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Wine ungewöhnliche Begegnung, sehnsüchtige Blicke, brennendes Verlangen ... Dass jemand Megans bislang so geordnetes Leben auf einen Schlag durcheinanderbringen könnte, war für sie undenkbar. Doch als sie in eine alte Villa inmitten eines Bambuswaldes verschleppt wird, steht alles Kopf. Ihr nicht gänzlich unbekannter Entführer bringt mit seiner bestimmten Art mehr ins Wanken als nur ihr seelisches Gleichgewicht … Die Liebesgeschichten sind in sich abgeschlossen. Größtenteils spielt die Reihe in Shanghai, gelegentliche Abstecher in andere Länder sind bei den Prescotts und ihren Mr. Rights nicht ausgeschlossen. Wer es lieber chronologisch mag, dem empfehle ich für den größten Lesegenuss folgende Reihenfolge: Band 1 Der Maskenball Band 2 Die Entführung Band 3 Der Meisterdieb Band 4 Der Amerikaner Band 5 Der Bodyguard
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Reihenfolge »Prescott Sisters«:
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Epilog
Bonuskapitel Hunter
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Vorschau auf den nächsten Teil der Prescott Sisters
17. Vorschau Der Meisterdieb
Lektorat: Dorothea Kenneweg
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Covergestaltung: Casandra Krammer
Copyright © Karin Lindberg 2017
Erstausgabe August 2017
Erstellt mit Vellum
Band 2 Die Entführung
Band 3 Der Meisterdieb
Band 4 Der Amerikaner
Band 5 Der Bodyguard
Covermotiv: © Shutterstock.com
K. Baldvinsson
Am Petersberg 6a
21407 Deutsch Evern
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
»Schon okay«, murmele ich, was es natürlich nicht ist. Es ist nicht in Ordnung, wie er mich behandelt hat. Ganz und gar nicht. Das auszudiskutieren, ist im Moment sinnlos.
»Ich helfe dir«, teile ich ihm mit, woraufhin Hunter mich mit offenem Mund anstarrt.
»Du … hilfst mir?« Seine samtige Stimme ist leise, beinahe ungläubig. Es ist einer dieser Augenblicke des stummen Austauschs von Emotionen zwischen uns, wie wir es so oft hatten in den letzten beiden Tagen. Ich weiß, dass ihm mein Entgegenkommen viel bedeutet, und eine seltsame Wärme durchflutet meinen Körper.
»Ja«, gebe ich gespielt gelassen zurück. »Ich habe ja keine Wahl, nicht?« Ich lache zu schrill. Gott, ich führe mich wie ein verdammter Teenager auf. Wann genau ist die selbstbewusste Megan mit dem scharfen Verstand verloren gegangen?
Vermutlich auf dem Weg von Shanghai nach Moganshan.
Er nickt mir zu. Ungewohnt förmlich. Typisch asiatisch. Es ist seine Art, mir seinen Respekt zu zeigen. »Danke, Megan. Ich danke dir.«
Er kommt auf mich zu, und in meinem Magen flattert etwas auf. Schon wieder. Obwohl ich nichts weniger als das gebrauchen könnte, fühle ich mich von ihm angezogen. Er ist so männlich, bestimmt, und das finde ich sexy. Unglaublich sexy.
»Noch gibt es nichts zu danken«, antworte ich verlegen, weiche seinem Blick nicht aus. Im Gegenteil, es ist, als läge ein unsichtbares Band zwischen uns. Ich kann nicht wegsehen und ich will es auch nicht.
Der Moment ist atemberaubend und mir wird ganz flau, als der Anflug eines Lächelns um seine Mundwinkel erscheint. Es ist das erste Mal, dass ich ihn lächeln sehe, seit wir hier sind. Seine dunklen, mandelförmigen Augen sind nach wie vor auf mich gerichtet. Mein Blut rauscht wie ein Wasserfall durch meinen ohnehin schon vom Bad erhitzten Körper. Hunter tritt plötzlich noch einen Schritt auf mich zu und umarmt mich. Ganz ohne Vorwarnung.
