Die Erben von Selvir - J. D. Others - E-Book

Die Erben von Selvir E-Book

J. D. Others

0,0

Beschreibung

Hätte Noah Anderson gewusst, dass die anonyme SMS ihn seinen Job kosten, ihn in eine Mordserie hineinziehen und sein eigenes Leben in Gefahr bringen würde… er hätte stattdessen wohl lieber ausgeschlafen. Doch dann hätte er nie den anonymen Detektiv kennen gelernt, nie in zahlreichen Fällen ermittelt, nie das große Ganze hinter all den Anschlägen erkannt und nie verstanden, welches Erbe ihm hätte zuteilwerden sollen. Staatsanwalt Noah Anderson, Sohn des weltberühmten verstorbenen Detektivs Ray Anderson, wird von Police Officer Jean Blake an einen Tatort gerufen, um der Polizei bei der Aufklärung eines Doppelmordes zu helfen. Dort wird er von einem anonymen, einer Geheimorganisation zugehörigen Detektiv kontaktiert, der ihm eine Zusammenarbeit anbietet. Noah steht vor der Wahl, ob er sein bisheriges Leben behalten oder selbst zum Detektiv werden will. Eine Entscheidung, die ihm nicht schwerfällt…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 367

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



www.tredition.de

J.D. Others

Die Erben von Selvir

Grenzfall

www.tredition.de

© 2016 J.D. Others

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7345-1597-2

Hardcover

978-3-7345-1598-9

e-Book

978-3-7345-1599-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Erben von Selvir

Teil I Richten

Prolog

21. Januar 2017 (Samstag) 00:02 Uhr

Die Sterne funkelten hell in der Nacht, in der zwei Menschen sterben sollten. Es war kurz nach Mitternacht. Ein neuer Tag, ein neuer Anfang.

Zwei Enden, zwei Tode. Das Licht der Sterne wurde wie in jeder Nacht von den hoch gebauten Gebäuden der Stadt und ihren künstlichen Lichtern verschluckt.

Auf einer Hochstraße fuhr eine Motorradfahrerin. Sie war ganz in schwarz gekleidet und verschmolz samt ihrer Maschine mit der Dunkelheit der Nacht. Die Straße verlief über und durch die Stadt. Die Fahrerin war müde. Sie wusste noch nicht, wann sie nach Hause kommen würde. Doch darüber durfte sie sich jetzt keine Gedanken machen.

Durch das spiegelnde Visier des schwarzen Helmes sah sie in den linken Seitenspiegel. Hinter ihr tauchte ein dunkelrotes Auto auf. Ein Aveline, Model 210. Das Auto fuhr bedrohlich dicht auf. Die Motorradfahrerin beschleunigte. Der Wagen wechselte auf die linke Spur und gab ebenfalls Gas. Die Straße neigte sich in eine lange Kurve. Der Wagen hatte nun das Motorrad eingeholt und fuhr neben der Fahrerin. Das Beifahrerfenster des Wagens öffnete sich durch Knopfdruck. Der Wagen geriet leicht aus der Spur und kam der Motorradfahrerin gefährlich nah. Vielleicht hatte die Person hinter dem Steuer des Avelines zu tief ins Glas geschaut. Sie erreichten die Mitte der Kurve. Die Zweiradfahrerin sah unentwegt in das geöffnete Fenster. Der Mann auf dem Beifahrersitz lachte und sah der Motorradfahrerin entgegen. Dann verfiel das Lachen auf seinem Gesicht und verwandelte sich in einen bedrückten, verängstigten Ausdruck. Die Fahrerin des Motorrades hatte blitzschnell eine Handfeuerwaffe aus ihrer Kunstlederjacke gezückt und richtete sie auf das Auto. Der Fahrer lachte und bemerkte nicht, wie sein Beifahrer ihn dazu drängte schnell wegzufahren. Zwei Schüsse durchbrachen die Stille der Nacht. Das Auto schlenkerte und rammte die Leitplanke. Dann geriet es vollkommen vom Kurs ab und versperrte die gesamte Straße. Ein zweites Auto rammte die Vorderseite und der rote Aveline drehte sich leicht. Das Motorrad war mit seiner Besitzerin längst entkommen.

Verdeckte Ermittlung

„Es gibt keinen Gott. Es gibt nur jene, die an Höheres glauben. Es gibt keine Ehre. Es gibt nur jene, die sie verteidigen. Es gibt keine Rache. Es gibt nur jene, die zum Schutze der Gesellschaft weggesperrt werden. Es gibt den Glauben an falsche Tatsachen. Er spielt keine Rolle. Es gibt die Wissenschaft. Es gibt die Physik. Es gibt die Gesetze. Wir glauben an das, was wir beweisen können. Wir sagen die Wahrheit. Wir bewahren das Wissen. Wir leben in einer materiellen Welt.“

- Paragraph 1 - Kodex der Selvir

21. Januar 2017 (Samstag) 05:24 Uhr

Steckbrief 542:

Offiziell:

Name: Noah Anderson

Geburtsdatum: 17.9.1987

Geburtsort: United States of America - Georgia -

Atlanta

Alter: 29 Jahre

Beruf: Staatsanwalt

Augenfarbe: Blau

Haarfarbe: Braun

Größe: 1,83 Meter

Inoffiziell:

Lieblingsfarbe: Blau Beziehungsstatus: Single – Versucht Chloe Lux für sich zu gewinnen

Hobbys: Fußball (gucken), mit Chloe treffen Gefühlslage: Beschissen

Grund: Er wurde direkt an den Tatort bestellt

Die Sonne spiegelte sich in den schwarzen Fenstern der Hochhäuser von Phoenix. In der vergangenen Nacht wurde in Arizona ein Doppelmord begangen. Die Polizei war bereits vor Ort. Es war noch früh. Noah Anderson traf am Tatort ein. Er trug einen einfarbigen Coldenmans-Anzug, eine Uhr aus dem Hause Georgia, eine blaue Coldenmans-Krawatte und dazu passende, schwarze Schuhe. Er war unbewaffnet. In seiner rechten Hand hielt er einen Aluminiumkoffer: Darin waren sein Laptop, Zettel und Papier und einige Unterlagen zu einem anderen Fall. Er trug sein U-Phone, Model XTC mit sich.

Einer der Polizisten stand kaugummikauend und mit Sonnenbrille in der Nähe des Avelines. Er bemerkte Noah und ging auf ihn zu.

Steckbrief 543:

Name: Jack Willson

Geburtsdatum: 3.4.1990

Geburtsort: Deutschland - Hamburg

Alter: 26 Jahre

Beruf: Polizist - Inspektor

Augenfarbe: Blau Haarfarbe: Blond

Größe: 1,78 Meter

„Morgen, Noah!“, hallte es über die abgesperrte Fahrspur.

„Guten Morgen, Willson.“

„Einen guten Morgen würde ich das nicht nennen.“

Der Polizist führte den Staatsanwalt um das zerstörte Auto herum. Zwei abgedeckte Körper ließen nichts Gutes erahnen. Noah stellte seinen Koffer ab, kniete sich neben eines der Opfer und öffnete den Reißverschluss. Ein starker, rauchiger Geruch, in dem eine ungewöhnliche, kaum wahrnehmbare süße Note lag, schlug ihm ins Gesicht. Noah hustete.

