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Anne Stern

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Beschreibung

Die Stärke der Frauen Lichterfelde, 1892: Zusammen mit ihrer Familie ist die junge Auguste in die neu gegründete Villenkolonie im Süden Berlins gezogen. Dort soll sie eine höhere Mädchenschule besuchen und auf ihre gesellschaftliche Rolle als Ehefrau vorbereitet werden. In der Unternehmertochter Lotte findet sie eine Seelenverwandte. Die neue Freundin ist ein Freigeist und sehnt sich danach, aus dem Korsett der wilhelminischen Gesellschaft auszubrechen. Aber eine Frau, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen will, gilt schnell als Rebellin. Als Auguste verlobt werden soll, ahnt sie nicht, welch dramatische Wendung ihr Leben in diesem Jahr nehmen wird … Ein bewegendes Frauenschicksal aus der Kaiserzeit – Auftakt zu einer mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern.

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Anne Stern

Die Frauen vom Karlsplatz: Auguste

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Die Stärke der Frauen

 

Lichterfelde, 1892: Zusammen mit ihrer Familie ist die junge Auguste in die neu gegründete Villenkolonie im Süden Berlins gezogen. Dort soll sie eine höhere Mädchenschule besuchen und auf ihre gesellschaftliche Rolle als Ehefrau vorbereitet werden. In der Unternehmertochter Lotte findet sie eine Seelenverwandte. Die neue Freundin ist ein Freigeist und sehnt sich danach, aus dem Korsett der wilhelminischen Gesellschaft auszubrechen. Aber eine Frau, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen will, gilt schnell als Rebellin. Als Auguste verlobt werden soll, ahnt sie nicht, welch dramatische Wendung ihr Leben in diesem Jahr nehmen wird …

Ein bewegendes Frauenschicksal aus der Kaiserzeit – Auftakt zu einer mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern.

 

Die Presse über «Fräulein Gold»:

 

«Tolle Frau plus Krimi plus Zeitgeist der Zwanziger – das ergibt einen spannenden Mix. Wer Volker Kutscher und ‹Babylon Berlin› liebt, mag diesen Roman ganz sicher auch.» Freundin

 

«Fesselnd und mit viel politischem Hintergrund und Berliner Lokalkolorit.» Saarländischer Rundfunk

 

«Atmosphärisch dichter Krimi mit selbstbewusster Hauptfigur. Starker Auftakt der Saga.» Hörzu

 

«Spannende Unterhaltung und bestens recherchierte historische Atmosphäre. Sehr lesenswert.» Ruhr Nachrichten

Vita

Anne Stern wurde in Berlin geboren, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik promovierte sie in deutscher Literaturwissenschaft und arbeitete als Lehrerin und in der Lehrerbildung. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller. In einer überarbeiteten Neuauflage erscheinen nun die vier Bände ihrer erfolgreichen «Karlsplatz»-Reihe, die das Schicksal von vier Generationen einer Berliner Familie erzählen.

Und so ging es denn im Fluge den beiden anderen Schlitten nach, immer dicht an dem Wasserlaufe hin, an dessen anderem Ufer dunkle Waldmassen aufragten. (…) Effi schrak zusammen. Bis dahin waren Luft und Licht um sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei, und die dunklen Kronen wölbten sich über ihr. Ein Zittern überkam sie, und sie schob die Finger fest ineinander, um sich einen Halt zu geben.

Theodor Fontane: Effi Briest, 1895

Prolog

Winter 1899

Das Haus am Karlsplatz seufzte im kalten Abendwind. Bei jedem Windstoß knackten und ächzten die Holzdielen wie alte Knochen. Die Fensterläden waren geschlossen, als hielte die Villa die Lider gesenkt und schliefe. Doch an einem Fenster hing das Holz lose in der Angel und schaukelte sanft hin und her. Es sah aus, als blinzelte das Haus, um heimlich in den Garten hinauszuschauen, wo eine dichte Schneedecke die Erde und die Büsche an der Mauer bedeckte. Der kahle Apfelbaum zitterte im Wind, ein Nachtvogel flog über die schmiedeeiserne Pforte und krächzte. Drinnen herrschte Dunkelheit. Nur ein einzelnes Fenster, oben im Erker, war erleuchtet.

 

Eine Frau saß am Nähtisch. Mit sicherer Hand führte sie die Nadel durch den weichen Stoff. Schon immer hatte sie die Gleichmäßigkeit dieser Tätigkeit geliebt, das Auf und Ab des Fadens, das sichtbare Werden der Handarbeit. Auch jetzt fand sie Trost darin. Die Baumwolle schmiegte sich in ihre Handfläche. So lange hatte sie niemanden berührt. Die Gedanken an früher lasteten auf ihr. Schwer wogen Bitterkeit und Schuld.

Vor dem Erkerfenster fielen weiße Flocken, es schneite seit Tagen. Kein Kinderlachen tönte von unten zu ihr herauf, kein Körper hatte einen Abdruck, einen Engel, auf der makellosen Schneedecke hinterlassen. Der Garten lag starr da, eingefroren wie die Frau in die Endlosigkeit des Winters, des Lebens, das vor ihr lag und doch schon vorbei war.

Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Sie durfte nicht zurückblicken, die Vergangenheit war wie eine Schlingpflanze, die sie festhielt und würgte.

Rasch beugte sie sich wieder über ihre Näharbeit. Sie hielt den Stoff mit beiden Händen hoch. Es war ein weißes Kinderkleid, mit einem Spitzenkragen und einem raschelnden Unterrock. Stich für Stich hatte die Frau mit blauem Seidengarn einen Buchstaben in den Saum gestickt. Wieder, ein letztes Mal, stach sie zu und führte den Faden sicher und leicht. Dann betrachtete sie ihr Werk im Licht der Glühlampe. Auf dem hellen Stoff schimmerte ein leuchtend blaues, geschwungenes H.

1.

Juli 1892

Die Fischbeinstäbchen des Korsetts drückten Auguste in die Rippen, als sie sich nach dem Ball bückte, der ins Gras gefallen war. Sie richtete sich schnell wieder auf und atmete vorsichtig ein. Sacht strich sie mit den Händen über ihren flachen Bauch. Kein anderes Mädchen habe eine solch schmale Taille wie ihre schöne Tochter, hatte ihre Mutter heute Morgen beim Frühstück gesagt und anerkennend genickt. Auguste war bei dem Stolz in den Augen ihrer Mutter warm geworden. Und doch – wenn man nur Luft bekäme, dachte sie und schwenkte den grünen Seidenrock gedankenverloren hin und her. Weit fiel der glänzende Stoff über ihre Füße und schleifte über den Rasen.

