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Eine Liebe in dunklen Zeiten Lichterfelde, 1943. Vera erlebt den Zweiten Weltkrieg in ihrer Berliner Villa am Karlsplatz. Ihr Mann Wilhelm, ein überzeugter Nationalsozialist, ist bei der Luftwaffe. Doch immer öfter kommen der jungen Frau Zweifel, auf welcher Seite sie selbst eigentlich steht. Da entdeckt sie in der Gartenlaube einen Fremden, der sich auf der Flucht vor den Nazis versteckt hält. Es ist der jüdische Künstler David, der in die Illegalität abtauchen musste und seitdem ums Überleben kämpft. Vera trifft eine weitreichende Entscheidung − und riskiert, dass diese ihre Familie zerreißt und alles in Frage stellt, was sie bisher für richtig gehalten hat. Doch in Zeiten des Hasses ruht die einzige Hoffnung auf der Liebe. Ein bewegendes Frauenschicksal aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs – Band 3 der mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern.
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Seitenzahl: 320
Anne Stern
Roman
Eine Liebe in dunklen Zeiten
Lichterfelde, 1943. Vera erlebt den Zweiten Weltkrieg in ihrer Berliner Villa am Karlsplatz. Ihr Mann Wilhelm, ein überzeugter Nationalsozialist, ist bei der Luftwaffe. Doch immer öfter kommen der jungen Frau Zweifel, auf welcher Seite sie selbst eigentlich steht. Da entdeckt sie in der Gartenlaube einen Fremden, der sich auf der Flucht vor den Nazis versteckt hält. Es ist der jüdische Künstler David, der in die Illegalität abtauchen musste und seitdem ums Überleben kämpft. Vera trifft eine weitreichende Entscheidung − und riskiert, dass diese ihre Familie zerreißt und alles in Frage stellt, was sie bisher für richtig gehalten hat. Doch in Zeiten des Hasses ruht die einzige Hoffnung auf der Liebe.
Ein bewegendes Frauenschicksal aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs – Band 3 der mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern.
Die Presse über «Fräulein Gold»:
«Tolle Frau plus Krimi plus Zeitgeist der Zwanziger – das ergibt einen spannenden Mix. Wer Volker Kutscher und ‹Babylon Berlin› liebt, mag diesen Roman ganz sicher auch.» Freundin
«Fesselnd und mit viel politischem Hintergrund und Berliner Lokalkolorit.» Saarländischer Rundfunk
«Atmosphärisch dichter Krimi mit selbstbewusster Hauptfigur. Starker Auftakt der Saga.» Hörzu
«Spannende Unterhaltung und bestens recherchierte historische Atmosphäre. Sehr lesenswert.» Ruhr Nachrichten
Anne Stern wurde in Berlin geboren, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik promovierte sie in deutscher Literaturwissenschaft und arbeitete als Lehrerin und in der Lehrerbildung. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller. In einer überarbeiteten Neuauflage erscheinen nun die vier Bände ihrer erfolgreichen Karlsplatzreihe, die das Schicksal von vier Generationen einer Berliner Familie erzählen.
(…) und was ist das Leben anderes als Wahnsinn, und der Glaube anderes als Torheit, und die Hoffnung anderes als Galgenfrist, und Liebe anderes als Essig in der Wunde. (…) Die Nacht ist vorüber, der Tag beginnt wieder seine unermüdete Tätigkeit, niemals, wie es scheint, überdrüssig, immer und ewig sich selbst zu wiederholen.
Sören Kierkegaard: Der Unglücklichste (1843)
September 1959, Buenos Aires
Das Licht am Retiro stach der Frau in die Augen. Sie musste blinzeln, so hell fiel es durch die eisernen Stahlträger des Bahnhofsdachs und brach sich im singenden Metall der Schienen. Sie beschirmte ihr Gesicht mit der Hand und blickte angestrengt die Gleise nach Norden entlang. Von dort sollte der Zug kommen. Endlich würde sie ihre Tochter wiedersehen.