„Zwei Kopfschüsse. Laut der Rechtsmedizinerin sind sie vor etwa zwei bis drei Stunden gestorben. Sie wurden anscheinend während der Fahrt getötet. Dann hat ein Southlay ihren Wagen gerammt. Der Southlay wurde bereits weggefahren. Die Kugeln werden noch gesucht. Das kann noch dauern.“

Noah zog den Reißverschluss wieder zu.

„Wurden sie schon identifiziert?“

„Noch nicht. Das Nummernschild ist auf einen gewissen Alexander Sam Underberg registriert. Der saß aber nicht im Wagen. Das konnten wir anhand des Fotos auf seinem Führerschein ausschließen. Wir suchen ihn gerade. Leider gibt es kaum Zeugen. Die Frau aus dem Southlay steht immer noch unter Schock und wurde ins Krankenhaus gefahren.“

„Und warum bin ich dann hier?“, fragte Noah.

„Ich habe dich rufen lassen.“

Steckbrief 544:

Name: Jean Blake Geburtsdatum: 24.11.1963

Geburtsort: Venezuela - Caracas

Alter: 53 Jahre

Beruf: Polizist - Officer

Augenfarbe: Braun

Haarfarbe: Schwarzgrau

Größe: 1,63 Meter

Ein älterer, farbiger Mann in Zivilkleidung, aber mit einer Polizeimütze ausgestattet, die den Rang eines Officers kundgab, ging auf Noah zu. Noah zog die Augenbrauen hoch und schüttelte die ausgestreckte Hand.

„Offizier Blake, immer eine Freude, Sie wiederzusehen.“

„Ich wünschte, es gäbe einen erfreulicheren Grund für unser Treffen.“

„Könnten Sie mir vielleicht beantworten, warum Sie mich zu so früher Stunde hierher bestellen?“

„Sicher doch. Hör mal, Noah.“

Der kleine Mann streckte seine Hand nach oben und legte sie auf Noahs Schulter. Sie gingen ein Stück die Straße entlang.

„Du hast uns doch schon oft in verzwickten Fällen weitergeholfen. Du hast dich doch immer schon für Rätsel und dergleichen interessiert und ich weiß noch, wie du damals als kleiner Detektiv in unseren Rängen mitermittelt hast.“

„Als kleiner – Was? Damals war ich dreizehn und hatte ein zweiwöchiges Praktikum. Das ist fünfzehn Jahre her!“

„Ich weiß, ich weiß. Wie die Zeit vergeht. Aber auch danach hast du uns das ein oder andere Mal weitergeholfen. Ich dachte…“

Sie blieben stehen. Officer Blake nahm seine Hand von Noahs Schulter, als der sich umdrehte und dem älteren Mann von oben in die Augen sah.

„Ich bin Staatsanwalt. Kein Detektiv! Ich glaube, Sie verwechseln mich da mit jemanden.“

Noah wandte sich ab und ging über den Tatort zurück zu seinem Auto. Er würde in sein Büro fahren, nein; er würde erst einmal nach Hause fahren, sich wieder ins Bett legen, in drei Stunden in sein Büro fahren und sich dort um den Fall kümmern. Gemütlich vom Schreibtisch aus.

Eingriff? Jetzt!

Ping! Was war das? Noahs Handy. Das Geräusch einer erhaltenen SMS hörte Noah nicht allzu oft. Er zog das schwarz glänzende Gerät aus seiner Hosentasche und fuhr gespannt mit dem Zeigefinger über den dunklen Bildschirm. Der Bildschirm leuchtete auf und begrüßte seinen Besitzer mit der Nachricht: „Sie haben eine neue Nachricht.“ Wer das wohl war? Es stand keine Nummer dabei. Vielleicht war es ja… aber sie würde doch sicher noch schlafen, oder nicht? Vielleicht konnte sie nicht schlafen und wünschte sich, dass Noah vorbeikam. Genug der Tagträume.

Noah öffnete die SMS. Ein kleiner Text kam zum Vorschein:

„Bleiben Sie stehen.“

Noah blieb stehen. Gleichzeitig las er weiter.

„Die beiden Opfer sind Mack Swarn und Adam Parker. Beide waren Wissenschaftler. Details sind für den Augenblick unwichtig. Stellen Sie die zwei Kugeln sicher. Eine liegt in dem Park neben dem Spielplatz, die andere in dem letztes Jahr bankrottgegangenen Hotel.

Dort ist niemand anwesend. Der Schlüssel liegt unter einem Topf, in dem Hortensien gepflanzt sind, neben der Hintertür. Finden Sie die Kugeln und übergeben Sie sie der Polizei. Erzählen sie niemandem von dieser Nachricht. Löschen Sie sie jetzt!“

Noah sah sich zu allen Seiten um. Willson sah ihn durch seine Sonnenbrille an. Noah schaute auffällig nach, ob er ein Handy in der Hand hielt. Das wäre nicht der erste dumme Witz von ihm gewesen, doch Willson inspizierte gerade den Aveline. Noah blickte über die Leitplanke an der Straßenseite und sah unter sich eine verrostete Rutsche. Er sah über den heruntergekommenen Spielplatz und auf das Gebäude hinter dem Park. Er konnte das Schild von hier aus lesen, obwohl es ein wenig verblichen war: „Bistro & Hotel“ Was zum? Er sah wieder auf die Nachricht. Wer war das? Absender unterdrückt. Er würde die Nachricht ganz sicher nicht löschen! Er würde irgendwann in den nächsten Tagen in die Polizeizentrale gehen und Jefferson darum bitten, den Absender herauszufinden. Das wäre eine Kleinigkeit für den Computerexperten.

Ping! „Sie haben eine neue Nachricht.“ Noah klickte energisch auf „Lesen!“ Seine Augen wurden beim Lesen unwillkürlich schmaler und misstrauischer.

„Wenn Sie die Nachrichten nicht löschen, muss ich es tun. Führen Sie meine weiteren Anweisungen sofort aus. Es ist zu Ihrem Besten.“

Seine Stirn legte sich in ärgerliche Falten. Was für ein dummer Witz. War es etwa Blake? Nein, soweit würde er nie gehen. Aber wer sonst? Plötzlich machte sich sein Handy selbständig:

„Diese Nachricht wirklich löschen?“

Noah riss die Finger von dem Display. Jetzt hätte er fast aus Versehen die einzige Spur zu dem Täter, der ihn mit SMS belästigte, zerstört. Er drückte auf „Abbrechen!“ Das Handy reagierte nicht. Er drückte noch einmal. Das graue „OK“-Feld neben dem „Abbrechen“ wechselte in ein Blau, welches immer bei ausgewählten Aktionen angezeigt wurde. „Nachricht gelöscht.“