Ihr Blick wanderte zum Haus hinüber. Orangerote Backsteine, verzierte Giebel, spitze Erkerfensterchen und eine weitläufige Terrasse. Es war eine schöne Villa, erst im letzten Jahr erbaut. Nur der Garten war noch nicht fertig angelegt und wirkte trostlos.

Sie wohnten erst seit einigen Wochen hier am Karlsplatz. Im Nimmerland, hatte Augustes neunjähriger Bruder Georg wütend gesagt, als ihre Eltern ihnen den Entschluss mitgeteilt hatten, aus der großen Wohnung in Charlottenburg nach Groß-Lichterfelde zu ziehen. Die Stadt Charlottenburg war neben Berlin eine der größten Gemeinden in Brandenburg und dementsprechend überfüllt. Die Schulklassen platzten wegen der vielen Zuzügler aus allen Nähten. Die Menschen traten sich auf der Straße gegenseitig auf die Füße. Und dann hatte ihr Vater, ein preußischer Offizier, das Angebot erhalten, in die neu gegründete Villenkolonie des Dörfchens und ehemaligen Ritterguts Lichterfelde zu ziehen.

Anders als sein Sohn war Heinrich Baumgarten begeistert. «Von wegen Nimmerland», hatte er gerufen und Georg spielerisch mit dem Finger gedroht, «dort ist die weltberühmte Kadettenanstalt, in der ich ausgebildet wurde. Wer ein echter Lichterfelder ist, vor dem zittern die Heere der Welt. Wir sind Elitesoldaten. Und du wirst auch bald in der Zehlendorfer Straße Kadett und später Offizier. Wir Baumgarten-Männer, wir sind aus dem richtigen Holz geschnitzt, um dem Kaiser zu dienen.»

Georg hatte weiter vor sich hin gegrummelt, aber sich nicht getraut, dem Vater zu widersprechen. Das schmale Knabenkörperchen ihres Bruders in einer Uniform und mit einem Gewehr konnte Auguste sich nicht vorstellen. Ihr kleiner Bruder, der Angst vor Spinnen hatte und oft kränklich war, ein Elitesoldat des Kaisers? Sie bezweifelte das, und ihr wurde weh ums Herz. Immer wollte sie Georg beschützen. Doch irgendwann würde das nicht mehr möglich sein.

Der Vater hatte weiter von ihrem neuen Zuhause geschwärmt. Sogar eine Straßenbahn fahre dort, berichtete er. «Werner von Siemens hat sie bauen lassen, seine elektrische Eisenbahn, die zum Bahnhof Groß-Lichterfelde fährt. Und seit einem Jahr kann man von dort sogar mit der Preußischen Eisenbahn bis nach Magdeburg fahren. Stellt euch vor, wenn man die Waggons mit nassen Fingerspitzen berührt, bekommt man einen elektrischen Schlag, sagen die Leute.»

Das beeindruckte Georg. Er hatte zwar nichts für das Militär übrig, begeisterte sich aber wie alle Knaben für Eisenbahnen. Auguste war weniger interessiert gewesen. Warum sollte sie nach Magdeburg fahren, wenn Berlin zum Greifen nah war? In Berlin gab es das Schloss, die Oper und den Kaiser. Die Pracht lag dort ausgebreitet vor den Augen der Besucher wie süßer Kuchen in einer Vitrine, die Lichter flammten am Abend in den Laternen auf und ließen die Schatten wie die Puppen im Theater tanzen.

Sie hatte den Kaiser schon einmal gesehen, bei einem Ausflug nach Berlin vor wenigen Jahren. Die Familie hatte am Straßenrand der großen Allee Unter den Linden gestanden und der Parade zugesehen, der Vater war mitgeritten und hatte in der Uniform mit dem langen Rock und dem Rosshaarbusch, der leuchtend rot über die silberne Pickelhaube fiel, stattlich ausgesehen.

Doch gegen den Kaiser wirkte er blass. Der ritt auf einem stolzen Rappen vorüber, an der Brust schwere Orden und Ehrenbänder und im Gesicht den weithin sichtbaren Schnauzbart, für den er in der ganzen Welt bekannt war, wie ihre Mutter ihr zugeflüstert hatte. Alle jubelten dem jungen Herrscher zu. Kaiser Wilhelm II. war seit kurzer Zeit Regent, nachdem im Dreikaiserjahr 1888 erst sein Großvater und danach sein Vater gestorben waren und der damals Neunundzwanzigjährige den Thron geerbt hatte.

Die Kaiserin folgte in einer offenen Kutsche durch die Allee, Auguste erhaschte nur einen kurzen Blick auf die silberne Robe und das rotbraune Haar, das kunstvoll hochgesteckt und mit Perlen geschmückt war. Sie bildete sich etwas darauf ein, dass sie den gleichen Namen trug wie diese mächtige Frau. Auguste Viktoria. Das war Zufall, denn am Tag ihrer eigenen Geburt war der Kaiser noch unverheiratet gewesen. Erst fünf Jahre später vermählte er sich mit der Großnichte der englischen Königin, Queen Victoria, deren Enkel er war. Trotzdem hatte Auguste immer das Gefühl, dass sie etwas Besonderes war, weil sie den Namen der Kaiserin trug.

Sie hatte diesen Tag sehr genossen. Die Sonne schien auf die Menschenmenge, die Leute schwenkten bunte Fähnchen und jubelten im Chor, Fanfaren ertönten und die kaiserliche Kapelle spielte Musik, die einem in die Beine fuhr. Welch Glanz und Herrlichkeit in dieser großen Stadt, in der das Leben nur so durch die weiten Alleen und teuren Einkaufsstraßen rauschte.

In Lichterfelde dagegen … Auguste seufzte und kehrte aus den Träumereien zurück in die Gegenwart, den kleinen Ball in der Hand. Hier stand die Zeit still. Die Villenkolonie wuchs langsam, und es gab nur wenige andere Kinder. Oder junge Frauen, korrigierte sich Auguste im Stillen, denn sie war kein Kind mehr. Allzu bald würde sie heiratsfähig sein und einen eigenen Haushalt gründen. Ihre Eltern hatten bereits die Fühler im Bekanntenkreis ausgestreckt und suchten nach geeigneten Kandidaten. Ihr erschien das alles unwirklich und ein wenig albern. Was sollte sie mit einem Ehemann, die sie doch am liebsten mit ihrem kleinen Bruder die Zeit vertrödelte, oben im Turmzimmer saß und zeichnete oder ihre geliebten Bücher verschlang? Doch es stand ihr nicht zu, eine Meinung zu haben, das verstand sie wohl und war nicht traurig deswegen. Die Mutter und der Vater wussten schon, was für sie das Beste war.

