Die Fernsehfrauen - Melanie Fischer - E-Book
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Die Fernsehfrauen E-Book

Melanie Fischer

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Beschreibung

Die Stunde der Frauen: Drei Freundinnen erobern das Fernsehen.

Das Fernsehen ist ihre Zukunft, dafür nehmen die drei Freundinnen Ina, Barbara und Alexandra in Kauf, mit den Erwartungen ihrer Familien zu brechen. Doch selbst als Ina eine Anstellung als Assistentin für eine Samstagabendshow findet, Alexandra in die Tanzkompanie aufgenommen wird und Barbara eine der raren Stellen als Ansagerin ergattert, müssen die drei feststellen, dass es nicht leicht ist, sich in der Männerdomäne zu behaupten, denn selbst in dem neuen Medium Fernsehen herrschen noch überkommene Konventionen ... 

Voller 50er-Jahre-Flair erzählt Melanie Fischer, wie das Fernsehen in die Wohnzimmer kam.

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Seitenzahl: 469

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Über das Buch

Hamburg, Ende der 1950er Jahre: drei junge Frauen, die aus den Konventionen ausbrechen und ihre vorgezeichneten Lebenswege verlassen. Ina träumt davon, Programmmacherin beim Fernsehen zu werden, statt in der Familienmetzgerei hinter der Theke zu stehen. Barbara will unbedingt Schauspielerin werden, und Alexandra träumt davon, ein ungebundenes Leben zu führen und zu tanzen. Die Wege der drei unterschiedlichen Frauen kreuzen sich beim Fernsehen. Schnell müssen sie lernen, wie schwer es für Frauen ist, sich in dieser Männerdomäne durchzusetzen und Vorurteile zu überwinden. Doch der Zusammenhalt, die Freundschaft und der Wunsch nach Selbstbestimmung, lassen sie alle privaten und beruflichen Hürden des Lebens meistern.

Über Melanie Fischer

Melanie Fischer ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Ihre Leidenschaft war es schon immer, durch die Welt zu reisen und unterwegs Ideen für neue Geschichten zu sammeln. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Brandenburg.

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Melanie Fischer

Die Fernsehfrauen

Mit uns beginnt die neue Zeit

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1: Ina — Juni 1958

Kapitel 2: Barbara

Kapitel 3: Ina — September 1958

Kapitel 4: Barbara

Kapitel 5: Ina — Oktober 1958

Kapitel 6: Alexandra

Kapitel 7: Barbara — November 1958

Kapitel 8: Ina

Kapitel 9: Alexandra

Kapitel 10: Barbara — Januar 1959

Kapitel 11: Ina

Kapitel 12: Alexandra — Februar 1959

Kapitel 13: Barbara

Kapitel 14: Ina

Kapitel 15: Alexandra — September 1959

Kapitel 16: Barbara

Kapitel 17: Ina — Januar 1960

Kapitel 18: Alexandra

Kapitel 19: Ina — März 1960

Kapitel 20: Alexandra

Kapitel 21: Ina

Kapitel 22: Barbara

Kapitel 23: Alexandra — August 1960

Kapitel 24: Barbara

Kapitel 25: Ina

Kapitel 26: Alexandra — Februar 1961

Kapitel 27: Barbara

Kapitel 28: Ina

Kapitel 29: Alexandra — August 1961

Kapitel 30: Barbara

Kapitel 31: Ina

Kapitel 32: Alexandra — Februar 1962

Kapitel 33: Barbara — Mai 1962

Kapitel 34: Ina

Kapitel 35: Alexandra

Kapitel 36: Barbara — Juni 1963

Kapitel 37: Ina

Kapitel 38: Alexandra

Kapitel 39: Barbara — Januar 1964

Kapitel 40: Ina — Januar 1965

Kapitel 41: Alexandra — Juni 1965

Kapitel 42: Barbara — Januar 1966

Kapitel 43: Ina — Sommer 1967

Kapitel 44: Alexandra — Januar 1970

Kapitel 45: Barbara — September 1970

Anmerkungen der Autorin

Dank

Impressum

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Kapitel 1

Ina

Juni 1958

Mit Schwung stieß sie die große Flügeltür des Theatersaals auf.

»Sie sind zu spät, Fräulein Doblin«, bemerkte die Theaterkursleiterin verärgert. »Ganze …«, sie sah auf ihre Uhr, »ganze achtzehn Minuten zu spät! Und das ist ja nicht das erste Mal. Eigentlich dürften wir Sie hier nicht mehr empfangen.«

»Es tut mir furchtbar leid, Frau Bartoll, bitte, es wird nicht wieder vorkommen.« Sie wusste, dass das eine Lüge war. Denn immer wieder musste sie im Laden ihrer Eltern aushelfen und kam manchmal nicht pünktlich los. Sie nahmen die Sache mit der Schauspielschule nicht so wichtig, und wenn sie weiter dafür bezahlten, musste sie im Laden aushelfen, wenn sie gebraucht wurde. Ina setzte sich schnell zu den anderen Kursteilnehmern. Frau Bartoll stand auf der Bühne, von wo aus sie ihren Unterricht abhielt. Sie war eine kleine, rundliche Frau, die mehr Wert auf Etikette als auf schauspielerisches Talent legte. Seit dem ersten Kurstag hielt sie ständig Predigten, was man wie und wann zu tun hatte. Wie man sich elegant bewegen und wie man sich benehmen musste. Manchmal dachte Ina, dass sie, um das zu lernen, einen Hauswirtschaftskurs hätte besuchen können. Der wäre auch bei ihren Eltern weitaus besser angekommen. Doch Ina wollte ins Fernsehen, wenngleich ihr die Schauspielerei nicht am Herzen lag. Es war das Fernsehen an sich, was sie interessierte. Wie Shows und Filme gemacht wurden. Eines Tages würde sie Regie führen für eine große Produktion, und diese Schule war vielleicht ein Sprungbrett. Als Frau konnte man nicht einfach zu einem Sender spazieren und nach einem Job in der Regie fragen. Dazu kam, dass sie mit gerade einmal 18 Jahren niemand ernst nehmen würde.

»Das sagten Sie bereits letzte Woche, Fräulein Doblin. Und ich sage Ihnen«, jetzt stand sie mit erhobenem Zeigefinger vor Ina, »der Kurs ist begehrt. Wenn Sie das hier nicht ernst nehmen, dann wartet schon die Nächste, die Ihren Platz gern übernehmen wird.« Sie trat wieder in die Mitte der Bühne und fügte hinzu: »Das gilt im Übrigen für Sie alle. Ist das angekommen?« Mit einer steilen Zornesfalte auf der Stirn blickte sie in die Runde. Zustimmendes Gemurmel und Nicken gingen durch den Saal. Zufrieden drehte sich die Kursleiterin um und holte die Texte für die Gruppe. Ina konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen, was ein hübsches Mädchen neben ihr zum Schmunzeln brachte. Sie grinsten sich an.

»Ich bin die Ina«, flüsterte sie der Fremden zu.

»Ich heiße Barbara«, erwiderte diese lächelnd.

»Die nervt ganz schön. Ich frage mich immer, weshalb ich ihren Kurs besuche.«

»Fräulein Doblin, jetzt reicht es aber, erst zu spät kommen und dann den Unterricht stören. Solch ein Verhalten ziemt sich nicht für eine junge Frau«, wetterte die Kursleiterin.

Es ziemt sich nicht … Gerade als Ina zu einer Gegenrede ansetzen wollte, fiel Barbara ihr ins Wort. »Ich habe mein Kursbuch vergessen und Ina deshalb gefragt, ob ich bei ihr mit reinschauen darf.« Unauffällig ließ sie das kleine Heft unter ihrem Hintern verschwinden.