„Scheiße!“, fluchte Noah laut. Das war kein Zufall. Der Bildschirm zeigte dem entnervten Noah, wie die erste Nachricht ausgewählt und ebenfalls gelöscht wurde. Entgeistert sah Noah auf die Mitteilung: „Nachricht gelöscht.“ Mit wem hatte er es hier zu tun? Irgendeinem Amateur-Hacker, der ihn ärgern wollte? Hatte Blake jemanden auf ihn angesetzt, damit er an den Ermittlungen mitarbeitete? Noah sah immer noch entgeistert auf sein Handy. Und was jetzt? Sollte er einfach nach Hause fahren? Sollte er sein Handy wegwerfen? Oder sollte er die Anweisungen ausführen? Er stieg in sein Auto und fuhr von der Hochstraße ab. Hinter der Abfahrt musste er sich entscheiden: Entweder auf die Hauptstraße Richtung Zuhause oder aber in die entgegengesetzte Richtung zum Parkplatz des Hotels. Er setzte den Blinker. Jetzt war seine Neugier geweckt. Er stellte seinen Carun auf dem leeren, kleinen Parkplatz ab und stieg aus. Vor ihm lag der Park mit dem Spielplatz, über ihm die Hochstraße und hinter ihm das Hotel. Er ging auf den Park zu. Es war kein richtiger Park: Zwei merkwürdig geformte Grünflächen, drei kleine Bäume, zwei Bänke und der Spielplatz, der nur noch aus der rostigen spiralförmigen Rutsche, zwei Schaukeln, von denen eine nur noch an einem Seil hing, und zwei kleinen Wippen bestand. Er setzte sich auf eine Bank und sah sich die Umgebung an. Das Gras war wild und lang gewachsen. Eine Kugel sah er nicht.

Ping! Er riss sein Handy aus der Tasche und aktivierte den Bildschirm. „Lesen!“

„Was tun Sie da? Fangen Sie an zu suchen! Nach meinen Berechnungen muss die Kugel in einem Umfeld von sechzehn Metern um Sie herumliegen. Löschen Sie die Nachricht jetzt!“

Irritiert sah Noah auf die SMS. Dann blickte er sich erschrocken um. Er konnte ihn sehen? Das ging zu weit! Sechzehn Meter Umfeld? Das umfasste beinahe den gesamten Park und einen Teil des Spielplatzes. Aber wenn er ihn sehen konnte, dann konnte er ihn vielleicht auch hören!

„Wer sind Sie?“, schrie Noah den kleinsten Baum an. Der Baum gab keine Antwort. Dafür aber sein Handy: Ping! „Sie haben eine…“ „Lesen!“

„Ich bin… ein Freund. Wenn Sie meine Nachrichten nicht löschen, tue ich es. Suchen Sie nun die Kugeln.“

Zwei Sekunden, nachdem Noah die Nachricht zu Ende gelesen hatte und für einen kurzen Moment seine Umgebung ausgespäht hatte, erschien die Nachricht:

„Alle Nachrichten gelöscht.“

Es half nichts. So groß das widersprechende Gefühl, nicht auf die Befehle eines fremden Hackers einzugehen auch war: Ein altes und gut vertrautes Gefühl beflügelte ihn, nach der Kugel zu suchen. Er ging den gesamten Platz systematisch ab. Er durchwühlte das hohe Gras, sah sich die Bäume genau an und wühlte ein wenig im Sand, der als Untergrund für den Spielplatz herhielt. Nichts, nichts und dann: Ein Kaugummi. Nichts!

Deprimiert und ein klein wenig aus der Puste ließ sich Noah auf die andere Bank fallen. Kurz nachdem er zum Sitzen kam, ertönte wieder das Geräusch aus seiner Tasche.

„Suchen Sie weiter.“

Verärgert schaute sich Noah um. Er konnte keine Kamera sehen.

„Ich bin Staatsanwalt, verdammt, und kein Spürhund! Und außerdem führe ich keine Befehle von Ihnen aus. Sie sind nicht mein Freund! Sie sind ein Fremder!“

Es dauerte einen kurzen Moment: Ping!

„Reden sie bitte langsamer.“

Aha! Erwischt! Ein triumphierendes Gefühl baute sich in Noah auf. Sein Überwacher konnte ihn nicht hören: Er konnte nur seine Lippen lesen. Eine beeindruckende Fähigkeit.

„Ich-weiß,-dass-sie-mich-nur-sehen-können“, sprach Noah sehr langsam und mit deutlichen Lippenbewegungen.

Mit seinen Augen suchte er dabei den Platz nach Kameras ab. Ping! Er sah wieder auf sein Handy:

„Richtig. Suchen Sie nun die Kugeln.“

Verärgert darüber, dass sein Gegenspieler nicht auf seine Blöße einging, ließ Noah das Handy in seine Anzugtasche fallen und drehte sich um. Er ging auf den kleinen Baum vor sich zu und betrachtete ihn von den Wurzeln bis zur Krone. Ping!

„Die Kugel befindet sich in einem Radius von dreieinhalb Metern um den Baum vor Ihnen. Ihre Uhr hat soeben Licht reflektiert, wobei Sie nicht in Richtung Sonne gerichtet war. Die Kugel muss das Licht reflektiert haben.“

Beeindruckt sah sich Noah erneut um. Dann blickte er auf den schmalen Stamm vor sich und überlegte. Wenn die Kugel das Sonnenlicht reflektiert haben sollte und sich das Licht in der Uhr gespiegelt hatte, was wiederum die Kamera erwischt haben sollte, dann musste die Kamera in Richtung Baum liegen! Noah ging einige Schritte zur Seite und lugte neben dem Blätterdach hervor. Nichts! Das Hotel zu seiner Rechten, der Spielplatz und die Hochstraße hinter ihm. Und vor ihm: Nichts. Der morgenblasse Himmel lächelte ihn neckisch an. Satelliten? Eher unwahrscheinlich. Die Kamera könnte auch auf dem Boden oder auf der kleinen Mauer, die den Park von der Straße abtrennte, befestigt sein. Außerdem war Noah nicht ganz von seinem Plan überzeugt. Sein Beobachter von seinem scheinbar schon. Noah sah wieder zum Baum und zu dem grünbewachsenen Boden unter ihm. So eine verrückte Theorie, die Position einer Kugel anhand von reflektiertem Licht herausfinden zu wollen. Während Noah gedankenversunken auf das schimmernde Etwas zuging, rechnete er im Kopf die niedrige Wahrscheinlichkeit aus, die Kugeln tatsächlich finden zu können. Dann stand er direkt über dem kleinen Funkeln, welches ihn plötzlich aus seinen Gedanken riss. Er zog den silbernen Gegenstand aus dem kalten Erdboden und sah ihn sich ungläubig in seiner Handfläche an: Ein spitzes, silbernes Projektil. Er nahm es zwischen die Finger und drehte es. Die Kugel ging am Ende des zylinderförmigen Teils in eine kurze Spirale über. Ansonsten nichts Auffälliges. Ping!

„Stecken sie die Kugel in einen luftdicht verschlossenen Raum und suchen sie die zweite.“

Unglaublich. Er hatte Recht gehabt. Aber wo um alles in der Welt sollte Noah nun einen luftdicht verschlossenen Raum herkriegen? Im Labor gab es einen Raum, aus dem die Luft herausgesaugt werden konnte. Es hatte immer wieder mal Versuche in Vakuum gegeben, die die Fälle vorangetrieben hatten, doch es würde beinahe zwei Stunden dauern, bis Noah das Labor erreicht hätte. Ping!

„In Ihrer Innentasche befindet sich ein Plastikbeutel. Benutzen Sie diesen.“

Noah kramte verlegen die kleine Plastiktüte aus seiner Innentasche hervor. Hatte er gerade etwa laut gedacht? Er öffnete den Verschluss, schüttete die letzten zwei Bonbons in seine leere Hand, warf sie gleich weiter in seinen Mund und ließ dann die Kugel in die Tüte fallen. Er strich über den Verschluss und steckte die Tüte wieder ein.

