Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk - Andreas Stichmann - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk E-Book

Andreas Stichmann

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Andreas Stichmann, für «Jackie in Silber» und «Das große Leuchten» gefeiert, zählt zu den begabtesten literarischen Stimmen der Gegenwart. Sein Sinn für Komik, seine Sympathie für Verlierer und Verlorene sind unübertroffen, ebenso sein Sprachgefühl und seine Ausdruckskraft. Das zeigt sich einmal mehr in diesem hochkomischen und zutiefst ernsthaften Roman, der von den Rändern der Gesellschaft direkt ins Herz der Sache trifft. Alles beginnt in Hamburg-Osdorf. Der Sonnenhof – früher alternatives Wohnprojekt, heute eher betreutes Wohnen – hat schon bessere Zeiten gesehen. Findet Ramafelene, genannt Raffi, 39, der seit seiner Kindheit dort lebt. Von seiner Mitbewohnerin und Mutter kommt jedenfalls nicht mehr viel. Ihr scheint in den 80ern mit dem Mann auch die Menschenliebe verlorengegangen zu sein. Schlimm. Findet auch Bianca, 17, die auf dem Sonnenhof ihre Sozialstunden ableistet. Bianca, mit den blauen Haaren, in die Raffi sich verliebt. Was Küwi nicht gefällt, obwohl er gerade selbst einen neuen Freund gefunden hat: einen Mann ohne bürgerlichen Namen. Einen Mann mit einer Vision. Die den Sonnenhof mit einschließt. Und die Entführung eines Millionenerben. Schlimm? Man wird sehen. «Hat jedenfalls erst mal nichts mit Gefährlichkeit zu tun», findet Küwi. «Ist was Politisches mit Solidarität. Ist Inhalt von dem Lied ‹Die Internationale›, das man mag.» Und das könnte doch ein Anfang sein, ein Neuanfang, nicht nur für den Sonnenhof? Up the Seapunks!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2017

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas Stichmann

Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Andreas Stichmann, für «Jackie in Silber» und «Das große Leuchten» gefeiert, zählt zu den begabtesten literarischen Stimmen der Gegenwart. Sein Sinn für Komik, seine Sympathie für Verlierer und Verlorene sind unübertroffen, ebenso sein Sprachgefühl und seine Ausdruckskraft. Das zeigt sich einmal mehr in diesem hochkomischen und zutiefst ernsthaften Roman, der von den Rändern der Gesellschaft direkt ins Herz der Sache trifft.

Alles beginnt in Hamburg-Osdorf. Der Sonnenhof – früher alternatives Wohnprojekt, heute eher betreutes Wohnen – hat schon bessere Zeiten gesehen. Findet Ramafelene, genannt Raffi, 39, der seit seiner Kindheit dort lebt. Von seiner Mitbewohnerin und Mutter kommt jedenfalls nicht mehr viel. Ihr scheint in den 80ern mit dem Mann auch die Menschenliebe verlorengegangen zu sein.

Schlimm. Findet auch Bianca, 17, die auf dem Sonnenhof ihre Sozialstunden ableistet. Bianca, mit den blauen Haaren, in die Raffi sich verliebt. Was Küwi nicht gefällt, obwohl er gerade selbst einen neuen Freund gefunden hat: einen Mann ohne bürgerlichen Namen. Einen Mann mit einer Vision. Die den Sonnenhof mit einschließt. Und die Entführung eines Millionenerben.

Schlimm? Man wird sehen. «Hat jedenfalls erst mal nichts mit Gefährlichkeit zu tun», findet Küwi. «Ist was Politisches mit Solidarität. Ist Inhalt von dem Lied ‹Die Internationale›, das man mag.» Und das könnte doch ein Anfang sein, ein Neuanfang, nicht nur für den Sonnenhof? Up the Seapunks!

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt, nach einem Entwurf von Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung Jens Weber

ISBN 978-3-644-00067-4

 

Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses eBook entspricht nicht vollständig den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibilitiy 1.1 und den darin enthaltenen Regeln des WCAG, Level AA. Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents, Landmarks [Navigationspunkte] und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Es sind Abbildungen enthalten, die nicht mit Alternativtext versehen sind.