«Dummer August», erklang die feixende Stimme des Bruders aus dem Gebüsch. So nannte Georg sie seit frühen Kindertagen. Jetzt sprang er hervor und schlug ihr den Ball aus den Fingern. Der Ball rollte über den Rasen bis zur vorderen Mauer. «Was stehst du da und träumst? Du verlierst.»

Auguste streckte die Hände nach dem kleinen Bruder aus, um ihn in die Seite zu boxen, doch er entwand sich ihr und warf ungestüm eine Handvoll Erde auf sie. Auguste kreischte auf und klopfte sich die braunen Klumpen von der grünen Seide. «Pass doch auf, du frecher Schorsch, du machst mich ganz schmutzig.»

Georg pfiff vergnügt eine kleine schiefe Melodie und sang dann aus vollem Halse:

«Ringel, Ringel, Rosen,

die Knaben tragen Hosen,

die Mädchen tragen Spitzenröck –»

«Da fallen sie alle in den Dreck», beendete Auguste das Lied und kicherte fröhlich. Ihrem Bruder konnte sie nicht lange böse sein. Er war zart für sein Alter und weinte viel leichter, als es für einen Buben schicklich war. Sie fürchtete, dass er es schwer haben würde auf der neuen Schule, dem Schiller-Gymnasium in der Königsberger Straße, das er in wenigen Tagen besuchen sollte und wo ihm alle Kinder fremd waren. Solange er Freude daran hatte, sie zu piesacken, sollte es ihr recht sein. Minna würde das Kleid schon wieder sauber bekommen, das Hausmädchen war eine Zauberin auf diesem Gebiet. Auguste wuschelte Georg durch die wilden Locken und raffte den Rock, um die Stufen zur Terrasse zu erklimmen. Dann verschwand sie im Haus.

2.

Nervenklinik der Charité zu Berlin

Erste Aufzeichnung (Mai 1893)

Ich habe eine neue Behandlung begonnen, an einem weiblichen Subjekt, sechzehn Jahre alt und unverheiratet. Die Patientin, im Nachfolgenden der Diskretion halber Marie A. genannt, berichtet von nächtlichen Träumen, die regelmäßig wiederkehren und vor denen sie sich recht fürchtet. Mit mir hat sie kein Wort gesprochen, doch ihren Eltern erzählte sie davon. Das Mädchen leidet ferner unter immer wieder auftretenden Krämpfen, wahnwitzigen Vorstellungen und Entfremdungsgefühlen von der Welt. Nach den Mitteilungen der Mutter muss ich mir die Vorstellung machen, sie sei sehr klug, klüger, als es einem Weib gut zu Gesicht steht. Sie rechnet flink, hat vielerlei Literatur gelesen und schiebt komplizierte Gedanken in ihrem Kopfe hin und her.

Das Mädchen wuchs behütet auf und verbrachte, so die Schilderung der Eltern, einen großen Teil ihrer kindlichen Zeit allein mit Büchern. Eine erste körperliche Untersuchung ergab keinen Hinweis auf ein physisches Leiden. Ich testete auf Tabes und Geschlechtskrankheiten, ohne zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Die Symptome sind vielfältig, und es bedarf großer Sorgfalt meinerseits, nicht vorschnell zu einem Urteile zu kommen, ehe ich das Ganze und nicht nur die Summe aller Teile (wie leider viele Kollegen geneigt sind zu tun) eingehend betrachtet habe. Erkrankungen des Geistes nehmen einen ähnlich charakteristischen Verlauf wie körperliche Leiden. Ziel der modernen Neurologie muss es sein, diesen Verlauf durch genaue Beobachtungen zu verfolgen und daraus Schlüsse für eine mögliche Heilung zu ziehen.

Barbarische Gewalt gegen den Körper darf nicht wie in der Pariser Salpêtrière ein Mittel sein, die Patientin zu behandeln, vielmehr setzen wir Psychiater in Berlin auf die Güte des Wortes, um mithilfe psychischer Mittel die destruktiven Folgen der Krankheit zu bekämpfen. Marie ist ein geeignetes Individuum zur Erprobung dieser sanften, im Innern wirkenden Disziplinartechniken. Während es bei chronischen Fällen von Verrücktheit und Blödheit an Hoffnung mangelt, sie jemals zu heilen, sind akute Erscheinungen wie jene der Marie dankbar für jeden Wissenschaftler.

Ich werde nun den Zustand von Marie beschreiben, wie ich sie vorfand. Die Eltern brachten sie (gegen ihren Willen, das Leugnen der eigenen Krankheit ist ein häufiges erstes Symptom) zu mir und befanden sich selbst in einer gehörigen Konstitution der Verzweiflung. Die Tochter, berichteten sie mir, habe als Kind unter unvorhersehbaren Krämpfen gelitten. Ich fragte, ob diese Ereignisse durch immer gleiche Umstände hervorgerufen worden seien wie etwa helles Licht, Erregungszustände etc. Die Eltern verneinten, schilderten das plötzliche Auftreten der Spasmen ohne vorherige Warnung. Ferner sei Marie heutzutage des Öfteren in großer Verwirrung, stammele vor sich hin und sei ein ums andere Mal äußerst renitent gewesen. Sie weigere sich, Hausarbeiten zu erledigen, ihre Handarbeit aufzunehmen, ja verneine alles, was als Beweis für einen natürlichen Geschlechtscharakter fungieren könne. Tobsuchtsanfälle krönten in jüngster Zeit ihr unliebsames Verhalten daheim. Nach einem solchen hätten sie sich nicht anders zu helfen gewusst, als ihre Tochter in die Klinik zu verbringen.

Marie ist von apartem Aussehen, mit weichen Locken, denen der Anschein einer Wildheit innewohnt, und von schlankem Wuchs. Ich ließ sie sedieren und vorübergehend auf ein Einzelzimmer bringen, wo sie die Nacht tief schlafend zubrachte, wie mir Bericht erstattet wurde. Nun muss ich ihr Vertrauen gewinnen, um meine Diagnose durch ihre eigenen Aussagen zu unterfüttern. Die Eltern sind in ihr Haus zurückgekehrt und haben Marie in der neurologisch-psychiatrischen Abteilung der Charité meiner Obhut überlassen.

3.

August 1892

Die Krahmersche Höhere Mädchenschule in der Berliner Straße in Lichterfelde wirkte zwischen den vereinzelten Wohnhäusern und weiten Gärten wuchtig und einschüchternd. Hohe Fenster mit weißen Längs- und Querstreben sahen wie Augen auf die Besucher herab. Den Eingang bildete ein halbrundes Portal mit drei schmucklosen weißen Säulen. Eine halbhohe Steinwand und eine dicht gewachsene Hecke schützten das Grundstück vor den neugierigen Blicken der Passanten. Aber das Sonnenlicht tanzte fröhlich auf den eisernen Beschlägen auf dem Dach der Schule.