Jetzt fehlte noch eine Kugel. Noah ging über den Parkplatz zu dem alten Gebäude. Vor ihm stand eine Tür am Ende dreier Stufen. Er ging auf sie zu und drückte die Klinke herunter. Abgeschlossen. Wie sollte er dort reinkommen? Wollte er überhaupt dort reinkommen? Das war Hausfriedensbruch, auch wenn das Gebäude unbewohnt und verlassen war. Ping!

„Besitzen sie ein Kurzzeitgedächtnis oder nicht? Der Schlüssel liegt unter den Hortensien neben der Hintertür!“

Noah drehte sich empört von der Haustür weg und schlich an der Hauswand entlang. Hinter dem Haus kämpfte er sich durch den ungepflegten Garten – wenn man ihn überhaupt noch als solchen bezeichnen konnte – und gelang schließlich an die Hintertür. Er hob den Topf mit den Hortensien an und stellte ihn beiseite. Unter dem Krug kam ein kleiner, rostiger Schlüssel zum Vorschein. Wie verantwortungslos, seine Schlüssel unter Pflanzen, Steinen oder Fußmatten zu verstecken. Da könnte ja jeder einbrechen. (Obwohl es bei einer solchen Ruine wahrscheinlich auch keinen Unterschied mehr machte). Noah trat ein und hielt sich die Hand vor die Nase, um sich vor dem beißenden Gestank zu schützen. Hinter der Theke der Rezeption thronte ein verschimmelter Obstteller.

„Und wo soll die zweite Kugel sein?“, sprach Noah laut in den Raum, während er ins nächste Zimmer flüchtete. Keine Antwort. Kein Ping. Also gab es keine Kameras im Haus. Beruhigend, aber dafür gab es auch keine Hinweise. Noah durchstöberte das Gästezimmer, öffnete das Fenster und untersuchte die Außenwände nach Einschusslöchern. Nichts, nichts und Vogeldreck. Während Noah versuchte, den Würgereiz zu unterdrücken, spurtete er ins nächste Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Anscheinend war er in der Küche gelandet. Hier roch die Luft nur wenig angenehmer. Das Fenster über dem Herd war zerbrochen. Bei dem Gedanken an Jugendliche, die die Fenster leerstehender Gebäude mit Steinen einschlugen, verflüchtigte sich der Erfolgsgedanke von Noah, dass die gesuchte Kugel dafür verantwortlich sein könnte. Er ging um die Kochinsel herum. Hinter dem Fenster lag zwischen Scherben tatsächlich ein Stein. Daneben tropfte aus einer Schublade eine chemisch-künstliche Flüssigkeit. In einem sicheren Abstand sah sich Noah die Pfütze auf dem Boden an. Er öffnete die Schublade, worauf noch mehr von der Brühe herausfloss. Noah wurde leicht schwindelig. In der Schublade standen mehrere kaputte Reinigungsverpackungen, deren Inhalt sich miteinander vermischte. Er untersuchte die Schublade. Wenn die Reinigungsmittel immer noch auf die Pfütze am Boden tropften, dann war diese frisch. Er steckte seinen Finger durch ein kleines Loch in dem dreckigen Schubladenbrett. Das könnte hinkommen. Die Kugel hatte die Hauswand durchbrochen, dann die Reinigungsmittel auslaufen lassen und war anschließend durch die Schublade heraus und – Noah schaute in die Richtung, die das Loch vorgab – gegen die Spülmaschine auf der anderen Seite geflogen. Die Kugel steckte in dem verstaubten Metall fest. Noah suchte nach einem Messer. Er fand einen Löffel. Ungeschickt hantierte er mit dem Griff des Löffels in dem Loch herum und versuchte, die Kugel herauszukratzen. Es funktionierte nicht. Noah öffnete die Spülmaschine, blickte angewidert auf das dreckige Geschirr im Inneren und trat einige Male gegen die Innenseite des Metalls. Das alte Gerät gab dem zweiten Tritt nach und verformte sich, worauf die Kugel herausfiel. Noah hob sie auf und sah sie sich siegessicher an. Dann steckte er sie zu der zweiten Kugel. Kein Zweifel, die Kugeln sahen exakt gleich aus und wurden schlussfolgernd von derselben Waffe und wahrscheinlich auch von derselben Person abgefeuert. Noah trat aus dem Haus heraus und atmete tief durch. Ping!

„Haben Sie sie?“

Er hielt den Plastikbeutel triumphierend empor.

„Übergeben Sie sie der Polizei. Ich komme wahrscheinlich noch auf Sie zurück. Danke.“

Auf mich zurückkommen? Auch wenn der kleine Exkurs die Ermittlungen weiterbringen würde und wenn er gleich vor den Augen der Polizisten würde glänzen können, fragte Noah sich, ob er wirklich noch einmal von diesem merkwürdigen Hacker kontaktiert werden wollte.

„Und das haben Sie tatsächlich ganz allein herausgefunden?“

„Natürlich, wer hätte mir denn bitte helfen sollen?“

„Wirklich außergewöhnlich! Damit haben Sie der Spurenkommission einiges an Arbeit abgenommen. Ich wusste, es war die richtige Entscheidung, Sie hierher zu bestellen.“

Officer Blake lächelte Noah freundlich an und klopfte ihm auf die Schulter. Jack blinzelte durch die Gläser seiner Sonnenbrille und begutachtete die zwei Kugeln in der Plastiktüte, die er ins Licht hielt.

„Wir werden die erst mal ins Labor bringen.“

„Ganz recht, Jack. Der Fall fängt gerade erst an! Wir kennen immer noch nicht die Identität der Opfer, aber das soll nicht Ihre Sorge sein, Noah. Sie haben uns schon sehr geholfen.“

„Nicht der Rede wert.“

Noah sah auf seine Georgia-Uhr.

„Ich muss los!“, verabschiedete er sich und düste in seinem Auto davon.

Zuviel des Guten

21. Januar 2017 (Samstag) 10:03 Uhr

„Aber das wäre keine Gerechtigkeit, sondern nur Rache.“

„Was soll Gerechtigkeit sonst sein? Wenn du Opfer einer Straftat werden würdest, würdest du etwa keine Genugtuung wollen?“

„Genugtuung ist in dem Fall nur ein anderes Wort für Rache und die macht das Leid, wie du schon sagst, nicht ungeschehen. Im Gegenteil, es entsteht noch mehr Hass und Gewalt! Das kann nicht die Lösung sein.“

„Ach, wenn nur jeder so sein könnte wie du, Chloe.“

Steckbrief 545:

Name: Chloe Lux

Geburtsdatum: 26.1.1992

Geburtsort: England - Dover

Alter: 24 Jahre

Beruf: Arbeitslos - Künstlerin

Augenfarbe: Braungrün

Haarfarbe: Rotbraun

Größe: 1,72 Meter

„Das hat weniger mit dem Charakter, als mit einem gesunden Menschenverstand zu tun, Kate.“

Steckbrief 546:

Name: Kate Coleman

Geburtsdatum: 3.12.1990

Geburtsort: United States of America - Wisconsin - Janesville

Alter: 26 Jahre

Beruf: Bürofachkraft - Kaufmännische Angestellte

Augenfarbe: Graublau

Haarfarbe: Schwarz

Größe: 1,76 Meter

Die Tür des Cafés sprang auf und eine kleine Glocke klingelte. Noah schob sich zwischen den Tischen und sitzenden Gästen des kleinen Cafés bis zu der Empore mit Aussicht auf den Park durch.