 

 

www.rowohlt.de

1Die Entführer kommen zusammen

Freitag, Hamburg-Osdorf

Bibi

Bianca Kempfer, 17 Jahre alt, Gesamtschülerin, steigt in Hamburg-Osdorf aus dem Bus und dreht sich eine Zigarette. Der Asphalt ist warm unter ihren nackten Füßen, ihre Springerstiefel hat sie ausgezogen und in den Rucksack gepackt. Der Bus setzt sich in Bewegung und gibt den Blick frei auf den Sonnenhof, wo sie seit drei Wochen ihre Sozialstunden ableistet. Eine heruntergekommene Siedlung auf dem Mars – das war ihr allererster Eindruck von dem Ort. Wobei es auf dem Mars wahrscheinlich keine Pfützen, keine Mohnblumen und keinen Löwenzahn gibt. Aber die runden Lehmhäuser mit den Metallfenstern erscheinen ihr marsig, und auch die Menschen, die auf dem Sonnenhof leben – marsig und nice. Sie hätte nicht gedacht, dass Sozialstunden so viel Spaß machen können.

Beim Betreten des Geländes achtet sie wie immer drauf, schwungvoll zu gehen. Ramafelene, der Chef, hat ihr gesagt, dass er ihre energiegeladene Art mag. Die Sonnenhöfler würden allesamt so schlurfen. Das nerve ihn.

Sie schaut sich um; Ramafelene ist nirgendwo zu sehen.

In der Mitte des Geländes, zwischen den sechs runden Lehmhäuschen, gibt es einen Brunnen, der total märchenmäßig wirkt. Sie wirft den glibschigen Holzeimer rein, zieht ihn an der Seilwinde hoch und trinkt einen Schluck kaltes Wasser.

Die Bewohner, diese Herzchen, sind alle mit irgendwas beschäftigt. Der lange Dürre, dessen Namen sie sich nicht merken kann, heizt auf dem fahrbaren Rasenmäher über die Wiese hinter dem Kräutergarten. Es kommt kein Gras mehr hinten raus, er war gestern schon fertig, aber er heizt einfach weiter, weil er wohl Bock drauf hat. Und wenn er gerade keinen Bock auf gar nichts hat, parkt er hinter den krummen Bäumen, wo das Moor beginnt, und macht ein Nickerchen im Sitz – anstatt zum Beispiel den Hühnerstall auszumisten. Das ist so eine der Sachen, über die Ramafelene sich beschwert.

Ludwig, der alte Mann, steht mit einer Forke in der Hand neben dem Komposthaufen. Er kratzt sich den dicken weißen Bart und scheißt, so wie er schaut, wahrscheinlich in diesem Moment in seine Windeln. Die meiste Zeit ist er auf seine heißgeliebte Vogelscheuche konzentriert, er scharwenzelt um sie rum. Die beiden haben eine Art Lovestory am Laufen.

Aber am coolsten ist Wendy, die Zwergen-Omi. Gerade kommt sie mit dem Stützräder-Fahrrad angefahren. Sie hält vor ihrem Häuschen und lädt Jutebeutel aus dem Fahrradanhänger.

Bibi geht zu ihr. Wendy ist so unkompliziert und herzlich, dass sie gleich mit ihr klarkam. Sie hat zwar ein Faible für Reime, das manchmal irritiert, aber sie kann auch ganz normal reden, und eigentlich ist sie gar nicht so absonderlich. Ihr eines Auge sieht aus wie ein Spiegelei, wo einer mit einer Gabel reingepikst hat. Auf ihrem Kopf sitzt eine selbstgehäkelte Reggaemütze.

«Moin, Wendy.»

«Bibi! Hast du Sorgen? Guten Morgen!»

Wendy zeigt ihre sich kreuzenden Vorderzähne, als sie lächelt. Mit ihren kräftigen Händen reicht sie Beutel voll abgelaufener Lebensmittel aus dem Fahrradanhänger. Sie ist besonders gut darin, in Supermarktcontainer reinzuklettern, und weil der Sonnenhof chronisch pleite ist, macht sie das fast jeden Tag.