Ich unterdrücke einen überraschten Seufzer. Er streicht über meinen Rücken und ich schmiege mich in seine Arme. Es ist so schön, von ihm gehalten zu werden, auch wenn es falsch ist. Ich liebe es, wie sich seine Nähe anfühlt. Der holzig männliche Geruch, der so typisch für ihn ist, umgibt uns und benebelt meinen Verstand vollends.
»Du solltest loslassen«, flüstere ich, tue aber nichts, was ihn davon überzeugen könnte. Stattdessen kuschele ich mich noch ein wenig enger an ihn.
»Ich will nicht loslassen.« Seine Stimme ist rau. Ich kann den Sturm, der in seinem Inneren tobt, förmlich spüren, und der Klang seiner Worte hallt noch lange in mir nach. Er will mich auch nicht loslassen, wiederhole ich seinen Satz in meinen Gedanken. Es fühlt sich so gut an, alles in mir schreit danach, dass er mich küsst. Ich will mehr als nur eine Umarmung.
»Du musst«, kommt über meine Lippen. Es klingt wenig glaubhaft.
»Du stehst immer noch hier bei mir, deine Hand liegt auf meiner Hüfte. Meinst du nicht, es ist … gegenseitig?«
O Gott. Wann habe ich meine Hand auf seine Hüfte gelegt? Was habe ich noch getan, ohne es bewusst wahrzunehmen? Ich fühle mich berauscht, so lebendig wie nie zuvor. Dabei ist noch nichts, rein gar nichts zwischen uns passiert.
Das ist nicht ganz korrekt, denn wenn ich ehrlich bin, dann ist längst eine Menge vorgefallen. Ich war nie gut in Chemie, dennoch ist klar, dass uns eine merkwürdige Anziehung verbindet, die man mit sachlichem Denken nicht erklären kann. Auf einer ganz anderen Ebene wissen unsere Körper instinktiv, dass wir wie füreinander geschaffen sind. Ich fand ihn immer schon attraktiv, ja, aber natürlich habe ich keinen Gedanken in diese Richtung verschwendet. Immerhin waren wir Kollegen und ich hätte nie auch nur die Idee zugelassen, dass da mehr sein könnte. Diese Zurückhaltung ist nun Geschichte. Mein Organismus verselbstständigt sich quasi, sobald er nur noch auf Armeslänge von mir entfernt ist, – ob ich es möchte oder nicht. Und im Moment wünsche ich mir nichts mehr, als dass er mich endlich küsst.
Mein Herzschlag ist schnell wie ein Presslufthammer. Ich sollte mich von ihm lösen, versuche mich ein letztes Mal selbst dazu zu bewegen, mich aus seiner Umarmung zu winden. Das alles ist mehr als unangebracht. Ich sollte mich von ihm entfernen, auch wenn die Vorstellung, nur einen Zentimeter Abstand zwischen ihn und mich zu bringen, mich förmlich körperlich leiden lässt.
Ich kann nicht. Ich kann es nicht. Alles in mir schreit danach, dass ich das tun sollte, wonach ich mich sehne. Ich will es wie nichts zuvor – auch wenn es wahrscheinlich der größte Fehler meines Lebens sein wird.
