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Nach den Umstürzen in der Arabischen Welt und der Atomkatastrophe von Japan steht fest: Wir brauchen eine Abkehr von fossilen Energien und mit Atomkraft ist die Wende nicht zu machen. Kanzlerin Merkel will Deutschland zum Ökostromland umbauen, doch der Ausstieg aus der Kernenergie hat seinen Preis für Bürger, Unternehmen und die Politik. Er wird die Fundamente der Gesellschaft verändern. Schon heute entstehen Tag für Tag ganze Stadtteile, in denen eine neue Ära von Mobilität, Wohnen, Bildung und Energiegewinnung Wirklichkeit wird – und Jeremy Rifkin ist ihr Chefplaner. Er berichtet von den Begegnungen mit den Topmanagern großer Konzerne wie IBM, Siemens, EnBW, Daimler und nimmt den Leser mit in die Hinterzimmer von Spitzenpolitikern wie Angela Merkel, David Cameron oder Romano Prodi, wo er unermüdlich für eine neue Welt eintritt. Sein Buch ist der faszinierende Werkstattbericht eines Insiders über Zukunftstechnologien, die grüne Exportschlager werden können.
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Seitenzahl: 421
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Jeremy Rifkin
Die dritte industrielle Revolution
Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter
Aus dem Englischen von Bernhard Schmid
www.campus.de
Information zum Buch
Nach den Umstürzen in der Arabischen Welt und der Atomkatastrophe von Japan steht fest: Wir brauchen eine Abkehr von fossilen Energien und mit Atomkraft ist die Wende nicht zu machen. Kanzlerin Merkel will Deutschland zum Ökostromland umbauen, doch der Ausstieg aus der Kernenergie hat seinen Preis für Bürger, Unternehmen und die Politik. Er wird die Fundamente der Gesellschaft verändern. Schon heute entstehen Tag für Tag ganze Stadtteile, in denen eine neue Ära von Mobilität, Wohnen, Bildung und Energiegewinnung Wirklichkeit wird – und Jeremy Rifkin ist ihr Chefplaner. Er berichtet von den Begegnungen mit den Topmanagern großer Konzerne wie IBM, Siemens, EnBW, Daimler und nimmt den Leser mit in die Hinterzimmer von Spitzenpolitikern wie AngelaMerkel, David Cameron oder Romano Prodi, wo er unermüdlich für eine neue Welt eintritt. Sein Buch ist der faszinierende Werkstattbericht eines Insiders über Zukunftstechnologien, die grüne Exportschlager werden können.
Informationen zum Autor
Jeremy Rifkin ist einer der bekanntesten gesellschaftlichen Vordenker unserer Zeit und ein international anerkannter Regierungsberater. Seine Bücher, in mehr als 30 Sprachen übersetzt, bringen die großen wirtschaftlichen und politischen Zukunftsthemen auf den Punkt. Er ist Autor vieler Bestseller, darunter »Die empathische Zivilisation« (2010), »Der Europäische Traum« (2004, internationaler Buchpreis »Corine«), »Das Ende der Arbeit« (1995), »Access« (2000, Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch). Jeremy Rifkin ist Gründer und Vorsitzender der Foundationon Economic Trends in Washington, D.C., und lehrt an der renommierten Wharton School of Business.
Die amerikanische Originalausgabe The Third Industrial Revolution erschien 2011 bei Palgrave Macmillan. Copyright © 2011 by Jeremy Rifkin
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Copyright © 2011. Alle deutschsprachigen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am MainUmschlaggestaltung: R.M.E, roland eschlbeckUmschlagmotiv: © plainpicture, HamburgKonvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, StuttgartISBN der Printausgabe: 978-3-593-39452-7 E-Book ISBN: 978-3-593-41249-8www.campus.de
Unsere industrielle Zivilisation steht am Scheideweg. Öl und die anderen fossilen Brennstoffe, auf denen unsere industrielle Lebensweise beruht, haben ausgedient, die durch sie entstandenen und vorangetriebenen Technologien sind antiquiert. Die gesamte auf fossilen Brennstoffen basierende industrielle Infrastruktur ist ebenso altersschwach wie baufällig. Als Folge davon steigt die Arbeitslosigkeit überall auf der Welt in gefährliche Höhen. Staaten, Firmen und Verbraucher stecken bis zum Hals in Schulden, und der Lebensstandard sinkt allenthalben rapide. Eine Milliarde Menschen hungern – fast ein Siebtel der Weltbevölkerung, ein furchtbarer Rekord.
Schlimmer noch: Am Horizont droht infolge unserer auf fossile Energien gegründeten Industrien eine Klimakatastrophe mit möglicherweise verheerenden Auswirkungen auf unsere Ökosysteme. Befürchtungen von Klimaforschern und Biologen zufolge steht uns womöglich gegen Ende des Jahrhunderts ein Massenaussterben von Tier- und Pflanzenarten ins Haus, das das Überleben unserer eigenen Spezies infrage stellt. Wie zunehmend klar wird, brauchen wir ein neues ökonomisches Narrativ, das uns in eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft zu führen vermag.
Bereits in den 1980er Jahren häuften sich Belege dafür, dass die von fossilen Energien vorangetriebene industrielle Revolution ihren Höhepunkt erreicht hatte und ein vom Menschen herbeigeführter Klimawandel zu einer unvorstellbaren globalen Krise zu führen drohte. Seit nunmehr 30 Jahren bin ich auf der Suche nach einem neuen Paradigma, das ein kohlenstofffreies Zeitalter einleiten könnte. Bei meinen |10|Forschungen bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die großen wirtschaftlichen Revolutionen der Geschichte durch das Zusammentreffen neuer Kommunikationstechnologien und neuer Energiesysteme bedingt waren. Ein neues Energieregime ermöglicht nicht nur komplexere Wirtschaftsbeziehungen und einen erweiterten kommerziellen Austausch, es begünstigt auch dichtere und offenere soziale Beziehungen. Eine parallele Revolution im Kommunikationsbereich liefert die Mittel, die durch das neue Energiesystem bedingte neue zeitliche und räumliche Dynamik zu verwalten und zu organisieren.
Mitte der 1990er Jahre ist mir klar geworden, dass sich eine neue Konvergenz von Kommunikationstechnologie und Energie abzuzeichnen beginnt. Erneuerbare Energien werden mit dem Internet zur mächtigen neuen Infrastruktur einer Dritten Industriellen Revolutionen (DIR) fusionieren, und diese wird die ganze Welt verändern. In der neuen Ära werden Hunderte von Millionen Menschen zu Hause, in Büros und Fabriken ihre eigene grüne Energie produzieren und sie in einem »Energie-Internet« mit anderen teilen – so wie wir heute Informationen schaffen und diese online mit anderen teilen. Die Demokratisierung der Energie wird zu einer fundamentalen Neuordnung zwischenmenschlicher Beziehungen führen; sie wird sich auf unseren geschäftlichen Umgang ebenso auswirken wie auf die Erziehung unserer Kinder, unser Leben als Staatsbürger und unsere Art zu regieren.
Das also ist meine Vision, mein Paradigma für eine kohlenstofffreie Zukunft: die Dritte Industrielle Revolution. Ich habe sie erstmals im Advanced Management Program der Wharton School an der University of Pennsylvania vorgestellt, wo ich seit sechzehn Jahren als Senior Lecturer über neueste Trends in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Gesellschaft doziere. Die jeweils fünfwöchigen Seminare dieses Programms konfrontieren Führungskräfte aus aller Welt mit den Problemen und Herausforderungen, denen sie sich im 21. Jahrhundert gegenübersehen werden. Das Konzept der Dritten Industriellen Revolution hielt rasch Einzug in die Chefetagen und wurde Teil des politischen Lexikons unter den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union.
Bereits im Jahr 2000 verschrieb sich die Europäische Union dem |11|Anspruch, ihre CO2-Bilanz erheblich zu verbessern und zu einer Ära nachhaltiger Wirtschaft überzugehen. Die Europäer setzten sich Ziele und Benchmarks, sorgten für neue Prioritäten in Forschung und Entwicklung und schufen Gesetze, Normen und Verordnungen für den neuen ökonomischen Weg. In den Vereinigten Staaten fixierte man sich dagegen auf die neuesten technischen Kinkerlitzchen wie »Killer Apps« aus dem Silicon Valley, und dem amerikanischen Hausbesitzer war schier schwindlig vor Freude über einen durch zweitklassige Hypothekenkredite haussierenden Immobilienmarkt.