Die Lehrerin brummte. »Ich verbitte mir jede weitere Störung.«

Ina wusste, dass Barbara sie gerade vor dem Rauswurf bewahrt hatte. Denn das, was ihr auf der Zunge gelegen hatte, hätte sich Frau Bartoll nicht bieten lassen. Obwohl sie gern ihre Meinung losgeworden wäre, wäre es einen Rauswurf am Ende nicht wert gewesen. Sie musste endlich ihr Temperament im Zaum halten. Das sagten ihre Eltern ihr ständig. Schon in der Schule oder auch im Metzgereigeschäft ihrer Eltern, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte, konnte sie sich selten beherrschen. Barbara hatte definitiv einen gut bei ihr. Sie war ihr schon einige Male aufgefallen, da sie ausgesprochen gut aussah. Sie war mindestens ein Meter achtzig groß, also zehn Zentimeter mehr als sie selbst. Sie war schlank, hatte lange blonde Haare, blaue Augen, eine kleine Stupsnase, und wenn sie lächelte, bildeten sich kleine Grübchen auf ihren Wangen. Wenn es nach dem Aussehen ging, gehörte die blonde Schönheit genau hierher. Sie hatte bereits etwas von einer Schauspielerin, ob sie auch Talent besaß, das konnte Ina nicht beurteilen. Sie selbst fand sich zwar nicht so hübsch wie Barbara, aber im Großen und Ganzen war sie glücklich mit ihrem Äußeren. Sie war schlank und sah ein wenig älter aus, als sie war. An manchen Tagen fand sie ihre Nase zu groß und ihr Gesicht zu rund, aber sie maß ihrem Äußeren nicht viel Bedeutung bei. Es hatte genug Jungs in der Schule gegeben, die mit ihr ausgegangen wären, wenn sie denn gewollt hätte. Doch Männer waren das Letzte, was sie im Moment interessierte. Ina hatte diesen einen Traum: Beim Fernsehen arbeiten. Hinter die Kulissen schauen, wollte sehen und lernen, wie Filme und Shows gemacht wurden. Wie fand man die Ideen für die Shows? Wie gern würde sie einmal dabei sein und alles live miterleben von Anfang bis Ende. Nichts in ihrem Leben interessierte sie mehr. Eine Faszination, die sie begleitete, seit sie denken konnte. Schon als Kind hatte sie regungslos und voller Spannung vor dem Radio gehockt und ihre eigenen Sendungen im Kinderzimmer für ein Publikum entworfen, das es nicht gab. Nachdem sich ihre Eltern einen Fernsehapparat zugelegt hatten, hatte sich ihre Begeisterung auf das neue Medium übertragen. Ihre Eltern und ihr Bruder belächelten sie immer dafür. Die Schauspielschule war die einzige Möglichkeit, um eventuell ans Theater oder an das Medium Fernsehen zu kommen. Sie hatte die Hoffnung, hier Menschen kennenzulernen, die ihr die Türen öffnen könnten. Ina ließ sich ihren Traum nicht ausreden. Mit 18 war sie zwar noch auf das Geld ihrer Eltern angewiesen, weshalb der Besuch dieser Schule an ein paar Bedingungen geknüpft war. Aber sie würde alles geben, auch wenn sie dafür zehn Frau Bartolls ertragen müsste.

Kapitel 2

Barbara

Barbara drückte die schwere Eingangstür der Schauspielschule mit einer Schulter auf und trat nach draußen. Im Gehen versuchte sie sich eine Zigarette anzuzünden. Sie hatte vor drei Monaten angefangen zu rauchen und konnte sich dabei wunderbar entspannen. Dass ihre Mutter rauchte, hatte sie als Kind gehasst, sie hatte weder den Rauch noch den Geruch von Zigaretten gemocht. Den mochte sie bei anderen immer noch nicht, aber wenn sie selbst rauchte, störte er sie kein bisschen. Sie blinzelte gegen das Sonnenlicht und setzte sich auf eine der Bänke neben dem Eingang, um ihren Gedanken nachzuhängen. Kurz darauf drang Stimmengewirr zu ihr, und Ina trat in einer Gruppe aus dem Gebäude. Die Frauen blieben vor dem Eingang stehen und fingen an, sich zu unterhalten. Sie kam oft zu spät, diese Ina. Barbara war sich nicht sicher, weshalb ihr dieses Mädchen so gefiel. Sie hatte etwas Mitreißendes, und dass sie sich nicht alles gefallen ließ, beeindruckte Barbara. Sie selbst schwamm lieber mit dem Strom. Das Leben war schon hart genug, da musste man es sich nicht noch schwerer machen. Sie genoss die wärmende Sonne auf ihrer Haut und nahm noch einen letzten Zug von ihrer Zigarette, trat sie aus und ging an der Gruppe vorbei zurück ins Gebäude. Dabei suchte sie Inas Blick, aber die war so in ein Gespräch vertieft, dass sie Barbara nicht wahrnahm.

Am Nachmittag nach dem Unterricht wartete Barbara vor der Schule auf Ina. Sie wusste, dass sie fast den gleichen Weg hatten. Barbara sah, wie die eigenwillige junge Frau aus dem Gebäude trat, stand schnell von der Bank auf und lief auf sie zu.

»Hallo, hast du auf mich gewartet?«, fragte Ina verblüfft.

»Ja, ich dachte, wir könnten zusammen fahren. Du wohnst doch bei mir um die Ecke, in Farmsen, oder?«

»Ach was, das ist ja ein Zufall.«

»Ich wohne noch nicht lange in Hamburg.« Da Ina nichts darauf entgegnete, sie aber im Gespräch bleiben wollte, fuhr Barbara fort: »Und, wie hat es dir heute gefallen?«

»Wie immer langweilig. Warum können wir nicht einfach mit dem richtigen Schauspielunterricht beginnen? Es ist doch lästig, jede einzelne Mimik tausend Mal durchzugehen«, antwortete Ina gereizt.

»Ich glaube, es ist wichtig, dass wir lernen, wie wir mit unserem Gesicht umgehen«, entgegnete Barbara.

»Wenn man so ein schönes Gesicht hat wie du, bestimmt«, grinste Ina frech.

Barbara war sich nicht sicher, ob das ein Kompliment war. Sie wusste, dass sie gut aussah, aber auch, dass das vor allem anderen Frauen nicht immer gefiel.

»Ohne Talent nutzt einem das schönste Gesicht nichts«, sagte sie deshalb trotzig.

»Du, das war nicht böse gemeint. Ich bin nur ehrlich, und du siehst eben auffällig gut aus.«

»Warum bist du dann auf der Schauspielschule, wenn du nicht so zufrieden bist?«

»Schauspiel und Theater sind nett, aber eigentlich will ich zum Fernsehen. Ich dachte, das kann nicht schaden und irgendwo muss man anfangen. Früher wollte ich immer zum Radio, aber seit es das Fernsehen gibt …« Sie schaute verträumt, ohne weiterzureden.

Barbara fühlte sich von Inas Rede beflügelt und traute sich, auch ihre Träume zu offenbaren. »Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als eines Tages am Theater zu spielen oder, noch besser, eine Rolle in einem Film zu haben. Ich möchte gesehen werden und die Menschen von den Sorgen des Alltags ablenken. Ich will auf die große Bühne und Menschen begeistern«, sagte Barbara schwärmerisch. Sie beobachtete Ina aus den Augenwinkeln, aber sie schien sie nicht auszulachen oder sie gar für verrückt zu halten, wie die meisten Menschen.

»Das schaffst du bestimmt«, sagte sie, als wäre es das Einfachste auf der Welt.

Barbara musste grinsen, und jetzt, da sie es laut ausgesprochen hatte und jemand ihr Mut machte, noch dazu jemand, den sie gar nicht kannte, war es, als wären der Wunsch und die Hoffnung noch größer geworden.

Die beiden Frauen fuhren mit der U1 bis Farmsen. Sie wohnten beide in der Gartenstadt, die nur zehn Minuten vom Bahnhof entfernt lag.

»Wohnst du schon lange in der Gegend?«, fragte Barbara.

»Ja, in der Gegend schon, aber die Häuser sind ja noch ziemlich neu. Meine Eltern haben sich sofort für die Dreizimmerwohnung angemeldet, als es möglich war, und es hat geklappt.«

Barbara nickte. »Ich mag es sehr, hier zu leben. Die Gegend ist schnell mein neues Zuhause geworden. Die Zweigeschosser mit den Balkonen und den darunterliegenden Geschäften. Ich liebe es, durch die kleinen Ladenstraßen zu flanieren. Es gibt hier alles, was man braucht.«

»Ja, ist ganz nett. Wo kommst du her?«, unterbrach Ina ihre Gedanken.

»Aus Berlin«, mehr wollte sie dazu nicht sagen. »Wollen wir noch ein wenig spazieren gehen, vielleicht kannst du mir hier etwas zeigen, was ich noch nicht kenne?«, fragte Barbara deshalb.