Achtundvierzig Stunden früher
Eines Tages laufe ich schreiend davon. Die herrische Ader meines Vaters wird mich irgendwann noch ins Grab bringen – oder in die Klapse. Ich bin es ja gewohnt, dass mein Erzeuger kompromisslos auf seiner Sicht beharrt, trotzdem widerstrebt es mir, ihm in diesem Punkt – wie sonst üblich – nachzugeben. Ich verstehe, dass er empfindlich auf das Thema Vertrauensbruch reagiert und dass seine Emotionen leicht hochkochen. Immerhin haben wir den Vorgänger des aktuellen CFOs nicht in allen Ehren entlassen, sondern ihn im hohen Bogen feuern müssen. Er hatte betriebsinterne Informationen an einen Konkurrenzkonzern weitergegeben – wahrscheinlich für eine Stange Geld. Nun ja, egal wie viel er zurzeit auf dem Konto hat, jetzt kann er in Shanghai vergeblich nach einem Job suchen, dafür hat mein Vater gesorgt. Nichtsdestotrotz … Hunter Kim war ein fähiger Mitarbeiter, fachlich gesehen jedenfalls. Umso größer ist meine Enttäuschung, dass ausgerechnet er aus Geldgier diesen Betrug riskiert haben soll. So was hätte ich ihm nie zugetraut. Sein Nachfolger hat einige Schwierigkeiten, in seine Fußstapfen zu treten. Dennis Wang kennt sich in manchen Bereichen, der Bilanzbuchhaltung zum Beispiel, sehr gut aus, leider mangelt es ihm an Führungsqualitäten und Erfahrung. Wir brauchen eine neue Besetzung für die Stelle und das muss mein Vater endlich mal verstehen.
»Dad«, versuche ich es erneut, auch wenn mir klar ist, dass es vermutlich nichts bringen wird. Mein Vater will mir nicht zuhören, das ist nicht zu übersehen.
»Wir müssen eine andere Lösung für die Finanzabteilung finden. Ich fürchte, Dennis ist überfordert.«
Und das war noch milde ausgedrückt. Dennis ist ein super Mann für die zweite Reihe, aber eben nicht für den Posten des Abteilungsleiters.
Seit sein Vorgänger vor einigen Wochen im hohen Bogen rausgeflogen ist, geht es in der ehemals gut organisierten Abteilung drunter und drüber.
»Nein!«, donnert mein Vater und schlägt mit der Faust auf seinen Schreibtisch. »Und jetzt Schluss mit dem Unsinn! Dennis bekommt seine Chance. Er hat jahrelang an Hunters Seite gearbeitet und ist sehr wohl fähig, die Position des CFOs zu übernehmen. Lass mich damit ein für alle Mal in Ruhe.«
Amen.
Ich zweifele daran, dass mein Dad mit seiner Einschätzung des Interims-Finanzchefs richtigliegt, ich habe mich für heute jedoch genug anschreien lassen und keine Lust auf zusätzliche Zurechtweisungen. Ich koche vor Wut, als ich sein Büro wortlos verlasse und die Tür hinter mir zuknalle. Mein Vater kann ruhig wissen, dass ich es leid bin, so von ihm behandelt zu werden.
Wann, zur Hölle, wird er mich endlich ernst nehmen und mir in diesen Entscheidungen vertrauen? Dabei habe ich mich, seit ich nach meinem Masterstudium im Familienkonzern eingestiegen bin, weiß Gott oft genug bewiesen. Ich leite einen ganzen Firmenzweig, aber sobald es um die Holding geht, ist mein Erzeuger beratungsresistent. Er ist und bliebt ein Patriarch, der sich von nichts und niemandem etwas sagen lässt. Dabei hat er durchaus seine weichen und liebevollen Seiten – die lässt er bei der Arbeit unerfreulicherweise selten bis nie durchscheinen, was mir zunehmend auf die Nerven geht.
Ich bin abgespannt und müde, habe seit Monaten kaum einen freien Tag gehabt und meine Toleranz gegenüber seinem herabwürdigenden Verhalten ist mittlerweile gleich null. Traurigerweise muss ich mir eingestehen, dass ich nicht mutig genug bin, ihn vor die Wahl zu stellen. Mein Job macht mir Spaß. Sehr viel Spaß, und ich habe Angst, dass er sich falsch entscheiden würde. Ich bin gut in dem, was ich tue, und mein Vater weiß das auch, aber …
Während ich mein Büro betrete und die Tür hinter mir zuknalle, seufze ich leise auf und lehne mich einen Moment von innen gegen das kühle Holz. Das Klingeln meines Tischtelefons erschreckt mich und ich zucke leicht zusammen. Mit vier langen Schritten bin ich an meinem Schreibtisch und hebe ab.