„Guten Morgen“, begrüßten ihn die beiden Frauen.

„Guten Morgen.“

Noah rutschte auf den Platz neben Chloe. Kate blickte fragend unter den Tisch.

„Was hast du denn gemacht? Die ist ja total ruiniert.“

Noah folgte ihrem Blick und starrte entsetzt auf die zerrissenen Enden seiner Anzughose, die mit einigen Grasflecken verziert war.

„Oh. Das habe ich noch gar nicht bemerkt“, schwindelte Noah.

Er war sowieso schon spät dran gewesen und dummerweise hatte er auch keine Wechselhose im Auto gehabt. Was für eine dämliche Aktion es doch gewesen war, durch den Garten dieses Hotels zur Hintertür zu kommen.

„Das verschafft dir wenigstens Individualität“, lächelte Chloe.

Noah lächelte zurück.

„Und woher hast du das jetzt?“, fragte Kate hartnäckig nach.

„Ich… ähm.“

Noah überlegte. Die Wahrheit hörte sich so unwahrscheinlich an, dass man denken könnte, er würde lügen. Aber ihm fiel nichts Anderes ein.

„Ich war heute Morgen bei einem Tatort und habe bei der Spurensicherung geholfen.“

„Warum hilfst du denn bei der Spurensicherung mit; ich dachte, du wärst Staatsanwalt?“, hakte Kate nach.

„Weil ich…“

Noah starrte verträumt auf ein Zuckerstück neben den beiden Kaffeetassen auf dem Tisch.

„Weil er eine einzigartige Spürnase besitzt“, antwortete Chloe für ihn.

Ungläubig rührte Kate in ihrem Kaffee herum.

Noah bestellte sich ebenfalls einen Kaffee und sie redeten ein wenig über den neusten Tratsch und Klatsch.

„Übrigens gehen Kate und Lukas nächste Woche Mittwoch in die Premiere des Hochzeitstanzes. Wie wäre es, wenn wir dort auch hingehen?“, fragte Chloe.

„Natürlich! Das klingt toll.“

Noah mochte das Theater zwar nicht, doch wenn er mit Chloe zusammen sein konnte, hätte er sogar eine Dauerkarte gekauft, vorausgesetzt, er hätte das Geld dafür.

„Super, dann können wir uns alle vier dort treffen.“

„Was? Wir haben schon halb zwölf. Ich muss noch wohin. Wir sehen uns dann spätesten nächste Woche“, verabschiedete sich Kate.

„Tschüss“, riefen ihr beide hinterher.

„Also hat dich Blake schon wieder angefordert?“, wechselte Chloe überraschend schnell das Thema.

„Jap“, antwortete Noah nüchtern.

„Aber ich dachte, du wolltest nicht mehr darauf eingehen. Immerhin wirst du dafür nicht einmal bezahlt.“

„Jean Blake war ein guter Freund meines Vaters. Ich bin es ihm schuldig, ihm etwas unter die Arme zu greifen.“

„Nein, bist du nicht! Du bist nicht dein Vater, Noah.“

„Ich weiß.“

Beide sahen auf ihre leeren Tassen.

„Ich meine ja nur, ich kann das nicht verstehen. Ich suche die ganze Zeit nach einem Job und meine Geldreserven neigen sich dem Ende zu. Dann noch umsonst zu arbeiten.“

Noah atmete tief durch.

„Wenn du irgendetwas brauchst, musst du es nur sagen.“

Chloe sah ihn an.

„Wenn es dir keine Umstände bereiten würde…“, sagte sie langsam, „meine Mitbewohnerin geht mir ein wenig auf die Nerven. Wenn ich ein paar Tage bei dir wohnen könnte?“

Noah sah begeistert auf.

„Aber klar doch!“

Zehn Minuten später verabschiedeten sich beide voneinander. Noah sah dem Bus nach, in dem Chloe davonfuhr, bis er in die nächste Straße abbog.

Scheiße! Es war beinahe perfekt. Seine Traumfrau Chloe würde bei ihm einziehen, doch wo sich Noah eigentlich hätte freuen müssen, beschlich ihn nun ein ungutes Gefühl. Es lag nicht an der Unordnung in seiner Wohnung, es lag an der Drohung, dass er seine Wohnung verlassen müsse, wenn er nicht bald die überfällige Miete zahlte. Noah hatte seine letzten drei Fälle verloren und brauchte dringend einen Erfolg. Natürlich verdiente er als Staatsanwalt nicht schlecht, doch um das gepflegte Aussehen eines solchen bezahlen zu können, ging ein großer Anteil seines Gehalts flöten. Er suchte einen Geldautomaten auf und tippte seine Geheimzahl ein. Chloe hatte recht: Er konnte nicht länger unbezahlt für Blake arbeiten. Er musste unbedingt… Noahs Kiefer fiel herunter. Mit einem dumm-dämlich dreinblickenden Gesichtsausdruck sah er auf die schwarzen Zahlen auf dem Monitor. Es waren eine Menge Zahlen: 2.000.038 Dollar! Ohne Geld abzuheben zog er seine Karte wieder heraus. Verdammte kaputte Automaten. Er steckte seine Karte wieder hinein. 2.000.038 Dollar. Ungläubig starrte er auf die siebenstellige Zahl. Ping!

Langsam und mit zitternder Hand zog Noah sein Handy aus der Tasche.

„Sie haben eine neue Nachricht.“ Er presste seinen Zeigefinger auf „Lesen“!

„Sie haben heute Morgen gute Arbeit geleistet. Wenn sie für mich arbeiten, werden Sie sich um Geld nie wieder Sorgen machen müssen. Wenn Sie mit mir Kontakt aufnehmen wollen, gehen Sie bis zum Ende der Straße und in das Internet-Café. Folgen Sie den Anweisungen auf Ihrem PC.“

Noah schüttelte den Kopf. Zwei Millionen Dollar mehr als gestern. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Wer war der Kerl? Wo war er da hineingeraten? War das legal? Sicher nicht! Sobald solche großen Geldsummen auftauchten, war es nie legal. Seine Überraschung verwandelte sich in Wut. Er steckte seine Kreditkarte in sein Portemonnaie und ging die Straße entlang.

Einige blaue Neonbuchstaben verkündeten die Aufschrift: Max’ Portal.

Noah stieß die Glastür auf.

„Hey, vorsichtig“, schnauzte ihn ein bärtiger Mann an, der hinter einer kleinen Theke saß.

„Einmal Internet bitte.“

Max grunzte. „Zum Mitnehmen?“

„Verkneifen Sie sich ihre dummen Scherze. Ich habe es eilig.“

„Schon gut. Stunde fünf Dollar.“

„Ich nehme eine halbe.“

„Geht nicht.“

Verärgert legte Noah seinen letzten Schein mit Abraham Lincolns Abbild auf die Plastiktheke.

