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Der erste Teil der New-Adult-Trilogie: Schicksalhafte Begegnungen, die labyrinthischen Schächte der Seele und eine große Liebe bestimmen Boys Weg. Ein Antiheld von oft heldenhafter Entschlossenheit, doch so zerrissen wie unsere Zeit. Am Wannsee sieht er Anna zum ersten Mal. Sie sitzt am Strand und raucht, wie er noch nie zuvor einen Menschen hat rauchen sehen. Mit jedem Zug zieht sie die Welt um ihn herum in sich hinein, verschlingt sie tiefer und tiefer. Boy verliebt sich. Doch ihr Kennenlernen gestaltet sich nicht einfach und wird zur emotionalen Achterbahnfahrt. Eine magische Liebesgeschichte, deren Stärke aus dem Fortbestehen menschlicher Wärme in einer kalten Welt erwächst.
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Seitenzahl: 113
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Das blaue Notizbuch
1. Planetin Anna
2. Grauer Beton vs. Paradies, 10. April 2024
4. Wie im Traum, 21. Juni 2024
5. Scheue Hunde
6. In den Wald, weg von allen Menschen
7. Tanz ums Feuer
8. Andrejew und ich
9. Der Klang der Kerzen, 28. Juni 2024
10. Die Existenz der Unerträglichkeit
Alles, was ich über das traurige Schicksal meines besten Freundes Boy erfahren habe, lege ich dir vor und hoffe, dass seine Geschichte dir ein kleines Licht sein kann, falls auch über dein Leben einmal die Finsternis hereinbricht.
Vor der Wahrheit floh ich hinab die Tage, hinab die Nächte. Vor ihr floh ich hinab all die Jahre. Tief in den labyrinthischen Schächten meines Herzens hielt ich sie versteckt, fernab der Angst und meiner Welt. Was war das für eine Zeit, in der wir lebten? Es herrschte das Chaos der Gegensätze in unserer Zeit.
Für manche war es die Zeit ihres Lebens, für andere brachte sie den Tod. Es gab diejenigen, die vor lauter Geld und Freiheit nicht wussten, wohin damit, während andere sich in durchnässten Kartons unter Brücken verbargen. Während die Menschen in Berlin tanzten, zitterten sie andernorts in Bunkern und unter Küchentischen. Wir hier, hatten das Glück verschont zu sein. Wenn dieses aussetzt sind wir verloren.
Was war das für eine Zeit, in der wir lebten? Es war eine Zeit der lauten Leute, sodass der Rest lieber leise blieb. Für mich, nur für mich, war es die dunkelste und die beste Zeit.
Momentan liege ich im Krankenhaus und mache gerade eine echt beschissene Zeit durch. Allerdings hatte ich davor die warme Berührung des Glücks gespürt. Ein Sommer war zu Ende gegangen, wie ihn die meisten von uns vielleicht nur ein einziges Mal erleben. Ein Sommer, der die Kraft hat, so ist es mir nach der Zeit hier schon bewusst, über ein ganzes Leben zu strahlen. Ich richte die Eintragungen an einen Freund, in einer Zeit, in der mir kein Freund und keine Freundin mehr geblieben ist.
Heute war der erste wirklich warme Tag des Jahres.
Es ist jedes Jahr dasselbe. Der erste sommerliche Tag ist von einer geheimnisvollen Erregung erfüllt, welche die Hoffnung nährt, es würde ein Sommer heraufbeschworen, der sich in unseren Herzen festbrennt und unser weiteres Leben bestimmen wird. Manche Beschwörungen halten dem Erwartungsdruck natürlich nicht stand, andere schon.
Nach den Dürrejahren unter Corona und dem anderen Scheiß empfanden wir immer noch den inneren Druck, das Verpasste nachzuholen. Für mich deutete sich schon am ersten Tag an, dass die Warteschleife meiner Erwartungen jetzt endlich erfüllt wird.
Jew, Erik und Timm holten mich ab, um zum See zu fahren. Das waren meine Freunde, und nebenbei zogen wir täglich gemeinsam einen durch. Im Normalfall waren wir auf unsere Fahrräder oder die Öffis angewiesen. An jenem Tag aber konnten wir im Auto von Eriks Cousin mitfahren.