Bibi trägt die Beutel in den Holzschuppen, der Ladencafé genannt wird, der Himmel weiß, warum. Dreckig, kühl und auch ein bisschen unheimlich ist es da. Die Regale sind leer, nur Käferchen mit Spinnweben drum rum und ein paar alte Teebeutel und so liegen auf den Brettern. Irgendwas flitzt an der Wand entlang.

Bibi wischt die Regale ab und öffnet das Tor, um frische Luft und Sonne reinzulassen; sie räumt das Schwarzbrot und das angedötschte Obst in die Regale. In der Ecke lehnt ein Reisigbesen, wo unten kaum noch Reisig dran ist, trotzdem fegt sie damit, so gut es geht. Dann raucht sie erst mal eine vor dem Wochenplan an der Pinnwand, um zu gucken, was zu tun ist.

Ramafelene ist so drauf, dass er alle Aufgaben supergenau taktet. Aber die anderen Bewohner sind so drauf, dass sie alle Aufgaben maximal vertrödeln. Deshalb hat Ramafelene auch gesagt, dass Bibi genau richtig komme – sein Leben sei hundert Mal einfacher geworden, seit sie da ist!

Bibi drückt ihre Kippe aus und legt sie in den Aschenbecher. Ludwig kommt vom Kompost angeschlurft. Er hat so helle blaue Augen, dass sie zuerst gedacht hat, er sei geistig ziemlich fit. Dem ist aber nicht so, das hat sie inzwischen eingesehen. Er trägt den Kopf der Vogelscheuche unter dem Arm, es ist eine Kokosnuss mit Lärmschutzkopfhörern und aufgemalten Frauenaugen.

«Hey, Ludwig, wie gehts? Hast du Ramafelene gesehen?»

Er antwortet nicht. Weil er nicht sprechen kann. Ramafelene hat aber gesagt, man solle trotzdem mit ihm reden. Mit der Zunge macht er ein Geräusch, klickklickklick, und betrachtet einen Vogel, der drüben über den Brennnesseln kreist in langen, schwungvollen Bögen.

Verwunschenheit.

Das ist das richtige Wort für das alles hier.

Manchmal denkt sie zwischendurch an ihre Mutter und deren derzeitigen Freund, an all den Stress, der zu Hause in Bergedorf auf sie wartet, aber in dieser Umgebung ist das überhaupt nicht real. Sie ist in den Kaninchenbau gerutscht. Wie Alice im Wunderland. Nur dass das Wunderland anscheinend nicht im Wunderland liegt, sondern an der A23 in Hamburg-Osdorf.

Ludwig stößt mit seinem Gummistiefel einen Plastikeimer um. Nacktschnecken glibschen raus. Sie schiebt ihn zur Seite und tut die Nacktschnecken wieder in den Eimer, und dann meint sie, Ramafelenes Stimme zu hören.

«Hast du das auch gehört, Ludi-Boy?»

Sie geht zu dem zweistöckigen Häuschen mit dem Flachdach, wo Ramafelene mit seiner Mutter wohnt. Es ist das größte Häuschen, ganz vorn neben dem Torbogen, und in die Lehmmauer sind hübsche bunte Fliesen eingelassen. Es wäre das beste Häuschen, in dem sie am liebsten wohnen würde – säße nicht Ramafelenes Mutter drin.

Bibi schaut durch die Fensterscheibe: Die beiden streiten mal wieder, klar. Ramafelene steht und gestikuliert, seine Mutter, Ingrid, sitzt reglos im Sessel. Über ihr hängt ein hässlicher Wandteppich, das ganze Innere des Hauses ist hässlich, wenn man Bibi fragt. In der Ecke steht eine Vase, aus der uralte Äste oder Federn rausschauen, darüber hängt ein ausgestopfter Wildschweinkopf, der guckt, als würde er sich seinen Teil denken. Überall auf dem Boden und auf dem Tisch stehen halbvolle Wassergläser, Ingrid behauptet, das befeuchte die Luft und helfe gegen ihre Atembeschwerden.

Bibi legt das Ohr an die Scheibe.

«Mama. Niemand wird sterben. Hör auf.»

