Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nun gibt es eine exklusive Sonderausgabe – Gaslicht – Neue Edition In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Ich hatte die Stelle erreicht, an der die natürlichen Felsstufen in die Bucht hinunterführten. Am Rand der Klippen blieb ich stehen. Weit und breit war nichts von Mike und Colum zu entdecken. Ich ließ meinen Blick über die Bucht schweifen und genoß den herrlichen Anblick. Die Möwen spielten in der Luft, es duftete nach Salz und Meer. Man konnte bereits langsam die Flut kommen sehen. Plötzlich hörte ich hinter mir Schritte. Ganz leise – beinahe schleichend. Kein Freund würde sich auf eine solche Weise nähern. Ich schnellte herum. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Und wieder einmal blickte ich in die schwarzen bösen Augen von James Gardiner! Mit den Briefen hat alles angefangen. Jetzt lagen sie in der Handtasche auf dem Beifahrersitz meines gelben Ford, der am Rande der abschüssigen West-Cork-Straße im Sonnenschein parkte. Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Ungefähr eine Meile vor meinem Ziel hatte ich plötzlich das starke Bedürfnis verspürt, anzuhalten und meine Gedanken zu ordnen. Ich mußte noch einmal darüber nachdenken, warum ich jetzt hier und nicht – wie gewöhnlich – in der Schule war, an der ich Geschichte unterrichtete. Erst gestern war ich von einem kurzen Osterurlaub zurückgekehrt und hatte die beiden Briefe vorgefunden. Mein Herz hatte bis zum Hals geklopft, als ich die Poststempel erkannt hatte: Kilcollery, County Cork.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 149
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ich hatte die Stelle erreicht, an der die natürlichen Felsstufen in die Bucht hinunterführten. Am Rand der Klippen blieb ich stehen. Weit und breit war nichts von Mike und Colum zu entdecken. Ich ließ meinen Blick über die Bucht schweifen und genoß den herrlichen Anblick. Die Möwen spielten in der Luft, es duftete nach Salz und Meer. Man konnte bereits langsam die Flut kommen sehen. Plötzlich hörte ich hinter mir Schritte. Ganz leise – beinahe schleichend. Kein Freund würde sich auf eine solche Weise nähern. Ich schnellte herum. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Und wieder einmal blickte ich in die schwarzen bösen Augen von James Gardiner!
Mit den Briefen hat alles angefangen. Jetzt lagen sie in der Handtasche auf dem Beifahrersitz meines gelben Ford, der am Rande der abschüssigen West-Cork-Straße im Sonnenschein parkte. Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Ungefähr eine Meile vor meinem Ziel hatte ich plötzlich das starke Bedürfnis verspürt, anzuhalten und meine Gedanken zu ordnen. Ich mußte noch einmal darüber nachdenken, warum ich jetzt hier und nicht – wie gewöhnlich – in der Schule war, an der ich Geschichte unterrichtete.
Erst gestern war ich von einem kurzen Osterurlaub zurückgekehrt und hatte die beiden Briefe vorgefunden. Mein Herz hatte bis zum Hals geklopft, als ich die Poststempel erkannt hatte: Kilcollery, County Cork. Der Heimatort meiner irischen Großmutter, Elisabeth Wentworth.
Ungeduldig hatte ich die beiden Briefumschläge geöffnet und zu lesen begonnen. Fred Moone, der Anwalt meiner Großmutter, informierte mich ohne große Einleitung, daß er ein großzügiges Angebot für Mainstay erhalten hatte, und bat mich, als Erbin meiner Großmutter dieses Angebot zu prüfen. Mainstay war der Wohnsitz meiner Großmutter, ein wunderschönes, großes, altes Haus, in dem meine Familie seit fünf Generationen zu Hause war. Aber Fred gab mir keine Erklärung, warum er diesen Brief an mich gerichtet hatte. Schließlich war anzunehmen, daß meine Großmutter noch einige Jahre leben würde und durchaus in der Lage war, sich um ihren Besitz selbst zu kümmern.