Alle Fenster waren geöffnet, und die warme Luft umhüllte mich, als wäre ich in einer Blase oder so etwas. Wir redeten nicht, waren zusammen allein.
Aus den kratzigen Boxen des alten Volvos tönte eine ruppige Gitarre. Wahrscheinlich ein altes Lied, vielleicht aus den Achtzigern, das ich noch nie gehört hatte. Es erreichte mich in meiner Blase: „Ankunft im Labyrinth einer Stadt in der Nacht- und die Hoffnung verfliegt auf ein bisschen schlafsehnsuchtsvoll irrt mein Blick übern Platz- und er streift jenes Schild, das da lügt von Geborgenheit“, raunte es mir entgegen, ohne eine Reaktion zu erwarten. Ich ließ mich in den Sitz rutschen, atmete aus und streckte meinen Arm aus dem Fenster, ließ meine Hand im Fahrtwind auf und ab fliegen.
Die frischen Blätter der Pappeln am Straßenrand flimmerten, von Licht durchstrahlt. Sie wogten zuckend im Wind, wie viele tausend Tänzerinnen und Tänzer in goldenen Kostümen. Man muss sie nur anschauen, und dann tanzen sie für dich, selbst hier, irgendwo zwischen Berlin und Vegas, kurz vor der ostdeutschen Provinz. In einem Gefühl leiser Euphorie und von einem Hauch der Lächerlichkeit berührt, griff ich nach der weichen, fleischigen Luft, als würden wir gleich Liebe machen. Zufrieden und entspannt blickte ich dann doch sicherheitshalber zu Timm, der es mir wohlgefällig gleichtat. Wir lachten und verloren kein Wort.
Am Wannsee tummelten sich, obwohl es erst Anfang April war und die Sonne nun schon hinter den Wipfeln der großen Trauerweiden verschwunden war, noch verdammt viele Menschen. Ungefähr so viele, wie ich es mir am Ballermann oder irgend so einer Urlaubshölle vorstellte. Wir hatten mit ein paar Hippies gerechnet, die eh das ganze Jahr baden gehen. Aber Anscheinend hatten alle möglichen Leute diesen ersten heißen Tag herbeigesehnt. Der lange Steg war demnach auch schwer umkämpft.
Der muskelbepackte Schmidt flanierte fürstlich, wie ein junger Lord über den Steg. Ich verabscheute ihn.
Vielleicht hasste ich ihn sogar. Ich weiß, Hass ist ein starkes Wort, aber wenn ich dem jemals nahegekommen bin, ich meine jemanden wirklich zu hassen, dann in der Personifikation dieses unbesiegbaren Panzers. Er war eine Klasse über uns, im Abschlussjahr. Dieser Schweinearsch hatte wirklich keine Gelegenheit ausgelassen Jew und mich zu schikanieren. Auf dem Schulhof hatte er uns schon ein Dutzend Mal angerotzt und ich konnte mich an diese miesen Feindseligkeiten nicht gewöhnen. Glaubhaft hatte er allen Leuten vermittelt, dass er uns einmal am Teufelssee dabei erwischt hatte, wie wir uns „gegenseitig in den Arsch fickten“.
Keine Ahnung, ob es in anderen Schulen besser lief.
Aber uns machte diese kleine Geschichte zu ziemlichen Einzelgängern. Nur die absoluten Loser gaben sich mit uns ab. Wir waren die Oberloser. Die Könige der Losergang.
An jenem Tag am See beobachtete ich, wie das alte Sackgesicht Schmidt selbstverliebt herumtorkelte.
Mein Herz pochte wie wild, so sehr wollte ich ihm etwas Schlechtes. Diese Gedanken verzerrten den Tag, und ein milchiger Filter der Bitterkeit schob sich über das goldene Licht der Sonne. Irgendwann dann ergriffen wir –also nur Jew, Erik und ich- die Gelegenheit, als Schmidt und seine Crew gerade nicht da waren, über den langen Steg hinweg, zum Sprungturm zu gelangen. So weit kamen wir nicht.
Irgendwie musste Schmidt uns vom Wasser aus gesehen haben. Er kletterte vor uns auf den Steg und schnitt uns fies grinsend den Weg ab. Ich würde nicht weichen! Dieses Mal nicht!