Sie wühlte in ihrem bestickten Beutel nach der Packung Zigaretten, nahm eine heraus und suchte dann nach den Streichhölzern. Bevor sie fündig wurde, trat ein fremder Herr zu ihr, verbeugte sich und hielt ihr ein silbernes Feuerzeug an die Zigarette. Dankbar lächelte sie, sah das Aufglimmen und sog den Rauch begierig ein.
Dann nahm sie die Zigarette aus dem Mund. «Muchas gracias», sagte sie. Am Filter klebte roter Lippenstift.
Sie musterte den Fremden kurz. Ein echter Porteño, ein Bewohner der Hafenstadt, befand sie im Stillen, tiefschwarze Haare, prächtiger Schnauzbart und ein eleganter heller Anzug. Eine Erinnerung zog vorüber und versetzte ihr einen kleinen Schlag. Der Fremde bemerkte ihren Blick und fühlte sich offenbar ermutigt, denn sein Lächeln vertiefte sich, und in seine dunklen Augen trat ein Funkeln. Rasch murmelte sie «Adiós» und ging ein paar Schritte den Bahnsteig entlang. Ihre Absätze klapperten auf den Steinen und erschreckten drei Tauben, die flügelschlagend aufflatterten.
Der Bahnsteig war voller Menschen: Porteños, Indios in bunten Ponchos und mit großen Hüten, Ausländer. Sie alle redeten auf Spanisch, Englisch und Deutsch durcheinander, und die verschiedenen Sprachen verflochten sich zu einem bunten Teppich aus Stimmen und Klang. Es roch nach starkem Kaffee, Cortado, nach Gebäck, Tabak und sonnengewärmter Haut. Die Frau hielt ihr Gesicht ins Licht und schloss die Augen.
Als der Zug schnaufend in den Bahnhof einfuhr, machte sie einen Schritt zurück und trat mit dem Absatz die Zigarette aus. Ihre Tochter mochte den Geruch nach Tabak nicht. Doch in Buenos Aires rauchten alle, und sie hatte es sich während der vielen Jahre, die sie hier lebte, wieder angewöhnt. Seit das Mädchen unter der Woche im Internat war, rauchte sie noch öfter.
Die Passagiere strömten aus dem Zug und da, zwischen den vielen fremden Gesichtern, tauchte das eine auf, nach dem sich die Frau viele Tage in der Woche sehnte. Honigfarbenes Haar umrahmte die vertrauten Züge. Nackte, braun gebrannte Arme, ein rosa Baumwollkleid. Ihr Blick aus Haselnussaugen schweifte suchend den Bahnsteig entlang. Die Frau rief und winkte, eilte nach vorn und schloss die Tochter in die Arme. Sie drückte ihre Nase in das weiche Haar und sog den Duft ein, fuhr mit den Fingern über den Nacken des Mädchens und spürte, wie das Glück zu ihr zurückkehrte.
Später, als sie Hand in Hand über die breite Avenida am Hafen schlenderten, an Eiswaffeln schleckten und die Menschen betrachteten, die auf kleinen Kaffeehausstühlen vor ihren Cortados saßen und schwatzten, dachte die Frau, dass es Zeit wurde, ihrer Tochter die Wahrheit zu erzählen. Der Wind hatte aufgefrischt und zerzauste ihre blonden Haare, die sie nicht wie sonst unter einem Seidentuch verborgen hatte. Die Stadt lag am Río de la Plata am Atlantik. Der Wind kam vom Ozean und trug den Duft von Salzwasser vom fernen Europa herüber.
Doch was war die Wahrheit, dachte die Frau und spürte trotz der Frühlingssonne eine Gänsehaut, die über ihre Arme kroch wie Spinnweben. Dass Liebe nicht genug war, wie sehr man sich auch das Gegenteil wünschte? Dass der Mensch des Menschen größter Feind war? Seufzend warf sie den Rest ihrer Eiswaffel im Vorbeigehen in einen Abfallkübel.
«Was hast du?», fragte ihre Tochter mit dem freundlichen Desinteresse der Jugend in der Stimme.
Schnell lächelte die Frau und sagte leichthin: «Ich habe mich gerade an jemanden erinnert, an den ich lange Zeit nicht gedacht habe.»