„Nummer drei.“

Noah ließ sich in den alten Stuhl vor dem Computer mit der Aufschrift drei fallen. Er atmete tief durch und schaltete den PC ein. Jetzt würde er aber mal seine Meinung sagen. Der Computer fuhr langsam hoch. Noah kam es wie eine Ewigkeit vor. Endlich leuchtete ein blauer Desktophintergrund auf. Noah klickte auf den Internetbrowser und sah ratlos auf die Eingabeleiste einer Suchmaschine. Wie sollte er bitte Kontakt aufnehmen, wenn er nicht einmal wusste, auf welche Seite er zu gehen hatte? Plötzlich tauchten Buchstaben in der Suchmaschine auf. Scheinbar war es doch kein Amateurhacker. Noah sah sich um. Ein Jugendlicher surfte durchs Netz auf der Suche nach lustigen Memes, daneben sah sich eine Frau Katzenvideos an. Er sah zur anderen Seite. Max stand von der Rezeption auf und sah irritiert zu ihm rüber.

Schnell drehte sich Noah um und tat so als würde er auf der Tastatur tippen. Der Computer griff auf einen Chatroom zu. Es dauerte eine Weile, bis die Seite geladen war. Dann kam ein Eingabefeld mit einer Funktion für Smileys daneben zum Vorschein. Noah sah sich die Seite an. Er war als Gast eingeloggt. Dann fing er an zu tippen. Er drückte auf Enter und wartete gespannt auf eine Antwort.

Gast: Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Wie kommen Sie zu so viel Geld und warum geben Sie es mir?

Noah wartete immer noch. Scheinbar passierte nichts. Unterhielt er sich überhaupt mit dem Hacker oder hatte der Computer bloß gesponnen und ihn fehlerhafterweise auf die Seite geschickt? Vielleicht brauchte der Hacker auch nur etwas Zeit, um seine Fragen zu beantworten. Was, wenn er die Nachricht an jemand ganz anderen gesendet hatte? Was, wenn die Polizei durch Zufall seine Konversation überwachen und ihn festnehmen würde?

Nein, bislang hatte er nichts Falsches getan. War es etwa seine Schuld, dass er plötzlich zwei Millionen besaß? Warum antwortete der Hacker nicht? Bling!

S: Guten Tag. Ich habe mich bereits als ein Freund vorgestellt, für den Moment reicht es, wenn Sie mich als S kennen. Ich will, dass Sie meine Aufträge ausführen. Wie ich zu dem Geld komme geht Sie nichts an. Ich habe es Ihnen gegeben, damit Sie erstens meine Aufträge ausführen und zweitens dachte ich, dass ich Ihnen damit helfen könnte.

Also war es doch der Hacker, der sich nun als S ausgab. S? Was sollte das heißen, S? Er dachte, er würde Noah mit dem Geld helfen? Kannte er etwa seine Probleme? Das ging eindeutig zu weit. Noah tippte erneut auf der Tastatur herum.

Gast: Ich weiß nicht, was Sie von mir verlangen, aber ich will Ihr Geld nicht. Ich werde auch keinen weiteren Auftrag ausführen. Sie werden sich aus meinem Privatleben heraushalten und mich nie wieder kontaktieren! Wenn Sie jemandem helfen wollen, dann stellen Sie sich der Polizei, damit Sie Ihre illegalen Hack-Angriffe nicht weiter fortsetzen können.

Auch wenn Noah verdammt wütend war, blieb er dennoch sachlich. Es nützte auch nichts, diesen S zu beleidigen.

S: Ich werde das Geld zurückstellen. Es tut mir leid. Ich denke, ich habe es etwas zu gut gemeint. Des Weiteren kann ich Sie beruhigen: Alles, was ich tue, ist legal. Ich arbeite für die Internationale Polizei und habe Sie ausgewählt, um die heute fortgeführte Mordserie zu beenden.

Wollte dieser S ihn etwa verarschen? Scheinbar wusste er nicht einmal, was eine Mordserie war.

Gast: Ich glaube Ihnen kein Wort. Ich weiß nicht, wie Sie all diese Informationen bekommen haben, doch liegt hier keine Mordserie, sondern ein Doppelmord vor. Die Tat ähnelt keinem anderen bekannten Fall. Wie kommen Sie darauf, dass es eine Mordserie ist?

Damit würde er ihn auffliegen lassen. Dieser S hatte keine Ahnung von Polizeiarbeit.

S: Sie haben Recht. Es war ein Doppelmord, der keinem anderen bislang bekannten Mord ähnelt. Vertrauen Sie mir. Dennoch ist dieser Doppelmord die zweite Tat des Serienmörders.

Der Kerl war doch verrückt! Andererseits würde es passen. Wenn er für Interpol arbeitete, könnte er auf die ihm vorliegenden Informationen zugreifen. Außerdem könnte er von dem angeblichen, geheim gehaltenen ersten Mord wissen. Das Einzige, was nicht passte, war die Tatsache, dass er, Noah Anderson, in die Ermittlungen von Interpol mit hineingezogen wurde. Völlig absurd!

Gast: Nehmen wir an, Sie würden die Wahrheit sagen. Warum haben Sie mich ausgesucht? Hat Interpol etwa nicht genug Einsatzkräfte, um selbst an dem Fall zu arbeiten?

S: Scharf beobachtet. Noah Anderson, Sie sind Staatsanwalt. Sie treten gegen Verbrecher an und sorgen dafür, dass diese ihre gerechte Strafe erhalten. Sie wurden von Jean Blake mehrmals als Unterstützung zu Fällen hinzugezogen. Ich kenne Ihre Vergangenheit. Ihr Vater war einer der größten Detektive in den Vereinigten Staaten. Sie sind mehr als qualifiziert, in diesem Fall mitzuarbeiten.

Gast: Warum diese Geheimnistuerei? Ich kann Ihnen nicht vertrauen. Wenn sie mir nicht beweisen können, dass Sie zu Interpol gehören, werde ich nicht weiter auf Ihre Kontaktversuche reagieren.

S: Wenn Sie diesen Entschluss gefasst haben, werde ich Ihnen etwas Zeit geben, sich umzuentscheiden. Ich werde Ihnen etwas Geld als Entschädigung für Ihre Zeit zukommen lassen. Ich werde Sie wieder kontaktieren.

Der Computer verabschiedete sich, als Noah das letzte Wort gelesen hatte. In dem schwarzen Bildschirm spiegelte sich das verblüffte Gesicht von Noah wieder. Die Internationale Polizei. Eine Mordserie. Ein Hacker namens S. Und er, Noah. Ein altes vertrautes Gefühl kam in Noah hoch. Ein Detektiv!

Wollte er nicht etwas erreichen? Zu oft wurde er mit seinem Vater verglichen, er kannte ihn nicht einmal. Doch genau wie sein Vater kämpfte auch er gegen das Verbrechen. Und wenn es eine Möglichkeit gab, aus seinem langweiligen Alltag herauszutreten und tatsächlich hautnah im Kampf für das Gesetz dabei zu sein, dann diese!