Ich ging ganz hinten. Erik schlug zuerst auf der Wasseroberfläche auf, nachdem er durch eine geschickte Beingrätsche Schmidt ins Wanken gebracht hatte. Doch diese viehische, muskulöse Kampfmaschine des Leids katapultierte Erik aus dem Wanken heraus, in einem zwei Meter Wurfradius, direkt ins Wasser.
Bezüglich Jews Mut hatte ich keinen Hauch eines Zweifels. Außerdem hatte er Schmidt etwas entgegenzusetzten, denn er pumpte zu Hause immer mit den Hanteln und das sah man ihm auch an. Er folgte Erik jedoch fast von allein ins Wasser.
Anscheinend war er nicht in Kampfeslaune. Wie auch immer, bei mir jedenfalls lag die Sache anders.
Ich würde dieses Mal wirklich nicht weichen! Nein!
Ich musste mich beruhigen! Selbst jetzt noch muss ich mich beruhigen, da ich aus einiger Distanz es bloß in meinen Kopf zurückrufe, es dir aufschreibe, muss ich rational sein, mir selbst sagen oder es mir auch nur einreden, dass ich ihn nicht hasse.
„Scheiß auf Rache!“ sagte ich bereits auf diesem Steg leise zu mir selbst. Rache war etwas für egoistische Vollidioten, welche nur ihr eigenes und selbst erlebtes Leid blicken. So wollte ich nie sein, auch wenn es ab und an der Fall war, dass ich mich wie ein egoistischer, selbstmitleidiger Idiot benahm. Beherrschen aber, sollte dieses Selbstmitleid mich nicht!
Ich wollte ihm nicht wehtun, wie er mir und vielen anderen wehgetan hatte. Ich wollte diesen Penner einfach anschreien, dass er sein Maul zu halten hat.
Dass er verdammt kein Recht dazu hat, andere Menschen derart zu behandeln. Egal, wie verseucht sein eigenes kleines Leben ist. Er hatte kein Recht andere Menschen so verächtlich und angewidert anzusehen. Ich wollte, dass er uns in Ruhe lässt und ich wollte mich stark fühlen. Viel stärker noch, als dieser Brocken Mensch, sich je fühlen würde. Aber wie konnte ich das anstellen?
Gefangen, in der Gedankenwelt dieser Selbstrechtfertigung, stand ich nun völlig verträumt vor diesem zähnefletschenden Biest. Mit etwas Glück kam ich zu mir, während er noch seinen vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden Kampfesprolog hielt. Doch eigentlich hatte diese Situation noch weniger als „Etwas“ von dem zu bieten, was herkömmlich leichtfertig als Glück betitelt wird.
Richtig wach wurde ich mit den Worten aus Schmidts Mund: „Ey, du kleine dreckige Schwuchtel!
Komm du mir nicht zu nahe mit deinen Schwulettenhänden. Habt ihr euch heute in der Umkleide wieder schön die Digs geblowed?“ Im Hintergrund brauste das Lachen der Typen und Mädels, die für gewöhnlich mit Schmidt abhingen.
Sie kläfften wie kleine Teufel. In diesem Moment verlor ich jede Beherrschung, die mir noch geblieben war. Verunsichert und überfordert stand ich regungslos da. Nichts verließ meinen Mund. Nichts wollte ich mehr, als ihm etwas entgegnen, aber meine Worte waren zu schwach und keine Ahnung warum, aber ich lächelte ihn an verdammt.
„Hähähä-hä, lach noch so dumm, du dumme Schwuchtel, bist du komplett bescheuert!“, erwiderte er. Mein Kopf schmerzte. Unwillkürlich verschwamm mir die Sicht und ich wendete meinen Blick ab. Die Jungs hinter Schmidt guckten angewidert. An einem der Gesichter blieb ich kurz haften, Ginos. Ich schien ihn wahrhaftig anzuekeln.
Er nuschelte verständlich zu den anderen und schüttelte dabei den Kopf: „Wie kann der denn noch lachen, dieser Widerling?“
Mir wurde schlecht und es wurde sehr ruhig. Auch hatte sich der Drang in mir, etwas Schlagfertiges sagen zu wollen verloren, als ich von etwas getroffen wurde. Schmidt hatte in mein Gesicht gespuckt und sah mich wartend an.