»Ich würde gern, aber ich muss noch bei meinen Eltern in der Metzgerei helfen.«

»Gehört euch etwa die Metzgerei Doblin?«

»Ja genau«, antwortete Ina gelangweilt. »Ich muss dann jetzt, war schön, dich kennenzulernen. Wir sehen uns morgen, tschüss, mach’s gut.«

»Tschüss, bis morgen«, entgegnete Barbara und sah ihre hoffentlich neue Freundin mit raschen Schritten davoneilen. Dann würde sie eben allein nach Hause bummeln.

Bis vor einem halben Jahr war Berlin noch ihr Zuhause gewesen. Barbara dachte an ihre Kindheit zurück. Wenn sie es genau bedachte, hatte sie keine schönen Erinnerungen an die Zeit vor Hamburg. Ihre Mutter hatte im Krieg den Mann verloren und war von heute auf morgen mit ihr und ihren beiden jüngeren Geschwistern Dörte und Theo allein gewesen. Ihr Vater war erst kurz vor Kriegsende eingezogen worden. Die Hoffnung, dass der Krieg nicht mehr lange gehen würde, hatte ihnen die Gewissheit geschenkt, dass er bald wieder heimkehren würde. Doch dann war im November 1946 Post gekommen. Man hatte ihn in einem Massengrab an der Oder anhand seiner Erkennungsmarke identifiziert. Somit war sie mit gerade einmal sechs Jahren Halbwaise. Von dem Moment an musste sie ihre Mutter unterstützen, und die folgenden Jahre waren geprägt von Hunger, Verzweiflung und Überforderung. Dörte war mit ihren zwei und Theo mit seinen vier Jahren noch zu klein, und so wurde sie mit sechs Jahren ein Elternersatz. Sie mussten aus ihrer Wohnung raus und kamen bei einer freundlichen Dame unter, die ihnen eines ihrer Zimmer überließ. So lebten sie fortan, vier Personen auf engstem Raum. Obwohl sie selbst noch ein Kind war, half sie, so gut sie konnte.

Barbara bemerkte erst jetzt, dass sie zu früh abgebogen war. Sie versuchte sich zu orientieren. Da war der Laden mit den schönen Kleidern. Sie blickte durchs Schaufenster und bestaunte die Auslagen und ihr Spiegelbild. Zwar war sie von Natur aus hübsch, aber sie wusste auch, dass diese Art von Kleidern das noch unterstützen würden.

»Kann ich Ihnen helfen?« Eine Frau mit einem kleinen Eimer war aus der Tür des Ladens getreten. »Sie können ruhig hereinkommen und sich umschauen.«

»O ja, danke, aber nein. Ich habe keine Zeit, vielleicht ein anderes Mal«, stotterte Barbara hastig.

Die Dame rümpfte die Nase und musterte sie von oben bis unten. »Ja, dann ein anderes Mal«, entgegnete sie und begann die Scheibe zu säubern, ohne Barbara weiter zu beachten.

Schnell eilte sie davon. Die Wahrheit war, dass sie sich diese Dinge nicht leisten konnte. Wenn sie Stoff übrig hatte, versuchte sie Kleider, die sie in Geschäften gesehen hatte, nachzunähen. Irgendwann, das schwor sie sich immer wieder, würde sie berühmt sein, für ihre Familie sorgen und sich schöne Kleider leisten können. Ihre Mutter tat, was sie konnte. Sie hatte ihr eine Zukunft gegeben, und dafür würde sie ihr auf ewig dankbar sein. Barbara würde ihr alles zurückzugeben, sobald sie konnte. Sie blickte die Straße hinunter, die der kürzeste Weg nach Hause war, entschied sich dann aber, in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Heute wollte sie noch ein wenig Zeit für sich haben und von der großen Karriere träumen, bevor die Realität sie wieder einholte.

Kapitel 3

Ina

September 1958

Ina musste die Nachmittagsschicht, wie fast jeden Donnerstag, im Laden ihrer Eltern übernehmen. Dass ihr Vater ihr zutraute, allein im Laden zu stehen, war erst seit einem halben Jahr der Fall. Ina war das lieber so, andernfalls redete er immer rein, was sie alles anders machen sollte. Für ihre Eltern war das die eine Auszeit in der Woche, da am Wochenende das Hauptgeschäft war. Gelangweilt schaute sie sich um, es war bereits alles für den Feierabend vorbereitet. Sie nahm eine alte Ausgabe vom Hamburger Abendblatt, die ihr Vater liegen gelassen hatte, und blätterte lustlos durch die Seiten. Doch da, sie traute ihren Augen kaum, blieb sie an einer Stellenanzeige hängen. Beim Norddeutschen Rundfunkverband suchten sie Leute für eine Fernsehshow mit Frank Laubitz. »Gern Frauen für diverse Assistententätigkeiten gesucht.«

Frank Laubitz, der berühmte Radiomoderator und Theaterschauspieler. Heute um 18 Uhr fand ein offenes Vorstellungsgespräch statt. Doch der Laden war noch bis 18 Uhr geöffnet, aber wenn sie jetzt nicht losging, würde sie es nicht pünktlich zur angegebenen Adresse schaffen. Ihre Eltern würden toben, aber das war eine einmalige Chance, sie musste das machen. Kurzerhand, ohne noch länger drüber nachzudenken, schloss sie die Ladentür ab und stolperte dabei ausgerechnet in Frau Schäfer. Sie erkannte sie sofort an ihrem außergewöhnlichen Hut, den sie immer trug. Ihr Einkaufskorb baumelte an ihrem Unterarm, und sie betrat zielstrebig die erste Stufe.

»Moin, Fräulein Doblin, machen Sie schon zu? Es ist doch noch nicht an der Zeit?«, bemerkte sie verwundert.

»Ja, wichtige Familienangelegenheiten, tut mir leid, aber morgen ab 9 Uhr sind wir wieder für Sie da.«

»Aber, ich brauche …« Weiter kam Frau Schäfer nicht, weil Ina sich an ihr vorbeidrängelte, sich ihr Fahrrad aus dem Kellerraum schnappte und die Straße hinunterfuhr.

Ausgerechnet die Schäfer, dachte Ina. Morgen würde es ein Donnerwetter geben, aber wenn sie die Stelle bekam, musste sie vielleicht sowieso nicht mehr lange im Laden aushelfen.

Völlig verschwitzt kam sie bei den Studios in Lokstedt an. Sie hatte es tatsächlich geschafft, die zwölf Kilometer mit dem Rad in weniger als einer Stunde zurückzulegen. Ina bemerkte erst jetzt, dass sie noch immer ihren Verkaufskittel anhatte. Sie zog ihn aus und stopfte ihn in eine Häuserritze. Ihr Vater würde toben, wenn sie ihn verlieren würde. Das Fahrrad stellte sie daneben, an ein Schloss hatte sie in der Eile auch nicht gedacht. Sie schaute an sich herab und versuchte ihre braunen, schulterlangen Haare zu bändigen. Sie wurde oft um ihr dickes und naturgewelltes Haar beneidet. Es war nicht viel Aufwand, um es gut aussehen zu lassen, aber jetzt hing es strähnig und ohne Volumen herab. Sie hasste das, weil dann ihr rundes Gesicht noch mehr zur Geltung kam. Sie hatte kein bisschen Make‑up aufgelegt, obwohl sie gern ihre braunen Augen betonte, wenn ein schönes oder wichtiges Ereignis bevorstand. Sie strubbelte noch einmal durch ihr Haar. Egal, sie hatte keine Zeit, für jetzt musste es reichen.

