Die dritte Tochter - Kerstin Feuersänger - E-Book

Die dritte Tochter E-Book

Kerstin Feuersänger

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Beschreibung

Die Mutter stirbt, der Vater heiratet neu, und das einzige Kind ist plötzlich nur noch die dritte Tochter, die sich der Schikanen ihrer Stiefschwestern erwehren muss. Und dann ist da noch dieser seltsame Schmiedelehrling, der nicht das ist, was er vorgibt, zu sein ... Ein altbekanntes Märchen neu - und vor allem anders - erzählt.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Prolog

Der Tag, an dem meine Mutter starb, war der letzte des Sommers. Ich war sechzehn Jahre alt, und während die Trauer das ganze Haus füllte und mich zu ersticken drohte, lief ich in den Wald und fragte mich, warum Mutter mich nicht einfach mit sich genommen hatte.

Sie war lange krank gewesen, und niemand hatte ihr helfen können. Tag für Tag hatte ich an ihrem Bett verbracht, auch nachdem alle Ärzte sie aufgegeben hatten. Vater hatte sich regelmäßig mit Branntwein getröstet, und die Mägde schlichen auf Zehenspitzen um ihn herum, wie auch um Mutter. Gedämpfte Stimmen und vorsichtiges Auftreten, zugezogene Vorhänge und stickige Luft – nicht etwa im Krankenzimmer, sondern dort, wo mein Vater sich aufhielt; meistens in seinem Arbeitszimmer, das ich als Kind selten hatte betreten dürfen und das für mich jetzt ein Ort des absoluten Tabus war.

Das Zimmer meiner Mutter hingegen war freundlich und hell. Wir hatten das Bett so gerichtet, dass sie aus dem Fenster in den sommerlichen Garten blicken konnte, wo sich die Bäume sanft im Wind wiegten und die Sonne am frühen Abend vergnügte Flecken auf das Gras malte. Oft saß ich dort und träumte, während ich ihre Hand hielt oder ihr ein kühles Tuch auf die Stirn drückte. Gegen Ende sprach sie überhaupt nicht mehr, sah mich kaum noch an, hatte stattdessen immer den Blick auf das Fenster gerichtet. Ich sprach mit ihr, hin und wieder; erzählte ihr von meinem Tag, von den Jungen, die die Katze schon wieder geworfen oder von den Kaninchen, die ich geschossen hatte. Sie blickte auf das Fenster, blinzelte hin und wieder, und als sie irgendwann nicht mehr blinzelte, als es draußen dunkel wurde, weil der Himmel sich für ein Gewitter zuzog, als es draußen blitzte und donnerte und sie trotzdem nicht blinzelte, als ich schließlich gar nichts mehr von ihr vernahm, nicht einmal den leisesten Atem – da wusste ich, dass sie fortgegangen war. Dass sie mich verlassen hatte, dass es ihr dort, wo sie hingegangen war, zwar besser ging, aber dass ich alleine zurückbleiben musste. Ich schrie nicht und ich weinte nicht, sondern ich drückte ihr die Augen zu und stand auf, mühsam nur, denn die maßlose Leere in meinem Herzen schien mich durch ihr Gewicht zu Boden zu drücken. Ich stand auf, verließ meinen Platz neben ihrem Bett zum letzen Mal und sagte der Kammerzofe draußen, dass Mutter von uns gegangen war. Schließlich trat ich müde vor die Tür meines Vaters‘ Arbeitszimmer.

„Vater“, sagte ich zu dem dunklen, mit Schnitzereien verzierten Holz. Keine Antwort.

„Vater“, sagte ich wieder. „Mutter ist tot.“

Ich wartete. Wartete drei Atemzüge, vier, fünf. Aus dem Zimmer kam kein Laut. Erst als ich die Hand auf die Klinke legte und eintreten wollte, erklang ein mürrisches „Geh!“ Fast hätte ich seine Stimme nicht erkannt, sie war heiser und leblos. Ich ging und rannte in den Wald. Und erst dort weinte ich.

Einer der Knechte hatte schließlich die Weitsicht, den Bruder meines Vaters zu verständigen, der eine Tagesreise von unserem Gut entfernt lebte. Während ich mich so gut ich konnte um den Haushalt kümmerte und dafür sorgte, dass der Leichnam meiner Mutter gewaschen und gesalbt wurde, brachte mein Onkel meinen Vater dazu, dem Alkohol zu entsagen und aus seiner Höhle hervorzukommen. Als das Totenmahl auszurichten war, schien mir Vater schon fast wieder so, wie ich ihn gekannt hatte: zupackend und beherrscht. Nur seine Fröhlichkeit fehlte ihm, aber die fehlte auch mir, darum wunderte ich mich nicht darüber.