»Ja?«
»Liebes, tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien«, höre ich die ruhige Stimme meines Vaters am anderen Ende.
Hast du aber.
»Du denkst doch an das Abendessen heute, nicht?«, fährt er sanft fort.
Ich rolle mit den Augen und sehe auf den Stapel Akten, der auf mich wartet. Unendlich viele Papiere, die überall auf meinem Tisch ausgebreitet sind. Ich atme tief ein und schließe kurz die Lider. »Klar, Dad. Eigentlich habe ich noch so viel zu tun...«
»Megan, das glaube ich dir gerne. Tu es mir zuliebe, es würde mich freuen. Du warst in letzter Zeit so selten mit von der Partie. Du kannst nicht immer nur arbeiten.«
Das muss er gerade herausposaunen! Ich unterdrücke ein humorloses Lachen. Sein Job ist das einzige Vergnügen, dem mein Vater nachgeht – außer gelegentlichen Pferderennen natürlich –, ein Privatleben hat der Mann ansonsten nicht. Nicht mehr. Nicht, seit meine Mutter verschwunden ist.
Ich will nicht an dieses schreckliche Ereignis denken. Meine Kindheit war mit einem Schlag vorbei. Auch wenn es jetzt etwas mehr als zwanzig Jahre her ist, schmerzt es immer noch.
»Megan!«, höre ich seine Stimme mit Nachdruck durch die Leitung.
Selbstverständlich kann ich nicht Nein sagen, obwohl ich mein Büro dem Dinner vorziehen würde. Ja, wen sollte es wundern, dass ich ihm ähnlich bin? Ich lebe, wie er, für meine Arbeit, für unsere Firma – und ich mag es, wie es ist. Beziehungen sind nichts für mich, die meisten enden ohnehin vor dem Scheidungsanwalt oder noch schlimmer …
Zurück zum Thema: Ich mag meinen Job und meinen Vater. Nur seine herrische Ader, die könnte er etwas zügeln. Wahrscheinlich wird eher die Hölle zufrieren, als dass er mir irgendwann nachgeben würde. Der Gedanke erheitert mich seltsamerweise.
»Ich habe doch gesagt, dass ich komme«, entgegne ich deswegen eine Spur milder.
»Gut, bis nachher, Liebes.«
Mein Dad beendet das Gespräch. Ich lege den Hörer aufs Telefon, umrunde meinen Schreibtisch und lasse mich ächzend in den ledernen Bürostuhl fallen. Bevor ich gehe, muss ich zumindest einen Teil von dem Chaos hier beseitigen.
Ein Klopfen lässt mich erneut aufblicken, dann öffnet sich meine Bürotür langsam. »Megan, haben Sie einen Moment?« Dennis schaut in mein Büro und wartet an der Tür, bis ich ihn hereinbitte.
»Ja, was gibt es denn?« Ich blicke zu ihm auf und er lächelt mich freundlich an.
»Ich habe hier einige Verträge, die müssten noch unterzeichnet werden, außerdem die Zahlungen, die noch freigegeben werden müssen.« Er kommt an meinen Tisch und legt mir eine Unterschriftenmappe vor. »Hier, bitte. Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
»Muss es jetzt sofort sein?« Ich habe wirklich keine Zeit – eigentlich.
»Ich fürchte ja, tut mir leid, eigentlich hatte ich es gestern schon vorbeibringen wollen, aber da waren Sie in Meetings.«
Er hat natürlich recht. »In Ordnung nehmen Sie Platz, Dennis. Ich schaue es mir gleich an.«
»Gerne.« Dennis setzt sich auf einen Stuhl vor meinem Schreibtisch und ich sehe die Papiere durch. Seine Vorarbeit ist ordentlich, vielleicht hatte mein Vater doch nicht unrecht, ihm eine Chance zu geben. Nachdem ich alles abgezeichnet habe, hebe ich meinen Kopf und bemerke, dass er mich beobachtet haben muss. Verlegen sieht er weg.