Doch dann merkte ich, daß ich versehentlich den zweiten der beiden Briefe zuerst gelesen hatte. Mechanisch griff ich nach dem anderen Schreiben, das einige Tage vor Ostern aufgegeben worden war. Mit ungläubigen Augen begann ich zu lesen:
Liebe Joanna, es tut mir leid, Dir mitteilen zu müssen, daß Deine Großmutter am Donnerstag vor Ostern bei einem Spaziergang auf den Klippen ausgerutscht und die Felsen hinuntergefallen ist. Unglücklicherweise herrschte zu dieser Zeit hohe Flut und sie wurde aufs Meer hinausgetrieben. Ihr Leichnam wurde drei Tage später gefunden. Es mag ein kleiner Trost für Dich sein, daß der Doktor sicher ist, daß der Aufprall Deine Großmutter augenblicklich getötet hat.
Ich habe einige Male versucht, Dich zu erreichen, erfuhr dann jedoch von der Schuldirektion, daß Du in Urlaub bist. Dadurch war ich bedauerlicherweise gezwungen, die Bestattung durchführen zu lassen.
Es folgten noch die üblichen Beileidsworte, und ich erkannte die vertraute Unterschrift von Fred. Während der letzten Jahre hatte ich diese Unterschrift – und auch die seiner Schwester Nita – von Zeit zu Zeit unter den Briefen gelesen, in denen sie mir mitteilten, daß »in Mainstay alles noch beim alten war« oder daß meine Großmutter »sich guter Gesundheit erfreute und unverändert« sei.
Ich hatte stets gewußt, was diese Worte bedeuteten. Großmutter und ich hatten seit fast fünf Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt.
Und nun war sie tot. Völlig benommen ließ ich mich in einen Sessel fallen.
Es vergingen einige Minuten, bevor ich schließlich noch einmal den zweiten Brief in die Hand nahm und ihn diesmal von Anfang bis Ende las.
Fred erwähnte meine Großmutter überhaupt nicht mehr, sondern teilte mir gleich die Einzelheiten mit über ein – wie er es nannte – außergewöhnlich großzügiges Angebot für Mainstay, das er erhalten hatte. Ich konnte mich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, daß ihm sehr viel daran lag, mich zu überzeugen. Er schrieb:
Der Interessent bietet sofortige Barzahlung. Die beiden Angestellten, Peggy und Joe, erhalten eine jährliche Lebensrente. Die gesamte Einrichtung des Hauses – die beiden Zimmer der Dienstboten ausgenommen – gehören Dir. Mein Klient würde Dir für den Hausrat gerne ein separates Angebot unterbreiten, wobei es Dir natürlich freisteht, alles das zu behalten, wovon Du Dich nicht trennen möchtest. Mein Klient wird die Kosten für den Transport übernehmen.
Hmmm, dachte ich, wirklich ein außergewöhnliches Angebot. Und als hätte er meine Reaktion vorausgeahnt, fuhr Fred fort:
Da mein Klient sein eigenes Haus bereits verkauft hat, liegt ihm verständlicherweise viel an einem schnellen Abschluß. Daher ist auch sein Angebot mehr als großzügig und sehr ungewöhnlich.
Ich brauche doch wohl nicht zu betonen, liebe Joanna, daß bei einem derartigen Angebot sofortiges Handeln geboten ist. Daher habe ich alle notwendigen Papiere vorbereitet und sie diesem Schreiben beigefügt.
Selbstverständlich kannst Du Dich voll auf Nita und mich verlassen. Wir werden alles zu Deiner vollsten Zufriedenheit erledigen, als wärst Du selbst anwesend, ohne jedoch die Strapazen einer solchen Reise auf Dich nehmen zu müssen. Sobald ich von Dir die unterzeichneten Papiere zurückerhalten habe, werde ich alles Nötige in die Wege leiten. Du kannst diese Angelegenheit beruhigt mir überlassen. Es ist völlig unnötig, daß Du Dich selbst bemühst.