Er fand sie jedoch nie wieder.

Was er fand, war eine neue Frau. Der König hatte ihm nach einer höflichen Wartezeit von einigen Monaten nahegelegt, wieder zu heiraten, und Vater kannte von seinen zahlreichen Reisen eine reiche Kaufmannswitwe mit zwei Töchtern, die ungefähr in meinem Alter waren. Diese drei Frauen holte er sich ins Haus, und das Unglück, das in meinen Augen mit Mutters Tod seinen Höhepunkt erreicht hatte, begann, sich ins Unermessliche zu steigern.

1

„Was für ein hübsches Kind!“, rief die zukünftige Dame Loretta von Hohenhain aus und kam mit gespieltem Entzücken auf mich zu. Sie nahm eine meiner dunklen Locken in die Hand, ließ sie jedoch gleich wieder achtlos fallen, während sie sich zu meinem Vater umdrehte. „Wie heißt sie denn? Und wie alt ist sie?“

„Sechzehn“, sagten mein Vater und ich gleichzeitig, und ich ballte die Fäuste. Ich war kein Kind mehr. Und diese Frau behandelte mich außerdem so, als wäre ich nur eine Puppe!

„Und ich heiße Carlotta“, fügte ich hinzu und starrte böse den Rücken der Frau an, die mich um eine Handbreit überragte und die übermorgen zu meiner Stiefmutter werden würde.

Sie drehte sich wieder zu mir um, drapierte ein honigsüßes Lächeln auf ihren Lippen, das allerdings nicht bis zu ihren Augen reichte, und kam wieder auf mich zu. „Carlotta, was für ein schöner Name! Da müssen wir dir für die Hochzeit auch etwas Schönes anziehen. Maria und Sophia haben so viele schöne Kleider, da ist bestimmt etwas darunter, das ihnen nicht mehr passt.“

Ich starrte sie ungläubig an, blickte dann Hilfe suchend zu meinem Vater, der gerade inbrünstig ein Stäubchen vom Kaminsims wischte, und zwang mich zur Ruhe. „Ich habe selber einige Kleider. Habt jedoch vielen Dank für das Angebot.“

Wir waren nicht die Reichsten, das wusste ich. Unsere Ländereien waren nicht groß, es waren außerdem Unsummen für weit gereiste Ärzte und unwirksame Heiltränke für meine sterbende Mutter aufgewandt worden, und zwei schlechte Ernten hatten ihr Übriges getan. Ich hatte nur wenige schöne Gewänder, die meisten meiner Kleider waren aus groben Stoffen, Leinen oder Leder, und das war gut so, denn andernfalls hätte ich sie mir bei meinen häufigen Ausflügen in Wald und Felder unweigerlich zerrissen. Die Witwe, die bald die Frau meines Vaters sein würde, war deutlich bemittelter als wir, doch anders als uns fehlten ihr die guten Beziehungen zum Königshaus, auf die mein Vater so stolz war. So profitierten beide von dieser Ehe: Mein Vater holte sich Geld und eine schöne Frau ins Haus, und die zukünftige Dame, ehemals Frau eines wohlhabenden Kaufmanns, bekam endlich den ersehnten Adelstitel.

„Deine Kleider werde ich mir mal ansehen müssen“, sagte sie ohne Interesse und wandte sich ab, und ich war insgeheim verärgert, dass ich statt meines schlichten aber ordentlichen Hauskleides nicht die Sachen trug, die ich zum Jagen anlegte: enge Hosen, in schlammbespritzte Stiefel gesteckt, am Oberkörper über einem leinenen Hemd ein warmes Lederwams und eine wollene Kapuze, denn der Herbst neigte sich dem Ende zu. Die Handschuhe, die ich zum Schießen benötigte, stopfte ich normalerweise sorglos in den Gürtel. Was hätte ich dafür gegeben, ihr Gesicht zu sehen, wäre ich ihr in einem solchen Aufzug vorgestellt worden!

Sowohl mein Vater als auch ich zuckten zusammen, als sie auf einmal gellend „Maria! Sophia!“ rief. Als hätten sie vor der Tür gewartet, traten ihre beiden Töchter ein.

Mein Vater hatte mir erzählt, dass sie ein wenig älter waren als ich, Maria war achtzehn und Sophie gerade siebzehn geworden, doch dass sie so schön waren, darauf war ich nicht vorbereitet. Neben ihren ebenmäßigen Gesichtszügen, den langen blonden Zöpfen und den feinen Gewändern kam ich mir mit meiner Stupsnase, meinen Sommersprossen und meiner unbezähmbaren braunen Haarmähne richtiggehend hässlich vor.