»Bitte, Dennis. Sehr gut.« Ich schiebe ihm die Mappe zu.
»Vielen Dank, Megan.« Er steht auf und lächelt mich erneut an. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Sein Blick hängt einen Moment zu lange auf meinem Dekolleté, dann erinnert er sich anscheinend daran, mir besser in die Augen zu schauen. Eine leichte Röte überzieht sein Gesicht. »Auf Wiedersehen«, stammelt er und stürzt beinahe aus meinem Büro.
»Was war das denn?«, murmele ich irritiert vor mich hin. Es scheint mir fast, als würde unser Finanzmann ein Interesse an mir hegen, das das einer beruflichen Beziehung übersteigt. In diese Richtung habe ich noch nie bei einem Mitarbeiter gedacht. Dabei gibt es in der Führungsetage immer wieder mal interessante, attraktive Männer. Dennis sieht gut aus, ist gebildet und er hat ungefähr mein Alter, aber Büro-Techtelmechtel sind unangebracht und unprofessionell. Das wird er schnellstens lernen müssen. Vielleicht habe ich mich ja getäuscht und er hat sich wirklich nur über mein Lob gefreut. Es ist schmeichelhaft, dass er mich anziehend finden könnte, mehr wird zwischen uns niemals passieren.
Etwa zwei Stunden später betrete ich den Salon in der Villa meines Vaters. Meine Tante Helen und Granny sitzen bereits dort und genießen ein Glas Sherry. Ashley und Kate sind schon da, nur mein Vater noch nicht. Ich begrüße alle mit einem Küsschen und lasse mich auf die Lehne des braunen Ledersessels bei meiner Großmutter nieder. Da ich keine Zeit mehr hatte, zur mir zu fahren, um mich umzuziehen, stecke ich nach wie vor im Hosenanzug. Alle anderen haben sich leger, aber schick gekleidet. Ich steche wie üblich aus der Frauenrunde hervor wie ein Pinguin unter Flamingos.
»Wie schön, dass du da bist«, sagt meine Tante Helen noch einmal und lächelt mich strahlend an. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie könnte die Tochter meiner Oma sein. Die beiden haben nahezu die gleiche Frisur und auf jeden Fall dieselbe aristokratische Art, sich zu bewegen und zu reden. Sie mögen sich nicht, was sie für den Moment im Griff zu haben scheinen. Sie wirken relativ gelassen, während sie gelegentlich an ihren Sherrygläsern nippen. Helen hatte sich entschlossen, für eine Weile bei uns in Shanghai zu bleiben. Sie müsse ihre Scheidung verarbeiten, hatte sie mir letzte Woche erklärt.
»Leute«, platzt Ashley heraus, »habe ich euch schon von der Ausstellung erzählt, die ich plane? Ihr müsst alle dabei sein!«
Ich sehe sie mit gerunzelter Stirn an. »Was ist so besonders daran? Das machst du doch ständig. Und wann soll das überhaupt stattfinden? Würdest du bitte einfach eine Einladung über den Familienkalender schicken? Sonst werde ich mir das nie merken.«
Kate nickt. »Ich habe momentan echt viel zu tun. Wäre ja blöd, wenn ich mir einen anderen Termin eintrage und dann nicht kommen kann.«
Ashley lächelt und zückt ihr Smartphone. »Es wird das Event der Saison. Das Außergewöhnliche ist, dass ich einige Wahnsinnswerke in Aussicht habe, und alle, die in Shanghai in puncto Kunst was auf sich halten, werden mit von der Partie sein. Es sind Grafiken dabei, die niemand vorher gesehen hat, das darf man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Das mit dem Kalender mache ich, klar. Und Kate, für dich ist es die Gelegenheit, um ein paar potenzielle Kunden zu treffen. Da rennt ziemlich interessantes Material herum.« Sie wackelt anzüglich mit den Augenbrauen. Mir ist bewusst, dass sie eher einen Kerl sucht, mit dem sie eine Affäre haben kann. Sie glaubt nicht ernsthaft, dass Kate es nötig hätte neue Auftraggeber an Land zu ziehen. Soweit ich weiß, läuft ihr Innenarchitekturbüro sehr gut und sie hat mehr Aufträge – und Verehrer –, als sie braucht.