Ich lehnte mich zurück und dachte eine ganze Weile nach. Dann machte ich mich auf den Weg zu Miß Ainsworth, der Direktorin unserer Schule, und bat um sofortigen Urlaub. Miß Ainsworth war sehr betroffen über den Tod meiner Großmutter und fand es selbstverständlich, daß ich sofort nach Kilcollery fahren wollte.
Allerdings hatte ich ihr gegenüber nichts von meinen beunruhigenden Vorahnungen erzählt, daß irgend etwas nicht stimmte. Was mich an Freds Briefen störte, waren die ständigen Betonungen, daß der Verkauf schnell vonstatten gehen sollte und daß ich auf keinen Fall in Kilcollery benötigt wurde. Was hatte Fred vor?
Und dann fielen mir wieder die Umstände ein, unter denen meine Großmutter gestorben sein sollte. Merkwürdige Umstände… Sie war eine alte Frau und nicht sehr unternehmungslustig gewesen. Und sie kannte jeden Zentimeter ihrer Umgebung. Warum ist sie an diesem Abend die Klippen hinuntergefallen? Wie hatte das passieren können?
Wieder zu Hause, kam mir ein Gedanke und ich griff zum Telefon. Es dauerte eine Weile, bis ich mit der richtigen Person verbunden wurde.
Nachdem meine Frage beantwortet worden war, legte ich nachdenklich den Hörer wieder auf. Die Auskunft gefiel mir überhaupt nicht.
Voll innerer Unruhe holte ich meinen Koffer hervor und begann, für die Reise nach Mainstay zu packen.
Meine Erinnerungen an Mainstay waren düsterer Art. Während der jährlichen Sommerferien, die ich mit den Eltern dort verbrachte, gab es zahllose Auseinandersetzungen zwischen meinem Vater und meiner Großmutter. Nie hatte sie ihm verziehen, eine Engländerin geheiratet zu haben. Und nie hatte sie aufgehört, ihn zu drängen, nach Mainstay zurückzukommen. Sie beschuldigte meine Mutter, ihn aus seinem Vaterhaus fernzuhalten.
Nach einer solchen Auseinandersetzung verließen meine Eltern das Haus, um mit dem Boot zum Angeln hinauszufahren. In kurzer Zeit kam plötzlich ein starker Sturm auf. Wir eilten alle hinaus, um den beiden zu Hilfe zu kommen, konnten aber nur hilflos zusehen, wie sie vor unseren Augen ertranken.
Die Schwester meiner Mutter kam sofort aus London und nahm mich gegen den Willen meiner Großmutter mit. Jahrelang danach gab ich meiner Großmutter die Schuld am Tod meiner Eltern. Wären sie nicht so erregt gewesen, hätten sie den Sturm vielleicht rechtzeitig bemerkt und sich retten können. Fünf Jahre vergingen, bevor ich mich endlich doch entschloß, meine Großmutter zu besuchen. Mein Zorn hatte sich im Laufe der Zeit gelegt, und ich begann so etwas wie Mitleid für meine Großmutter zu empfinden, die einsam und allein in ihrem riesigen Haus lebte.
Doch der Besuch entwickelte sich zu einer Katastrophe. Starrköpfig und unbeugsam verlangte sie von mir, mein Haus in London, das ich von meiner Mutter geerbt hatte, zu verkaufen und bei ihr in Mainstay zu wohnen. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung, und ich fuhr nach London zurück. Von diesem Augenblick hatte ich nur noch zeitweiligen Brief kontakt mit Fred und Nita, die mir versprochen hatten, sich ein wenig um Großmutter zu kümmern.
Damals sah ich Kilcollery zum letztenmal. Bis heute… Es wurde langsam warm im Auto und ich stieg aus. Ein wenig frische Luft würde mir guttun. Ich kletterte die Felsen einige Meter hinauf und setzte mich dort an eine sonnige Stelle. So kurz vor meinem Ziel mußte ich noch einmal über die Gründe nachdenken, aus denen ich diese Reise unternommen hatte.