«Aber wenn man seinem eigenen Herzschlag so sehr misstraut, dass man vor Angst Krämpfe in der Herzgegend kriegt?»

Das reicht Bibi schon. Sie ist direkt so genervt, dass sie eine rauchen muss. Andauernd sieht Ingrid sowohl ihr eigenes Ende als auch das Ende des Sonnenhofs kommen. Und immer wird Ramafelene von ihr so hingestellt, als würde er sich dieses Ende heimlich wünschen. Dabei ist er es ja, der alles am Laufen hält. Er füllt die Fördergeldanträge aus. Er fährt nach Bremen zu Wendys Bruder und überredet ihn, mehr Unterhalt zu zahlen. Er stellt den kaputten Traktor und die Gartengeräte bei eBay ein. Er spendet regelmäßig Blut, um an Geld zu kommen. Bibi hat noch nie einen so fleißigen, verantwortungsvollen und freundlichen Menschen gesehen. Er ist jemand, der das Wohl der anderen im Blick hat, jemand, der sofort Gesundheit sagt, wenn man niest. Vorgestern hat sie mit Wendy im Teich gebadet und aus Versehen ihr Bikinioberteil verloren – und er ist verlegen geworden. Er hat zur Seite gesehen, als er ihr das Oberteil hingehalten hat. Bei ihr zu Hause, in Bergedorf, gäbe es das nicht.

«Mama. Hör auf.»

«Überall da, wo ich bin, ist das Leid. Aber am konzentriertesten ist es in der Brust und im Kopf, verstehst du? Da ist bei mir nur Leid.»

Bibi dreht sich gleich noch eine. Manchmal nervt seine Mutter ihn so sehr, dass er laut wird, der Arme. Dabei hat er eigentlich gar nicht die Stimme zum Schreien.

Heute bleibt er still. Er nimmt seine Drahtbrille ab und massiert sich mit dem Daumen und dem Zeigefinger die Nasenwurzel. Das ist immer sehr süß. Sie mag auch seine braune Strickjacke mit den gelben Ellenbogenflicken. Die verleiht ihm – im Zusammenspiel mit seiner dunklen Haut und der Tatsache, dass er fast blind ist, wenn er die Brille absetzt, und dann so zwinkert – etwas Maulwurfhaftes.

«Zuversicht, Mama. Zuversicht ist das Zauberwort.»

«Ich brauche eine Herzoperation.»

Gleich wird er durch diese krumme Tür rauskommen. Sie überlegt, ob sie hier auf ihn warten soll. Oder zurück zum Ladencafé?

Nein, noch anders. Sie wird zur A 23 zurück. Letztes Mal hat er gesagt, er warte immer darauf, dass sie über die Felder anmarschiert kommt. Wenn er gerade so richtig genervt sei, weil alle so lahmarschig sind, sei ihr Anmarschieren das Tollste, der schönste Moment des Tages. Also wird sie zurück und diesen Moment abpassen. Und noch mal anmarschieren.

Ramafelene

Ramafelene Meisner, 35 Jahre alt, Sozialarbeiter, hat ein Tinnitus-Fiepen im Ohr, als er das Haus, das er mit seiner Mutter bewohnt, verlässt. Die Mittagssonne feuert den Tinnitus an. Vor dem Ladencafé am anderen Ende des Geländes wartet gleich das nächste Ärgernis: Küwi, die größte Schlafmütze der Welt, wenn man Ramafelene fragt, ist offensichtlich gerade erst aus den Federn gekrochen – um Viertel nach eins! Jetzt gähnt er ausgiebig und schlürft die Haut von seinem Kakao, und es sieht nicht aus, als habe er vor, die Aufgaben, die für ihn im Arbeitsplan vorgesehen sind, zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen legt er, mit viel Zeit, mit viel Ruhe, seinen Metalldetektor vor sich auf den Klapptisch. Will anscheinend wieder daran rumschrauben, anstatt was für die Gemeinschaft zu tun.

«Küwi. Hilf bitte Ludwig beim Verlegen des Komposts. Das ist für heute eingetragen, und du weißt, dass Ludwig es alleine nicht kann.»