Granny rümpft die Nase und stöhnt leise.
»Mädchen, ich hasse es, wenn ihr so vulgär redet. Das wisst ihr! Zügelt eure Zungen, ihr seid aus gutem Hause.«
Ich unterdrücke ein Schmunzeln, schließlich will ich nicht gleich wieder selbst einen Spruch abbekommen von wegen, wann ich endlich gedenke, mir einen Mann zu suchen. Unsere Oma hat etwas antiquierte Vorstellungen, was das angeht. Wenn ich ihr sagen würde, dass ich nicht vorhabe, jemals zu heiraten, und schon gar nicht, Kinder zu bekommen, würde sie mich wahrscheinlich höchstpersönlich in ein Boot-Camp für alte Jungfern stecken. In diesem Punkt traue ich ihr alles zu.
»Wann ist die Ausstellung denn? Vielleicht bin ich ja auch noch da«, rettet Helen die Situation.
»Ich schicke eine Mail an euch, ihr müsst die Einladung nur noch akzeptieren. Es trägt sich dann direkt in deinen Kalender ein, Tante Helen«, erklärt Ashley und tippt nebenbei auf ihrem Smartphone herum.
Helen stöhnt. »Von Technik habe ich doch keine Ahnung, ich bin froh, dass ich mit dem Ding telefonieren kann.«
Kate kichert. »Wir helfen dir. Oder frag einfach Emma.«
Bei der Erwähnung dieses Namens verzieht meine Oma – wie üblich – das Gesicht.
»Schon okay, irgendwie bekomme ich es hin«, entgegnet Helen lächelnd und nippt an ihrem Glas. Sieht aus, als würden meine Tante und Granny die Abneigung gegenüber unserem ehemaligen Kindermädchen teilen – ihre einzige echte Gemeinsamkeit.
»Es ist erst in ein paar Wochen. Die Ausstellung ist so groß, dass ich längst mit der Planung angefangen habe. Es wird das Event des Kunstjahres, das sage ich euch!« Ashley redet sich nahezu in Rage und wiederholt sich. Es scheint ihr tatsächlich wichtig zu sein.
»Das sagtest du bereits, Ash. Und … hochtrabende Worte«, meint Kate und fängt sich von Ashley einen Ellenbogen in die Seite ein. »Au!«, ruft sie und gibt ihr einen Klaps zurück.
Granny seufzt theatralisch. »So viel zum Thema Benehmen. Bei eurer Erziehung ist definitiv was schiefgelaufen, wen wundert es – bei der Nanny!«
Ihre Seitenhiebe können manchmal ziemlich fies sein, Oma hasst Emma regelrecht. Sie konnte sie damals in England schon nicht leiden, auch wenn ich keine Ahnung habe, wieso. Wenn meine Großmutter sich einmal dazu entschieden hat, jemanden nicht zu mögen, hat er oder sie es schwer. Sie ändert ihre Meinung nicht mehr, obwohl sich Emma seit Jahren als unser Kindermädchen bewährt hat. Mittlerweile fungiert Emma mehr als private Assistentin und Haushaltsvorstand. Sie ist unersetzbar und sie schafft es, alles perfekt für uns zu organisieren. Umso bedauerlicher, dass meine Großmutter sie am liebsten persönlich entlassen würde, was mein Vater ihr aber verbietet – er ist der Boss. Wir Schwestern nehmen das nicht so ernst, selbstverständlich gibt es eine ganze Reihe Dinge, die Oma nicht mag. Harte Schale, weicher Kern. Es war immer sie, die uns eine Extraportion Eiscreme erlaubt hat, die uns abends, nachdem unser Vater längst gute Nacht gesagt hatte, eine Geschichte erzählte oder seine Strafen aufgehoben hat. Natürlich verpackt sie es so, als wäre sie viel strenger als er, was sie definitiv nicht ist.