Ich rang nach Luft, Worten und Taten: „Du kennst mich kein Stück. Da hast du dein Maul zu halten“, verließ es das Meinige. Die Spucke lief mir ins Auge und meine Hände wühlten sich in den Ball, den ich in den Händen hielt. „Reicht mir zu wissen, dass du an meinen Arsch willst, du ekelhaftes Kind!“, erwiderte er unbeeindruckt.
Ihm sein scheiß selbstgefälliges Gesicht einschlagen, wenigstens zurückspucken, wollte ich! Zu leer war ich, um noch Angst zu spüren. Viel zu leer für irgendwas. Wenn die Wut in mir zu groß wird, mich überragt, dann löscht sie in diesem Augenblick alles.
Mechanisch wandte ich mich ab, versuchte, mich gerade zu machen, was mir nur stümperhaft gelang; wollte weg, nur weg.
Schmidt stieß mich ins Wasser. Einen Moment noch blieb ich unter der Oberfläche dieser Welt. Als ich auftauchte, war mir ihr Lachen egal, glaube ich.
Eigentlich war es das nicht. Ich schämte mich, ich selbst zu sein. Dann ging ich kotzen -dort, wo niemand es sah- und setze mich zu Jew, Erik und Timm auf den Steg. Die Sonne war nun fast versunken. Mit ihr, waren meine Peiniger verschwunden.
Niemand redete ein Wort. Vermutlich warteten die anderen darauf, dass ich was sagte. Es war mir egal.
So blieb es dabei, dass niemand redete. Die sich ausbreitende Melancholie wollte durch die nun einsetzende Rausschmissmusik untergraben werden, aber „Happy“ von Pharrell Williams machte mich nur noch trauriger, und es fiel mir extrem schwer, nicht laut loszuheulen.
Der Tag war mir entglitten. Ich hatte ihn verloren, vielleicht aufgegeben. Jeder gefasste Gedanke trug den Beigeschmack von Kotze. Die Sonne war nicht mehr zu sehen. Das fade Licht der Dämmerung legte sich auf den See. Ich blickte meine Freunde an und fühlte mich allein. Vielleicht hätte ich mich ohne sie in diesem Moment weniger allein gefühlt. Zumindest kam mir dieser Gedanke. Menschen erwarten immer etwas von dir. Umgekehrt erwartet man selbst immer etwas von den Menschen. Vielleicht redeten meine Gedanken auch nur von mir selbst.
Ich wollte jedenfalls nichts mehr von den Menschen erwarten; wollte meine Gefühle nicht mehr von ihnen abhängig machen. Das fühlte sich an wie verdammt schweres Gepäck, das im Laufe der Zeit mit meinem Körper eine Verbindung eingegangen war, fast wie eine Verwachsung. Es war nahezu widerlich. Wenn nicht widerlich – da es keine Frage des Geschmacks war – so zog es doch meinen Körper in Richtung des Bodens.
Da saßen sie, die Menschen, die wie Geschwister für mich waren. Und ich, ich jämmerliche Kreatur wendete meinen Blick von ihnen ab und schämte mich sogleich für diese Geste. In diesem Moment der Scham, da ich meinen Blick abwendete, sah ich sie.
Sie saß am Strand und rauchte, wie ich noch nie zuvor einen Menschen rauchen sah. Mit jedem Zug, zog sie die Welt um mich herum in sich hinein, verschlang sie tiefer und tiefer. Wie der Steg, auf dem mein Handtuch lag, wurde auch ich, für die Unendlichkeit eines Moments, zur scheinbar ewigen Unbeweglichkeit verdammt, bis Jew neben mir voll laut einen fahren ließ. Die zauberhafte Qualmfresserin blickte unerschrocken zu uns rüber und lächelte, als hätte sie das Lächeln erfunden.
Später dann, auf der Heimfahrt erfuhr ich ihren Namen. Sie hieß Anna. Erik und Timm kannten sie, weil sie mal mit jemandem zusammen war den die beiden kannten. Auch nur über ein paar Ecken, aber immerhin. Die beiden redeten über sie. Ich sog jedes Detail auf, bis Erik mechanisch, kalt wie eine Maschine und so als rede er über eine Sache, sagte:
„Ja, wenn die ein paar richtige Titten hätte, wäre sie schon richtig geil.“ Man klar, es war nur der klägliche Opportunismus eines Kindes, das denkt, alles was man anziehend finden darf, müsste riesige Oschis vor sich hertragen.