„Das ist Maria“, sagte die Stiefgemahlin – wie ich sie insgeheim bereits nannte – und zeigte auf ihre Älteste, „und das Sophia. Meine bildhübschen Töchter. Und das da“, damit zeigte sie auf mich, „ist eure neue Schwester, Carlotta.“

Sophia trug ein hellgrünes Kleid aus glänzendem Taft, das ihre schlanke Taille betonte. Ihre Schwester hingegen trug ein veilchenblaues Seidenkleid in der Farbe ihrer Augen, und auf ihrem Gesicht erschien ein herablassender Ausdruck, als sie mich sah. Beide knicksten höflich und ich tat es ihnen gleich, obwohl ich mich dazu zwingen musste. Ich hatte so eine Ahnung, dass ich mir zukünftig auch weiterhin jegliche Höflichkeiten den neuen Familienmitgliedern gegenüber würde abringen müssen, denn freiwillig wollte ich sie ihnen keinesfalls entgegenbringen.

Sophia und Maria lächelten gleichzeitig das honigsüße falsche Lächeln ihrer Mutter, und mir lief es kalt den Rücken hinunter. Diese Frauen wollte mein Vater allen Ernstes ins Haus holen? Ich warf ihm wieder einen verzweifelten Blick zu, den er jedoch nicht sah, weil er seine Aufmerksamkeit nicht von seiner zukünftigen Frau wenden konnte. Doch in seinen Augen sah ich nicht Liebe – was ich ihm sechs Monate nach Mutters Tod auch sehr übel genommen hätte –, sondern Bewunderung und Faszination und … Stolz. Er war stolz auf diese reiche, schöne Frau mit ihren schönen Töchtern und ihrem vielen Geld. Stolz, dass er sie errungen hatte wie einen lukrativen Vertragsabschluss – müßig fragte ich mich, ob es sich in dieser Angelegenheit nicht um einen ebensolchen handelte –, und dass sie von nun an sein Haus, sein Gesinde und sein Ansehen überwachen und vervollkommnen würde.

Ich konnte nicht mit ihm darüber reden, das wusste ich. Ich hatte kein Anrecht darauf, ich war nur seine Tochter, ich war nicht der Sohn, den er sich so sehnlich gewünscht hatte. Ich konnte sogar froh sein, noch nicht verheiratet worden zu sein, doch womöglich stand mir nun, nach Mutters Tod, auch das bald bevor. Wieder schauderte mir, obwohl mir das Feuer, das eine der Mägde in dem Kamin in meiner Kammer entzündet hatte, die Haut wärmte. Zum Glück war unser Haus so groß, dass die drei neuen Bewohnerinnen jeweils ein Zimmer für sich haben konnten, und die restlichen ungenutzten Räume hatten sie ebenfalls unter sich und ihrem Gesinde aufgeteilt. Ein ganzer Haushalt war heute bei uns eingezogen, und obwohl es als Tochter des Hauses meine Pflicht gewesen wäre, den Einzug zu überwachen und zu leiten, hatte ich mich nach der missglückten Vorstellung im großen Kaminzimmer zunächst in die Ställe, dann in den Wald und dann auf meine Kammer verzogen. Sie würden das schon machen, hatte ich mir gedacht, sie brauchten mich nicht, und ich hatte Recht gehabt. Ich fragte mich, warum mein Vater das alles so geschehen ließ – und dann wurde mir klar, dass er keine Wahl hatte und dass es ihn womöglich nicht einmal störte, wie seine neue Frau mit mir und dem Haushalt umsprang. Denn es war ja nun ihr Haushalt, sie konnte damit tun und lassen, was sie wollte, solange sie meinen Vater mit den Details nicht belangte, und in diesen Details war ich einfach mit eingeschlossen. Ein Anhängsel, das mit einer Selbstverständlichkeit beiseite geschoben wurde, die mich in ihrer Absurdität eher faszinierte als ängstigte.

Und dann hörte ich, dass sich in dem Zimmer unter meinem etwas tat; im Zimmer meiner Mutter.

Ich sprang auf, ließ die Decke, in die ich mich gewickelt hatte, achtlos fallen und rannte hinaus auf den Flur. Die Stiege hinab, den Korridor entlang und in das Zimmer meiner Mutter – wo die Stiefgemahlin gerade dabei war, zwei Knechten Anweisung zu geben, das geschnitzte Bett, in dem meine Mutter gestorben war, fortzuräumen und stattdessen ihre eigenen Möbel aufzustellen.

„Nein!“, rief ich entsetzt, und die Stiefgemahlin drehte sich betont langsam zu mir um.