Kaum ein Amerikaner interessierte sich für die ernüchternden Prognosen zum bevorstehenden Überschreiten des globalen Ölfördermaximums, für Warnungen vor drastischen Klimaveränderungen oder die zunehmenden Hinweise darauf, dass es unserer Wirtschaft unter der Oberfläche eben doch nicht so gut ging. Das Land übte sich in Zufriedenheit, ja Selbstgefälligkeit; einmal mehr sahen die Amerikaner sich in dem Glauben bestärkt, ihre Fortüne belege ihre Überlegenheit über den Rest der Welt.
So etwas wie ein Außenseiter im eigenen Land, entschloss ich mich, das alte amerikanische Motto »Go West!« zu missachten und in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen, über den Ozean in die alte Welt, wo man sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft der Menschheit zu machen schien. Ich weiß, viele meiner amerikanischen Leser werden jetzt die Augen verdrehen: »Europa? Nun hören Sie aber auf! Die pfeifen doch aus dem letzten Loch. Die sind doch passé! Als großes Museum mag Europa ja für einen Urlaub taugen, aber auf der Weltbühne mischt es nicht mehr mit.«
Natürlich bin ich nicht naiv genug, Europas zahlreiche Probleme, Schwächen und Widersprüche zu übersehen. Aber genauso gut ließe sich über die Unzulänglichkeiten der USA oder anderer Länder vom Leder ziehen. Und bevor wir Amerikaner uns zu sehr aufplustern ob unserer eigenen Bedeutung, sollten wir uns vor Augen halten, dass die Europäische Union und nicht etwa die Vereinigten Staaten oder China der weltweit größte Wirtschaftsraum ist. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seiner 27 Mitgliedsländer übersteigt das unserer 50 Bundesstaaten. |12|Und mag die EU auch keine militärische Supermacht sein, als Wirtschaftsmacht ist ihre Bedeutung auf der internationalen Bühne enorm. Und was noch wichtiger ist: Die EU-Kommission stellt sich praktisch als einzige »Regierung« weltweit die großen Fragen über eine künftige Lebensfähigkeit unserer Spezies auf dieser Welt.
So machte ich mich nach Osten auf den Weg. Während der vergangenen zehn Jahre habe ich über 40 Prozent meiner Zeit in der Europäischen Union zugebracht, und manchmal überquere ich den Atlantik zweimal die Woche, um mit Regierungsmitgliedern, Wirtschaftsvertretern und Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft die Dritte Industrielle Revolution voranzutreiben.
Dieses Buch ist der Bericht eines Insiders über die Entfaltung der Vision einer Dritten Industriellen Revolution und eines entsprechenden ökonomischen Entwicklungsmodells. Ich werfe darin einen Blick auf die beteiligten Persönlichkeiten und Akteure – Staatsoberhäupter, Konzernchefs, Social Entrepreneurs und Organisationen der Zivilgesellschaft, die sie als Wegbereiter implementieren. Beim Entwurf der Blaupause für Europas Dritte Industrielle Revolution hatte ich die Ehre, mit vielen von Europas führenden Politikern zusammenzuarbeiten, darunter Kanzlerin Angela Merkel, den Premierministern von Italien und Spanien Romano Prodi und José Luis Rodríguez Zapatero, José Manuel Barroso, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, und fünf Präsidenten des Europäischen Rats.
Können wir Amerikaner von der Entwicklung in Europa lernen? Ich denke schon. Wir sollten schleunigst einen gründlichen Blick auf das werfen, woran unsere europäischen Freunde sich da versuchen, und auf sie hören. Wie zögernd auch immer, die Europäer machen wenigstens den Versuch, sich der Realität zu stellen, dass die Ära fossiler Brennstoffe zur Neige geht; sie arbeiten an einem Kurs in eine grüne Zukunft. Wir Amerikaner hingegen verweigern uns leider größtenteils dieser Realität, wir wollen einfach nicht einsehen, dass wir das Wirtschaftssystem, das uns all die Jahre so gut gedient hat, mittlerweile künstlich am Leben erhalten. Es ist dringend an der Zeit, dass wir – wie die Europäer – diese Tatsache anerkennen und mit dem Umsteuern beginnen.
|13|Die Dritte Industrielle Revolution ist die letzte der großen industriellen Revolutionen; sie sorgt für die Infrastruktur des heraufziehenden Zeitalters der Zusammenarbeit. In den vierzig für den Ausbau dieser Infrastruktur veranschlagten Jahren werden Hunderttausende neuer Geschäfte und Hunderte von Millionen neuer Arbeitsplätze entstehen. Ihre Fertigstellung setzt den Schlusspunkt unter eine 200-jährige, von Fleiß, Märkten und Arbeitermassen geprägte Wirtschaftsgeschichte und markiert den Anfang einer neuen Ära der Zusammenarbeit, sozialer Netzwerke und kleiner, hoch spezialisierter und hoch technisierter Firmen. Im kommenden halben Jahrhundert verlieren die konventionellen, zentralisierten Geschäftsbetriebe der Ersten und Zweiten Industriellen Revolution gegenüber den dezentralisierten Geschäftsmodellen der Dritten zunehmend an Bedeutung; und die traditionelle hierarchische Organisation wirtschaftlicher und politischer Macht weicht einer in – über die ganze Gesellschaft verteilten – Knotenpunkten organisierten lateralen Macht.
Auf den ersten Blick scheint »laterale Macht« schon als bloße Vorstellung allem zu widersprechen, was wir an Machtbeziehungen aus der Geschichte kennen. Immerhin organisiert sich Macht seit jeher in einer Pyramide, von oben nach unten. Heute jedoch führt die auf Zusammenarbeit basierende Macht, wie sie das Zusammentreffen von Internet-Technologie und erneuerbaren Energien entfesselt, zu einer Umstrukturierung der zwischenmenschlichen Beziehungen von vertikal zu lateral. Und das mit tiefgreifenden Implikationen für die Zukunft der Gesellschaft.
Auf unserem Weg zur Jahrhundertmitte wird der Handel zunehmend von intelligenten Maschinen kontrolliert werden, was einen Großteil der Menschen freisetzt, um soziales Kapital in der gemeinnützigen Zivilgesellschaft zu schaffen, die sich damit in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zum dominanten Sektor entwickeln wird. Der Handel wird seine fundamentale Bedeutung für das Überleben des Menschen behalten, aber er wird menschliches Trachten nicht mehr allein definieren. Falls es uns im nächsten halben Jahrhundert gelingen sollte, die physischen Bedürfnisse unserer Spezies zu befriedigen – was alles andere |14|als gesichert ist –, werden transzendente Belange als Triebkraft in der nächsten Periode der Menschheitsgeschichte eine immer größere Rolle spielen.
Auf den folgenden Seiten nehmen wir die Grundzüge und die Funktionsweisen sowohl der Infrastruktur als auch der Wirtschaft der Dritten Industriellen Revolution unter die Lupe; wir verfolgen den voraussichtlichen Weg ihrer Umsetzung rund um die Welt und untersuchen die Hindernisse und Chancen, die dabei entstehen.
Die Dritte Industrielle Revolution verheißt eine kohlenstofffreie Ära der Nachhaltigkeit bis zur Jahrhundertmitte und damit die Abwendung der Klimakatastrophe. Wir haben das Wissen, die Technik und den Schlachtplan dazu. Jetzt kommt es nur noch darauf an, die wirtschaftlichen Möglichkeiten zu erkennen, die vor uns liegen, und den Willen aufzubringen, rechtzeitig ans Ziel zu kommen.
|15|Teil I
|17|Kapitel 1
Eswar fünf Uhr morgens, ich schaute mir beim Frühsport auf meinem Laufband mit halbem Blick die Nachrichten eines Kabelsenders an, als ein Reporter aufgeregt von einer neuen politischen Bewegung zu sprechen begann, die er als »Tea Party« bezeichnete. Ich stieg von meiner Tretmühle ab; womöglich hatte ich mich verhört. Auf dem Monitor wimmelte es von zornigen Bürgern mittleren Alters mit gelben Fahnen, auf denen sich eine Schlange nicht weniger zornig aufrichtete – darunter der Schriftzug »Nicht drauftreten!«. Andere hielten Schilder in die Kamera: »Keine Besteuerung ohne Vertretung!«, »Schließt die Grenzen!« und »Klimawandel ist blinder Alarm!«. Der Reporter, über den skandierenden Leuten kaum zu hören, sagte etwas von einer spontanen Basisbewegung, die sich wie ein Lauffeuer über das amerikanische Herzland zu verbreiten beginne. Es handele sich um einen Protest gegen zu viel Staat und liberale Berufspolitiker, die sich auf Kosten ihrer Wähler zu bereichern versuchten. Ich wollte meinen Augen und Ohren nicht trauen. Die Szene nahm sich aus wie etwas, was ich fast vierzig Jahre zuvor selbst organisiert hatte – nur auf den Kopf gestellt. War das jetzt ein grausamer Scherz?