Punkt 18 Uhr betrat Ina einen großen Warteraum. Hier standen viele Leute, darunter etliche herausgeputzte junge Frauen. Alle mussten sich mit Namen und Adresse in eine nummerierte Liste eintragen und sich eine Nummer auf die Brust kleben. Danach wurden Frauen von Männern getrennt in einen großen Raum geführt, wo sie sich in einer Reihe nebeneinander aufstellen mussten. Jetzt wurde Ina doch unsicher und begann erneut, sich durchs Haar zu streichen. Doch es blieb, was es war, ein ungebändigter Haufen. Niemals würde sie so, wie sie heute aussah, einen Job im Fernsehen bekommen. Andererseits suchten sie doch Assistenten für alles Mögliche, da kam es hoffentlich nicht auf das Äußere an, versuchte sich Ina Mut zu machen und straffte die Schultern. Die Haltung war das A und O. Vielleicht waren die Weisheiten von Frau Bartoll doch zu was nütze. Zwei Herren gingen die Reihe entlang. Der eine musterte die Frauen aufmerksam, während ein anderer sich Notizen machte. Ina war sich nicht sicher, aber sie glaubte Worte zu hören wie »geeignet, kann vorsprechen«, »vielleicht für hinter der Kamera« oder »raus«. Hörte eine der Frauen ein »vor der Kamera«, machte sie einen kleinen Hüpfer. Die anderen wirkten enttäuscht, und die, die gleich weggeschickt wurden, brachen nicht selten in Tränen aus. Schließlich standen die Männer vor ihr. Gerade war die Frau neben ihr ausgeschieden, und Ina war noch ganz geschockt. Sie versuchte zu lächeln, und schon vernahm sie die Bewertung: »Hinter der Kamera. Können Sie nähen und unter Stress arbeiten?«

Wie aus der Pistole geschossen reagierte Ina. »Selbstverständlich!«

»Gut.« Der Mann nickte, der Notizenschreiber machte einen Vermerk, und die beiden wandten sich der nächsten Bewerberin zu.

Schließlich war die Vorstellungsrunde zu Ende, und alle wurden nach Hause geschickt. Man würde sich melden.

Beides war noch da, wenigstens ein gestohlenes Fahrrad und eine verlorene Schürze würde sie zu Hause nicht erklären müssen. Auf dem Weg zurück dachte Ina über die vergangene Stunde nach. Sie konnte es noch nicht ganz glauben, aber ihre Chancen standen gut, eine Stelle im Fernsehen zu bekommen. Auch wenn sie das eben Erlebte als nicht sonderlich schön empfand. Frauen in einer Reihe aufzustellen, die sich dann begutachten ließen, war durchaus fragwürdig, aber in dem Moment hatte sie keinen klaren Gedanken fassen können. Es hinterließ ein komisches Gefühl bei ihr, und sie fragte sich, ob auch die anderen so empfanden. Sie wollte sich die Laune aber nicht verderben lassen und die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie einen Job beim Fernsehen bekommen würde. Trotz der merkwürdigen Erfahrung in den Studios schwebte sie förmlich nach Hause, und selbst das zu erwartende Donnerwetter trübte ihre Stimmung nicht. Sie konnte es kaum erwarten, Barbara von der Vorstellungsrunde zu erzählen. Die würde staunen und sich für sie mitfreuen, da war sie ganz sicher. In den letzten Wochen hatte sie in Barbara eine Freundin gefunden. Innerhalb kürzester Zeit war sie eine der wichtigsten Personen an ihrer Seite geworden, der sie alles sagen konnte, die zuhörte und die gleiche Leidenschaft wie sie teilte. Es lässt sich nicht erklären, man trifft einen Menschen und weiß, dass er einem guttut. Ihre bedingungslose Offenheit und Freude für Menschen und Situationen, die Ina in Barbaras Gegenwart spürte, versetzten sie oft ins Staunen.

Als Ina zu Hause ankam, war es nach 22 Uhr und ihre Eltern waren untypischerweise noch wach. Sie hatte noch kurz im Laden vorbeigeschaut, um wenigstens die Auslagen in den Kühlraum zu bringen, als sie feststellte, dass das bereits jemand getan hatte. Ina hatte gehofft, dass sie erst morgen das Donnerwetter abbekommen würde, aber sie saßen beide wartend in der Stube auf der Couch. Als ihr Vater sie bemerkte, sprang er von der Couch auf und begann zu brüllen. Es hatte sich sofort herumgesprochen, dass der Laden der Doblins an diesem Tag über eine Stunde früher geschlossen hatte. Das kam nie vor, weshalb besorgte Kunden bei ihren Eltern nachgefragt hatten, ob alles in Ordnung sei.

»Mein liebes Fräulein, kannst du mir mal erklären, wieso der Laden zu war?«, schrie er sie an. »Das ist bares Geld, was wir verloren haben, und deine Mutter hat sich noch hingestellt und alles weggeräumt, was du in der Theke gelassen hast.«

»Das wollte ich gerade machen, aber da war es schon weggeräumt. Ich …«

»Aber davon hat das Fräulein Tochter ja keine Ahnung. Kommt und geht, wie es ihr beliebt«, unterbrach der Vater sie.

»Heute, heute bin ich mal früher gegangen. Es war wichtig, und ich hatte keine Zeit mehr, euch Bescheid zu sagen.«

»Das interessiert mich nicht. Der Laden ist wichtig, sonst nichts. Der Laden bezahlt deine Schule und auch sonst alles. Wie kann man nur so verantwortungslos sein. Da bittet man sie ein Mal um Hilfe.« Wütend tigerte ihr Vater auf und ab. »Trude, sag doch auch mal was«, wies der Vater die Mutter an.

Ein Mal? Sie arbeitete in der Fleischerei, seit sie zwölf war, und natürlich sollte ihre Mutter jetzt auch noch ihre Meinung sagen.

»Das war wirklich verantwortungslos«, sagte ihre Mutter.

»So eine Arbeitsmoral kann sich unsereiner nicht erlauben«, fiel Günther seiner Frau ins Wort.

»Es war eine Stunde, hört ihr, eine Stunde. Du musst jetzt nicht so übertreiben«, unterbrach sie ihn wütend.

Keine Sekunde später traf sie eine schallende Ohrfeige. Es war nicht der Schmerz, der ihr die Tränen in die Augen trieb, sondern die Demütigung. Ihre Mutter stand wie immer nur daneben und sagte nichts.

Ina stürmte in ihr Zimmer. Ihre Mutter folgte ihr, aber nicht, um tröstende Worte zu finden, sondern um ihr Vorwürfe zu machen.

»Du bist schuld, dass dein Vater jetzt wieder schlechte Laune hat. Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte sie. »Nicht mal Bescheid gesagt hast du. Dein Essen ist jetzt auch kalt«, fügte sie noch hinzu.

Das mit dem Essen musste noch kommen. Die größte Sorge ihrer Mutter bestand darin, dass alle pünktlich am Tisch saßen. »Es war eine Chance, einen Job im Fernsehen zu bekommen, und ihr hättet mir niemals erlaubt, den Laden früher zu schließen. Außerdem musste ich sofort los, sonst hätte ich es nicht geschafft. Die Anzeige für ein Vorstellungsgespräch war älter, und ich habe sie vorhin erst bemerkt. Ihr fragt nicht mal, warum ich den Laden früher geschlossen habe. Es interessiert euch nicht, was ich möchte. Das hat es noch nie. Ich will zum Fernsehen, ich möchte diese Arbeit dort, und ich bereue es nicht, dass ich heute eine vielleicht einmalige Chance genutzt habe. Außerdem hasse ich die Fleischerei.«

»Ich dachte, diese Schauspielschule ist nur eine Flause und wenn du fertig bist, dann arbeitest du im Laden. So war es abgesprochen, was anderes wird dein Vater niemals erlauben«, sagte ihre Mutter.

»Das, was du Flausen nennst, ist mein Traum, Mama! Und ja, die Schauspielschule ist ein erhofftes Sprungbrett, aber diese Arbeit beim Fernsehen, für die ich mich heute beworben habe, das könnte ein schneller Weg zu meinem Traum sein. Und wenn du mich kennen würdest und mir je zugehört hättest, dann wüsstest du das. Würdest du es mir denn erlauben? Du bist schließlich meine Mutter und kannst genauso Entscheidungen treffen.«

Natürlich antwortete ihre Mutter nicht. Niemals würde sie sich gegen ihren Mann stellen.