Küwi reagiert nicht. Er reibt sich mit den Händen über die kräftigen Oberarme, als empfinde er die kaum merkliche Brise, die weht, bereits als fordernd. Er blinzelt abwesend in die Sonne und rückt seine blaue Wollmütze, die er immer und überall trägt, zurecht. Dann zieht er ein Stofftuch aus der Seitentasche seiner Bundeswehrhose und beginnt, den Suchkopf des Metalldetektors zu reinigen. Er pustet imaginären Dreck weg.

Ramafelene stellt sich vor ihn hin.

«Ach. Moinsen, Ramafelene!»

«Hilf bitte Ludwig beim Verlegen des Komposts. Jetzt! Die alte Stelle ist nicht plan. Es gibt andauernd Staunässe.»

«Staunässe. Ja. Jaja.»

«Ich werde mit Bibi Holz sammeln gehen, wenn sie da ist. Und wenn wir wiederkommen, will ich, dass der Kompost verlegt ist.»

«Holz sammeln gehen. Ja. Jaja. Mit wem?»

«Mit Bibi.»

«Ach so. Diieeee. Jaaa. Die ist doch zu jung für dich. Nich? Das ist doch dann verboten, wenn sie so jung ist. Nich?»

Unsinn. Ramafelene geht wortlos ins Innere des Ladencafés, Kaffee kochen. Küwi ist ein Kind im Körper eines Zwei-Meter-Mannes; er begreift nicht, dass es unangebracht ist, alles auszusprechen, was er sich so zusammenassoziiert. Geringes Gespür für die Emotionen anderer Leute. Dagegen lässt sich nur punktuell etwas tun, ändern kann man ihn nicht. Seine Augen, aus denen er Schlafbröckchen reibt, während er hinterherschlurft: blau. Unschuldig. Leer.

«Hab ich was Falsches gesagt? Nee, oder? Nich?»

Ramafelene schüttelt den Kopf und macht eine Bewegung mit der Schulter in Richtung Kompost; Küwi zieht hängenden Kopfes ab.

Die Kaffeemaschine schnauft. Vom Kräutergarten wehen Wendys Reime herüber, der altbekannte Rhythmus ihrer Reime (Ludwiglein – bist du mein?), einschläfernd an guten Tagen, an schlechten zermürbend. Wie Mutter mit ihren immer neuen Krankheiten. Wenn Ramafelene es mal schafft, sich in eine Arbeit zu vertiefen, kommt unwillkürlich nach einer Zeit das Gefühl zurück: Da ist etwas unbestimmt Anklagendes hinter mir. Mir sieht etwas unbestimmt Anklagendes zu. Und dann dreht er sich um, und Mutter steht am Fenster. Hat eine Handfläche gegen das Glas gelegt. Macht große dunkle Augen.

Die Kaffeemaschine braucht ewig. Ein Opa von Kaffeemaschine. In Ramafelenes Rücken schon wieder Küwi. Einen Moment hat er gehofft, es wäre Bibi.

«Mit wem soll ich den Kompost noch mal verlegen?»

«Ludwig.»

«Und danach?»

«Danach kannst du ihm die Windeln wechseln. Das wär schön.»

«Ja. Jaja. Weißt du was? Ich hab das Gefühl, seine Scheißerei nimmt zu. Nich? Er wird älter, und umso mehr scheißt er. Der Ludi.»

«Ich würde mich wirklich freuen, wenn du jetzt die Sache mit dem Kompost angehen könntest. Echt, Küwi, damit würdest du mir eine Freude machen. Und schau bitte, dass du den Schimmel rauskriegst, sonst kippt er gleich wieder um.»

Küwi zieht bockig los – und Bibi taucht am Ende der Felder auf. Ramafelenes Herz schlägt schneller. Es ist, als würde sich gleich die ganze Welt schneller drehen. Bibi geht querfeldein, um den Weg abzukürzen, Oberkörper vorgebeugt, Fingerspitzen in den Taschen ihrer engen Jeans. Im Herankommen bindet sie ihr blau gefärbtes Haar zu einem Zopf. Eigentlich marschiert sie eher, als dass sie geht, und sie hat auch noch die Energie, Küwi, der sie natürlich nicht beachtet, einen Gruß zuzurufen. Wie eine Filmszene erscheint Ramafelene Bibis Ankunft jedes Mal. Vielleicht liegt es an dem Zeitpunkt, an dem sie in sein Leben getreten ist. Gerade in den letzten Wochen hatte er das Gefühl, dass ihm alles über den Kopf wächst – und dann kam sie, als sei sie ihm gesandt worden von irgendwem. Normalerweise neigt er gar nicht zu so theatralischen Gefühlen.