16. Dezember 1973. Gleich nach Sonnenaufgang begann es zu schneien. Auf meinem Weg zur Faneuil Hall im Zentrum von Boston schlug mir ein eisiger Wind ins Gesicht. Hier hatten einst Aufwiegler |18|und Radikale wie Samuel Adams und Joseph Warren gegen die Kolonialpolitik König Georgs III. und seine »Konzerne« gewettert, deren schlimmster und meistgehasster die British East India Company war.
In der Stadt rührte sich praktisch seit Wochen nichts mehr. Von dem dichten Verkehr, der sonst die Straßen verstopfte, war seit Tagen kaum etwas zu spüren, größtenteils, weil vielen Tankstellen das Benzin ausgegangen war. An den wenigen Tankstellen, an denen noch welches zu haben war, standen die Autos über mehrere Blocks eine Stunde oder länger, um ihre Tanks zu füllen. Die Glücklichen, die noch Benzin bekamen, erschraken über die Preise an den Zapfsäulen. Diese hatten sich in nur wenigen Wochen verdoppelt, was fast zu einer Hysterie führte – in einem Land, das damals der größte Ölproduzent der Welt war.
Die Reaktion der Öffentlichkeit war verständlich, schließlich hatten Amerikas üppige Ölreserven und seine Massenproduktion erschwinglicher Autos, mit denen ein rastloses Volk von Nomaden unterwegs war, dem Land die wirtschaftliche Vormachtstellung und den Status der führenden Supermacht des 20. Jahrhunderts beschert.
Der Schlag gegen unseren Nationalstolz erfolgte ohne Vorwarnung. Nur zwei Monate zuvor hatte die OPEC, die Organisation Erdöl exportierender Länder, als Vergeltungsmaßnahme für die Lieferung von Rüstungsgütern an die Israelis im Jom-Kippur-Krieg ein Ölembargo gegen die Vereinigten Staaten verhängt. Der »Ölschock« durchzuckte die ganze Welt. Bis Dezember war der Preis für das Barrel Rohöl bereits von drei auf 11,65 Dollar gestiegen.1 Die Wall Street geriet in Panik und mit ihr das Volk.
Als Erstes und für jedermannn sichtbar zeigte sich die neue Realität an den Tankstellen. Viele Amerikaner waren der Ansicht, dass die riesigen Ölkonzerne die Situation zu willkürlichen Preiserhöhungen nutzten, um sich die Taschen zu füllen. Die Autofahrer in Boston wie überall im Land waren bald sauer. Die vermeintlich ungerechtfertigte Preistreiberei abgebrühter Weltkonzerne drohte ein Grundrecht zu unterminieren, das den Amerikanern nicht weniger heilig ist als die |19|Rede- und Versammlungsfreiheit und eine freie Presse: das Recht auf billiges Öl und die damit verbundene Mobilität.
Das war der Hintergrund für die stürmischen Ereignisse, die sich dann am 16. Dezember 1973 auf dem Bostoner Pier abspielten.
An dem Tag jährte sich zum 200. Mal die berühmte Boston Tea Party, das Ereignis, mit dem das amerikanische Volk seinem Zorn auf die britische Krone Luft gemacht hatte. Aufgebracht über eine neue Steuer auf Tee und andere Produkte, die das Mutterland in die amerikanischen Kolonien exportierte, wiegelte Sam Adams eine Versammlung Unzufriedener auf, von denen einige zum Hafen liefen und eine Schiffsladung Tee ins Wasser warfen. »Keine Besteuerung ohne Vertretung« – im englischen Parlament – wurde rasch zum Sammelruf für die Radikalen. Dieser erste Akt offenen Aufruhrs gegen die britische Herrschaft zeitigte einen Schlagabtausch zwischen der Krone und ihren dreizehn neureichen Kolonien, der 1776 mit der Unabhängigkeitserklärung endete, auf die hin der Revolutionskrieg begann.
Ich war damals 28 Jahre alt, ein junger Aktivist, der mit Anti-Vietnam-Demonstrationen und der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre aufgewachsen war. Ein Jahr zuvor hatte ich mit der People’s Bicentennial Commission eine landesweite Organisation gegründet, die ich mir als radikale Alternative zur American Bicentennial Commission vorstellte. Letztere war von der Regierung Nixon eingerichtet worden, um in den Jahren vor der 200-Jahr-Feier all der historischen Ereignisse zu gedenken, die zur Unabhängigkeitserklärung von 1776 geführt hatten. Die offiziellen Feierlichkeiten des Weißen Hauses, die von einem Heer kommerzieller Sponsoren getragen wurden, schienen eher im monarchistischen Brimborium aristokratischer Privilegien zu wurzeln als in einem Gefühl für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit, wie es zu den frühen amerikanischen Helden gepasst hätte, die wir da feiern sollten.
Wir hatten geplant, den Jahrestag der Tea Party als Protest gegen die Ölkonzerne zu begehen, waren uns aber alles andere als sicher, ob jemand mit uns auf die Straße gehen würde. Immerhin hatte nie jemand gegen »Big Oil« demonstriert; man konnte also nicht vorhersagen, was |20|die Leute tun würden. Als es zu schneien begann, wurde meine Angst vor einer peinlich geringen Beteiligung noch größer. In den 1960er Jahren hatten wir Demonstrationen gegen den Krieg immer im Frühjahr angesetzt, weil dann eher mit Leuten zu rechnen war. Keiner der gestandenen Aktivisten, die diese Demo organisiert hatten, konnte sich auch nur an einen einzigen Massenprotest im Winter erinnern.
Als ich um die Ecke vor der altehrwürdigen Faneuil Hall bog, staunte ich nicht schlecht: Tausende säumten die Straße zu dem großen Gebäude. Sie hielten Schilder und Transparente hoch mit Parolen wie »Die Ölfirmen sollen zahlen«, »Nieder mit Big Oil!« und »Lang lebe die Amerikanische Revolution!«. Der Versammlungsraum selbst war gerammelt voll. »Exxon vor den Kadi!«, skandierte man.
Nach einer kurzen Ansprache, in der ich die Demonstranten aufrief, diesen Tag als Beginn einer zweiten Amerikanischen Revolution für »Energieunabhängigkeit« in Erinnerung zu behalten, zogen wir auf die Straße. Wir nahmen genau dieselbe Route zur Griffin’s Wharf, die Sam Adams und seine Mitstreiter bei der Tea Party vor 200 Jahren genommen hatten. Immer mehr Bostoner Bürger schlossen sich uns unterwegs an – Studenten, Arbeiter, Leute aus der Mittelschicht, ganze Familien. Als wir das Hafenbecken erreichten, in dem das offizielle Schiff der Salada Tea Company (ein Nachbau der historischen Brigg Beaver) liegt, säumten wenigstens 20000 Demonstranten die Docks. »Nieder mit Big Oil!«, war zu hören. Die sorgfältig orchestrierte offizielle Zeremonie, die zur selben Zeit stattfinden sollte, wurde von dem Protest förmlich überrannt. Eine Armada von Fischerbooten aus den Hafenstädten bis hoch nach Gloucester durchbrach die Blockaden der Polizei und hielt auf das Salada-Teeschiff zu, wo Honoratioren von Stadt und Bund auf den Beginn der offiziellen Zeremonie warteten. Fischer enterten das Schiff, besetzten es, kletterten auf den Mast und begannen statt Teekisten leere Ölfässer in den Fluss zu werfen – unter dem Jubel Tausender von Demonstranten. Tags darauf berichteten die New York Times und andere Zeitungen im ganzen Land über die Ereignisse in Boston. Sie tauften sie die »Boston Oil Party von 1973«.2
35 Jahre später, im Juli 2008, erreichte der Preis für ein Barrel Öl auf dem Weltmarkt das Rekordhoch von 147 Dollar.3 Nur sieben Jahre zuvor hatte man das Barrel für unter 24 Dollar bekommen.4 2001 hatte ich darauf hingewiesen, dass sich eine Ölkrise abzeichne und der Ölpreis binnen weniger Jahre über den Preis von 50 Dollar pro Barrel hinausgehen könnte. Man begegnete meiner Warnung allenthalben mit Skepsis, ja Hohn. »Das erleben wir nicht mehr«, kam es von der Ölindustrie, von Geologen, und die Wirtschaftswissenschaftler stimmten mit ein. Kurz darauf zog der Ölpreis dramatisch an. Als der Preis Mitte 2007 über 70 Dollar das Barrel kletterte, begannen weltweit auch die Preise für Produkte und Dienstleistungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu steigen, was darauf zurückzuführen ist, dass praktisch jede wirtschaftliche Aktivität in unserer globalen Wirtschaft von Öl und anderen fossilen Energien abhängt. Wir bauen unsere Nahrungsmittel mithilfe petrochemischer Kunstdünger und Pestizide an. Die meisten Baumaterialien – wie Zement und Kunststoffe – werden mithilfe von oder direkt aus fossilen Brennstoffen hergestellt, desgleichen der größte Teil unserer pharmazeutischen Produkte. Unsere Kleidung besteht größtenteils aus petrochemischen Kunstfasern. Auch unser Transportsystem, unsere Energieversorgung, Wärme und Licht, basieren auf fossilen Brennstoffen. Unsere gesamte Zivilisation steht auf dem Fundament ausgegrabener Kohlenstoffablagerungen aus dem Karbon.