In diesem Moment wurde Ina einmal mehr klar, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste. »Weißt du was? Es ist mir egal. Wenn ich die Anstellung bekommen sollte, werde ich sie annehmen und mein Jahr an der Schauspielschule erfolgreich beenden. Ich werde mir auch eine Wohnung suchen, sobald ich genug Geld habe.«

»Das kannst du nicht tun. Wir brauchen dich hier, und wie stellst du dir das vor. Eine alleinstehende Frau bekommt nicht einfach eine Wohnung!«

»Du meinst, du brauchst mich als Blitzableiter und als eure Aushilfe.« Ina war jetzt so wütend, dass sie sich kaum noch beherrschen konnte. »Mama, ich möchte mein eigenes Leben führen und meine Träume wahr werden lassen. Das Fernsehen ist das, was ich will. Möchtest du mich nicht glücklich sehen? Ihr habt doch Peter, der möchte die Fleischerei, und sowieso ist er für Papa doch der Geeignetere von uns beiden.« Ina blickte in die ratlosen Augen ihrer Mutter. Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Das kannst du wohl nicht verstehen, du hattest wahrscheinlich nie Träume.« Vielleicht war sie zu weit gegangen, denn eigentlich war sie nicht sauer auf ihre Mutter. Sie sagte und tat nur, was ihr Vater wollte, so wie fast alle Frauen. Vielleicht hatte sie sogar einmal Träume gehabt, von denen Ina nichts wusste. Und ehrlicherweise: Welche Träume hatte ein Mensch, wenn man in seinem Leben bereits zwei Kriege miterlebt hatte? Frieden. Niemand in der Elterngeneration hatte sich wahrscheinlich Gedanken über Selbstverwirklichung oder Traumjobs gemacht.

»Wie redest du denn?«, fragte ihre Mutter, die nun ebenfalls Tränen in den Augen hatte. Sie knetete ihre Hände im Schoß und klang jetzt so leise, dass Ina es kaum verstand. »Wir wollen doch nur das Beste für dich.«

Als Ina ihre Mutter so vor sich sah, tat sie ihr leid. Sie liebte sie, aber sie konnte nicht verstehen, weshalb sie niemals Partei ergriff, weshalb sie ein Leben lebte, was nur aus Wäschewaschen, Kochen und dem Laden bestand. »Wenn das stimmt, Mama, dann sage ich dir, dass das Fernsehen das ist, was ich möchte«, sagte Ina versöhnlich.

Ihre Mutter überlegte, man sah einen kurzen Augenblick Verständnis in ihren Augen aufflackern, bevor sie entgegnete: »Dein Vater wird damit nicht einverstanden sein.« Dann schaute sie zu Boden. »Und eine Familie zu haben, das war immer mein Traum«, flüsterte sie und verließ das Zimmer.

Ina lag an diesem Abend noch lange wach und dachte an den Streit, der wieder eskaliert war. Ihr Vater hatte sich selten im Griff, wenn es nicht so lief, wie er wollte, und deshalb geriet sie regelmäßig mit ihm aneinander. Warum konnten ihre Eltern nicht verstehen, dass die Metzgerei ihr nicht wichtig war, dass sie einen anderen Traum verfolgte? Sie verstand, dass der Laden den Lebensunterhalt einbrachte und eine Art Familientradition war. Sie wollten, dass ihr Bruder Peter und sie die Tradition weiterführten. Doch sie liebte etwas anderes. Sie versuchte sich zu erklären, warum ihr Vater immer so reagierte. Er war nach Kriegsende völlig verstört und ausgehungert zurückgekehrt und hatte sich geschworen, dass weder er noch jemand aus der Familie je wieder Hunger leiden sollte. Das Versprechen hielt er bis heute, und dafür sparte er, wo er konnte. Ina hatte keine Erinnerung an ihn vor dem Krieg, denn gleich nach ihrer Geburt wurde er eingezogen. Als Ina älter wurde, bekam sie mit, wenn die wöchentlichen Briefe des Vaters ankamen und ihre Mutter jedes Mal vor Erleichterung in Tränen ausbrach. Nachdem sich ihr Vater nach seiner Rückkehr von den Kriegsleiden einigermaßen erholt hatte, hatte er sich in die Arbeit gestürzt und nach Ladenschluss in den Alkohol. In der Metzgerei gab er sich stets gut gelaunt und hatte immer einen witzigen Spruch für die Kunden auf Lager, aber zu Hause war er jähzornig, tat keinen Handschlag und schikanierte seine Familie. Ina würde nie verstehen, wieso ihre Mutter sich so etwas gefallen ließ. Es machte sie traurig, dass die Eltern sie nicht unterstützten, aber das stachelte sie noch mehr an, alles für ihren Traum zu tun. Sie hoffte so sehr, dass es mit der Assistentenstelle klappte. Hoffte, dass sie bald Teil von etwas Großem sein könnte. Dann würden ihre Eltern schon verstehen und stolz sein auf sie.

Am nächsten Morgen, als Ina in die Küche kam, stand ihre Mutter am Herd, um für die Familie das Frühstück zu machen. Früher hatte sie diese Atmosphäre immer geliebt. Ihre Mutter in der Küche stehend, etwas für die Familie zubereitend. Es hatte etwas Vertrautes. Wie immer trug die Mutter ein geblümtes Kleid und ihre Schürze darüber. Sie leistete sich kaum Neues für sich selbst, auch wenn die Familie dazu in der Lage gewesen wäre. Nur die Küche sollte modern sein, und der Vater hatte ihr dabei freie Hand gelassen. Sie war so stolz auf ihre AEG-Küchenkombination mit Elektroherd, Spüle und dem eingebauten Heißwasserspeicher. Das rote Ecksofa und der ausziehbare Tisch waren der Treffpunkt der Familie. An Sonn- und Feiertagen gab es meist Braten mit Soße und Kartoffeln, dazu Gemüse. Werktags kochte die Mutter am liebsten Eintopf. Das gehe schnell und schmecke allen, bemerkte sie jedes Mal.

Als Ina ihre Mutter da so stehen sah, fragte sie sich, ob sie das Leben, das sie führte, glücklich machte. Das Frühstück verlief stumm. Seit ihr fünf Jahre älterer Bruder Peter nicht mehr zu Hause wohnte, war es ohnehin stiller als früher in der Wohnung. Er hat vor drei Jahren seine Kindergartenliebe Gisela geheiratet, weil bereits das erste Kind unterwegs war. Dann ging alles ganz schnell, sie sind zusammengezogen und haben vor Kurzem ihr zweites Kind bekommen. Die Vorstellung, dass er bereits zweifacher Familienvater mit eigener Wohnung war, erschreckte sie oft. Zur Hochzeit hatten die Eltern ihn zum Teilhaber der Metzgerei gemacht, aber im Grunde nur auf dem Papier. Zu sagen hatte er nichts. Günther war der Meinung, ein Vater musste im Leben stehen, weshalb er ihm einen Teil der Metzgerei vermachte. Nur einmischen durfte er sich nicht, was regelmäßig zu Reibereien führte. Ina war froh, als sie die Mahlzeit überstanden hatte. Sie wollte nur noch los zur Schule, um Barbara alles zu erzählen und dieser bedrückten Stimmung entfliehen zu können.

Da Ina wie immer in der letzten Minute in den Raum gerauscht kam, konnte sie Barbara erst in der Pause die großen Neuigkeiten berichten.

»Was? Du hast was?«, schrie Barbara begeistert.

»Ich habe mich für einen Job beim Fernsehen beworben. Ich werde vielleicht Assistentin, Mädchen für alles, aber besser als nichts«, sagte Ina nicht ganz ohne Stolz.

»Das ist echt irre. Ich freu mich so für dich. Wie bist du da drangekommen?«

»Ich habe zufällig eine Annonce in der Zeitung entdeckt. Sie suchten Assistenten für eine neue Samstagabendshow. Ist das nicht unglaublich? Ich werde vielleicht Teil von etwas ganz Großem.«

»Was, nein? Das ist nicht wahr? Du musst mir alles erzählen.«

Ina erzählte ihr von dem Vorsprechen.

»Mensch, ich halte dir ganz doll die Daumen.« Sie drückte Ina an sich.

Ina löste sich aufgeregt von ihrer Freundin. »Du, wenn ich den Job bekomme, vielleicht haben die noch mehr Arbeit, ich kann mich dann ja mal umhören, wenn du magst.«

»Das würdest du tun? Mensch, das wäre wirklich dufte«, entgegnete Barbara. »Sag ihnen auf jeden Fall, dass ich gut aussehe.«

Ina lachte. »Wie könnte ich vergessen, das zu erwähnen.«

Den restlichen Tag dem Unterricht zu folgen, fiel Ina schwer, ständig musste sie an die Stelle denken. Sie wünschte sich nichts sehnlicher.

Nach über einer Woche hatte sie noch immer nichts vom Sender gehört und die Hoffnung fast schon aufgegeben. Barbara hatte ihr immer wieder Mut und Hoffnung gemacht, dass sie sich noch melden würden. Da sie jedoch nichts dem Zufall überlassen wollte, war Ina noch einmal ins Studio gefahren, um nachzufragen. Fragen kostete nichts.