Entschlossen verließ Noah das Café und machte sich auf den Weg. Dabei ging er noch einmal an dem Bankautomaten vorbei und überprüfte seinen Kontostand. 538 Dollar. Zufrieden nahm er fünfhundert Dollar entgegen, um die überfällige Miete zu bezahlen und fuhr nach Hause, wo er seine Wohnung aufräumte und ein kleines Zimmer zum Gästezimmer umfunktionierte. Später am Tag schaltete er den Fernseher zu den Nachrichten ein: „Genauere Informationen gibt es bisher nicht. Zu diesem Zeitpunkt lässt sich nur sagen, dass zwei Männer in der Nacht von Freitag auf Samstag auf der Hochstraße nahe der Eastsidebridge während der Fahrt erschossen wurden. Die Polizei untersucht momentan die scheinbar einzige Spur des Täters, die Projektile der Tatwaffe.“

22. Januar 2017 (Sonntag) 10:31 Uhr

„Liebe Gemeinde, liebe Brüder, liebe Schwestern, wir alle finden uns heute hier nicht nur zur Sonntagsmesse ein, sondern vor allem, um den Tod zweier unschuldiger Männer zu betrauern…“

Noah und Chloe saßen in der dritten Reihe. Beide waren nicht sehr religiös, doch hielten sie es für angebracht, der Messe beizuwohnen. Die Kirche war überfüllt, sodass einige stehend zuhören mussten. Das Schweigen der Gemeinde, die sich sonst nie in solch großer Zahl in der Kirche einfand, übertönte beinahe die Worte des Pfarrers. Noah dachte an den gestrigen Tag. Vollkommen verrückt. Dennoch hatte er sich entschieden. Jetzt musste er nur noch auf den Kontakt mit dem Interpol-Agenten warten.

„Amen.“

22. Januar 2017 (Sonntag) 11:47 Uhr

Die Menschen strömten aus der Kirche, blieben auf dem Platz stehen, sammelten sich in kleinen Gruppen und unterhielten sich. Noah und Chloe gingen durch eine kleine Seitenstraße zu ihrem Auto. Sie wollten zu Chloes Wohnung fahren und ihre Sachen packen.

„Hat die Polizei denn bereits etwas herausgefunden?“

„Bislang noch nicht. Zumindest wurde ich noch nicht informiert. Sobald es einen Verdächtigen gibt werde ich sicher benachrichtigt werden.“

Schnelle Schritte ertönten hinter ihnen. Ein junger Mann bog in die schmale Gasse ein und rannte gehetzt auf sie zu. Die beiden drehten sich zu ihm um. Der Junge hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und blickte beim Rennen auf den Boden. Er rempelte Chloe stark an. Sie wäre beinahe hingefallen, doch Noah fing sie auf. Der Junge griff nach den Bändern von Chloes Handtasche und riss sie ihr aus der Hand. Dann rannte er weiter und verschwand am Ende der Straße.

„HEY!“, rief ihm Noah hinterher. Er blickte kurz zu Chloe, die dem Dieb überrascht hinterher sah und dann sprintete er hinter dem Jungen her. Am Ende der Gasse konnte er gerade noch so den dunklen Mantel des Diebes in der nächsten Abzweigung verschwinden sehen.

Als Noah in die Gasse einbog, kletterte der Dieb eine Feuerleiter an einem mehrstöckigen Wohngebäude hinauf. Noah hinterher. Das rostige Metall der Leitern war nass und glitschig. Es hatte am Morgen geregnet. Der Dieb hastete von einer Etage zur nächsten, während Noah nur schwerfällig nach oben stieg. Jetzt war der Dieb ganz oben angekommen. Er kletterte auf die Ecke des Geländers und sprang Richtung Dach. Noah erreichte die letzte Leiter. Der Junge fasste die Regenrinne und zog sich an ihr hoch. Noah versuchte ihn festzuhalten, doch schon hatte er sich auf das Dach gezogen. Jetzt blieb Noah nichts Anderes übrig als auch über das Geländer aufs Dach zu steigen. Er setzte einen Fuß auf die Ecke und suchte nach Halt. Mulmig sah er nach unten. Das Haus besaß vier Stockwerke und er war gute fünfzehn Meter über dem Boden. Vorsichtig lehnte er seine Handflächen gegen die Hauswand und drückte sich vom Boden ab. Er balancierte auf dem Geländer und griff nach der Regenrinne.

„Was tust du denn da?“, rief es entsetzt von unten. Noah sah schockiert zu der kleinen Person, die unten auf dem Boden stand. Chloe sah erschrocken zu ihm hoch. Ein Schatten flog über Noahs Gesicht. Der Dieb sprang von dem Dach ab und flog durch die Luft. Das Gebäude gegenüber war ungefähr zwei Meter entfernt. Noah und Chloe hielten den Atem an, als sie sahen, wie der Dieb in der Luft nach unten fiel. Doch er bekam tatsächlich einen Fensterrahmen des obersten Stockwerks zu fassen und federte seinen Sprung mit den Füßen, die er gegen die Hauswand richtete, ab. Dann kletterte er wieder bis zum Dach, zog sich hoch und verschwand auf der anderen Seite. Verblüfft sah ihm Noah nach. Plötzlich rutschte er mit seinem Fuß vom Geländer. Ein spitzer, kurzer Schrei von Chloe durchbrach die Stille. Noah schwankte gefährlich nach vorne, ruderte mit den Armen und kippte dann nach hinten um. Mit einem dumpfen Ton schlug er auf dem kalten Metall des Balkons auf.

„Bist du wahnsinnig? Du hättest runterfallen können!“

Noah lehnte mit schmerzendem Bein gegen die unterste Leiter und hörte sich die Vorwürfe von Chloe an.

„Du brauchst doch nicht wegen so einer dummen Tasche dein Leben riskieren!“

„Aber es war deine Tasche.“

„Was redest du denn da? Bist du sicher, dass es dir gut geht? Vielleicht hast du ein Schädelhirntrauma!“

„Nein, es ist nur mein Bein.“

„Mach so etwas nie wieder!“

22. Januar 2017 (Sonntag) 11:58 Uhr

Der Dieb setzte sich auf ein Dach, einige Blocks vom Tatort entfernt. Er atmete tief durch, zog sich die Mütze vom Kopf und strich sich das schwarze Haar aus seinem Gesicht. Dann sah er sich seine Beute an. Eine schlichte bunte Tasche mit Blümchenmuster. Für seinen Geschmack etwas zu bunt. Aber daran störte er sich nicht. Er würde sie sowieso wegschmeißen. Er öffnete den Reißverschluss und durchstöberte den Inhalt. Er fand zwar keine Brieftasche, wie erwartet, dafür aber ein kleines klobiges Handy. Perfekt. Er schaltete es ein und ging die letzten Einträge durch. Nichts Besonderes. Lag er falsch? Aber er hatte gut recherchiert. Er musste in die Offensive gehen, wenn er herausbekommen wollte, ob sein Diebstahlopfer tatsächlich mit dem unbekannten Detektiv in Kontakt gekommen war. Er öffnete das Programm Notizen und schrieb:

„Seit wann bist du in Phoenix tätig? Es ist schon eine Weile her, seitdem wir uns das letzte Mal getroffen haben. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Hast du Lust auf ein Rätsel? Dieselben Regeln wie immer: Wenn du eine falsche Vermutung gibst, verlierst du. Wenn du eine richtige gibst, hast du einen Tag länger Zeit, das Rätsel zu lösen. Wenn deine Zeit abgelaufen ist, verlierst du. Bereit? Die Zeit läuft ab jetzt:

Das Opfer liegt in seinem eigenen Blut tot auf dem Boden. Ich habe es getötet.