Es würde Augustes letztes Schuljahr sein. Bald wurde sie sechzehn und damit endete der Unterricht für Mädchen in Preußen, während die Jungen das Gymnasium besuchten und die Hochschulreife erlangten. Als Tochter eines Offiziers ging man üblicherweise nach der Untersekunda von der Schule ab und heiratete. Der einzige Weg für eine junge Frau ihres Standes in die Berufstätigkeit wäre das Lehrerinnenseminar gewesen. Doch Auguste wäre es nie in den Sinn gekommen, ein solches zu besuchen. Frauen wurden nur Lehrerinnen, wenn sie keine andere Möglichkeit hatten. Die Lehrerinnen, die Auguste bisher gekannt hatte, waren alte Jungfern mit Gramesfalten und unmodischen Kleidern.

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen stand sie neben ihrer Mutter und blickte das Mauerwerk empor. Sie kannte keine Menschenseele in diesem Gebäude. Plötzlich hatte sie den Wunsch, sich umzudrehen und wieder in den Landauer mit den zwei Schimmeln zu steigen, mit dem sie hergefahren waren. Bald wäre sie ohnehin zu alt für den Schulbesuch. Warum sollte sie sich für wenige Monate an eine neue Klasse gewöhnen? Ihre Mutter sah ihr die Ängstlichkeit wohl an, denn sie griff nach Augustes Arm und drückte ihn fest. «Komm, Kind, lass uns hineingehen.»

«Sollen wir nicht lieber wieder nach Hause fahren?», fragte Auguste leise.

Ihre Mutter runzelte die Stirn und antwortete entschieden: «Das kommt nicht infrage. Bildung ist auch für ein Mädchen wichtig, wenigstens bis zur Hochzeit. Du willst doch deinem zukünftigen Bräutigam eine gute Gesprächspartnerin sein? Vater und ich zahlen viel Geld, damit du die Krahmersche besuchen kannst. Es ist eine hervorragende Schule.»

«Du bist doch auch nicht zur höheren Schule gegangen», flüsterte Auguste. Sofort taten die Worte ihr leid. Sie wurde rot.

Die Mutter sog scharf die Luft ein. «Und ich bereue es jeden Tag, dass ich diese Möglichkeit nicht hatte. Du sollst es besser haben als ich. Jetzt sei nicht undankbar und komm mit.»

Ohne auf eine Antwort zu warten, raffte Käthe Baumgarten entschlossen die Röcke und schritt durch das Tor dem Eingang zu. Auguste folgte widerstrebend. Es half nichts. Ihre Mutter wirkte zwar nach außen sanft wie ein Kätzchen, hatte aber einen eisernen Willen, von dem sie nichts und niemand abbringen konnte. Diese Erfahrung hatte Auguste mehr als einmal machen dürfen, und sie verspürte nicht den Wunsch, dagegen aufzubegehren. Also folgte sie dem kerzengeraden Rücken ihrer Mutter ins Haus.

Bald standen die beiden Frauen vor der Tür der Schulleiterin. Käthe Baumgarten klopfte energisch an und trat ein, ohne auf eine Antwort von drinnen zu warten. Eine hochgewachsene Frau erhob sich hinter einem Schreibtisch und kam ihnen entgegen. Sie trug einen strengen Knoten am Hinterkopf und lächelte nicht. Trotzdem fasste Auguste sofort Zutrauen zu ihr. Hinter einem goldenen Zwicker sahen kluge dunkle Augen hervor, der Druck ihrer schmalen Hand war fest und kühl.

«Sie sind also Auguste. Willkommen an meiner Schule. Ich bin Adelheid Krahmer, die Schulrektorin. Wie ich hörte, haben Sie zuvor ein anderes Institut besucht?»

«Ja, aber jetzt wohnen wir hier in Lichterfelde, und der tägliche Weg dorthin ist zu weit.»

Um die Mundwinkel der Schulleiterin spielte jetzt doch der Schatten eines Lächelns. «Nun, ich hoffe, dass Ihnen unsere Einrichtung bald nicht nur wegen des kurzen Schulwegs gefällt.»

Käthe Baumgarten stieß ihre Tochter tadelnd in die Rippen, und Auguste senkte beschämt den Kopf. Ihr erster Satz und dann gleich eine solche Unhöflichkeit! Ihre Mutter beeilte sich, den Fauxpas auszubügeln: «Wir sind ganz und gar nicht nur deswegen hier, Fräulein Krahmer. Der gute Ruf Ihrer Schule hallt in ganz Berlin nach.»

«Nun, das freut mich natürlich. Worin besteht denn dieser Ruf?»

Nun wand sich auch Käthe, denn die Frage wusste sie nicht zu beantworten. Sie hatte wohl Fräulein Krahmer nur schmeicheln wollen. Auguste nahm belustigt wahr, dass ihre stolze Mutter in Anwesenheit dieser Frau wie ein Schulmädchen wirkte. Adelheid Krahmer umgab eine Aura, die ihrem Gegenüber Respekt einflößte, ohne Angst zu verbreiten. In Auguste erwachte eine leise Vorfreude auf ihre Zeit hier.

Die Schulleiterin ließ Käthe ein wenig zappeln und beantwortete die Frage dann selbst: «Sie werden sehen, Auguste, dass es hier in der Krahmerei ein wenig unkonventionell zugeht. Anders als viele Schulleiter bin ich nicht der Meinung, dass junge Frauen nur zu gefälligen Gattinnen ausgebildet werden sollten. Vielmehr möchte ich ihnen etwas auf den Lebensweg mitgeben. Sie dürfen ihre Talente entdecken und über sich selbst herausfinden, was ihnen Freude bereitet.» Sie hielt kurz inne. «Was bereitet Ihnen Freude, Auguste?»

Obwohl Auguste auf diese Frage nicht vorbereitet war, fiel es ihr erstaunlich leicht, darauf eine Antwort zu finden. «Ich liebe es zu zeichnen. Und ich lese gern, am liebsten draußen im Garten, wenn die Sonne auf die Buchseiten scheint und man so schön träumen kann.»

Ängstlich schloss sie den Mund. Hatte sie etwas Dummes gesagt? Ihre Mutter sah sie überrascht an, als entdecke sie etwas an ihrer Tochter, das ihr neu war. Aber Adelheid Krahmer nickte, als verstehe sie, was Auguste gemeint hatte. «Dann werden Sie sich hier wohlfühlen. Die Lehrer legen viel Wert auf die schönen Künste. Und wenn es ein warmer Tag ist wie heute, findet der Unterricht draußen statt, so wird also oft die Sonne auf Ihren Scheitel fallen, während Sie lernen.»