„Wie bitte?“, fragte sie kühl.

„Das ist das Zimmer meiner Mutter“, brach es aus mir hervor. „Das dürft Ihr nicht beziehen! Nehmt jeden anderen Raum in diesem Haus, aber nicht dieses Zimmer! Habt Ihr denn gar keinen Respekt?“

Das war zuviel, ich wusste es selbst. Sie war die Herrin im Haus, ich hätte nicht so mit ihr reden dürfen, aber ihre Reaktion ließ meine kurzzeitige Reue verfliegen.

Sie holte Luft und richtete sich auf. Mir schien, als würde sie dadurch einen halben Kopf größer und schösse mit ihren Augen kleine Blitze auf mich. „Mein Kind“, – allein dafür hätte ich sie schlagen können –, „du enttäuschst mich. Du bist es, die keinen Respekt zu haben scheint. Hast du deine Mutter nicht schon vor Monaten begraben? Du solltest erwachsen werden. Ich werde übermorgen deinen Vater heiraten. Dieses Haus und alles, was darin ist, ist nun mein, und du tätest gut daran, dir Manieren und Gehorsam anzueignen, anstatt so mit der Frau deines Vaters zu reden!“

Ich starrte sie an, mit aufgerissenen Augen und offenem Mund. Sie war eine Hexe, das beschloss ich in diesem Moment. Wie konnte sie das Andenken meiner Mutter so beschmutzen!

„Geh, du stehst hier nur im Weg herum“, sagte die Stiefgemahlin, ging an mir vorbei aus dem Raum und stieß mich dabei unsanft zur Seite.

„Ihr könnt das nicht tun!“, flehte ich die beiden Knechte an, die ich noch nie zuvor gesehen hatte – auch sie waren wohl von der Hexe mitgebracht worden. Sie reagierten nicht auf meine Worte, hoben gemeinsam das Bett an und trugen es hochkant durch die Tür, wobei der eine es immerhin noch vermochte, mir einen anzüglichen Blick zuzuwerfen.

Ich hasste ihn dafür, und ich hasste den anderen Knecht, weil er mühelos das Bett meiner Mutter davontrug, und ich hasste die Frau, die sich seit heute mit ihren Töchtern, ihren Truhen, ihren Möbeln, ihrem Gesinde und ihrer Willkür im Haus meiner Eltern breitmachte. In meinem Haus, ich wohnte doch hier, war ich denn nichts mehr wert …?

Langsam ging ich wieder hinauf in meine Kammer, hüllte mich in meine Decke, setzte mich vor das Feuer und weinte.

2

Am nächsten Tag ging ich jagen. Ich ging so früh, dass mich niemand aufhalten konnte. Die Stiefgemahlin und ihre zwei Töchter lagen noch in den Federn, und mein Vater – nun, der saß wahrscheinlich in seinem Arbeitszimmer und überprüfte die Einladungsliste, oder tat sonst irgendetwas. Mir war das herzlich egal, er hätte mich vielleicht angehört, wenn ich ihm von dem Frevel seiner Verlobten am Zimmer meiner Mutter erzählt hätte, aber gerührt hätte es ihn wohl kaum.

Auf den Feldern lag Nebel. Es war Anfang März, und die kühle Feuchte auf meinen Wangen vertrieb auch den letzten Rest des Schlafs. Den Köcher mit meinen Pfeilen trug ich auf dem Rücken, den Bogen in der Hand – er war das Geschenk eines Freundes meines Vaters gewesen, der nie auch nur im Traum damit gerechnet hätte, dass ich die Waffe tatsächlich benutzen könnte. Doch ich tat es, und ich war nicht einmal schlecht darin. Natürlich ließ mich mein Vater bei den seltenen Gelegenheiten, an denen er zur Treibjagd ritt, nicht mitkommen, aber wenigstens verbot er mir das Jagen zu Fuß und auf eigene Faust nicht, und die Wälder um unser Anwesen waren dank der strikten Rechtsprechung meines Vaters frei von Wegelagerern und anderen finsteren Gesellen.

Der Weg vom Haus führte mich durch die Gemüsegärten, die ich durch eine kleine rückwärtige Pforte in der Mauer, die unser Gut umgab, verließ. Dahinter kamen ein selten benutzter Karrenweg, ein kahles Feld, bereit für die Aussaat, die in wenigen Wochen beginnen würde, dann eine Furt durch den Bach, die ich in meinen groben Stiefeln mühelos passierte, und nur wenige Schritte weiter empfingen mich die beruhigenden Schatten des Waldes, an dessen Rand die Haselnussbüsche schon die ersten grünen Triebe zeigten und ein paar verspätete Schneeglöckchen tapfer aushielten.