»Es tut uns leid, aber wenn Sie bis heute keine Zusage erhalten haben, hat es nicht geklappt. Die Jobs sind alle vergeben.« Sie stand in einem Büro, und die Dame am Schreibtisch hatte ihr mit diesen Worten die letzte Hoffnung genommen.

»Das kann nicht sein. Ich bitte Sie, schauen Sie noch mal nach, Ina Doblin.« Verzweifelt stand sie im Vorzimmer und bettelte die Sekretärin an, ihr zu helfen.

»Ich sagte Ihnen bereits, Ihr Name steht nicht auf dieser Liste«, entgegnete diese und wirkte ehrlich betroffen.

Plötzlich kam ein Mann ins Zimmer. »Frau Räschke, bitte bringen Sie mir einen Kaffee.«

»Sehr gern, Herr Schröder.«

Schröder, Schröder. Ina überlegte, war das nicht der Regisseur der Show? Sie glaubte den Namen in dem Zusammenhang gehört zu haben. Jetzt oder nie, dachte sie. »Warten Sie. Herr Schröder, ich bin Ina Doblin. Ich habe mich letzte Woche für die neue Show beworben, nur leider habe ich bisher nichts gehört.« Sie war aufgestanden und streckte ihm die Hand hin. Herr Schröder reagierte nicht, sondern schaute nur verwirrt zu seiner Vorzimmerdame. Die zuckte mit den Achseln.

»Sie können keine Bessere finden als mich, ich mache alles«, redete Ina weiter. Bleib selbstbewusst, aber fang nicht an zu betteln, sagte sie zu sich selbst. Am liebsten hätte sie sich vor ihm auf den Boden geworfen und ihn angefleht, aber so würde sie die Stelle ganz bestimmt nicht bekommen.

»Wir sind voll besetzt, tut mir leid.« Herr Schröder wollte gerade in sein Büro, als Frau Räschke sagte: »Ich glaube, eine Assistentin können wir noch gebrauchen. Es kann nicht schaden, einen Ersatz zu haben.«

Erst jetzt nahm Ina die Sekretärin mit den braunen, kurzen Haaren richtig wahr. Sie schätzte sie auf dreißig. Sie war aufgestanden und wirkte auf Ina eher unscheinbar. Das einzig Auffällige war die schrille Stimme, die jetzt den Raum erfüllte.

Es entstand eine Pause, niemand sagte etwas. Ina schaute Herrn Schröder erwartungsvoll an.

»Na gut, von mir aus. Sie bekommen eine Chance, Fräulein …«

»Doblin.« Ina stürzte auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln. »Ich danke Ihnen. Sie werden es nicht bereuen.«

»Ja, ja. Frau Räschke, vergessen Sie den Kaffee nicht!«, sagte er nur und verschwand im Nebenzimmer.

Ina schlug die Hände vor den Mund. Sie konnte es nicht glauben. »Ich danke Ihnen, ohne Sie … Danke, einfach nur danke.« Ina war um den Tisch herumgetreten und drückte Frau Räschke.

»Ach, kein Problem. Ich weiß nicht, aber in Ihren Augen brennt so ein Feuer. Ich konnte nicht anders«, sagte diese lächelnd. »In so einer Produktion brauchen wir engagierte Leute. Ich werde die Assistenten später alle ein wenig koordinieren. Wir haben vorerst kein hohes Budget, deshalb übernehme ich Aufgaben, die eigentlich nicht meine wären.« Sie wühlte auf dem Schreibtisch und gab Ina einen Zettel mit allen Informationen zur neuen Show und einem groben Ablauf für den ersten Arbeitstag. »Schauen Sie sich das an, am Freitag geht es los, bis dahin sollten Sie alles wissen, was da draufsteht.«

»Ich werde Sie nicht enttäuschen«, Ina schüttelte nochmals ihre Hand, eilte dann aus dem Zimmer, rannte die Treppe hinunter und stieß mit einem Jubelschrei die Eingangstür auf.

»Vorsicht«, rief ein Mann lachend, mit dem sie fast zusammenstieß.

»Tut mir leid, aber heute ist der tollste Tag der Welt«, entgegnete Ina und lief weiter.

Der Mann blickte ihr schmunzelnd hinterher.

Sie konnte es kaum glauben. Sie blickte auf den Zettel in ihrer Hand, der der Beweis dafür war, dass sie das alles nicht geträumt hatte. »Deine Chance bei Frank mit Frank Laubitz« stand ganz oben auf dem Blatt.

Kapitel 4

Barbara

Kapitel 5

Ina

Oktober 1958

Sie war so aufgeregt, dass sie zu schwitzen und ihr Herz zu klopfen begann. Als sie an der Ernst-Merck-Halle ankam, musste sie daran denken, dass von hier aus schon Liveübertragungen stattgefunden hatten. Sie blickte sich um, die Halle war ein flacher Kastenbau, war im Krieg zerstört und dann für Veranstaltungen wiederaufgebaut worden. Die erste Großveranstaltung vor acht Jahren war ein Boxkampf vor 6000 Zuschauern gewesen. Der große Louis Armstrong hatte in dieser Halle gespielt, und morgen wurde von hier die neue Fernsehshow übertragen. Eine Show. Deren Teil sie war. Ina konnte es noch immer nicht fassen, als sie die Halle betrat. Am Eingang wurden ihre Daten abgefragt, und sie bekam einen kleinen Ausweis, der sie von nun an berechtigte, das Gebäude zu betreten. Darauf standen ihr Name und die Wörter Assistent und Ablauf. Stolz betrachtete sie das einfache Stück Papier, was für sie so viel mehr bedeutete, und begann zu lächeln.

Ina betrat die Konzerthalle mit den hohen Fenstern. Wenn man sich in dem großen, leeren und trostlosen Raum umschaute, konnte man sich kaum vorstellen, dass hier Konzerte stattfanden, geschweige denn eine Show. Das Einzige, was die Ruhe durchbrach, waren die vielen Menschen, die durcheinanderliefen. Man konnte sofort erkennen, wo die Bühne sein sollte, und die Bestuhlung für das Publikum war schon aufgestellt. Ein großer junger Mann, der auch Assistent und Einlass sowie Ralf auf seinem Schild stehen hatte, bemerkte sie und schaute auf ihren Ausweis. »Da rüber, wir haben nicht sehr viel Zeit. Der Laubitz kommt gleich, und bis dahin muss alles stehen.« Er schickte sie eine kleine Treppe hinauf, wo sie die Bühne vermutete.

»Danke, Ralf«, entgegnete Ina, extra freundlich. Das war nicht die netteste Begrüßung, aber heute war ihr das egal. Sie würde Frank Laubitz kennenlernen. Der Meister des Radios und Theaters. Nachdem sich ihre Eltern ein wenig beruhigt hatten und erfuhren, was und vor allem mit wem sie arbeiten würde, waren sie selbst aufgeregt und stolz. Vor allem ihre Mutter lief seit Tagen wie ein aufgescheuchtes Huhn um sie herum und stellte Fragen. Frank Laubitz war eine bekannte Persönlichkeit, das beeindruckte ihre Eltern sehr. Ina stieg die zwei Stufen zur Bühne hinauf. Als sie darauf stand, blickte sie auf die Bestuhlung vor sich. Dort würde bald echtes Publikum sitzen. Im Augenwinkel bemerkte sie eine Frau auf sich zukommen, die ihr bekannt vorkam. Diese linste auf ihren Ausweis.

»Hallo Ina, ich darf doch Ina sagen? Wir kennen uns aus dem Büro. Ich bin Beate Räschke, die Sekretärin von Herrn Schröder. Du kannst mich aber Beate nennen.« Beate redete so schnell, als hätte sie sich der Hektik im Raum angepasst.

Ina hätte sie fast nicht erkannt. Ihre kurzen Haare hatte sie heute mit einem Haarband gebändigt. Sie trug auch keine förmliche Bluse und hohe Schuhe, wie das letzte Mal im Vorzimmer, sondern eine bequeme, gestreifte Hose und flache Schuhe.

»Ja klar, wie könnte ich Sie vergessen. Dank Ihnen habe ich den Job überhaupt erst bekommen. Klar können Sie Ina sagen.«

»Schön, dann sag du bitte auch Beate und hör auf, mich zu siezen«, sagte sie lächelnd.