Überrascht starrte Auguste die Frau an. Das hatte sie noch nie gehört. An der alten Schule hatten die Schülerinnen dicht an dicht in halbdunklen Räumen gesessen und im Chor Regeln aus den Benimmbüchern aufgesagt, die den höheren Töchtern beibringen sollten, wie sie sich als geschickte und züchtige Hausfrauen zu verhalten hatten. Ihr Blick wanderte an der Schulleiterin vorbei zum Fenster, durch das man in den Schulgarten sehen konnte. Tatsächlich saßen dort an die zwanzig Mädchen auf kleinen Hockern, in der Hand Griffel und Blöcke, und waren darin vertieft, Zeichnungen der Dahlien, die entlang der Mauer blühten, anzufertigen. Alle trugen ähnliche Kleidung, die für die Schülerinnen der Krahmerei vorgeschrieben war. Lange braune oder schwarze Röcke, eine hochgeknöpfte Jacke, die sich eng um die Hüften schmiegte, eine Schürze und eine cremefarbene Schleife um den Hals. Auch Auguste war für ihren ersten Tag so gekleidet. Wieder einmal schien ihr das Korsett besonders eng, doch wenn sie die anderen Mädchen dort unten betrachtete, musste sie zugeben, dass einige sogar noch schmaler geschnürte Taillen hatten.

Auguste trat näher ans Fenster, während ihre Mutter mit Adelheid Krahmer einige Formalien besprach. Sie beobachtete weiter die Künstlerinnen im Garten. Plötzlich hob eines der Mädchen den Kopf und sah direkt zu ihr hinauf. Als sich ihre Blicke trafen, stahl sich ein Lächeln in ihr Gesicht. Sie hatte dunkle Locken, die sie wohl nur halbherzig versucht hatte, in einem Haarknoten am Hinterkopf zu bändigen. Vorne waren einige Strähnen vorwitzig herausgesprungen und umspielten ihr liebliches Gesicht. Ihre hellen Augen standen in eigentümlichem Kontrast dazu. Jetzt hob sie eine Hand und winkte Auguste zu. Verlegen hob auch Auguste die Hand, zog sich dann aber schnell ins Zimmer zurück, als habe sie etwas Unschickliches getan.

Ihre Mutter und die Schulleiterin hatten nichts von der kurzen Begegnung gemerkt. Sie reichten sich die Hände, und Käthe sagte zu ihrer Tochter: «Mach uns keine Schande, Auguste.»

Auguste und Käthe ließen sich von der Schulleiterin hinausbegleiten.

«Es ist gerade Unterricht, und alle Lehrer sind beschäftigt», sagte Adelheid Krahmer. «Aber wissen Sie, was? Ich zeige Ihnen persönlich Ihre Klasse. Dann können Sie heute eine Unterrichtsstunde zur Probe besuchen und ab morgen dann an allen Stunden teilnehmen.»

Käthe beugte sich vor und küsste Auguste auf die Stirn. Dann rauschte sie die Treppen hinunter. Der Spitzensaum ihres Kleides raschelte über die Steinstufen.

Schüchtern blieb Auguste stehen und faltete die Hände hinter dem Rücken. Wie sollte sie allein mit der Schulleiterin im Gespräch bestehen? Doch Adelheid Krahmer machte es ihr leicht. Sie fasste sie am Ellenbogen und begann, sie den Gang hinunterzuführen. Dabei erzählte sie, wie sie die Schule gegründet hatte und dass sie vor einigen Jahren in dieses größere Gebäude umgezogen waren, weil sie mehr Platz brauchten. «Man rennt uns hier die Türen ein», sagte sie nicht ohne Stolz in der Stimme. «Plötzlich wollen alle, die es sich leisten können, ihre Töchter bei uns zur Schule schicken. Als hätte ich nicht schon vor zwanzig Jahren gesagt, dass Bildung auch einem Mädchen gut zu Gesicht steht.»

Mit diesen Worten öffnete sie eine der schweren Holztüren. Dahinter befand sich ein Klassenraum mit vielen Pulten, ähnlich dem, den Auguste aus ihrer alten Schule kannte. Hier jedoch fiel durch die hohen Fenster Licht auf das dunkle Holz der Bänke. Auf dem Lehrertisch an der Stirnseite unter einer großen Tafel stand ein Krug mit frischen Hortensien, die einen zarten Duft verströmten.

Die Schulleiterin deutete auf ein Pult ganz vorn. «Da können Sie sich hinsetzen, dort ist frei. Niemand sitzt gern in der Nähe der Lehrer, das war schon immer so.»

Ihr Lächeln war schwer zu deuten. Auguste nickte und setzte sich. Adelheid Krahmer fuhr fort: «Es ist gleich Pause. Dann kommt Ihre Klasse wieder in den Raum. Die Schülerinnen sind gerade alle mit Herrn Giesebrecht beim floralen Zeichnen im Garten. Der Geschichtslehrer, Herr Brellkamp, wird Sie dann den anderen Mädchen vorstellen. Brauchen Sie noch etwas?»

Auguste schüttelte den Kopf und flüsterte: «Danke schön.»

Die Schulleiterin nickte ihr zu und wandte sich zum Gehen. Dann besann sie sich noch einmal und drehte sich um. «Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen. Ich rate Ihnen, alles Wissen aufzusaugen, das wir Ihnen beibringen können, denn Wissen ist das Schönste, was das Leben zu bieten hat, und Klugheit die größte Zierde einer Frau.»

Mit dieser seltsamen Behauptung ging sie zum Katheder, rückte eine Blüte zurecht und verließ den Klassenraum. Auguste blieb allein zurück.

Sie glitt hinter das ihr zugewiesene Pult und ließ ihre Ledertasche von der Schulter gleiten. Sie holte Papier und ein Tintenfass hervor, setzte sich kerzengerade hin und lauschte auf die Glocke, die anzeigen würde, dass der Unterricht endete und die nächste Stunde begann.

Endlich ertönte sie, und im ganzen Haus erhob sich ein Raunen, ein Trippeln und Stühlescharren. Schon schwoll das Summen an, die Tür zum Klassenzimmer flog auf, und eine Schar dunkel gekleideter Mädchen in Augustes Alter strömte herein. Neugierige Blicke streiften sie, doch alle schwatzten weiter, als wäre sie gar nicht da. Nur eine rothaarige Bohnenstange mit fleckigen Sommersprossen auf Stirn und Nase blieb vor Auguste stehen und musterte sie unverhohlen. Dann sagte sie mürrisch: «Das ist mein Platz.»

Auguste sprang erschrocken auf. «Verzeihung, das wusste ich nicht.»