Es gab zwei Fragen zu beantworten. Warum hatte Fred Moone es mit dem Verkauf von Mainstay so eilig? Die zweite Frage war sehr viel schwieriger zu beantworten. Warum war meine Großmutter an jenem Abend auf die gefährlichen Klippen gegangen?
Irgend etwas stimmte da nicht. Außerdem hatte man mir beim Wetteramt am Cork Airport mitgeteilt, daß an jenem Donnerstagabend an der gesamten Südwestküste Irlands starker Sturm in Verbindung mit Wolkenbrüchen geherrscht hatte. Und Großmutter hatte Stürme gehaßt, so lange ich zurückdenken konnte.
Obwohl Fred Moone der Anwalt meiner Großmutter war, traute ich ihm nicht, seit er kurz vor meiner letzten Abreise versucht hatte, mich zu verführen, obwohl ich mit seiner Frau befreundet war. Wollte er sich jetzt etwa unrechtmäßig bereichern? Zahlreiche Wertgegenstände lagen und standen in Mainstay herum. Aber nein, Peggy würde bestimmt ein Auge darauf haben. Verwirrt über meine eigenen Gedanken schüttelte ich den Kopf.
Es war an der Zeit aufzubrechen und die letzte Meile zu bewältigen. Ich hängte mir gerade die Tasche über meine Schulter, als eine dunkle, angenehme, irische Stimme hinter mir erklang.
Schnell drehte ich mich um und sah einen großen, schlanken jungen Mann näher kommen. Er war vielleicht Mitte Zwanzig und lachte mir zu. Um den Hals trug er mehrere Kameras und einen Belichtungsmesser. Geschmeidig kletterte er die Felsen hinunter und hob zur Begrüßung die Hand, als er kurz vor mir stehenblieb.
»Was macht denn eine so hübsche Frau wie Sie in einer solchen Gegend?«
*
Ich mußte lachen über die Art und Weise, wie er das fragte. Neugierig sah er mich an. »Ist das Ihr Auto?« fragte er und deutete mit dem Kopf zur Straße hinunter. »Sie haben doch hoffentlich keine Panne?«
»Mein Auto ist völlig in Ordnung. Aber vielen Dank für die Nachfrage.«
»Ah, Sie sind Engländerin.« Er selbst hatte einen irischen Akzent. Offensichtlich kam er aus der Gegend von Dublin. »Eigentlich ist es ja noch ein bißchen früh für Sommergäste«, fuhr er unbeirrt fort.
Und wieder mußte ich lachen. Er hatte eine sehr versteckte Art, mich auszufragen. Doch komischerweise machte es mir nichts aus, ihm die gewünschte Antwort zu geben. »Leider ist dies für mich kein Urlaub«, erwiderte ich. »Ich bin in einer Familienangelegenheit hier.«
Seine Antwort überraschte mich. »Engländerin und wegen einer Familienangelegenheit hier? Dann müssen Sie Miß Wentworth sein, die Enkeltochter der armen, alten Frau aus dem Haus auf den Klippen.« Als er meine überraschte Zustimmung sah, wurde sein Ton ernst. »Es tut mir leid. Sicher war es ein großer Schock für Sie, Ihre Großmutter auf so tragische Weise verloren zu haben.«
»Ja«, erwiderte ich. »Es war ein Schock in mancher Beziehung.« Erschrocken biß ich mir auf die Lippen. Das hatte ich eigentlich nicht sagen wollen.
