentlich ganz nett, oder? Sie kann ja nichts dafür, dass sie gut in der Schule ist.”

„Finde ich ja eigentlich auch”, gab Katrin zu und wandte sich dann an Maria: „Meinst du, wir könnten uns ab heute vertragen? Auch wenn ich früher fies zu dir war?”

„Ähm ... ja ... na klar ... kein Problem”, stotterte diese überrascht vor sich hin. Diese Wendung war völlig unverhofft gekommen.

Die beiden gaben sich die Hand.

„Halleluja. Amen”, seufzte Kirsten erleichtert, „dann kann es ja doch noch ein schöner Urlaub mit euch werden.

Maria lag auch in dieser Nacht noch länger wach. War es richtig gewesen, sich so schnell auf das Friedensangebot einzulassen? Die drei hatten sie derart überrumpelt, dass sie gar nicht anders gekonnt hatte. Jetzt jedoch kam die Wut wieder hoch. Wut auf all das, was Katrin ihr zusammen mit der Clique angetan hatte. Wollte sie überhaupt, dass sich der Wunsch auf ihrem Zettel erfüllte? Konnte sie verzeihen ... vertrauen...? Entschlossen setzte sie sich auf. Ja, sie würde Katrin eine Chance geben!

***

Die nächsten Tage waren einfach nur schön. Ostern in Jerusalem, sozusagen am Originalschauplatz, war absolut einmalig. Ohne Feindin kamen die Tage leicht und locker daher. Allmählich gewöhnte Maria sich daran, sich mit Katrin zu vertragen, im Grunde fand sie sie sogar ganz nett.

Für die Bewohner hier war die Sache mit dem Frieden schon schwieriger. Beim Besuch des muslimischen Viertels gestern hatte Tamar so einiges über die angespannte politische Situation erzählt. Als sie dann oben auf dem riesigen Plateau des Tempelberges standen, begriff Maria erst, wie wichtig dieser Platz auch für die Moslems war. Die betenden Menschen, der achteckige, blaue Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee erzählten ganz fremde Geschichten. Geschichten von Mohammed, der eine nächtliche Reise hierhin gemacht hatte, dabei die alten Propheten traf und von hier aus gen Himmel geritten sein sollte. Es war, als würde man in eine ferne Welt eintauchen.

Passend dazu gab es am Abend ein Treffen mit palästinensischen Jugendlichen. Irgendwie waren sie einfach ganz normal. Zwar war die Verständigung schwierig, da nicht alle Englisch und schon gar nicht Deutsch konnten, aber es war trotzdem nett. Ein paar berichteten dann vor der ganzen Gruppe mit Übersetzer aus ihrem Leben und von ihrer Familie. Traurig und schockierend. Eigentlich hörte man sonst immer nur von dem, was die Juden bzw. Israelis durchgemacht hatten. Dass auch manche Palästinenser ihr Zuhause und ihre Angehörigen verloren hatten, hatte keiner von der deutschen Gruppe so richtig gewusst.

***

Heute war nun Ostern und morgen war das jüdische Viertel dran. Dabei sollte auch ein besonders umstrittener Ort besichtigt werden. Der Westmauertunnel.

Für die frommen Juden war der Ort teilweise noch heiliger als die Klagemauer, für die Moslems war er ein Stein des Anstoßes, denn er lag unter ihrem Basar-Viertel. Den Gang, der weiter entlang der Mauer führte, gab es schon lange, doch als ein zweiter Ausgang geschaffen werden sollte, um mehr Besucher durchzuschleusen, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Menschen starben.

„Wir werden trotzdem dorthin gehen”, kündigte Tamar an. „In der letzten Zeit ist nichts mehr passiert und vielleicht spürt ihr dort die besondere Kraft des Ortes.”

Michi und Jessica schienen nicht ganz ihrer Meinung zu sein, aber es war entschieden.

„Ich finde, Tunnel klingt interessant“, klärte Svenja die anderen auf, als sie anschließend zusammensaßen. „Klingt irgendwie nach Geheimgang und erinnert mich an meine Fünf-Freunde-Bücher, die ich, als ich klein war, gelesen hab.“

„Ich denke mal nicht, dass wir hier auf Schmuggler treffen“, meinte Kirsten trocken. „Außerdem ist Jerusalem voll von unterirdischen Gängen. Ich hätte lieber den Hiskia-Tunnel besucht.“

Svenja war von Kirstens Bericht über die 2700 Jahre alte, begehbare Wasserleitung fasziniert.

„Vielleicht gehen wir ja noch hin“, schloss diese.

„Wenn es da richtig nass ist, musst du mich aber tragen, Mattes!“, bat Svenja ihren Liebsten.

Kirsten und Katrin verdrehten synchron die Augen.

Der Gefragte schaute auf, erwiderte jedoch nichts, denn er hatte sich gerade ein ganzes Osterei in den Mund gestopft. Nun versuchte er, es so schnell wie möglich herunterzuschlucken und Svenja zuzulächeln, was zu beachtlichen Grimassen führte.

Die Mädchen kicherten.

Marias Gedanken schweiften allerdings schnell wieder ab zum Westmauertunnel, der definitiv auf dem Programm stand.

Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl dabei. So als wüsste sie, dass die Besichtigung morgen eine ganz besondere werden würde.

***

Maria starrte die Steine an. Die Worte des Tunnelführers klangen in ihren Ohren immer leiser. Sie hörte sie, ohne ihren Sinn zu verstehen. Alles, was sie in den letzten Tagen erfahren hatte, an der Klagemauer und oben auf dem Platz beim Felsendom, kreiste in ihrem Kopf herum. Diese Steine, die den heiligen Ort mehrerer Religionen umfassten ... wie alt waren sie wohl? Einige waren sicher älter als Herodes, der die Mauer bauen ließ. Was würden sie erzählen, wenn sie reden könnten? Sie hatten Wut und Zerstörung erlebt, Sorgen und Leid, aber auch Freude. Unzählige Gebete hatten sie gehört und ebenso viele Zettel voller Hoffnung und Verzweiflung in den Ritzen der Klagemauer weiter hinten aufgenommen.

Wie viele Menschen waren tot, weil sie hier anders glauben wollten als andere? Die wechselvolle, blutige Geschichte dieses Ortes zog wie eine Zeitreise an Maria vorbei.

Da war der Sechs-Tage-Krieg vor über dreißig Jahren: Die Araber hatten mal wieder angekündigt, die Juden endgültig zu vernichten, doch stattdessen hatte es für die Israelis mit der Eroberung der Altstadt und anderer Gebiete und mit großem Jubel geendet. Der Kampf hatte unzählige Opfer gefordert. Warum hatte vorher keiner wahrhaben wollen, wie wichtig es für die Juden war, Zugang zu ihrem größten Heiligtum zu haben? Und warum versuchten nun andererseits die Israelis, es den muslimischen Palästinensern schwer zu machen, zu ihrem Heiligtum zu kommen?

Früher, zur Zeit der Kreuzzüge, waren es Christen und Moslems, die sich hier grausame Dinge angetan hatten, weil jeder die heiligen Stätten für sich haben wollte.

Davor die Römer. Sie hatten die Juden brutal vertrieben, alles verbrannt, viele Leben zerstört und ein römisches Heiligtum errichtet.

Weitere Jahre vorher war Jesus hier gewesen. Er hatte eine ganz besondere Beziehung zum Tempel, den er das Haus seines Vaters nannte.

Den allerersten Tempel hatte König Salomon hier vor etwa dreitausend Jahren bauen lassen. Diesen Tempel hatten die Babylonier zerstört.

Immer wieder waren Menschen für diesen Platz abgeschlachtet worden.

Dennoch war die älteste Geschichte, die angeblich hier auf diesem Berg namens „Moria“ passiert sein sollte – lange vor der Existenz des Tempels – eine Geschichte, in der es ausgerechnet darum geht, dass Gott ein Menschenopfer verhindert. Eine Geschichte von Abraham. Eine Geschichte, die für Juden, Christen und Moslems wichtig ist: Abraham will seinen Glauben beweisen, will zeigen, dass sein Glaube ihm wichtiger ist, als das Leben seines Kindes. Und obwohl Gott scheinbar genau das von Abraham verlangt hat, zieht er die Notbremse und macht klar, dass er – anders als andere Götter damals – kein Menschenleben geopfert haben will. Nicht auf diesem Platz und nicht für diesen Platz. Gar nicht.

Noch immer blickte Maria starr auf die Steine. Sie merkte nicht, dass die anderen längst weitergegangen waren. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, um einen der Steine zu berühren. Wenn Abrahams Geschichte wahr wäre, dann hätte er vielleicht einen davon benutzt, um seinen Altar zu bauen.

Der Stein fühlte sich eigentlich nicht ungewöhnlich an. Trotzdem hatte Maria das Gefühl, als sei sie mit der Unendlichkeit verbunden. Die Zeit schien still zu stehen und mit der Ewigkeit eins zu werden. Es kam Maria vor, als könne gleich etwas Unglaubliches geschehen.

Als sie Stimmen hörte, war die Ewigkeit allerdings schnell vorbei und Maria wurde abrupt wieder in die Wirklichkeit zurück gerissen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie allein war. Panisch sah sie sich um. Wo waren die anderen? Waren sie schon lange weg? Wie sollte sie hier wieder raus kommen? War es überhaupt erlaubt, hier alleine herumzulaufen? Sicherheitshalber versteckte sie sich hinter einem Vorsprung und kauerte auf dem Boden. Vielleicht konnte sie sich ja unauffällig unter die nächste Touristengruppe mischen.

Jetzt hörte sie die Stimmen näher kommen. Maria konnte die Sprache nicht verstehen, aber sie erkannte bald, dass es Iwrit – Neu-Hebräisch – war. Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Es schienen Jugendliche aus Israel zu sein, die zu einer Schulklasse gehörten. Unter ihnen nicht aufzufallen, war unmöglich. Also hielt Maria sich weiter versteckt.

Die Gruppe entfernte sich bald wieder. Eines der Mädchen blickte im Gehen noch einmal zurück. Sie konnte Maria nicht sehen, doch diese konnte ihr Gesicht genau erkennen.