»Alles klar, Beate und vielen Dank noch mal«

Beate machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht dafür. Du willst bestimmt wissen, was jetzt passiert?!«

»Und ob. Ich bin so aufgeregt, aber ich verspreche, dass ich richtig anpacken werde«, sagte Ina.

»Schon gut, geht uns allen so. Wir haben leider nicht viel Zeit, deshalb alles im Schnelldurchlauf. Also ich zeige dir ganz kurz den Aufbau, damit du dich zurechtfindest. Wir stehen hier auf der Bühne, da unten wird dann das Publikum sitzen. Der Moderator kann hier die Treppe heruntergehen, wenn er mit dem Publikum arbeitet, der schmale Streifen dazwischen ist für die Kameras. Da musst du immer aufpassen, dass du denen nicht ins Bild läufst, wenn wir auf Sendung sind. Die Kameraleute haben einen genauen Ablaufplan. Jeder vor der Kamera muss genau darauf achten, wo er hinzusehen hat. Du siehst, am Boden sind immer Pfeile mit Kreide aufgemalt, und es gibt eine genaue Abfolge, wo und wann man zu welcher Kamera schauen muss, aber wenigstens sind die Kameras jetzt mobil und nicht mehr starr. Wenn du mich fragst, eine der besten Erfindungen fürs Fernsehen, neben der Beleuchtung natürlich«, erklärte sie.

Bevor Ina sich weiter umsehen konnte, redete Beate auch schon weiter auf sie ein und zog sie von einer Ecke in die nächste.

Ina hing an ihren Lippen und versuchte, sich alles zu merken. Sie hätte am liebsten mehr Zeit gehabt, sich umzusehen und Fragen zu stellen.

»Warum hast du eigentlich so für die Stelle gekämpft? Ich kann dir schon versichern, ein Traumjob ist das nicht«, sagte Beate.

»Für mich ist er das. Also für den Anfang. Seit ich denken kann, liebe ich das Radio und das Fernsehen.«

»Ja, tun wir das nicht alle?«, wiegelte Beate ab.

»Nein, so meine ich das nicht. Nicht vor der Kamera. Mich interessiert genau das hier.« Ina blickte um sich. »Die Arbeit hinter den Kulissen. Wusstest du, dass die in Amerika Farbfernsehen haben? Das wäre es. Fernsehen in Farbe«, schwärmte Ina.

»Das kann ich mir nicht vorstellen, dass wir das hier bekommen«, entgegnete Beate.

»Da magst du recht haben, die Deutschen sind noch zu verbohrt. Glauben, dass wir dann alle verblöden. Dabei kann man auch lernen vom Fernsehen. Viele unterschätzen, was das Fernsehen den Menschen bringt. Ablenkung und Freude vom harten Alltag. Die Amerikaner haben das längst erkannt. Da läuft das Fernsehen rund um die Uhr in Farbe, und fast alle haben ein Gerät. Und wusstest du, dass da in den Sendepausen Werbung läuft und kein Testbild, wie bei uns?«

»Du kennst dich sehr gut aus und scheinst hier genau am richtigen Ort zu sein«, bemerkte Beate.

»Ja, das glaube ich auch«, erwiderte Ina. »Wie bist du eigentlich zum Fernsehen gekommen?«

»Eher durch Zufall. Früher war ich wirklich nur für den Bürokram zuständig, aber als es mit dem Fernsehen losging, musste jeder alles machen. Ich habe sogar schon mal den Schnitt übernommen, als jemand ausgefallen ist. Das ist wirklich eine schwierige Aufgabe, die die Schnittmeister da unter Zeitdruck leisten müssen. Das ist nicht mein Ding. Diese Show hier ist wirklich was Großes und ist für jeden neu hier. Meine Aufgaben sind auch vielfältig. Du siehst ja«, sie hielt ihre Unterlagen hoch, »Mädchen für alles.«

»Könntest du bei deinem Wissen nicht auch andere Aufgaben übernehmen. Zum Beispiel Regie- oder Aufnahmeassistentin?«, hakte Ina nach.

Beate lachte. »Du bist noch frisch beim Fernsehen, das merkt man. Ich als Frau werde bestimmt keine tragende Rolle übernehmen dürfen, ganz egal, was ich kann«, bemerkte sie kopfschüttelnd. »Ich bin froh, wenn man mir zuhört, und es hatte ewig gedauert, bis ich neben dem Schreibkram auch mal etwas anderes machen durfte. Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, ob ich noch dichter da oben mitmischen möchte. Als Frau nehmen sie dich doch nie wirklich ernst. Ich schaue mir das Ganze lieber aus der zweiten Reihe an.«

»Was, aber das ist doch unfair! Deine Arbeit ist doch nicht weniger gut, nur weil du eine Frau bist«, sagte Ina entsetzt. Das ist un…«

»Ungerecht, aber pscht, nicht so laut. Ich habe mich damit abgefunden, und mir macht Spaß, was ich tue. Wenn du willst, dass sie tun, was du sagst, dann sag ihnen, was sie hören wollen. Aber lassen wir das, du wirst noch früh genug merken, dass wir Frauen hier nicht viel zu melden haben. Je früher du dich damit abfindest, desto weniger enttäuscht wirst du sein. Ich war auch mal so ambitioniert wie du. Glaub mir, das legt sich.« Damit war für Beate das Thema beendet. Sie hob die Schultern und ging weiter.

Obwohl Ina gern weiter über diese Ungerechtigkeit diskutiert hätte, merkte sie, dass jetzt weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt dafür war. Insgeheim hoffte sie, dass man nur hart genug arbeiten musste, um auch als Frau beim Fernsehen etwas erreichen zu können. Sie bewunderte Beate dafür, dass sie augenscheinlich alles gab, obwohl es sich vielleicht nie wirklich auszahlen würde. Für Ina war aber klar, dass sie alles probieren würde, um etwas zu erreichen. Für sie spielte die Tatsache, dass sie eine Frau war, keine Rolle, und das sollte es für Beate auch nicht.

Beate blieb stehen und drehte sich zu Ina. »Hier auf der Bühne wird links, vom Publikum aus gesehen, die Band aufgebaut. Was im Übrigen schon längst der Fall sein sollte. Warte kurz.«

Beate wandte sich ab und schien jemanden zu suchen. »Martin, hat jemand Martin gesehen?«, rief sie durch die Halle.

»Hier«, rief ein junger Mann.

»Wann fangt ihr endlich an, die Instrumente aufzubauen?«

»Wir sind dabei, mach dir keinen Kopf. Ich habe alles im Griff.«

Beate lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ina. »Also da, die Bühne. Das war eben Martin, der Aufnahmeleiter für die Show, der glaubt, er hätte alles im Griff, aber in Wirklichkeit wäre er ohne mich aufgeschmissen. Und das meine ich nicht überheblich. Wo waren wir, ah ja, hier ist der Ort des Geschehens. Im Grunde passiert alles auf diesem Podest. Für jeden Teil der Show wird die Bühne etwas anders gestaltet. Und dort ist der Ein- und Ausgang für die Gäste, um hinter oder auf die Bühne zu kommen.« Beate zeigte auf die Trennwand, die die Bühne einmal längs teilte, nahm Ina an die Hand und führte sie hinter die Bühne. Sie stiegen eine kleine Holztreppe hinab. »Das hier ist das Chaos, was die Leute nicht sehen.«

Ina fand, Chaos war noch untertrieben, hier lag auf engstem Raum alles durcheinander, Technik, Bühnenbaumaterialien, Klamotten.

»Hier haben wir genug Platz für unser ganzes Equipment.«

Ina war einerseits überfordert von dem, was sie sah und hörte, aber auch vollkommen fasziniert.

»Die Gäste und der Moderator gehen hier in der Mitte auf die Bühne«, erklärte Beate, auf die Holztreppe zeigend. »Kurz davor werden bei ihnen noch mal Make‑up und Frisur kontrolliert. Hier rechts und links gibt es ebenfalls Zugänge, die für uns bestimmt sind.« Beate breitete die Arme aus, wie eine Flugbegleiterin. »Die Koordinierung, wer wann was auf die Bühne bringt, muss gut abgestimmt und festgelegt sein. Es muss immer geschaut werden, welche Bühnen- und Dekorationsteile rechts oder links auf die Bühne gefahren werden. Das Publikum sollte dann möglichst auf der anderen Seite mit dem Programm abgelenkt sein. Hier ist der komplette Ablauf abgebildet, den solltest du dir auch anschauen, damit du Bescheid weißt.« Beate tippte mit dem Stift auf ihr Klemmbrett. »Das Gewusel ist hier hinten wirklich sehr groß, und deshalb sollte jeder wissen, was seine Aufgabe ist«, fügte sie noch hinzu.