Ich rechnete nicht damit, etwas zu jagen; darauf war ich heute auch nicht aus. Jegliches Mittel war mir jedoch recht, das Haus zu verlassen, und der Wald war schon immer meine Zuflucht gewesen. Hier ärgerte mich niemand, vor Wölfen und Bären fürchtete ich mich nicht – selbst wenn es sie hier gegeben hätte –, und die Schauergeschichten, die manche Verwandten meinten, einem Kind erzählen zu müssen, hatten mich nie überzeugt, weil ich, seit ich laufen konnte, den Wald wie meine Westentasche kannte. Ich wusste, wohin die Rehe zur Tränke kamen und wann, wusste auch, wo die Wildschweine nach Nahrung wühlten und sich suhlten – nicht, dass ich solch große Tiere gejagt hätte –, und wie man sich so leise bewegte, dass auch die Kaninchen sich kaum rechtzeitig vor dem tödlichen Pfeil retten konnten.

Nebelfetzen umschlangen die Bäume auf den ersten Metern des Waldes, danach verblieb nur ein diesiger Schimmer, was mich aber nicht störte. Ich mochte Nebel. Obwohl er kühl und feucht ist, gibt er der Welt ein sanftes Aussehen, lässt Konturen verschwimmen und schenkt allem eine Weichheit, die einem das Gefühl gibt, durch ein Märchen zu wandern.

Heute wanderte ich jedoch nicht, sondern schlich. Das war mir zur Natur geworden, solange ich mich im Wald befand. Auch dann, wenn ich nichts schießen wollte, machte ich mir einen Spaß daraus, mich möglichst lautlos zu bewegen.

Umso erstaunter war ich, als ich an der Lichtung, auf der die Rehe zur Tränke zu kommen pflegten, tatsächlich etwas sah – unklar aus der Entfernung, verwischt durch den Dunst, aber eindeutig ein Rehbock, der den Kopf gemächlich zum Wasser senkte. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen.

Leise zog ich einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn an, ohne den Bock aus den Augen zu lassen. Hob den Bogen, zog die Sehne aus, zielte, atmete ein, hielt die Luft an – und mein rechter Fuß, der auf einem toten Ast stand, rutschte von der feuchten Rinde ab. Ich verlor das Gleichgewicht, die Sehne rutschte mir aus den Fingern, der Pfeil flog von dannen – und jemand schrie.

Was um alles in der Welt –? Mein Pfeil hatte den Rehbock verfehlt. Das Tier hob erschrocken den Kopf und flog nach einer Schrecksekunde davon, und mir wurde bewusst, dass der Schrei, den ich gehört hatte, ein menschlicher gewesen war. Oh nein, bitte nicht, schoss es mir durch den Kopf, während ich losrannte. Bitte lass nichts passiert sein …

„Ist da jemand?“, rief ich, als ich auf der Lichtung mit dem Bach angekommen war, und meine Stimme überschlug sich vor Besorgnis. „He, ist da jemand?“

Rechts vor mir erklangen ein Rascheln und dann ein Fluch, der so böse klang, dass ich instinktiv wieder den Bogen hob, einen Pfeil bereits auf der Sehne. Hatte ich einen Wilderer erwischt?

Aus dem Gebüsch kam ein Mann. Ein wirrer schwarzer Haarschopf hing ihm ins Gesicht, seine Kleider waren, ähnlich wie meine, schlicht und belastbar, einen Bogen hatte er um die Schulter geschlungen, und er drückte seine linke Hand auf eine Stelle an seinem rechten Unterarm. Sein Ärmel war feucht von Blut.

Als er aufsah, trafen sich unsere Blicke für einen Moment, und ich ließ den Bogen sinken. Das hier war kein Wilderer. Wer er war, wusste ich nicht, ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Aber seine grünen Augen gefielen mir. Und vom Herzen fiel mir ein Stein, weil ich ihn offensichtlich nur leicht verwundet hatte. Trotzdem – was hatte er in unserem Wald zu suchen?

„Du kannst hier nicht jagen“, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. „Der König hat uns das alleinige Jagdrecht in diesem Wald verliehen.“

„Hat er Euch auch erlaubt, Menschen zu jagen?“, fragte der Mann bissig, und mein Gesicht wurde ganz heiß. Wie dumm ich mir auf einmal vorkam. Rasch legte ich meinen Bogen ab, griff unter mein Lederwams und riss einen breiten Streifen Stoff vom Saum meines Hemdes.