Doch er sprach unbefangen weiter: »Sie sind also heute erst von England angekommen? Hoffentlich hat die lange Fahrt von Cork Sie nicht allzusehr angestrengt.«
»Danke, es geht mir sehr gut«, erwiderte ich. »Aber woher wissen Sie, daß ich von Cork aus gefahren bin?«
»Das ist ganz einfach. Ihr Wagen hat ein irisches Nummernschild. Also ist anzunehmen, daß Sie sich am Flughafen von Cork einen Wagen gemietet haben.«
»Wenn alle Ihre Landsleute so aufmerksame Beobachter sind, wird es mir sicher schwerfallen, in der Menge unterzutauchen.««
»Einer Frau wie Ihnen wird das immer schwerfallen«, erwiderte er charmant. »Obwohl natürlich nicht alle Iren so neugierig sind wie ich. Außerdem wohne ich zur Zeit bei Dr. O’Brien in Kilcollery. Seit diesem Unfall habe ich einiges über Ihre Familie erfahren. Die Leute hier scheinen sich zu wundern, daß Sie nicht bereits eher gekommen sind.«
Ich mußte seine Art, Informationen aus mir herauszuholen, wirklich bewundern. »Ich war bis gestern in Schottland«, erzählte ich ihm. »Sozusagen unabkömmlich.« Nur mit Mühe konnte ich der Versuchung widerstehen, diesem sympathischen, jungen Mann von all meinen Befürchtungen und Vermutungen zu erzählen. Statt dessen jedoch fragte ich: »Wie geht es dem Doktor? Wir sind nämlich alte Freunde, müssen Sie wissen.«
»Dem Doktor geht’s ganz gut«, erwiderte er, schien mit den Gedanken jedoch völlig abwesend zu sein. Plötzlich fragte er: »Haben Sie Hunger? Kommen Sie, ich habe eine ganze Menge zu essen eingepackt und dies scheint mir ein vorzüglicher Platz für ein kleines Picknick zu sein.« Er hatte schon damit begonnen, seine Tasche auszupacken. Es kamen förmlich Berge von köstlichen Sandwiches zutage. Plötzlich hielt er inne, sah mich lächelnd an und streckte mir seine braungebrannte Hand entgegen.
»Mir fällt gerade ein, daß Sie als Engländerin ja besonderen Wert auf Formen legen. Und ich habe mich Ihnen noch nicht einmal vorgestellt«, sagte er mit einem neckenden Unterton. »Ich heiße Colum McCarthy. Ich bin mit Dr. O’Briens Sohn Kevin im College gewesen. Und jetzt hat man mich mit einem Auftrag hierher geschickt. Ich bin Fotograf.« Völlig unnötig zeigte er mit dem Daumen auf seine Ausrüstung. »Bitte, nennen Sie mich Colum«, bat er.
Ich reichte ihm meine Hand. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Colum«, erwiderte ich mit einer leichten Verbeugung und setzte mich dann auf einen Felsvorsprung. »Mein Name ist Joanna.« Das kleine Spiel machte mir Spaß.
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander in der Sonne und tranken Ginger Ale und ließen uns die Sandwiches schmecken. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wo ich seinen Namen schon einmal gehört hatte. Aber es wollte mir nicht einfallen. Zu viele Dinge und Fragen schwirrten mir im Kopf umher. Freds Briefe und der plötzliche, unerklärliche Tod meiner Großmutter…
»Es kommt sicher alles wieder in Ordnung«, sagte Colum mit leiser Stimme.
Erschrocken sah ich ihn an. Wie konnte er wissen, woran ich gedacht hatte?
»Sie sagten vorhin, daß der Tod Ihrer Großmutter in mehrerer Beziehung ein Schock für Sie war«, erinnerte er mich. »Diesmal bin ich nicht einfach neugierig. Aber würde es Ihnen vielleicht helfen, darüber zu sprechen?« Er, sah mich mit ehrlichen Augen an.
Einen Augenblick lang zögerte ich. Dann begann ich langsam zu erzählen. Ich sprach von den beiden Briefen, die ich von Fred erhalten hatte. Von meinen Zweifeln und Befürchtungen, die mir jedoch, während ich sprach, plötzlich alle sehr vage erschienen. Dann wartete ich schweigend darauf, daß Colum mir etwas Beruhigendes sagen würde. Schließlich kannte Colum die Moones, den Ort, das Haus – ja, vielleicht kannte er sogar meine Großmutter. Aber er saß eine Weile schweigend und nachdenklich neben mir. Als er schließlich zu sprechen begann, überraschten mich seine Worte sehr.