Ihre Energie ist schwer zu greifen. Sie hat mit einer Gaspistole eine Tankstelle überfallen. Aus allgemeiner Langeweile, wie sie sagt. Vielleicht ist es das, was ihn beeindruckt hat. Es ist aber auch ihr Interesse an den Bewohnern und an der Geschichte des Sonnenhofs, überhaupt an allem und jedem, ihre ungewöhnliche Neugier und Empathie. Außerdem ist sie der einzige Mensch weit und breit, der nicht ausschließlich Dinge sagt, die Ramafelene schon tausendmal gehört hat. Und sein Tinnitus wird leiser und weicher, wenn sie kommt, das ist Fakt.

Er schlüpft aus den Sandalen und zieht seine alten Puma-Turnschuhe an.

Im nächsten Moment steht sie auch schon vor ihm.

«Hey Ramafelene!»

«Hey Bibi. Wie gehts?»

«Geht so. Ich muss wahrscheinlich bald ins Heim.»

Sie seufzt ab. Sie seufzt immer so vertrauensvoll ab, wenn sie kurz Bericht erstattet hat. An ihrem Gesicht sieht er nicht nur, dass sie reden muss – die Sache mit dem Heim steht schon die ganze Zeit im Raum –, sondern auch, wie froh sie ist, dass er ihr zuhören wird.

Sie trinken den Kaffee im Stehen. Bibi lässt ihn an ihrer Zigarette ziehen; seit sie da ist, hat er wieder ein bisschen angefangen mit dem Rauchen. Dann machen sie sich zum Holzsammeln auf. Während er die Schubkarre schiebt, erfährt er, dass es wohl diesmal real wird, schon nächste Woche werde sie wahrscheinlich als Heimmädchen kommen oder als Jugendamt-WG-Mädchen – ganz gebrochen, mit verheulten Augen. Ihre Mutter sei wieder bis oben hin voll beim Elternsprechtag erschienen, woraufhin wieder diese Frau Karrendorf-Geyer vom Jugendamt zu ihnen nach Hause gekommen sei und festgestellt habe, dass Bibis Mutter nach wie vor blaue Flecken hat, also noch immer von ihrem Freund geschlagen wird und nicht auf ihre Tochter aufpassen kann. Jetzt gebe es wohl keine neue Chance mehr. Was ja auch irgendwie richtig sei. Zu Hause will Bibi nicht mehr schlafen. Aber sie will auch definitiv keinen Tag früher ins Heim, als sie unbedingt muss.

«Und deshalb wollte ich fragen, ob ich ein, zwei Nächte bei euch schlafen könnte? Meine Mutter findet das okay.»

Ramafelene bejaht sofort. Er sagt ihr, dass es ihm unglaublich leidtut und dass sie sich immer an ihn wenden kann, wenn etwas ist. Sie bedankt sich und sagt, sie wolle nun unbedingt das Thema wechseln. So ist sie. Das Gegenteil von wehleidig. Probleme sind bei ihr etwas, mit dem man sich nur gerade so lange wie unbedingt notwendig beschäftigen sollte. Das ist erfrischend.

Girlanden von Pappelsamen und Müll wehen am Wegesrand vorbei. In der Ferne sieht man die Hüttensiedlung liegen, braungrau zwischen Maisfeldern und Autobahn. Bibi zeigt darauf und redet nun darüber. Ihr täten die Kinder leid, sagt sie. Sie zeigt auf einen Zitronenfalter. Sie zeigt auf eine vom Blitz gespaltene Esche. Sie zeigt auf einen Igel, der, sagt sie, wie Küwi guckt.