R.“

Liebe und Hass

25. Januar 2017 (Mittwoch) 15:12 Uhr

Was für eine Woche. Noah ging gerade aus der Wohnungstür. Erst der Doppelmord letztes Wochenende, dann der Überfall am Sonntag und jetzt das! Der Tatendrang, der ihn nach dem Besuch im Internetcafé überwältigt hatte, war mit Beginn der neuen Woche schnell wieder verschwunden. Dieser S hatte sich immer noch nicht gemeldet. Wahrscheinlich war es doch nur ein dummer Hacker gewesen, der sich als Interpolmitglied ausgegeben und ihn im Grunde genommen total verarscht hatte. Aber Noah hatte im Moment ganz andere Sorgen. Am Montag hatten sie eine Anzeige gegen Unbekannt erstattet, doch bei der Fahndung nach dem Dieb gab es keinen Durchbruch, genauso wenig wie beim Doppelmord, da die Kugeln nicht zurückverfolgt werden konnten. Neben Noahs Geldproblemen, der bald wieder anfallenden Miete und den nicht voranschreitenden Fällen gab es noch eine riesige Katastrophe: Chloe, die seit Sonntag bei ihm wohnte, hatte am sechsundzwanzigsten Geburtstag! Und das war morgen! Und Noah hatte noch kein Geschenk! Deshalb hastete Noah das Treppenhaus, das er erst vor einer halben Stunde heraufgestiefelt war, wieder herunter und hoffte, noch ein Geschenk zu finden. Irgendetwas Besonderes. Etwas Einzigartiges. Er starrte die Preisschilder der Modetaschen hinter den Schaufenstern an, in der Hoffnung, sie würden bei seinem Blick schrumpfen, doch sie blieben bei ihren überteuerten Preisen. Mit den fünfhundert Dollar hatte er die fällige Miete bezahlen müssen und nun blieb ihm nicht mehr viel. Wenn er sein Gehalt doch nur jetzt schon bekommen würde, anstatt am Monatsanfang, nächste Woche Mittwoch. Dummerweise konnte er auch seinen Chef nicht fragen, ob er das Geld vorgestreckt bekäme. Warum war er auch Staatsanwalt? Der Staat warf nun mal nicht mit Geld um sich. Er könnte auch einen Kredit aufnehmen, aber für eine Handtasche? Jetzt, wo Noah darüber nachdachte, kam ihm der Gedanke, eine Designerhandtasche als Geschenk zu kaufen, geradezu versnobt vor. Außerdem war Chloe immer so kreativ. Einige ihrer Sachen machte sie selbst und die sahen wirklich gut aus. Wahrscheinlich war sie deshalb auch Künstlerin. Vielleicht wäre ein Ausflug das Richtige. Irgendwo abschalten und erholen, das wäre perfekt nach dieser anstrengenden Woche. Doch auch bei diesem Plan fehlte das Geld. Brauchte sie nicht ein neues Handy, seitdem ihr altes gestohlen wurde? Zu teuer und sehr unpersönlich. Oder wie wäre es mit einer Überraschungsfeier? Vielleicht doch zu anstrengend. Noah ging an den Schaufenstern vorbei und schüttelte vor einem nach dem anderen den Kopf. Das passte alles nicht. Es musste etwas sein, das seine Liebe zu ihr ausdrückte, aber es durfte auch nicht kitschig sein.

Er setzte sich auf den Rand eines großen Brunnens. Merkwürdiger Designer: Der Brunnen bestand aus einem Gewirr aus Ringen, aus deren Mitte Wasser in den Brunnen sprudelte. Die goldenen, silbernen und bronzenen Ringe reflektierten das Sonnenlicht und funkelten. Aus irgendeinem Grund war Noah von den Ringen beeindruckt. Ringe… Er fuhr hoch und klatschte seine Hand gegen seine Stirn. Ringe! Das war es, es war perfekt. Warum auch nicht? Er hatte sowieso schon Pläne gemacht, wie er sich mit Chloe verloben würde. Das war ein besonderes, einzigartiges, liebevolles Geschenk. Er brauchte nur noch einen Ring, für den es sich lohnte, einen Kredit aufzunehmen, und die richtige Gelegenheit.

25. Januar 2017 (Mittwoch) 17:12 Uhr

„Bin wieder da“, rief Noah zur Begrüßung.

„Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du hättest es vergessen.“

Noah warf seine Schuhe in die Ecke, überlegte es sich anders und legte sie ordentlich in den Schuhschrank. Er ging ins Wohnzimmer. Chloe stand vor einer Staffelei und schwang den Pinsel über eine Leinwand.

„Was vergessen?“, fragte Noah und ging auf sie zu.

Er wollte auf ihre Seite gehen, um das Bild anzusehen.

„Noch nicht. Erst, wenn es fertig ist.“

Sie versperrte ihm den Weg. Er ließ sich aufs Sofa fallen.

„Das Theater heute Abend. Es fängt um sieben Uhr an.“

Noah fiel vom Sofa.

„Was? Ich meine. Klar. Nein, das habe ich doch nicht vergessen.“

„Hast du wohl“, lachte Chloe und widmete sich wieder ihrem Bild.

Eine Stunde später suchten beide ihre feinen Sachen heraus, zogen sich um und fuhren zum Theater. Kate trafen sie vor dem Eingang.

„Hier sind wir“, rief Chloe.

Sie gingen hinein, ließen ihre Karten kontrollieren und setzten sich. Die Vorstellung handelte von einem Liebespaar, welches auf seiner eigenen Hochzeit getötet werden sollte. Lukas, der Mann von Kate, spielte einen Kellner auf der Hochzeit. Obwohl jeder der Charaktere jemand anderen aus unterschiedlichen Gründen tot sehen wollte, starb zum Schluss nur das Hochzeitspaar durch vergifteten Wein, der eigentlich als Geschenk für den Vater der Braut bestellt war. Das Theaterstück hatte beinahe etwas Lachhaftes, so skurril wie es war. Das hatte aber auch etwas Gutes, denn damit war es wenigstens für Noah interessant, der keine tragischen Stücke mochte.

25. Januar 2017 (Mittwoch) 21:25 Uhr

„Das Stück war wirklich außergewöhnlich“, sprach Noah begeistert.

„Allerdings, die Handlung kam sehr unerwartet“, sagte Chloe.

„Wollen wir gleich noch etwas trinken gehen?“, fragte Kate.

„Gerne“, stimmten die beiden zu.

„In Ordnung, Lukas zieht sich bestimmt gerade um. Dauert sicher nicht mehr lange, aber ich muss vorher noch einmal auf die Toilette.“

„Ich auch.“

„Dann lass uns in die Bühnenräume gehen, denn die Besuchertoiletten sind bestimmt voll.“

Damit verschwanden die beiden Frauen. Noah las sich einige Flyer durch.

25. Januar 2017 (Mittwoch) 21:30 Uhr

Chloe spülte ab und ging zu den Waschbecken.

„Ich warte draußen“, rief sie.

„OK“, kam die Antwort.

Chloe zögerte.

„Alles in Ordnung bei dir? Du hörst dich gar nicht gut an.“

„Ich fühle mich ein wenig schlecht, warte draußen, ich komme gleich nach.“