Ich frage mich oft, wie wohl künftige Generationen in 5000 Jahren – sofern denn unsere Spezies bis dahin irgendwie überlebt – unseren Abschnitt der Menschheitsgeschichte sehen werden. Wahrscheinlich werden uns unsere Nachfahren nach den fossilen Brennstoffen definieren und unsere Periode die Kohlenstoffzeit nennen, so wie wir heute von einer Bronze- oder Eisenzeit sprechen.
Als der Preis für Rohöl die 100-Dollar-Marke überschritt, was nur wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre, kam es in 22 Ländern zu spontanen Demonstrationen und Krawallen wegen der steil ansteigenden |22|Preise für Getreide; denken wir nur an die »Tortilla-Unruhen« in Mexiko und die »Reis-Krawalle« in Asien. Die Angst vor verbreiteten politischen Unruhen führte weltweit zu Diskussionen über die Beziehungen zwischen Erdöl und Nahrung.
Da 40 Prozent der Menschheit mit zwei Dollar oder weniger am Tag auskommen müssen, bedrohen selbst geringfügige Preisänderungen bei Grundnahrungsmitteln Milliarden von Menschen. Von 2003 bis 2008 hatte sich der Preis von Sojabohnen und Gerste verdoppelt, der von Weizen fast verdreifacht; Reis kostete gar fünfmal so viel wie zuvor.5 Der Welternährungsorganisation (FAO) zufolge gehen Tag für Tag eine Milliarde Menschen hungrig zu Bett – so viel wie nie zuvor.
Die Angst breitete sich aus, als auch die Mittelschicht-Verbraucher in den Industrieländern die steil steigenden Ölpreise zu spüren begannen. Die Preise für Waren des Alltagsbedarfs schossen nach oben: Benzin, Strom, Baumaterialien, Pharmazeutika, Verpackungsmaterial – eine endlose Liste. Bereits gegen Ende des Frühjahrs 2008 begann so einiges unerschwinglich zu werden, und die Kaufkraft ging rund um die Welt in den Keller. Im Juli machte die Weltwirtschaft dicht. Es war das große ökonomische Beben, das den Anfang vom Ende der Ära der fossilen Brennstoffe signalisierte. Der Kollaps des Finanzmarkts sechzig Tage darauf war das Nachbeben.
Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, ja selbst die Ökonomen haben größtenteils noch keine Ahnung von der wahren Ursache dieser wirtschaftlichen Kernschmelze. Sie sind noch immer der Ansicht, Kreditblase und Staatsverschuldung hätten nichts mit dem Ölpreis zu tun; sie verstehen nicht, dass beide in enger Verbindung mit dem Untergang des Ölzeitalters stehen. Solange sie in dem Glauben verharren, Kredit- und Schuldenkrise seien lediglich die Folge einer mangelhaften Aufsicht über deregulierte Märkte, kommen die führenden Köpfe der Welt auch nicht auf die Wurzeln der Krise und können entsprechend nichts gegen sie tun.
Ich nenne, was da im Juli 2008 passierte, »Peak Globalization«, den Punkt maximaler Globalisierung. Auch wenn sich ein Gutteil der Welt dessen noch nicht bewusst ist: Unser in hohem Maße vom Öl und anderen |23|fossilen Brennstoffen abhängiges Wirtschaftssystem hat die äußersten Grenzen globalen Wirtschaftswachstums erreicht.
Meiner Überzeugung nach befinden wir uns augenblicklich in der Endrunde der Zweiten Industriellen Revolution und des Ölzeitalters, auf dem sie basiert. Das ist schwer zu akzeptieren, denn die Einsicht in das Risiko eines totalen Kollapses würde die Menschheit dazu zwingen, sofort und mit Entschiedenheit den Übergang zu einem völlig neuen Energieregime, zu einem neuen Industriemodell in Angriff zu nehmen.
Der Grund dafür, dass die Globalisierung ihre Grenzen erreicht hat, findet sich im »globalen peak-oil pro Kopf« (global peak oil per capita), der nicht mit dem globalen Fördermaximum (global peak oil production) zu verwechseln ist. Letzteres ist ein Begriff, mit dem Petrogeologen den Punkt bezeichnen, an dem die weltweite Ölförderung ihren Zenit auf der so genannten Hubbert-Kurve erreicht. Das globale Fördermaximum ist erreicht, wenn die Hälfte der letztendlich förderbaren Ölreserven verbraucht ist. Der Scheitel der Kurve bezeichnet den Wechselpunkt der Ölförderung. Danach sinkt die Förderung im selben Tempo, in dem sie angestiegen ist.
Marion King Hubbert war ein amerikanischer Geophysiker, der 1956 in leitender Funktion bei Shell tätig war. Von ihm stammt eine berühmte Arbeit, in der er das Ölfördermaximum der Vereinigten Staaten – ohne Alaska – auf einen Zeitpunkt zwischen 1965 und 1970 prognostizierte. Seine Prognose stieß seinerzeit bei seinen Kollegen auf Spott; sie verwiesen schlicht auf Amerikas weltweite Spitzenposition bei der Ölförderung. Die bloße Vorstellung, wir könnten unserer Vormachtstellung verlustig gehen, wurde als undenkbar verlacht. Hubberts Vorhersage erwies sich jedoch als korrekt. Die amerikanische Ölförderung erreichte ihr Maximum tatsächlich 1970 und geht seitdem langsam zurück.6
Während der letzten vier Jahrzehnte streiten Geologen sich darüber, wann das globale Ölfördermaximum erreicht sein wird. Dem Modell der Optimisten zufolge käme es dazu irgendwann zwischen 2025 und 2035. Pessimisten, darunter einige der führenden Geologen der Welt, |24|haben den »global peak oil« – das globale Ölfördermaximum – auf irgendwann zwischen 2010 und 2020 prognostiziert.
Die Internationale Energieagentur (IEA), eine in Paris ansässige Organisation, auf deren Informationen und Prognosen in Sachen Energie man sich weltweit verlässt, hat der Diskussion um den Zeitpunkt des globalen Fördermaximums womöglich bereits mit ihrem World Energy Outlook 2010 ein Ende gemacht. Diesem Bericht zufolge ist es wahrscheinlich bereits im Jahre 2006 zum globalen Ölfördermaximum mit 70 Millionen Barrel pro Tag gekommen.7 Das war ein harter Schlag für die internationale Ölindustrie und ein Schock für die ganze von Rohöl abhängige Wirtschaft.
Um die Ölförderung auch nur auf einem Plateau von knapp unter 70 Millionen Barrel pro Tag zu halten, müsste man der IEA zufolge in den nächsten 25 Jahren die schwindelerregende Summe von acht Billionen Dollar investieren. Nur so ließe sich das verbleibende, schwer zu fördernde Öl aus existierenden Feldern pumpen, bereits entdeckte, aber viel weniger versprechende Felder anbohren und nach neuen Feldern suchen, die immer schwerer zu finden sind.8 Aber nur so ließe sich ein jäher Absturz der Weltwirtschaft vermeiden.