«Oh», antwortete das Mädchen und leckte gedankenverloren an seinem Eis, während es eine Möwe beobachtete, die im Wind schaukelte. «Kenne ich ihn?»
Die Frau schüttelte den Kopf. «Nein. Aber ich werde dir bald einmal von ihm erzählen.»
Dann sah sie auf den blauen Fluss hinaus, dessen Wellenkämme Schaumkronen trugen. Das Sonnenlicht glänzte auf dem Wasser und den hohen Häusern der Stadt wie weißes Gold. Sie sah so lange hin, bis ihr die Augen tränten und sie den Blick abwenden musste.
Oktober 1943, Lichterfelde
Wilhelms Stiefel knallten auf die Dielen, bei jedem Schritt ächzte das Holz unter den schweren Absätzen wie ein geschundenes Tier. Vera hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch das hätte Wilhelms Wut nur noch befeuert. Also hielt sie den Blick gesenkt und starrte auf ihre Hände im Schoß.
Der goldene Ehering glänzte an ihrem Finger, als hätte Wilhelm ihn ihr erst gestern daraufgesteckt. Dabei war das viele Jahre her. Im Juli hatten sie ihren siebten Hochzeitstag gefeiert. Wobei sie sich von Feiern eine andere Vorstellung machte. Wilhelm hatte zwei Tage Heimaturlaub bekommen, doch die hatten sie zu großen Teilen im Luftschutzkeller verbracht. Im Sommer waren die Bombardierungen schwer gewesen, die Luft dauernd erfüllt vom Pfeifen der Bomben und dem Grollen der Detonationen, bei dem Vera immer heiß und kalt vor Angst wurde. In der kurzen Pause, die die Alliierten ihnen gegönnt hatten, hatte Wilhelm Vera ins Bett gezerrt und sich grob sein Recht genommen, wie er es nannte. Von der Zärtlichkeit der ersten Wochen ihrer Ehe war nicht viel übrig.
Wehmütig lauschte Vera der Melodie des Liedes, das sich auf dem Plattenspieler drehte und Wilhelms erklärtes Lieblingslied war. «Unsre beiden Schatten sahn wie einer aus», sang Lale Andersen mit ihrer sanften, melancholischen Stimme. Lili Marleen hieß das Stück, das zwar äußerst beliebt bei den Deutschen war, im letzten Jahr dann jedoch von den Nationalsozialisten verboten wurde, weil es angeblich zersetzend und demoralisierend war. Doch so regimetreu Wilhelm war – bei seinen Schallplatten ließ er sich nicht hineinreden und legte, sobald er das Haus betrat, die geliebte Schellackplatte auf den Teller. Die Zeiten aber, als sie beide eng umschlungen unter einer Laterne gestanden und sich geküsst hatten, lagen lange zurück.
Wilhelm war Gruppenkommandeur eines Kampfgeschwaders, das von Norwegen aus operierte, und nur selten in Berlin. Im letzten halben Jahr war er zum Major ernannt worden, man hatte ihm für seine Verdienste für die Nachtjagd das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen, ein Orden, der den Helden der Nation an die Brust geheftet wurde.
Er war ein Held. Nach seinen Reden vor der Hitlerjugend verteilte er Autogrammkarten an die Jungen, die ihn verehrten. Das Bild zeigte einen strahlenden Wilhelm mit blondem Haar in der schneidigen Uniform der Fliegerasse. Vera fühlte sich von diesem Bild merkwürdig abgestoßen, es schien ihr wie eine Hochglanzlüge.
Die Luft in der Villa am Karlsplatz war während Wilhelms Anwesenheit stets von Streitlust und seinem Gepolter erfüllt. Und wie immer drehten sich ihre Zankereien um das Thema, das Vera am liebsten ein für alle Mal aus ihren Gedanken und Träumen verbannt hätte, das sie jedoch verfolgte wie ein lästiger Taschendieb. Unwillkürlich strich sie sich über den flachen Bauch unter dem Baumwollkleid. Wie eine leere Vase, dachte sie und schluckte.