„Hier“, sagte ich und trat auf den Fremden zu. „Darf ich? Bitte verzeih, ich wollte nicht auf dich schießen, ich bin ausgerutscht und –“ Beschämtblickte ich zu ihm auf; er war einen ganzen Kopf größer als ich. „Ich hoffe, es tut nicht so furchtbar weh.“

„Ein Verband vom Saum Eures Gewandes?“, fragte er keck, und sein Ton ließ mir wieder die Röte ins Gesicht steigen. Hatte er nicht gerade noch vor Schmerzen geflucht?

„Gib mir deine Hand.“ Energischer als beabsichtigt zog ich seinen Arm zu mir hin, hielt ihn mit einer Hand fest, während ich mit der anderen den Verband bereithielt, als er die Wunde freigab. Der Riss blutete zwar stark, war aber nicht tief, soviel konnte ich mit meinen beschränkten medizinischen Kenntnissen feststellen. Ich wickelte den Leinenstreifen vorsichtig darum, schlang ihn mehrfach um den Arm, zog ihn am Ende fest und verknotete ihn, damit der Verband sich nicht löste. Dann ließ ich den Arm des Mannes los und trat einen Schritt zurück.

„Du solltest das von einem Arzt ordentlich verbinden lassen, doch fürs Erste sollte es reichen.“ Ich wählte bewusst nicht die förmliche Art der Anrede, denn er sah aus wie ein Bauer, ich kannte ihn nicht, und er hatte kein Recht, in diesem Wald zu sein. Auf gewisse Weise gab ich ihm sogar die Schuld daran, dass ich mich ungebührlich verhalten hatte, indem ich einem Fremden so nahe gekommen war. Auch wenn es mir in Wirklichkeit nicht unangenehm gewesen war, doch das brauchte er nicht zu wissen.

„Danke. Ihr seid sehr freundlich.“ Seine grünen Augen betrachteten mich, und um seine Mundwinkel glaubte ich, ein Zucken zu vernehmen. Machte er sich etwa über mich lustig?

Ich hob meinen Bogen auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Was hast du hier zu suchen?“

„Die Frau fürs Leben vielleicht?“ Und er zwinkerte mir zu.

Ich verzog das Gesicht und wandte mich ab. Wie furchtbar. Solche Sprüche sollten verboten sein, fand ich. Aber einfach so weggehen, das konnte ich nicht, denn schließlich hatte er ja kein Recht, hier zu sein … „Da hast du mit deinem Bogen aber das falsche Werkzeug dabei“, brummelte ich. „Verschwindest du freiwillig oder muss ich dich meinem Vater melden?“

„Oh, ich werde schon verschwinden, wenn Euch dieser Wald … gehört.“ Seine abfällige Betonung auf dem letzten Wort entging mir nicht. „Aber wer ist denn Euer Vater überhaupt?“

„Ritter Otto von Hohenhain“, sagte ich und hob stolz das Kinn. Wie gut es tat, ihm den Titel meines Vaters entgegenzuschleudern. „Und wer bist du?“

„Johann“, sagte der Fremde und lächelte. „Einfach nur Johann.“

„Einfach nur Johann“, wiederholte ich und hob einen verächtlichen Mundwinkel. „Wie der Prinz, ja? Obwohl der sich wohl kaum ,einfach nur Johann‘ nennen würde.“

„Ihr scheint ihn ja nicht sehr zu mögen, den Prinzen.“

„Ach –“ Ich winkte ab. „Ich bin ihm noch nie begegnet, denn er ist ja seit Jahren fort. Man erzählt sich, sein Vater habe ihn in ein fremdes Land geschickt, damit er dort endlich Manieren lernen kann. Von dem, was man so hört, soll er ein ziemlich ungehobelter Kerl sein, arrogant und unhöflich.“

„Ungehobelt?“ Johann hob die Augenbrauen. „Arrogant und unhöflich? Soso. Wer erzählt denn so was?“

Unter seinem prüfenden Blick wurde mir unwohl zumute, und ich betrachtete meine Stiefelspitzen. „Nun … in der Küche hört man so einiges …“

„In der Küche“, sagte Johann. „Bei den Mägden. An dem Ort, wo in jedem Haushalt wohl am meisten geklatscht wird. Hat es eine Ritterstochter wirklich nötig, ihre Informationen aus einer solchen Quelle zu beziehen?“

Seine gewählte Ausdrucksweise, die überhaupt nicht zu seinem Aufzug passte, verwirrte mich. Zum dritten Mal fühlte ich, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss, und beschloss, dass ich fort musste. Dieser Fremde war wirklich unverschämt.