Hier jedoch interessiert uns hauptsächlich das Fördermaximum pro Kopf, das bereits 1979, auf dem Höhepunkt der Zweiten Industriellen Revolution, erreicht war. Einer mittlerweile von anderen Arbeiten bestätigten Studie von BP zufolge förderten wir in jenem Jahr die maximale Menge Erdöl pro Kopf.9 Wir haben zwar seither weitere Ölvorkommen entdeckt, aber nicht genug, um mit dem Wachstum der Weltbevölkerung Schritt halten zu können. Würden wir heute alle bekannten Ölreserven gleichmäßig auf die 6,8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten verteilen, fiele weniger auf jeden davon.
Mit der Explosion der Ökonomien Chinas und Indiens seit Anfang der 1990er Jahre – Indiens Wirtschaft wuchs allein 2007 um 9,6 Prozent, Chinas um 14,2 – trat ein Drittel der Menschheit ins Ölzeitalter ein, weshalb der Nachfragedruck auf die Ölreserven den Ölpreis unvermeidlich nach oben trieb. Was schließlich zu dem bereits erwähnten Rekordpreis von 147 Dollar pro Barrel führte und dieser wiederum zu |25|steigenden Preisen bei anderen Waren, zum Einbruch des Verbrauchs und schließlich zum Kollaps der Weltwirtschaft.10
2010 begann die Wirtschaft sich verhalten zu erholen – hauptsächlich deshalb, weil erschöpfte Bestände aufzufüllen waren. Aber kaum hatte das Wachstum wieder eingesetzt, begann damit auch der Ölpreis wieder zu steigen – Ende des Jahres auf 90 Dollar, was wiederum die gesamte Versorgungskette entlang die Preise nach oben trieb.11
Im Januar 2011 wies Fatih Birol, Chefökonom der IEA, auf die unvermeidliche Wechselbeziehung von erhöhtem wirtschaftlichem Output und steigenden Ölpreisen hin. Mit zunehmendem Tempo des wirtschaftlichen Aufschwungs, so gab er zu bedenken, »geraten die Ölpreise in eine für die Weltwirtschaft gefährliche Zone«. Im Verlauf des Jahres 2010 stiegen der IEA zufolge die Ölimporte der überwiegend reichen 34 Mitgliedstaaten der OECD von 200 Milliarden auf 790 Milliarden Dollar. Allein die Rechnung für Ölimporte der Europäischen Union stieg 2010 um 70 Milliarden Dollar. Das ist so viel wie die Wirtschaftsdefizite von Griechenland und Portugal zusammen. Die Ölrechnung der USA stieg um 72 Milliarden Dollar. Die hohen Ölkosten entsprechen einem Verlust von 0,5 Prozent des BIPs der OECD-Länder.12
Gar noch schwerer traf es 2010 die Entwicklungsländer, deren Ölimporte um 20 Milliarden Dollar stiegen, was einem Verlust von fast einem Prozent ihres BIPs entsprach. Das Verhältnis der Kosten für Ölimporte eines Landes zum BIP nähert sich wieder den Niveaus von 2008 – kurz vor dem Kollaps der Weltwirtschaft. Was die IEA dazu veranlasste, sich öffentlich darüber Sorgen zu machen, dass »die Rechnungen für Ölimporte zu einer Bedrohung für den wirtschaftlichen Aufschwung« werden.13
Am selben Tag, an dem die IEA ihren Bericht für das Jahr 2010 herausgab, veröffentlichte Martin Wolf, Wirtschaftskolumnist der Financial Times, einen Essay über die historische Angleichung der Pro-Kopf-Outputs in China, Indien und den Westmächten. Daten des Conference Board zufolge, eines unabhängigen Forschungsinstituts mit Sitz in New York, stieg das Verhältnis des chinesischen Pro-Kopf-Outputs zu dem |26|der Vereinigten Staaten zwischen den 1970er Jahren und 2009 von drei auf 19 Prozent, das des indischen von drei auf sieben Prozent.14
Wie Wolf ausführt, entspricht Chinas Pro-Kopf-Output in Relation zu dem der Vereinigten Staaten in etwa dem Japans, als dessen Wirtschaft sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu erholen begann. In den 1970er Jahren hatte Japan bereits 70 Prozent des amerikanischen Niveaus erreicht und in den 1990er Jahren 90 Prozent. Verläuft die Entwicklung in China in etwa ähnlich, kommt es im Jahr 2030 auf 70 Prozent des amerikanischen Pro-Kopf-Outputs. Allerdings mit einem kleinen Unterschied: 2030 wäre Chinas Wirtschaft dann bereits dreimal so groß wie die der USA und größer als die der USA und Westeuropas zusammen.15
Ben Bernanke, Chef der US-Notenbank, wies in einer Rede vom November 2010 darauf hin, dass das Nettosozialprodukt der Schwellenländer mittlerweile um 41 Prozent höher liege als noch Anfang 2005. Chinas NSP sei um 70 Prozent gestiegen und das Indiens um 55 Prozent.16
Was bedeutet das nun? Wenn der gesamtwirtschaftliche Output weiterhin im selben Maß zulegt wie in den ersten acht Jahren des 21. Jahrhunderts – und genau das passiert im Augenblick –, steigt der Ölpreis rasch wieder auf 150 Dollar oder mehr pro Barrel an, was einen jähen Preisanstieg bei allen anderen Gütern und Dienstleistungen bedingt, also zum nächsten Einbruch der Kaufkraft und zum nächsten Kollaps der Weltwirtschaft führt. Anders gesagt: Jeder erneute Anlauf, wieder zum wirtschaftlichen Schwung der letzten Dekade zurückzufinden, verläuft bei cirka 150 Dollar pro Barrel im Sand. Dieses wilde Hin und Her zwischen Aufschwung und Kollaps ist die Endrunde, von der ich bereits gesprochen habe.
Wer das nicht sehen will, argumentiert damit, dass steigende Ölpreise kaum etwas mit Nachfragedruck und Angebot, sondern weit mehr mit Spekulanten zu tun gehabt hätten, die auf dem Ölmarkt groß abräumen wollten. Nun, Spekulanten mögen Öl ins Feuer gegossen haben, unstrittig ist jedoch, dass wir bereits seit einigen Jahrzehnten für jedes Barrel Öl, das wir finden, dreieinhalb Barrel konsumieren.17 Das ist die Realität, die unsere gegenwärtige Lage ebenso bestimmt wie unsere Aussichten.
|27|Verschärft wird der Druck einer steigenden Gesamtnachfrage auf schwindende Rohölreserven durch die politischen Unruhen im Nahen Osten. Millionen junger Leute in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Jordanien, Bahrain, Syrien und anderen Ländern gingen Anfang 2011 auf die Straße, um gegen korrupte autokratische Regime zu protestieren, die dort seit Jahrzehnten, in manchen Fällen seit Generationen, regieren. Die Rebellion der Jugend, die an die der 1960er Jahre im Westen erinnert, steht für einen Generationswechsel von historischer Bedeutung.
Einer jüngeren, gebildeten Generation, die zunehmend Teil der Weltgemeinschaft wird und sich vermutlich mit ihrem Facebook-Auftritt nicht weniger identifiziert als mit alten Stammesloyalitäten, ist die überkommene Art ein Gräuel. Das patriarchalische Denken, die starren gesellschaftlichen Normen und die Fremdenfeindlichkeit der Alten sind einer Generation, die mit den Netzwerken sozialer Medien aufgewachsen ist, völlig fremd. Für sie zählen Transparenz, gemeinschaftliches Handeln und Beziehungen unter Gleichen. Hinsichtlich des Bewusstseins markiert diese Generation eine historische Wasserscheide.
Diese jungen Leute drängen auf Veränderung. Sie sind die Gängelung durch brutale Willkür ebenso leid wie eine durch und durch korrupte Gesellschaft, in der Protektion mehr zählt als Verdienste und in der die Herrschenden sich auf Kosten der immer größer werdenden armen Massen die Taschen füllen. In nur wenigen Wochen haben sie die Regierungen in Tunesien und Ägypten gestürzt, einen bewaffneten Aufstand in Libyen angefangen und den Regimen im Jemen, in Jordanien, Bahrain und auch Syrien mit dem Umsturz gedroht.