«Du hast nicht gefragt», erwiderte die Rothaarige. «Den Fehler solltest du nicht zweimal machen.»

Auguste wollte sich erneut entschuldigen, als das fremde Mädchen von einer anderen jungen Frau beiseitegeschoben wurde. Nun blickte Auguste in freundliche Augen, ein helles Grau wie das Meer am frühen Morgen. Es war das Mädchen aus dem Schulgarten.

«Spiel dich nicht so auf, Berta», sagte sie leichthin zur Unruhestifterin. «Du sitzt ganz hinten, weil du Angst vor Lehrer Brellkamp hast. Das wissen alle. Also lass die Neue in Ruhe.»

Berta schnaubte, offenbar empört. Auguste bemerkte jedoch bei einem Blick in die Runde, dass ihr niemand beispringen würde. So begnügte Berta sich damit, ihre Widersacherin anzuzischen: «Wer hat dich denn gefragt, Fräulein Oberschlau?» Dann verzog sie sich schmollend nach hinten und setzte sich an ihren Platz.

Das helläugige Mädchen blieb bei Auguste stehen und grinste. «Die wären wir los. Im Übrigen ist Lehrer Brellkamp wirklich zum Fürchten. Und sein Mundgeruch haut einen in der ersten Bank förmlich um. Neben mir ist noch ein Platz frei. Möchtest du vielleicht dort sitzen?»

Auguste nickte erleichtert. «Ja, danke. Nichts lieber als das.»

Sie griff flink nach ihren Sachen und folgte der Fremden durch den Klassenraum zu einer der Bänke, die am Fenster standen. Die Sonne malte gelbe Kringel auf das Pult, und Auguste ging es plötzlich viel besser. Sie zupfte das Mädchen vorsichtig am Ärmel und flüsterte: «Ich heiße Auguste. Und du?»

Die andere lachte auf. «Wie die Kaiserin persönlich. Sehr angenehm, Eure Durchlaucht.» Sie strahlte Auguste gut gelaunt an. «Ich bin Charlotte. Ebenfalls ein königlicher Name, wenn auch schon etwas angestaubt. Bitte, nenn mich Lotte.»

Auguste nickte und wollte noch etwas sagen, als die Tür erneut aufging und ein älterer Herr mit grauen Haaren hereinhinkte. Sofort verstummten alle Gespräche, als hätte jemand eine Glasglocke über eine Kerzenflamme gestülpt. Die Mädchen huschten zu ihren Plätzen und setzten sich. Der Lehrer schritt zum Katheder. Er zog sein linkes Bein nach.

«Kriegsinvalide», flüsterte Lotte Auguste fast unhörbar zu, dennoch richteten sich die Augen des Lehrers sofort auf sie, und sie senkte rasch den Blick. Von vorne sagte er mit grollender Stimme: «Ja, Fräulein Printz, ganz recht. Mein Bein habe ich in Königgrätz für unser Land gegeben. Für Sie alle», er ließ die Hand über die versammelten Mädchen schweifen, «habe ich gekämpft. Und wir haben die Österreicher vernichtend geschlagen, nur deshalb gibt es heute ein Deutsches Reich. Nur deshalb ist der Kaiser heute ein Hohenzoller. Also stören Sie meinen Unterricht nicht mit törichten Bemerkungen, sondern verhalten Sie sich mir gegenüber gefälligst mit dem gebotenen Respekt.»

Lotte nickte beflissen. Doch Auguste erahnte das Funkeln unter ihren gesenkten Lidern. Sie selbst war zu Tode erschrocken über den grimmigen Ton, den Lehrer Brellkamp angeschlagen hatte. Jetzt bohrten sich seine Augen mit den buschigen Augenbrauen in ihr Gesicht. Kurz schien er nachzudenken, dann fiel ihm offenbar ein, wer sie war. «Meine Damen, begrüßen wir einen Neuzugang. Das», er wedelte in ihre Richtung, als verscheuche er ein Insekt, «ist Fräulein Baumgarten. Sie wird bis zum Ende des Schuljahres mit Ihnen gemeinsam am Unterricht teilnehmen.»

Die anderen Schülerinnen sahen zu ihr herüber, die meisten mit mildem Desinteresse. Auguste nickte schüchtern in die Runde und sah dann zum Lehrer nach vorne. Er studierte ein Dokument vor sich und schraubte sein Tintenfass auf. Den Federkiel gezückt, fragte er: «Welchen Beruf übt Ihr Herr Vater aus, Fräulein? Die Angabe fehlt in meinen Unterlagen.»

«Er ist Offizier», erwiderte Auguste und bemerkte die Anerkennung, die sich im zerfurchten Gesicht des Lehrers ausbreitete.

«Schön, schön», murmelte er, während die Feder kratzte, «das ist doch mal was. Nicht noch mehr solche Emporkömmlinge, solche Hehler und Fabrikanten.»

Auguste war einen Moment lang verwirrt. Was meinte der Lehrer? Dann hörte sie ein winziges Schnauben zu ihrer Linken, wo Lotte unter dem Pult die Hände zu Fäusten ballte. Plötzlich verstand sie. «Ist dein Vater der Warenhausdirektor Printz?», wisperte sie aufgeregt, und Lotte nickte grimmig. Auguste konnte ihre Begeisterung kaum zurückhalten. Jeder in Berlin und Umgebung kannte das große Manufaktur- und Warenhaus Printz in der Breiten Straße unweit des Stadtschlosses. Auguste war dort schon mehrfach mit ihrer Mutter gewesen, um Stoffe und Borten für ihre Kleider zu kaufen, auch seidene Miederwaren und eine Samtjacke für Georg hatten sie dort erworben. Jedes Mal war Auguste der Mund offen stehen geblieben angesichts der Herrlichkeiten, die dort in den Auslagen zu bestaunen waren. All die Lichter blinkten mit den Augen der Kundinnen um die Wette. Von außen wirkte das Kaufhaus mit seiner strahlend weißen Fassade auf Auguste ebenso herrschaftlich wie das Schloss. Und nun saß sie neben der Tochter des Besitzers? Sie war tief beeindruckt.

Lehrer Brellkamp hatte inzwischen eine große Landkarte an die Tafel gehängt und eine der Schülerinnen, ein rundliches Mädchen mit blondem Zopf, nach vorn gebeten, damit sie die Grenzen des Deutschen Reiches erläuterte. Auguste war nicht sonderlich interessiert und studierte lieber aus den Augenwinkeln Lottes elegantes schwarzes Kleid unter der Schulschürze, von dem sie ja nun wusste, dass es aus dem mondänen Kaufhaus ihres Vaters stammte. Als die Glocke läutete, bemerkte sie, dass sie wenig vom Unterricht aufgenommen hatte. Doch schließlich war heute ihr erster Tag, bald würde sie hineinfinden, dachte sie.