«Was meinst du, wie ich mich fühle, wenn die Kameraden die Fotografien ihrer Familien herumzeigen?», zischte Wilhelm und ging weiter vor ihr auf und ab. «Kinder haben die wie die Orgelpfeifen. Die Frau von Egon hat gerade das Mutterkreuz in Silber erhalten, sie haben das sechste Kind bekommen.» Er schnaubte und hieb mit der Faust auf die Lehne des Sofas. «Wie steh ich denn da, frage ich dich?»
Vera spürte, wie ihre Lippen zu zittern begann. Ärgerlich biss sie sich darauf. Sie wollte nicht schon wieder vor ihm weinen, es war zu demütigend. Stattdessen schluckte sie und fauchte zurück: «Was glaubst du denn, wie es mir geht? Ich möchte genauso sehr ein Kind wie du.»
«Ja, aber du tust nichts dafür», rief Wilhelm und sah sie endlich an. In seinem hübschen Gesicht erkannte Vera ihre eigene Verzweiflung, und beinahe verspürte sie Mitleid mit ihm. Doch sein nächster Satz erstickte dieses Gefühl sofort wieder.
«Egon sagt, er und seine Frau kommen kaum aus dem Bett, wenn er auf Heimaturlaub ist. Sie weist ihn nicht andauernd unter irgendwelchen fadenscheinigen Vorwänden zurück. So kann es ja nicht klappen.»
«Wilhelm», sagte Vera niedergeschlagen, «wir versuchen es doch jetzt schon so viele Jahre. Es liegt sicher nicht daran, dass wir nicht oft genug … Und ich nehme die Tabletten, die der Doktor mir verschrieben hat, ich habe das Rauchen aufgegeben, weil eine deutsche Frau ja nicht raucht», sie schnaubte leise, «und ich mache meine Gymnastik jeden Morgen. Was erwartest du von mir?»
«Ich erwarte von dir, dass du deine Pflicht als deutsche Ehefrau erfüllst und mir endlich einen Sohn schenkst», schrie Wilhelm und wandte sich dann brüsk ab. Er stellte sich ans Fenster und sah hinaus. Vera bemerkte, dass seine Schultern zuckten.
Gegen ihren Willen tat er ihr erneut leid. Leise stand sie auf und ging vorsichtig, weil sie Angst hatte, er würde sie wegstoßen, zu ihm hinüber. Sie schlang die Arme von hinten um seine Schultern, weiter hinauf reichte sie nicht. Die Schallplatte war verstummt. Langsam wiegte Vera ihn hin und her und summte eine Liedzeile aus einem anderen Schlager, den er ebenfalls so mochte, Sing, Nachtigall, sing. Es war eine traurige und beruhigende Melodie, wie ein Wiegenlied, das von verlorenem Liebesglück berichtete. Sie schien Vera auf einmal schrecklich passend.
Unter ihren Händen spürte sie, wie Wilhelms Muskeln unter der Uniform etwas weicher wurden. Er drehte sich zu ihr um und schlang ebenfalls seine Arme um sie.
«Sing lauter», raunte er und begann, sie hin- und herzuschwingen. Unbeholfen erst, dann immer sicherer tanzten sie, und Vera sang das ganze Lied. Bring, Nachtigall, bring mein Glück zurück. Das spiegelnde Glas des gerahmten Hitlerporträts an der gegenüberliegenden Wand warf ihr Bild zurück, und Vera betrachtete es aus den Augenwinkeln. Sie sah eine hübsche Frau, nicht ganz jung, aber auch noch nicht alt. Die dichten blonden Haare waren zu einem modischen Bubikopf geschnitten, die Augen hatten trotz der schweren letzten Jahre ihren grünlichen Glanz nicht verloren. Ein bisschen zu plump fand sie sich, das Kleid spannte um ihre kräftigen Hüften. Doch sie hatte nun einmal diesen Körperbau, schwere Knochen nannte man das. Und Wilhelm behauptete immer, dass er gern etwas in der Hand hatte. Auch jetzt griff er sie fest um die Taille und tanzte weiter mit ihr durchs Zimmer. Wie damals, dachte Vera und war sicher, dass auch Wilhelm sich erinnerte.