»Granny!«, schnaubt Kate, die ahnt, dass die nächste Spitze unserer Tante gelten dürfte. Helen weiß das offenbar auch, denn sie sieht betreten auf ihr Glas. Ihr ist klar, dass sich das Verhältnis zwischen ihr und Granny nicht wirklich verbessert hat, nur, weil sie zwei Jahre nicht zu Besuch war. Unsere Großmutter mag sie einfach nicht. Wenigstens können sie in einem Raum sitzen und sich unterhalten, was man über Emma und Granny im Gegensatz nicht sagen kann.
Nach Mums Verschwinden war jeder aus unserer Familie ein rotes Tuch, oder eher umgekehrt. Mein Dad - und damit wir Kinder auch - wurde gemieden wie die Pest. Selbstverständlich schnitt man uns gesellschaftlich nicht offiziell, aber hinter vorgehaltener Hand haben sich die Leute das Maul zerrissen. Helen war die Einzige, die auf Dads Seite gewesen ist. Alle anderen haben meinen Vater – auch ohne einen Beweis – verurteilt. Wahrscheinlich ist es bei Granny einfach so ein generelles Ding, oder was weiß ich. Ich habe keine Ahnung. Wenn ich das nächste Mal mit Helen alleine bin, werde ich sie fragen. Aus meiner Großmutter bekommt man nie was raus, so gerne sie sonst plaudert, so verschwiegen ist sie bei bestimmten Themen. Das hat mich mehr als einmal zur Verzweiflung gebracht.
»Guten Abend, Ladys«, tönt die kräftige Stimme meines Vaters durch den Raum. Er hat sich, wie es sich gehört, umgekleidet und trägt ein Button-down-Hemd, ein Tweed-Sakko und eine dunkelblaue Stoffhose, anstatt des obligatorischen Anzuges. Ein Leuchten huscht über Helens Gesicht, während sie sich in ihrem Stuhl strafft. Ich werfe meinen beiden Schwestern einen Blick zu, aber sie scheinen es nicht bemerkt zu haben. Läuft da was zwischen Dad und meiner Tante? Ich beäuge zuerst ihn, dann sie.
Nein. Ich muss mich getäuscht haben, ganz sicher nicht. Dad führt Granny zum Tisch, das würde er doch nicht machen, wenn er an Helen Interesse hätte. Wie abwegig. Die Schwester meiner Mutter? Wobei … Soll ja schon in den besten Familien vorgekommen sein. Aber nein, ich glaube, sie hat sich einfach nur gefreut, dass wir alle zusammen sind. Sie hat einen echt üblen Rosenkrieg hinter sich, sicher genießt sie es, von Menschen umgeben zu sein, die sich nicht streiten. Obwohl … Na ja, für Krach sind wir Töchter gerne zu haben. Wir meinen es jedoch nie böse. Bei fünf Geschwistern kann man sich nicht immer einig sein. Tessa ist, wie so oft, im Modelbusiness unterwegs und heute nicht mit von der Partie. Virginia ist mit ihrem Freund Liam nach Australien geflogen, um seine Familie kennenzulernen. Die beiden geben Vollgas, was ihre Romanze angeht. Mir soll es recht sein, ich finde es wunderbar, wenn meine kleine Schwester glücklich ist.
Ich gehe mit Ashley, die nach wie vor mit ihrem Telefon beschäftigt ist.
Wir haben zwar keine offizielle Sitzordnung, dennoch gibt es ein ungeschriebenes Gesetz.