In großem Maße hat das Öl beim Ruin dieser Region eine Schlüsselrolle gespielt. Das schwarze Gold hat sich eher als dunkler Fluch erwiesen, da es einen Gutteil des Nahen Ostens in eine Gesellschaft mit nur einer Ressource unter der Kontrolle von Oligarchen verwandelte. Es machte Scheichs zu Milliardären, die ihre Bevölkerung mit kargen Sozialleistungen und Staatsposten gefügig hielten. So kam es, dass diese Länder nie die Voraussetzungen für eine robuste, vielseitige und freie Wirtschaft haben entwickeln können, ganz zu schweigen von einer Arbeiterschaft, |28|die eine solche managen könnte. Generationen junger Leute vegetierten dahin, ohne ihr menschliches Potenzial entwickeln zu können.
Mit neuem Mut und Selbstbewusstsein kehren die jungen Leute nun der Ängstlichkeit ihrer Altvorderen den Rücken und bieten den Mächtigen die Stirn. Und das mit aufregenden Resultaten, die sie sich selbst nicht hätten träumen lassen. Die alte Ordnung beginnt zu wanken, und auch wenn man mit einer zögernden Entwicklung und Abstrichen rechnen muss, so ist es doch unwahrscheinlich, dass die alte patriarchalische Herrschaft, die in der arabischen Welt das Schicksal von Generationen bestimmt hat, noch ein Jahrzehnt übersteht.
Was wir da im Nahen Osten sehen, ist ein großartiger Übergang von hierarchischer zu lateraler Macht. Die Internet-Generation, die mit der Herausforderung der zentralisierten Medienkonglomerate durch direkten und gemeinsamen Austausch von Musik und Informationen den Aufstand zu proben begann, lässt jetzt im Nahen Osten im Kampf gegen die zentralisierte politische Herrschaft autokratischer Regimes die Muskeln spielen, die sie sich in ihren sozialen Netzwerken antrainiert hat.
Die zunehmende Instabilität im Nahen Osten wirkt sich verheerend auf den Benzinpreis aus; daran wird sich auf Jahre nichts ändern. Anfang 2011 führte das politische Chaos in Libyen landesweit zur Schließung von Ölfeldern, was dem Markt 1,6 Millionen Barrel Rohöl am Tag entzog und den Ölpreis auf 120 Dollar pro Barrel hochtrieb.18 Falls es in Saudi-Arabien oder dem Iran zu einer ähnlichen Unterbrechung der Ölförderung kommen würde, so befürchten Analysten, könnte dies über Nacht zu einem Anstieg der Ölpreise von 20 bis 25 Prozent führen, was jede Hoffnung auf einen Aufschwung der Weltwirtschaft so gut wie im Keim erstickt.19
Auch nicht einer der internationalen Beobachter, die den politischen Aufruhr im Nahen Osten aus der Nähe verfolgen, ist der Ansicht, die Region würde je wieder business as usual vermelden. Es ist kein Zufall, dass das Ende der Öl-Ära auch das Ende autoritärer Regime signalisiert, die seit langem kraft der elitärsten und höchstzentralisierten Energieordnung der Geschichte regieren.
|29|So begrüßenswert das Erwachen der Jugend im Nahen Osten auch ist, es führt zu der Erkenntnis, dass in den kommenden Jahren eine Ölkrise auf die andere folgen wird. Es ist dies eine Folge eines Tauziehens zweier nicht voneinander zu trennender Phänomene: dem Anstieg der Gesamtnachfrage, der die Ölpreise auf 150, ja 200 Dollar hochtreiben wird, und den Störungen durch politische Instabilität in den ölreichen Staaten der Region, die zu ähnlichen Preissteigerungen führen.
Wie tragen Kreditblase und Finanzkrise zur Endrunde der Zweiten Industriellen Revolution bei? Um die Beziehung zwischen beiden zu verstehen, muss man einmal mehr in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Die Zweite Industrielle Revolution – bedingt durch das Zusammenfallen von zentralisierter Elektrizität, Öl-Ära, der Massenautomobilisierung und dem Anwachsen der Vorstädte – entwickelte sich in zwei Phasen. Zwischen 1900 und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 entstand deren Infrastruktur, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schwebe lag. Erst mit der Verabschiedung des Interstate Highway Act 1956 bauten die Amerikaner diese Infrastruktur für das Zeitalter des Autos aus. Der Bau eines interkontinentalen Highway-Netzes, seinerzeit als das ehrgeizigste und teuerste öffentliche Bauvorhaben aller Zeiten gefeiert, sorgte für ein nie gekanntes Wirtschaftswachstum, das die Vereinigten Staaten zur reichsten Gesellschaft der Erde machte. Kurz darauf nahm man in Europa ähnliche Projekte in Angriff, die eine ähnliche Wirkung hatten.
Die Infrastruktur neuer Highways beschleunigte einen Bauboom, als die Amerikaner – Firmen wie Privatleute – sich millionenfach in den neuen Vorstadtenklaven an den Ausfahrten der Highways niederzulassen begannen. Der blühende Handel mit privaten wie Geschäftsimmobilien erreichte seinen Höhepunkt mit der Fertigstellung des Highway-Netzes in den 1980er Jahren. Die Baubranche baute über die Nachfrage hinaus, was Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre zu |30|einem Einbruch des Immobilienmarktes führte, und schließlich folgte eine massive Rezession, die sich rasch in alle Winkel der Welt ausbreitete. Ende der 1980er Jahre rutschte die Zweite Industrielle Revolution in ihren langen Niedergang. Wie sollten die Vereinigten Staaten in den 1990er Jahren die Rezession bremsen und ihre Wirtschaft wieder in Gang bringen?
Der Wiederaufschwung der amerikanischen Wirtschaft erfolgte größtenteils mithilfe der in der Blütezeit der Zweiten Industriellen Revolution angehäuften Ersparnisse; dazu kam eine Rekordsumme von Schulden und Krediten. Wir wurden zu einer Nation von außer Rand und Band geratenen Konsumenten. Wie sich jedoch herausstellte, verdankte sich das Geld, das wir ausgaben, nur zu einem geringen Teil erhöhten Einkommen. Die amerikanische Lohnentwicklung hatte sich langsam abgeflacht und ging im Reifestadium der Zweiten Industriellen Revolution Ende der 1980er Jahre eher zurück. Es herrschte eine Menge Hype um die eben einsetzende IT- und Internet-Revolution, und die Medien gerieten nur allzu gern ins Schwärmen über das, was Firmen wie Microsoft, Apple und AOL auf den Markt warfen.
Es ist unbestritten, dass die Kommunikationsrevolution der 1990er Jahre neue Jobs brachte und die wirtschaftliche wie die gesellschaftliche Landschaft verändern half. Aber bei allem Hype bildeten IT-Sektor und Internet für sich keine neue industrielle Revolution. Dazu mussten die neuen Kommunikationstechnologien erst auf ein neues Energieregime treffen, wie das bis dahin bei jeder großen ökonomischen Revolution der Fall gewesen war. Neue Kommunikationsordnungen stehen nie für sich allein. Sie sind vielmehr, wie in der Einführung angesprochen, die Mechanismen, die den durch neue Energiesysteme ermöglichten Aktivitätsfluss koordinieren. Allein der jahrzehntelange Aufbau einer Kommunikations-Energie-Infrastruktur vermag eine Langzeitwachstumskurve für eine neue ökonomische Ära zu schaffen.
Das Problem war eine Frage des Timings. Die neuen Kommunikationstechnologien unterschieden sich fundamental von den elektrobasierten Kommunikationstechnologien der ersten Generation. Telefon, Radio und Fernsehen sind von Anfang an zentralisierte Formen |31|der Kommunikation, die darauf abzielen, eine um ebenso zentralisierte fossile Energien herum organisierte Wirtschaft zu verkaufen und zu koordinieren. Dies gilt auch für die mannigfaltigen zentralisierten Geschäftspraktiken, die sich aus diesem besonderen Energieregime ergaben. Die auf Elektrizität basierende Kommunikation der zweiten Generation dagegen ist grundsätzlich dezentralisiert und eignet sich so ideal für die Koordination dezentralisierter Formen von Energie und die lateralen Formen geschäftlicher Aktivitäten, die aus einem solchen Energieregime resultieren. Die neuen dezentralisierten Kommunikationstechnologien mussten also noch zwei Jahrzehnte warten, um auf dezentralisierte Energien zu treffen, mit denen zusammen sich die Basis für eine neue Infrastruktur und eine neue Wirtschaft schaffen ließ.