Ramafelene raucht und lacht.

Am Birkenhain schließt sie Zeige- und Mittelfinger wie eine Schere. Er soll ihr sein Taschenmesser geben. Sie spricht öfter in Gesten, und er mag das. Und während sie etwas Birkenrinde abschält, will er sagen: Du bist was Besonderes! Du schaffst das alles schon, weil du eine unglaubliche Energie hast! Seelisch und körperlich! Aber so ähnlich hat er es schon mal ausgedrückt, und sie hat daraufhin gesagt, es sei ihr peinlich, wenn sie Komplimente bekomme – gerade seine sachliche Art sonst sei ihr viel lieber als dieses Emo-Getexte, das sie sich beim Jugendamtspsychologen immer anhören muss.

Also sagt er nichts. Versucht nur, unterstützend zu gucken.

Ein Aurorafalter flattert um ihr blaues Haar, während sie Stücke der Gambiusschicht herausschneidet, die hinter der Rinde liegt. Das ist das Birkenfleisch. Daraus werden sie später Teig für Birkenspaghetti machen.

Er weiß nicht, wann er sich das letzte Mal so wohl gefühlt hat in Gegenwart eines anderen Menschen. Manchmal reden sie und manchmal nicht, es herrscht überhaupt kein Zwang, aber wenn etwas gesagt wird, ist es immer ehrlich und geradeaus. Während sie Feuerholz suchen, erzählt Bibi, sie habe eine Tunesien-Dokumentation auf YouTube gesehen, weil sie doch über seinen leiblichen Vater gesprochen hätten. Sie würde gerne mehr darüber hören, wie das mit seiner Kindheit und dem Sonnenhof so war. Wenn er noch mehr verraten wolle.

Verraten. Als wenn seine Geschichten etwas Wertvolles wären. Es berührt ihn auch, dass sie offenbar zu Hause an ihn denkt.

Während er das Holz in die Schubkarre sortiert, überlegt er, wo sie stehengeblieben waren. Er hatte ihr erzählt, dass seine Mutter zu Hause rausgeschmissen wurde, als sie schwanger war, und danach mit seinem Vater und ein paar Musikerfreunden den Sonnenhof gegründet hat. Also erzählt er diesmal, wie es mit dem Sonnenhof bergab gegangen ist. Wie sein Vater und die anderen Freunde nach und nach abgehauen sind, weil ihnen die Verantwortung wohl zu viel geworden ist. Letztlich, erzählt er, sei alles an seiner Mutter hängengeblieben.

Bibi zerrt einen morschen Ast heran. Sie bricht ihn in Stücke und scheint nachzudenken. Das ist auch etwas Typisches, dass sie über das Gesagte immer so gründlich nachdenkt.

Nach einer Weile dann ihre Analyse: Immer verteidige er seine Mutter! Er soll damit aufhören. Schließlich hänge doch im Moment alles an ihm.

Er lacht. Er weiß gar nicht, warum. Eigentlich hat sie recht. Sie gibt ihm die vierte Zigarette – so viel hat er seit Jahren nicht geraucht – und dreht sich einen Dutt. Mit dem Dutt sieht sie witzig aus, was ihr wahrscheinlich gar nicht bewusst ist. Sie ist, findet er, eine Mischung aus Punkmädchen und Bauarbeiter, wegen ihrer Arbeitskraft, und auch ein bisschen Großmutter, wegen dem Dutt und weil sie so einfühlsam ist.

Er putzt seine Brille, um sie besser sehen zu können. Sie ist inzwischen zum Braunsee runter und ruft, sie wolle da rein. Küwi und er haben den Tümpel als Kinder Braunsee getauft, weil er so dreckig ist.

Umstandslos steigt sie aus ihrer Jeans. Sie geht bis zu den Knöcheln ins Wasser, wozu sie, wie er feststellt, die Hose nicht hätte ausziehen müssen.

Er schlendert hinterher. Er fixiert die Ader in ihrer linken Kniebeuge und versucht, sich etwas von der Leichtigkeit, die sie hat, abzugucken.

Betrachtet er sie, ist ihm, als tippe ihm jemand mit einem Finger ans Herz.

Küwi