Da sie erst spät dazugekommen war, war dies schon die letzte Unterrichtsstunde des Tages gewesen. Alle Mädchen standen auf und räumten Papier und Tintenfässer in die Pulte. Dann strömten sie kichernd und schwatzend hinaus ins Sonnenlicht. Ein hübsches Mädchen mit hellbraunen Locken winkte Lotte zu und zog ihre Freundin, die eher gewöhnlich aussah, mit sich hinaus.

«Ottilie Beier», sagte Lotte, «unsere Klassenschönste. Und ihre Busenfreundin Rosa.»

Auguste sah ihnen nach. Schön, ja, aber auch ein wenig traurig hatte Ottilie ausgesehen, fand sie. Sie wollte den beiden folgen, wandte sich dann jedoch zu Lotte um. Die war jetzt, unbemerkt vom Lehrer, nach vorne getreten und studierte aufmerksam die Karte, fuhr sogar mit dem Finger eine Linie nach, die einen Fluss darstellte.

Auguste stellte sich dazu. Lottes Wangen waren gerötet, sie leckte eifrig die Lippen. «Was siehst du dir da an?», wollte Auguste wissen.

«Die Welt», antwortete Lotte abwesend und hielt den Blick weiter fasziniert auf die Karte gerichtet.

Auguste versuchte zu verstehen, was Lotte dort so fesselte. Für Geografie hatte sie sich noch nie sonderlich interessiert, Landkarten waren einfach ein paar braune und schwarze Flächen und krumme Linien, an die sie noch nie einen Gedanken verschwendet hatte. Endlich löste Lotte den Blick von der Karte und lächelte Auguste an. «Sieh mal», sie deutete auf einen winzigen Punkt, «das ist Berlin. In diesen kleinen schwarzen Kreis passen wir alle, das Schloss, der Kaiser und Auguste Viktoria, Groß-Lichterfelde, dieser alte Kasten hier, Fräulein Krahmer und Lehrer Brellkamp. Dabei ist das doch alles schon so groß. Aber auf diesem Fleckchen hier wirkt es winzig. Und davon gibt es Tausende Flecken überall auf der Welt. Das sind alles große Städte mit anderen Fräuleins und Lehrern und Schlössern. Dann gibt es noch riesige Urwälder und Ozeane und fremde Völker. Und auch unsere ganze Welt ist nur ein Körnchen im Universum. Wird dir da nicht auch schwindlig?»

Doch, Auguste nickte, das war wirklich schwindelerregend. Sie hatte noch nicht allzu oft darüber nachgedacht, wie viele Welten außerhalb ihrer eigenen kleinen lagen. Erstaunt sah sie Lotte an. Mit wenigen Worten hatte sie es geschafft, dass auch Auguste nun die Landkarte viel bedeutsamer erschien.

Gerade wollte sie sich näher zur Karte beugen, als sie die knurrende Stimme des Lehrers hinter sich hörte. «Meine Damen, bitte verlassen Sie das Klassenzimmer. Der Unterricht ist beendet.»

Widerstrebend lösten sich die Mädchen von der Karte. Gemeinsam gingen sie aus dem Raum und die Treppen des Schulhauses hinunter, auf denen das Rufen und Lachen der anderen Mädchen längst verhallt waren. Vor der Tür blieben sie stehen und sahen sich an. Durch die Hecke erkannte Auguste das Schimmern der weißen Pferde. Herr Wolgast, der Kutscher, erwartete sie. Auf einmal fühlte sich Auguste wie eine Volksschülerin, die noch nicht allein von der Schule nach Hause gehen konnte. Ab morgen, nahm sie sich vor, würde sie zu Fuß kommen, wenn ihre Eltern dies erlaubten.

Dann nahm sie allen Mut zusammen. «Besuch mich doch mal am Karlsplatz», schlug sie Lotte vor. «Wir wohnen in einer roten Steinvilla mit einem Türmchen. Ganz oben ist mein Zimmer. Man kann von dort bis zur Bahn sehen.»

Ängstlich schloss sie den Mund. Weshalb glaubte sie, der Mitschülerin ihr Zuhause anpreisen zu müssen? Und weshalb sollte Lotte sich für ihren Fensterblick interessieren? Konnte sie doch jederzeit im Kaufhaus ihres Vaters bis ins oberste Stockwerk laufen und wie ein Vogel ganz Berlin von oben betrachten.

Doch Lotte schien sich zu freuen, ihr Lächeln vertiefte sich. In Augustes Bauch schlich die Wärme leise heran und brannte bis hoch in die Brust.

«Ich komme gern», sagte Lotte und nickte heftig, als wolle sie ihre Worte bekräftigen. «Wir wohnen ganz in der Nähe.»

Auguste klatschte in die Hände. «Fein. Morgen nach dem Unterricht?»

Lotte nickte bejahend, sodass ihr die Locken um die Stirn flogen, und lief dann elegant wie eine Gazelle zum Schultor hinaus. Auguste folgte ihr mit wild klopfendem Herzen. Ihr war, als schwebten ihre Füße in den schwarzen Schnürstiefeln einen Zentimeter über dem Boden.

4.

Oktober 1892

Die Blätter der alten Kastanie in der Karlstraße hatten die Farbe gewechselt. Die rotbraunen Früchte fielen in ihren dicken Schalen herunter und landeten leise knallend auf dem Kopfsteinpflaster. Dann sprang der grüne Mantel auf, und heraus kollerte die glänzende Kastanie. Auch die Linden am Karlsplatz trugen ein buntes Kleid. Ihre kleinen Blätter flatterten leuchtend gelb wie festliche Wimpel über den Platz.

Ein kühler Wind hatte sich erhoben und ließ die Röcke der beiden Mädchen rascheln, die im Garten auf den Terrassenstufen saßen. Ein blonder und ein dunkler Schopf. So dicht steckten sie die Köpfe zusammen, dass eine Laus mühelos von einem zum anderen Mädchen hätte hüpfen können. Doch Läuse, das war etwas für die Arbeiterkinder aus den Berliner Mietskasernen, nicht für Auguste und Lotte vom Karlsplatz. So behauptete es zumindest Augustes Mutter. Käthe Baumgarten bereitete ihrer Tochter jeden Samstagabend ein Bad, und bevor sie das Badezimmer verließ, schärfte sie Auguste ein, auch ja den Kopf gründlich mit Seife zu waschen, ehe sie die Haare mit klarem Wasser aus der blauen Emaillekanne ausspülte. Danach ließ Auguste die Haare trocknen und bürstete sie anschließend mit hundert Strichen, bis sie sich wie ein knisternder Heiligenschein um ihr Gesicht legten. Lottes dichter Haarschopf ließ sich wahrscheinlich schwerer bändigen, doch ihr immer etwas unordentlicher Dutt duftete nach Veilchen, wenn sie sich bewegte.