„Geh jetzt besser“, empfahl ich ihm, und meine Stimme klang noch kühler als beabsichtigt. „In diesem Wald sollen schon Unfälle vorgekommen sein.“

Johann starrte mich einen Moment lang an, und dann fing er zu meinem Verdruss an, schallend zu lachen. „Ihr seid an sich sehr amüsant, Euer Hochwohlgeboren, doch solch harsche Worte stehen Euch nicht gut zu Gesicht. Wollt Ihr mir nicht wenigstens Euren Namen verraten?“

„Nein“, antwortete ich eisern. „Lebt wohl.“ Und ich wartete.

Er wurde ernst, sah mich einen Moment lang nachdenklich an und bot mir zum Abschied eine spöttische Verbeugung, die er jedoch formvollendet ausführte. Mir wurde unbehaglich zumute, doch ich ließ mir nichts anmerken, während er sich ohne ein weiteres Wort umdrehte und wieder in dem Gebüsch verschwand, aus dem er gekommen war.

Und während ich nachdenklich meine Schritte zurück zum Waldrand verfolgte, wurde ich das beklemmende Gefühl nicht los, mich auf ganzer Linie lächerlich gemacht zu haben.

Ich ließ mir Zeit mit der Rückkehr, streifte noch ein wenig im Wald herum, setzte mich später, nachdem die Vorfrühlingssonne den Nebel geschmolzen hatte, ans Bachufer, aß den Apfel, den ich mir morgens aus der Vorratskammer stibitzt hatte, und genoss die kitzelnden Strahlen auf meiner Nase. Müßig sah ich hoch zum Haus, von dem die Geräusche geschäftigen Treibens herab klangen. Natürlich, morgen war Hochzeit. Den ganzen Tag würde heute gekocht und gewaschen werden, gefegt, geputzt, Kleider gerichtet, Weinfässer mussten aus dem Keller geholt und Kälber und Gänse geschlachtet werden. All das musste bereits in vollem Gange sein, denn die Sonne stand hoch, es war schon fast Mittag. Ein Grund mehr für mich, hier noch zu verweilen – kehrte ich zurück, würde ich unweigerlich eingespannt werden, und das Schlimmste war: Es war meine Pflicht, zu helfen. Mein Gewissen mahnte mich, so schnell wie möglich zurückzukehren, und ich seufzte. Den Zwischenfall mit dem Fremden am Morgen, über den ich mich seitdem entweder ärgerte oder schämte, meistens sogar beides zusammen, würde ich durch die Arbeit vielleicht vergessen können.

Ich trat in unsere große Wohnstube, in der ich gestern meiner zukünftigen Stiefmutter vorgestellt worden war und die inzwischen deutlich die Handschrift der neuen Bewohnerin trug.

„Da bist du ja“, begrüßte mich Maria ohne sichtbare Begeisterung, während sie gelangweilt mit einem perlenbesetzten Schuh herumspielte und sich von einer Zofe, die ich noch nie vorher gesehen hatte, die langen blonden Haare kämmen ließ. „Mutter hat dich schon gesucht.“ Schwang da Schadenfreude in ihrer Stimme mit?

„Aha“, sagte ich und wollte gehen.

Sie rief mir nach: „In so einem Aufzug solltest du dich bei ihr aber nicht blicken lassen!“

Jetzt erst recht, dachte ich und ging. Und als hätte sie auf mich gewartet, traf ich draußen auf die Stiefgemahlin Loretta, die wie ein Habicht auf mich herabstieß und mit ihrem spitzen Finger auf mich zeigte.

„Wie siehst du denn aus!“, zeterte sie, und zwei Mägde, die gerade von der Vorratskammer in die Küche liefen, blieben neugierig stehen. „Lässt dich dein Vater etwa so herumlaufen? Das hat ab jetzt ein Ende! Sieh zu, dass du dir etwas Ordentliches anziehst, und zwar auf der Stelle, und dann kommst du wieder herunter und hilfst bei den Vorbereitungen.“

Ich war schon wütend, bevor sie halb zu Ende gesprochen hatte. „Warum hilft Maria denn nicht? Die hat doch nichts Besseres zu tun als herumzusitzen! Und ich kann tragen, was ich will, das konnte ich schon, bevor Ihr kamt, und ich werde es noch können, wenn Ihr schon längst nicht mehr hier seid!“

Die Antwort darauf war eine schallende Ohrfeige, die mich gegen die Wand taumeln ließ. Loretta trat ganz nah zu mir und griff mich hart an der Schulter. Ihre Stimme war nur noch ein böses Zischen. „Solche Unflätigkeiten wirst du dir abgewöhnen. So etwas dulde ich nicht von meinen Kindern, und schon gar nicht von dir. Tu, was ich gesagt habe, oder du wirst es bereuen.“

Und obwohl ich sie gerne gefragt hätte, was sie denn zu tun gedachte, um mich zur Reue zu zwingen, hielt ich meinen Mund. Ich hatte genug damit zu tun, die Tränen zu unterdrücken, die mir der Schmerz und der Zorn in die Augen getrieben hatten.