»Das kann ich mir vorstellen. Was genau wird meine Aufgabe sein?«

»Ich denke, für die erste Show setzen wir dich für alles Mögliche ein. Verschaff dir am besten einen Überblick, und dann wird man sehen, welche Aufgabe du für die kommenden Shows haben wirst.«

Ina konnte sich nur schwer vorstellen, wie man sich hier zurechtfinden sollte.

»Jedenfalls wirst du hier die meiste Zeit arbeiten. Kostüme und Bühnenbilder wechseln, zum Beispiel. Das da ist der Horst, der kümmert sich um die Technik.« Sie zeigte auf einen glatzköpfigen Mann, der mit ein paar Kabeln hantierte. »Irgendwo ist hier noch Alexander, der macht das Licht.« Beate schaute sich suchend um. »Egal, du wirst noch früh genug alle kennenlernen.«

Ina hoffte nur noch, dass sie sich alle Gesichter und dazugehörigen Namen irgendwie merken konnte.

Plötzlich klatschte Martin, der Aufnahmeleiter, in die Hände. »Es geht los, Ruhe bitte.«

Beate rannte vor die Bühne, und Ina eilte ihr nach. Die Band, die sich mittlerweile aufgestellt hatte, begann zu spielen, und die Tanzgruppe erschien auf der Bühne. Rechts und links bildeten jeweils sechs Tänzer eine Gasse für den Moderator. Frank Laubitz erschien und sprach seinen Begrüßungstext in sein Mikrophon.

Ina stand da und konnte ihr Glück kaum fassen. Ihre Eltern würden staunen, wenn sie das jetzt sehen könnten. Viele Stunden hatte die Familie vor dem Radio verbracht und ihm zugehört. Jetzt sah sie ihn live und hatte das Gefühl, ihn zu kennen, ohne ihn je vorher gesehen zu haben. Er wirkte kleiner, als sie sich ihn vorgestellt hatte. Er trug eine beigefarbene Hose, ein dazugehöriges Jackett und eine Krawatte. Fasziniert schaute sie Laubitz bei der Arbeit zu, bis Beate sie am Arm zog und ihr sagte, sie müsse nun beim Bemalen der Hintergrundwände helfen.

»Das ist an Unprofessionalität nicht zu überbieten. Soll ich mir die Beine brechen? Ihr müsst doch darauf achten, dass ich nicht über mein Mikrophonkabel stolpere. Ist es denn zu viel verlangt, Herrschaftszeiten«, hörte Ina Frank Laubitz auf der Bühne toben, als sie Beate wieder hinter die Bühne folgte. War das der charismatische und nette Moderator aus dem Radio? Kaum zu glauben, dass dieser Mann, der gerade vor Wut rot angelaufen hinter die Bühne rannte und sämtliche Leute um sich herum beschimpfte, der gleiche war, den sie immer bewundert hat. Das würden ihr die Eltern nicht glauben.

»Geh ihm heute lieber aus dem Weg, seine Laune ist nicht die beste«, riet ihr Beate.

»Heißt das, er hat oft schlechte Laune?«

»Kann ich dir nicht sagen. Ich kenne ihn noch nicht lange, erst seit wir mit den Planungen für die Show begonnen haben. Aber wenn du mich fragst, hat er ein Problem, sich zu beherrschen.«

Ina blickte wieder zu ihm und sah, wie er mit erhobenem Zeigefinger vor den Leuten stand und ihnen Anweisungen gab.

»Ich muss jetzt was erledigen. Am besten, du fängst einfach an, das weiter auszumalen.« Beate drückte Ina eine Malerrolle in die Hand und zeigte auf die Wände, die sie bearbeiten sollte.

»Alles klar!« Ina war noch immer irritiert über den Ausbruch des Moderators, konnte sich aber vorstellen, dass er auch aufgeregt war und es daran lag. Während ihrer Ausbesserungsarbeiten an den Bühnenteilen versuchte sie, nichts vom Ablauf der Proben zu verpassen. Sie begriff schnell, wer was zu sagen hatte und dass die armen Assistentinnen, die später neben Frank Laubitz auf der Bühne sein würden, keine leichte Aufgabe hatten. Ständig wurde ihnen gesagt, steh hier, laufe da, vergiss nicht zu lächeln, und wenn Frank Laubitz etwas nicht passte, dann wurde wieder alles anders gemacht.

Den Ablauf der Show hatte sich Ina gut eingeprägt. Sie würde zwei Stunden dauern. Nach dem Eröffnungstitel, der Begrüßung und dem Geplänkel des Moderators mit dem Publikum würde der erste Kandidat aus dem Publikum ausgewählt werden, mit dem dann ein kleines Quiz absolviert wurde. Alle zwanzig Minuten sollte ein weiterer Kandidat aus dem Publikum gewählt werden. Der Fokus lag auf den Geschichten der Kandidaten, sie vorzustellen und selbst in Szene zu setzen. Die Idee war, dass sich der Zuschauer zu Hause mit den Kandidaten identifizieren konnte und sich wohlfühlte. Falls einer von ihnen zu ruhig war, musste der Moderator einspringen und das Gespräch am Leben halten. Der Sieger hatte am Ende die Möglichkeit, gegen den Moderator anzutreten und 100 Mark zu gewinnen. Für die Unterhaltung zwischen den Quizeinheiten gab es Tanz, Musik und Sketche. Heute für die Probe musste ein Kameramann einen Kandidaten spielen. Laubitz ging mit ihm die erste Fragerunde durch. In dieser Zeit waren Ina und die anderen Assistenten mit dem Bühnenaufbau für den Sketch in der anderen Ecke der Bühne beschäftigt. So ging das die ganze Zeit. Während Laubitz seine Quizrunden und Sketche spielte, war sie mit Auf- und Abbau beschäftigt. Da fast alles aus Pappe bestand, musste sie ziemlich oft Ausbesserungsarbeiten an der Dekoration vornehmen. An den rauen Ton und die Hektik würde sich Ina erst noch gewöhnen müssen. Ständig sollte alles schneller und besser gehen. Dabei gaben schon alle ihr Bestes, aber gerade Frank Laubitz trieb alle zu noch mehr Eile und Perfektion an.

Durch die vielen Wiederholungen war es 22 Uhr geworden, als Ina mit Beate nach den Proben auf die Straße trat. Sie liefen zusammen zur U‑Bahn. Zum Glück hatte sie nur noch eine halbe Stunde Fahrt vor sich. »Das war wirklich anstrengend heute, und ich habe Angst vor morgen«, bemerkte Ina erschöpft.

»Ach, mach dir keine Sorgen, es wird schon alles gut gehen. Glaube mir, früher waren die Liveübertragungen weitaus unprofessioneller. Obwohl ich zugeben muss, es macht schon einen Unterschied, wenn einem jetzt Hunderttausende zuschauen können. Vor ein paar Jahren hatten gerade einmal viertausend Deutsche einen Fernsehapparat, wusstest du das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, redete sie weiter. »Jetzt sind es mehr als eine Million. Als die Studios noch im Hochbunker auf dem Heiligengeistfeld waren, hatten wir nicht mal richtige Fenster. Alles war auf engstem Raum untergebracht, die Verwaltung, die Technik und die Programmleitung. Das Studio lag ganz oben, und der Paternoster funktionierte so gut wie nie. Wir hatten nur einen Studioraum, durch die Kameras wirkte der riesig, aber in Wirklichkeit war es so eng und heiß, dass es schon an Körperverletzung grenzte. Wir hatten für nichts Geld. Heute ist das alles sehr viel komfortabler, wenn ich so an die Anfänge zurückdenke.«

»Das ist so aufregend, auch wenn es ganz anders wirkt als das, was man dann am anderen Ende sieht. Diese Arbeit dahinter kann kein Zuschauer nachvollziehen«, bemerkte Ina.

»Du hast es erfasst, unsere Branche wird wirklich unterschätzt. So, nun muss ich da lang. Komm gut nach Hause. Morgen wird es noch mal richtig anstrengend.«

»Bis morgen, und danke für deine vielen Tipps.«