Die Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) wurde auf die ältere, zentralisierte Zweite Industrielle Revolution lediglich aufgepfropft. Und sie will bis heute nicht so recht passen. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien mochten die Produktivität fördern, Arbeitsabläufe straffen und für einige neue Geschäftsmöglichkeiten und Arbeitsplätze sorgen – die wahrscheinlich einem alternden Industriemodell das Leben verlängerten –, entfalten konnten sie ihr volles dezentralisiertes Kommunikationspotenzial nicht. Das verhinderten immanente Beschränkungen, die daher kamen, dass sie auf ein zentralisiertes Energieregime und dessen geschäftliche Infrastruktur aufgeklebt waren.
Statt auf einer potenten neuen Mischung aus Kommunikation und Energie aufzubauen, begannen wir die Wirtschaft mithilfe eines in den ersten vier Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg angehäuften Reichtums aufzupäppeln. Problemlose Kredite, wie sie mit der Kreditkartenkultur Einzug hielten, wirkten berauschend. Einkaufen wurde zur Sucht und der Konsum so etwas wie eine wilde Massenparty. Es war, als wären wir unbewusst in eine Todesspirale geraten, auf der es in rasendem Tempo die Rückseite der Hubbert-Kurve der Zweiten Industriellen Revolution hinabging. Fest entschlossen, den über eine ganze Lebensspanne angehäuften Wohlstand zu verprassen, rasten wir in den Ruin.
|32|Der dann auch kam. Die durchschnittliche Sparquote einer Familie lag Anfang der 1990er Jahre bei circa acht Prozent. Im Jahr 2000 waren die Ersparnisse derselben Familie auf ein Prozent geschrumpft.20 2007 gaben viele Amerikaner bereits mehr aus, als sie verdienten.
Wir haben die Weltwirtschaft auf dem Rücken der amerikanischen Kaufkraft hochgehievt. Was wir uns jedoch nicht eingestehen wollten: Finanziert wurde das alles mit den Ersparnissen der amerikanischen Haushalte.
Mitte der 1990er Jahre standen die Amerikaner bis zum Hals in Schulden. Nie hatte es so viele Konkurse gegeben. 1994 meldeten 832829 Amerikaner Insolvenz an.21 Bis 2002 kletterten die Konkurse auf 1577651.22 Aber Amerikas Kreditkartenschulden nahmen weiterhin zu.
Etwa um diese Zeit begannen amerikanische Hypothekenbanken forciert ein zweites Kreditinstrument anzubieten: Subprime-Hypotheken für Leute mit wenig oder gar keinem Geld. Millionen von Amerikanern bissen an und kauften Häuser, die sie sich nicht leisten konnten. Der Boom bei der Bauindustrie sorgte für die größte Spekulationsblase der amerikanischen Geschichte. In manchen Gegenden verdoppelte, ja verdreifachte sich der Wert von Häusern in nur wenigen Jahren. Hausbesitzer begannen ihre Domizile als lukratives Investment zu sehen. Viele benutzten dieses neue Investment als Cash-Cow und schuldeten zwei-, dreimal um, weil sie Bares für das Kreditkartenkonto brauchten. So konnte der Kaufrausch weitergehen.
Die Immobilienblase platzte 2007.23 Die Hauspreise sanken in den Keller. Millionen von Amerikanern, die sich eben noch reich wähnten, konnten plötzlich die Hypotheken nicht mehr zahlen. Die Zahl der Zwangsvollstreckungen stieg sprunghaft an. Amerikanische Banken und andere Kreditinstitute, die sich allzu gern in etwas eingekauft hatten, was auf einen raffinierten weltweiten Pyramidenschwindel hinauslief, waren plötzlich zahlungsunfähig. Im September 2008 ging die Investmentbank Lehman Brothers unter. Dann drohte der American International Group (AIG) – einem Versicherungskonzern, der Subprime-Anleihen in Milliardenhöhe hielt – die Kernschmelze; wäre es dazu gekommen, hätte das den Rest der amerikanischen Wirtschaft mit |33|in die Tiefe gerissen und einen Gutteil der Weltwirtschaft gleich mit. Banken vergaben keine Kredite mehr. Es drohte eine Wirtschaftskrise vom Ausmaß der »Great Depression«, sodass der Staat sich gezwungen sah, in die Bresche zu springen und den Finanzinstituten der Wall Street mit 700 Milliarden Dollar unter die Arme zu greifen. Diese Institute sind einfach zu groß, um sie Insolvenz anmelden zu lassen – sie sind »too big to fail«.
Die sogenannte »Great Recession« begann, und die Arbeitslosenzahl stieg Monat für Monat an, bis Ende 2009 zehn Prozent der Arbeiterschaft betroffen waren (sogar 17,6 Prozent, wenn wir die mitrechnen, die die Arbeitssuche aufgegeben hatten und deshalb nicht mehr mitgezählt wurden, und die Teilzeitarbeiter, die gern eine ganze Stelle gehabt hätten). Das sind fast 27 Millionen Amerikaner, die höchste Zahl un- und unterbeschäftigter Arbeiter seit den 1930er Jahren.24
Präsident Obamas Rettungspaket half zwar dem Bankensystem aus der Patsche, tat aber wenig für amerikanische Familien. 2008 beliefen sich die Schulden amerikanischer Haushalte auf fast 14 Billionen Dollar.25 Um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie tief verschuldet amerikanische Haushalte sind: Vor 20 Jahren beliefen sich die durchschnittlichen Schulden einer Familie auf etwa 83 Prozent ihres Jahreseinkommens; vor zehn Jahren war diese Schuldenlast auf 92 Prozent und 2007 auf 130 Prozent gestiegen, was Ökonomen auf den Begriff »negative Ersparnisse« brachte, um die tiefgreifenden Veränderungen im Konsum- und Sparverhalten amerikanischer Familien zu charakterisieren.26
Klar ist, dass Kreditblase und Finanzkrise nicht in einem Vakuum entstanden. Der weltweite Kaufrausch und der ihn begleitende dramatische Anstieg des Nettosozialprodukts erhöhten die Nachfrage nach dem immer knapper werdenden Öl – mit allen bereits geschilderten Folgen bis hin zum weltweiten Einbruch der Kaufkraft, als das Öl im Juli 2008 die Rekordsumme von 147 Dollar das Barrel kostete. Sechzig Tage später gaben die Banken, bis zum Hals in geplatzten Krediten, keine Darlehen mehr aus; der Aktienmarkt brach ein, und die Globalisierung kam zum Stillstand.
|34|Als Folge davon, 18 Jahre lang von Krediten gelebt zu haben, liegt die Wirtschaft der Vereinigten Staaten heute darnieder. Die Bruttoschulden des amerikanischen Finanzsektors, die sich 1980 auf 21 Prozent des BIPs beliefen, sind während der letzten 27 Jahre kontinuierlich gestiegen, auf unglaubliche 116 Prozent im Jahre 2007.27 Wegen der engen Verflechtungen amerikanischer, europäischer und asiatischer Banken hat die Kreditkrise sich von Amerika aus auf die gesamte Weltwirtschaft ausgebreitet. Gar noch beunruhigender ist eine Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF), laut der die Verschuldung des Bundes 2015 mit dem BIP gleichziehen könnte, was erhebliche Zweifel an den Zukunftsaussichten der Vereinigten Staaten aufkommen lässt.28
Als hätten wir damit noch nicht genug um die Ohren, läuft nebenher noch eine zweite Schuld auf, und diese ist nicht nur weit größer, sie ist auch weit schwieriger zu begleichen. Ich spreche von der Entropie-Zeche für die ersten beiden industriellen Revolutionen, die uns nun präsentiert wird. 200 Jahre lang haben wir Kohle, Öl und Erdgas verbrannt, um unsere industrielle Lebensweise voranzutreiben, und damit Unmengen von Kohlendioxid in unsere Atmosphäre gepumpt. Diese verbrauchte Energie – das ist die Entropie-Zeche – hindert die Strahlungsenergie der Sonne daran, aus der Erdatmosphäre auszutreten, und droht zu einer katastrophalen Temperaturveränderung mit potenziell verheerenden Folgen für die Zukunft allen Lebens auf dem Planeten zu führen.