Auguste saß Arm in Arm mit der Freundin im Garten und sog diesen Duft genüsslich ein. Wie erwachsen Lotte wirkte! Und doch hatte sie eine kindliche Verspieltheit nicht abgelegt und konnte herrlich albern sein. Am meisten bewunderte Auguste die Fantasie der Freundin. Wenn Lotte Geschichten erzählte, schien es Auguste, dass sie sich auf den Schwingen eines großen Vogels erhoben und weit über den Karlsplatz, Lichterfelde, ja ganz Berlin hinausflogen, über ferne Lande, die sie nie zuvor gesehen hatte. Nur widerwillig kehrte sie am Ende der Erzählung wieder an ihren Platz in der wirklichen Welt zurück, der ihr auf einmal unbedeutend und eng schien.

Sie beugte sich über die Zeichnung, die auf einem Brett auf ihren Knien lag. Das Papier flatterte sanft im kühlen Wind. Das taten sie gern – Lotte erzählte, und Auguste ließ die Zeichenstifte über das Blatt gleiten, sodass dort die Bilder entstanden, die Lotte mit Worten heraufbeschwor. In der Schule fanden die Zeichenstunden, wann immer das Wetter es zuließ, im Freien statt, und Auguste hatte rasch Gefallen daran gefunden und tauschte nun auch zu Hause oft den Sekretär drinnen gegen ein Zeichenbrett auf ihrem Schoß, während sie mit Lotte auf der Terrasse saß.

«Erzähl mir die Geschichte vom Kleinen Muck noch einmal», bettelte sie, und Lotte ließ sich gerne überreden. Auguste liebte alle Erzählungen, die an exotischen Orten spielten, und die Abenteuer des Kleinen Muck, dessen Geschichte wie eine kleine Schachtel in einer großen steckte, war besonders farbenfroh, lustig und traurig zugleich. Ein junger Kaufmann erzählte sie den anderen Teilnehmern seiner Karawane, um ihnen die Zeit zu vertreiben. Schon dieses Bild war aufregend, fand Auguste und zeichnete, wie die Reisenden im fernen Orient neben ihren Wagen und Kamelen saßen, mit Turbanen auf dem Kopf gegen die sengende Sonne, und Muley, dem Kaufmann, atemlos lauschten. Für Auguste war Lotte eine Art Muley oder noch eher eine Scheherazade, schön und wortgewandt, deren Kopf mit Figuren, Fabelwesen und Märchengestalten bevölkert war.

Schon zweimal hatte Frau Baumgarten das Hausmädchen auf die Terrasse geschickt, damit es sich vergewisserte, dass die Mädchen die Wolldecken über die Knie gelegt hatten. Diese verrückten Hühner wollten in der kühlen Jahreszeit unbedingt draußen sitzen, hatte sie zu Minna gesagt, dabei aber gelächelt. Georg fand sie beide wohl auch reichlich albern, jedenfalls blieb er demonstrativ drinnen bei seiner Lateinübersetzung am Tisch sitzen und drehte ihnen, sobald er ihren Blick auffing, durch die Terrassentür eine lange Nase. Jetzt kam Minna noch einmal heraus und brachte ein Tablett, auf dem zwei große Tassen mit heißer Schokolade dampften.

Lottes Augen leuchteten. Sie liebte Süßigkeiten und nahm es nicht so genau mit der Wespentaille, ließ ihrem Bauch im oft nachlässig gebundenen Korsett ein wenig Freiheit. Für Auguste war das unvorstellbar. Seit sie zwölf war, schnürte Minna sie jeden Morgen so fest, bis sie fast ohnmächtig wurde. Heimlich bewunderte sie Lotte für ihre Sorglosigkeit. Auch Lottes Eltern achteten sicher streng auf ein makelloses Äußeres. Doch manchmal kam es Auguste vor, als sei die Freundin eine Art Naturgewalt. Wie an einer wild wachsenden Pflanze konnte man ein wenig daran herumschneiden, doch ganz beherrschen ließen sich ihre ausschlagenden Triebe nicht. Immer ringelte sich eine vorwitzige Locke aus der Frisur, zeigte der seidene Rock einen kleinen Fettfleck, fast unsichtbar, doch als stummer Zeuge der Eigenwilligkeit seiner Trägerin.

«Was wäre dir lieber», fragte Lotte, nachdem sie die Tasse abgesetzt hatte, «Zauberpantoffeln oder der Spazierstock, mit dem man Schätze findet?» Sie hatte einen Bart von der Schokolade zurückbehalten und sah aus wie der Kaiser.

Auguste musste lachen. Sie schob das Zeichenbrett zur Seite und griff nun auch nach ihrer Kakaotasse. «Die Pantoffeln natürlich», antwortete sie, ohne nachzudenken. «Überallhin reisen zu können, immer schnell wie der Wind zu sein, das wäre doch wundervoll.» Sie blickte wieder auf das Bild, das sie gemalt hatte, ihre Lieblingsfigur trug darauf goldene Pantoffeln und flog über die Dächer Arabiens dahin.

Lotte nickte geistesabwesend. Dann sagte sie: «Ich bevorzuge den Stock, der reich macht. Wenn ich einen Schatz finden würde, eigenes Geld hätte, dann könnte ich einen Privatlehrer bezahlen und weiter Unterricht nehmen.»

«Wozu das denn?», wunderte sich Auguste und rührte in ihrer Tasse, um die dicke Schokolade von unten hervorzuholen und sich dann den Löffel genüsslich in den Mund zu schieben. «Mädchen dürfen doch sowieso nicht studieren?»

«Das wird sich bald ändern», rief Lotte aus und schien auf einmal aufgeregt. Sie sprang auf und stieß dabei ihre Tasse um, die über die Steinstufen rollte, doch wie durch ein Wunder nicht zerbrach. Sie schien es gar nicht zu bemerken. «In der Schweiz geht das schon! Und auch in Preußen kämpfen viele Frauen dafür, dass die Universität für sie geöffnet wird. Vor ein paar Jahren wurde sogar eine Petition eingereicht, die Frauenvereine haben mit den Abgeordneten des Reichstags gesprochen und Forderungen gestellt. Ewig können sie uns nicht von den Universitäten fernhalten.»

Auguste starrte die Freundin mit offenem Mund an. Davon hatte sie ja noch nie etwas gehört. «Aber Lotte», fragte sie verwirrt, «was möchtest du denn studieren?»

«Medizin natürlich», antwortete Lotte, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. «Ich werde Ärztin.»