»Sie waren also seit fast fünf Jahren nicht mehr hier«, sagte er langsam und sah mich prüfend an. »Und während der ganzen Zeit hatten Sie keinerlei Kontakt zu Mainstay?«
Verwundert über diese Frage sah auch ich ihn an. Schließlich erwiderte ich: »Es gab nur die kurzen Briefe von Nita und Fred, von denen ich Ihnen ja erzählt habe. Großmutter hat meine Briefe niemals beantwortet, und ein Telefon gab es auf Mainstay nicht.« Erstaunt bemerkte ich, wie Colum beinahe erleichtert ausatmete. Ja, ich sah auch, wie seine Muskeln sich entspannten. Aber warum war diese Frage so wichtig für ihn? Mir schien, als hätte ich soeben eine Prüfung bestanden. »Ich irre mich also nicht. Irgend etwas stimmt bei der ganzen Sache nicht?« fragte ich schnell.
Doch Colum zuckte nur mit den Schultern. »Schon möglich. Aber Ihre Bedenken sind doch sehr vage, nicht wahr«, erwiderte er. »Haben Sie schon mit jemandem darüber gesprochen? Mit der Polizei vielleicht?«
»Dazu hatte ich bisher gar keine Gelegenheit. Und was hätte ich denen erzählen sollen? Vergessen Sie nicht, daß ich hier eine Fremde bin. Fred und Nita sind angesehene Bürger und haben kein Motiv. Ich kann mir auch eigentlich gar nicht vorstellen, daß sie mich betrügen würden.«
Wieder saßen wir beide eine Zeitlang nachdenklich da. Ich mußte einen Weg finden, die Antworten auf meine Fragen zu bekommen.
Colums Stimme unterbrach schließlich meine Gedanken. »Machen Sie sich keine Sorgen, Joanna«, sagte er beruhigend. »Es wird sich sicher alles von selbst aufklären. Und sollten Sie Hilfe brauchen, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, und der Doktor auch. Sie sind nicht allein.«
Plötzlich fiel mir auf, daß Colum während der ganzen Geschichte, die ich ihm erzählt hatte, nur ganz allgemein gehaltene Beruhigungen ausgesprochen hatte. Und doch fühlte ich mich bereits ein wenig stärker und hatte meine Unruhe verloren.
»Hmmm, ein köstlicher Obstkuchen«, sagte Colum. »Diese Haushälterin von O’Brien ist wirklich ein Genie.«
»Die O’Briens haben eine Haushälterin?« fragte ich erstaunt. »Ist Mrs. O’Brien denn krank?«
»Sie ist vor ungefähr einem Jahr gestorben. Es hat den Doc damals schwer getroffen.« Colum warf mir einen scharfen Blick zu. »Sie sind ja wirklich überhaupt nicht informiert. Ich nehme an, Sie wissen auch nicht, daß Nita zu Ihrer Großmutter gezogen ist, um ihr ein wenig behilflich zu sein.«
Überrascht sah ich ihn an. »Nach Mainstay? Nein, sie hat mir nie etwas davon erzählt. Aber warum? Großmutter hatte doch Peggy und Joe…« Ich war völlig verwirrt über diese Neuigkeit.
»Hmm. Merkwürdig. Soviel ich gehört habe, war Ihre Großmutter ziemlich krank.« Colum beobachtete mich aufmerksam. »Haben Sie das denn auch nicht gewußt? Und daß sie niemanden mehr sehen wollte. Sie hatte sich völlig zurückgezogen und das Haus kaum noch verlassen. Oder war sie schon immer so?«
Sein durchdringender Blick verunsicherte mich. »Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Sicher, sie war schon recht alt, aber – ach, ich weiß es nicht…« Tausend Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Colum schien weitaus mehr über Mainstay zu wissen als ich, und gleichzeitig war er etwas befremdet über meine Reaktionen. Ich fragte mich, warum die Moones mir niemals etwas über all diese Vorgänge geschrieben hatten. Doch ich hatte auch nie nach meiner Großmutter gefragt, so daß sie vielleicht den Eindruck gewinnen mußten, ich sei nicht daran interessiert.