Im Dezember 2009 trafen sich die Staatsoberhäupter von 192 Nationen in Kopenhagen, um sich dem durch unsere Industrie verursachten Klimawandel und damit der größten Herausforderung der Menschheitsgeschichte zu stellen. Ein Bericht des Weltklimarats (IPCC) vom März 2007 hatte ein düsteres Bild gezeichnet vom Ausmaß des Problems. Über 2500 Wissenschaftler aus über 100 Nationen hatten mit ihren Erkenntnissen dazu beigetragen. Es war der vierte einer Reihe |35|von Berichten über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren im Rahmen der wohl größten wissenschaftlichen Studie aller Zeiten.29
Als Erstes fiel mir bei der Lektüre des UN-Berichts ein 27 Jahre alter Irrtum meinerseits auf. Ich hatte zum ersten Mal in meinem 1980 erschienen Buch Entropie über Klimawandel geschrieben, einem der ersten Bücher, die das Problem publik machten. Im folgenden Jahrzehnt verwandte ich dann viel Zeit darauf, das öffentliche Bewusstsein für die langfristigen Bedrohungen durch den Klimawandel zu schaffen.
1981 lud mich das Congressional Clearinghouse on the Future – ein der Meinungsbildung dienender Zusammenschluss von über hundert Kongressabgeordneten und Senatoren – ein, inoffiziell und unverbindlich im Rahmen zweier Vorträge über die thermodynamischen Folgen des von der Industrie freigesetzten Kohlendioxids zu referieren. Meines Wissens gehörten diese beiden Sitzungen zu den ersten Diskussionen über Klimaveränderungen im amerikanischen Kongress überhaupt.
1988 war meine Stiftung Gastgeber des ersten Treffens von Wissenschaftlern und mit Umweltfragen befassten NGOs aus der ganzen Welt. Es ging um die Schaffung einer weltweiten Bewegung gegen den Klimawandel. Wir gründeten das Global Greenhouse Network, einen Zusammenschluss von Klimaforschern, Umweltorganisationen und Fachleuten für wirtschaftliche Entwicklung, der wesentlich dazu beitrug, die Diskussion über den Klimawandel aus den Universitäten hinaus in die Öffentlichkeit zu tragen.
So früh ich die Dringlichkeit des Problems der Erderwärmung auch erkannt hatte, hatte ich doch, wie viele meiner Kollegen, das Tempo unterschätzt, in dem die Temperatur auf unserem Planeten nach wie vor steigt. Ich war mir nie so ganz klar über die gewaltigen Synergieeffekte gewesen, zu denen es durch die Koppelung nie geahnter Rückwirkungen kommen kann. Schmilzt zum Beispiel aufgrund des zunehmenden CO2-Gehalts in der Atmosphäre das Eis in der Arktis, kann die Erde weniger Wärme abführen. Eine kleinere Schneedecke bedeutet einen Verlust an Reflexionskapazität – Weiß reflektiert thermische Strahlung, Schwarz absorbiert sie, der Planet führt weniger Wärme ab. In einem zunehmend beschleunigten Teufelskreis positiver Feedbacks heizt diese |36|die Erde weiter auf, wodurch der Schnee noch schneller schmilzt. Wenn man nur diese Kopplungsschleife mit allen anderen multipliziert, die durch weitere abrupte Veränderungen in unserer Biosphäre ausgelöst werden, wachsen die Aussichten, die uns da bevorstehen, ins absolut Furchterregende.
Der vierte Klimabericht der UNO war eine eindringliche Erinnerung daran, dass sich die »Chemie« unseres Planeten sich ändert. Unsere Wissenschaftler prognostizieren bis zum Ende des Jahrhunderts eine Erwärmung der Erdoberfläche um wenigstens drei Grad.30 Sie könnte aber auch bedeutend höher ausfallen. Drei Grad mögen sich nicht besonders dramatisch anhören, aber wir müssen uns vor Augen halten, dass uns eine Erwärmung dieser Größenordnung die Temperatur des Pliozäns bescheren würde. Und vor drei Millionen Jahren war unsere Erde eine andere Welt.
Eine Temperaturänderung von nur 1,5 bis 3,5 Grad könnte, unseren Wissenschaftlern zufolge, zu einem Massenaussterben von Pflanzen und Tieren führen. Und das binnen weniger als 100 Jahren. Ihre Modelle laufen auf eine Aussterberate zwischen 20 und 70 Prozent hinaus.31 Wir müssen uns die Ungeheuerlichkeit dieser Aussagen vor Augen führen. Es gab auf der Erde in den letzten 450 Millionen Jahren fünf große biologische Aussterbewellen.32 Jede davon vernichtete über die Hälfte aller Organismen, und die Erde brauchte jeweils zehn Millionen Jahre, um sich von dem Verlust an Biodiversität zu erholen.33 Aber was haben Temperaturschwankungen mit Leben und Sterben zu tun?
Um ein einfaches Beispiel zu nehmen: Botaniker beunruhigt das Sterben von Bäumen in gestressten Ökosystemen. Man stelle sich für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts den Nordosten der USA mit dem Klima von Miami vor. Menschen können auf so etwas rasch reagieren und woanders hingehen, Bäume können das nicht. Ihre einzelnen Arten haben sich über Jahrtausende an die relativ stabilen Klimazonen adaptiert. Darüber hinaus pflanzen sie sich eher langsam fort. Käme es also binnen weniger Jahrzehnte zu einer radikalen Temperaturveränderung, könnten die Bäume nicht rasch genug migrieren, um einer ihnen gemäßen Temperaturzone hinterherzuziehen, was wiederum ungeheure |37|Auswirkungen auf das Leben der Tierwelt hätte. Denn 25 Prozent der Landoberfläche unseres Planeten sind bewaldet und dienen zahlreichen noch verbliebenen Spezies als Habitat.34
Wissenschaftler in Costa Rica haben festgestellt, dass mit dem Anstieg der Temperaturen in den letzten sechzehn Jahren die Wachstumsrate der Bäume zurückging.35 Ähnliche Beobachtungen finden sich auf der ganzen Welt und nähren die wachsende Sorge, dass wir uns bereits im Frühstadium eines massiven Aussterbeereignisses befinden.
Die wichtigste Auswirkung einer Erwärmung der Erdoberfläche ist die auf den Wasserkreislauf. Jede Temperaturerhöhung um ein Grad Celsius führt zu einer Zunahme des Feuchtigkeitsaufnahmevermögens der Atmosphäre um sieben Prozent.36 Das bringt eine radikale Veränderung der Art mit sich, in der sich Wasser verteilt. Es regnet heftiger, aber dafür kürzer und weniger oft. Folge davon sind mehr Überschwemmungen und längere Trockenperioden. Ökosysteme, die sich über lange Zeit einem bestimmten Wasserhaushalt angepasst haben, können sich nicht schnell genug auf solche abrupten Veränderungen der Niederschlagsbedingungen einstellen. Sie werden instabil und brechen zusammen.
Die neue Heftigkeit von Hurrikanen zeigt uns bereits jetzt die hydrologischen Auswirkungen einer Erderwärmung nur um einen halben Grad.37 In einer 2005 in der Zeitschrift Science erschienenen Studie heißt es, dass sich die Zahl von Stürmen der Kategorien 4 und 5 seit den 1970er Jahren verdoppelt hat.38 Katrina, Rita, Gustav und Ike sind ernüchternde Vorzeichen dessen, was der Menschheit auf ihrem weiteren Weg ins 21. Jahrhundert noch bevorsteht.
Wissenschaftler prognostizieren einen Anstieg des Meerwasserspiegels und den Verlust von Küstengebieten rund um die Welt. Kleine Inselketten wie die Malediven im Indischen Ozean und die Marshall-Inseln im Pazifik könnten völlig im Meer verschwinden. Auf den großen Gebirgszügen der Welt schmilzt der Schnee. Berechnungen zufolge werden einige Gletscher bis 2050 über 60 Prozent ihres Eisvolumens verlieren.39 Mehr als ein Sechstel der Menschheit lebt in Gebirgstälern und braucht den Schnee für Bewässerung, Hygiene und Trinkwasser.40|38|In weniger als 40 Jahren fast eine Milliarde Menschen umzusiedeln ist undenkbar.
Besondere Sorge bereitet den Klimaforschern die Arktis. Neuen Studien zufolge sind bis 2050 75 Prozent weniger Sommereis wahrscheinlich.41 Im August 2008 erstreckte sich ein Ring aus offenem Wasser um die Arktis. Es ist dies das erste Mal seit 125000 Jahren.42