Sie rauschte davon und hielt es offensichtlich nicht für nötig, sicherzugehen, dass ich ihre Anordnung befolgte. Sie war wohl der Meinung, genug Eindruck hinterlassen zu haben, dass ich mich nicht mehr widersetzte. Und das Schlimmste war: Sie hatte Recht.

„Hier“, flüsterte mir jemand zu, „nehmt das mit auf Euer Zimmer!“ Ich blickte auf und sah Elisabeth, unsere Wirtschafterin. Sie hielt mir einen kleinen Kuchen vor die Nase, den sie wohl aus der Küche entwendet hatte – niemand würde es merken, für die morgige Feier waren sicher Dutzende davon gebacken worden – und lächelte mir aufmunternd zu. Ich kannte sie schon mein ganzes Leben, sie hatte mich als kleines Kind auf dem Schoß gehabt und mir später die offenen Knie verbunden, die ich mir beim Spiel mit den anderen Kindern verletzt hatte. Ein Blick in ihr zerfurchtes, gütiges Gesicht, das von silbernem Haar umrahmt wurde, zeigte mir, dass sie das Verhalten der Stiefgemahlin genauso wenig billigen konnte wie ich. Und genauso wenig wie ich konnte sie etwas dagegen tun.

Ich nahm den Kuchen und unterdrückte den Impuls, sie in die Arme zu schließen; ich hätte die Tränen dann nicht mehr zurückhalten können. „Danke“, sagte ich leise und drückte ihre Hand, „vielen Dank. Wir werden das gemeinsam durchstehen müssen.“

Sie nickte traurig. „Jetzt geht, bevor sie zurückkommt.“

Ich stieg zu meiner Kammer hinauf, und dort angekommen setzte ich mich ohne Eile auf mein Bett und brach ein Stück Kruste von dem Kuchen ab. Er war noch warm, mit Nussstückchen darin, und äußerst köstlich. Meine Wange schmerzte schon fast nicht mehr und mein Stolz – nun, auch mein verletzter Stolz würde heilen.

Nach einer Zeit, die ich als hinreichend lang empfand, um aufsässig zu wirken, ging ich wieder hinunter. Ich trug mein ungefärbtes Leinenkleid, darüber eine grobe Schürze und mein Haar hatte ich mit einem Tuch gebändigt. Unten wartete jedoch keine Hexe auf mich, und ich legte es auch nicht darauf an, einer ihrer Töchter zu begegnen. Stattdessen verzog ich mich in die Küche, wo die Köchin und sechs von unseren Mägden sowie drei weitere, die ich nicht kannte und die offensichtlich mit Loretta angereist waren, eifrig Gemüse schnitten, Rüben schälten, Teig kneteten und Eintopf kochten. Hier hatte ich schon oft geholfen, und ich kannte mich aus. Bis zum späten Nachmittag beschäftigte ich mich hier, und die Stiefgemahlin ließ sich nicht blicken. Ich ließ meinem Vater ausrichten, dass ich das Abendessen mit den Mägden in der Küche einnehmen würde, und wusste, es würde ihm nichts ausmachen, denn die Stimmung am Tisch war schon gestern sehr angespannt gewesen. Morgen würde er heiraten, und ich wollte ihn nicht in den Streit mit Loretta hineinziehen.

Leider war es aber mit den Demütigungen für diesen Tag noch nicht getan. Nach dem Essen ließ Loretta mich zu sich rufen, und aus Vernunft ging ich, wenn auch widerwillig.

Sie empfing mich in ihrem Ankleidezimmer, das meine Mutter früher für denselben Zweck benutzt hatte. Maria und Sophia standen herum als erwarteten sie etwas, Loretta hatte sich gerade die langen Haare für das Zubettgehen flechten lassen. Auf einer Truhe lag ein kleiner Haufen Kleider.

„Wir müssen endlich eine Frau aus dir machen“, begrüßte mich die Stiefgemahlin und wies dann auf die Kleider. „Diese hier passen meinen Töchtern nicht mehr, probier sie an, damit wir sehen können, was dir am besten steht. Du kannst deinem Vater morgen keine Schande bereiten, indem du wie ein Wildfang aussiehst.“

Eine bissige Antwort lag mir auf der Zunge, doch ich hielt mich zurück. Es würde sie ohnehin nicht kümmern.

Loretta sagte: „Zieh dich aus.“