Sie hatte sich in den großen blonden Jungen verliebt, als sie noch ein Kind gewesen war. In der Volksschule hatten sie sich in den Pausen fortgestohlen und kichernd in einer Ecke des Schulhofs gehockt, Süßigkeiten und schüchterne Blicke ausgetauscht. Die Erinnerung schmeckte wie das Himbeerbrausepulver, das Wilhelm für sie gekauft hatte. Ihre Elternhäuser standen nicht weit voneinander entfernt, an den Nachmittagen stromerten sie zusammen mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft durch Lichterfelde, bauten Hütten am Kanal und unternahmen lange Streifzüge, um Brombeeren zu pflücken. Als sie älter wurden und es plötzlich nicht mehr schicklich war, dass ein Junge und ein Mädchen Zeit miteinander verbrachten, endeten diese unbeschwerten Tage. Wilhelm trat in die neu gegründete Hitlerjugend ein und trug auf einmal Uniform und einen wichtigen Ausdruck im Gesicht. Vera sprang mit den anderen Mädchen aus ihrer Klasse über das Seil, spielte Himmel und Hölle und sehnte sich nach ihm. Nach seinen blitzenden Augen, in denen stets der Schalk wohnte und mit denen er ihr wortlos etwas versprach. Und immer wieder fand er einen Vorwand, um mit ihr über die Hecke ihres Gartens hinweg ein paar Worte zu wechseln oder sich in der Straßenbahn neben sie zu setzen und heimlich ihre Hand zu drücken, bis einer von ihnen aussteigen musste.
Als er längst das Gymnasium besuchte und sie die Ausbildung zur Textilverkäuferin begonnen hatte, hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Vera schloss die Augen und rief sich jede Sekunde dieses sonnendurchfluteten Tages ins Gedächtnis.
Es war heiß gewesen und Vera war mit ihren Freundinnen ins Sommerbad am Teltowkanal geradelt. Dort badeten seit einigen Jahren Frauen und Männer gemeinsam, sodass es nicht verwunderlich war, dass auf den Wiesen zum Wasser hin und auf den Betonplatten am Beckenrand Gruppen von halbwüchsigen Jungen lagerten und sich am Anblick der leicht bekleideten Mädchen erfreuten. Die Zwillinge Elfie und Hanne warfen sich einen vielsagenden Blick zu und rannten unter dem Gejohle der jungen Männer ins Wasser, wo sie mit Geplansche und geschickt inszenierten Drehungen ihre knappen Badeanzüge präsentierten. Vera blieb auf der Decke zurück und fühlte sich befangen und linkisch. Auch sie trug einen neuen Badeanzug aus schwarzem Baumwolljersey mit angeschnittenen Beinen und schmalen Trägern. Er entsprach der seltsamen Verordnung, nach der Bademode züchtig zu sein habe und das Höschen im Schritt zusätzlich mit einer Bandage vernäht sein musste. Dieser sogenannte Zwickelerlass hatte bei den Berlinern zu vielen Witzen geführt, doch wenn man die Regeln nicht befolgte, konnte man der Bäder verwiesen werden. Trotz der angeblichen Züchtigkeit war sich Vera ihrer langen schlanken Beine sehr bewusst, die allen Blicken zugänglich waren. Auf ihren Armen schimmerten die feinen blonden Härchen in der Sonne. Sie ließ sich auf die Decke sinken, schloss die Augen und lauschte träge auf das Plätschern des Kanals und das Rascheln der Blätter in der Linde über ihr. Als ein Schatten auf ihr Gesicht fiel, schrak sie hoch. Wilhelm stand über ihr und schnitt ein dunkles Loch in den hellblauen Himmel.
«Grüß dich, Vera», sagte er. Sie fand, dass er befangen wirkte. Mit der Hand lud sie ihn ein, sich zu ihr auf die Decke zu setzen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass auf seiner braun gebrannten Haut Wassertropfen glitzerten, und fragte sich, wie sich wohl sein feuchtes Blondhaar anfühlen würde, wenn sie mit den Fingern hindurchführe. Leise hörte sie weiter oben auf der Wiese Wilhelms Freunde grölen und lachen, doch sie sah nicht hinüber. Jungen in ihrem Alter machten auf sie einen kindischen Eindruck. Wilhelm war anders. Er konnte so ernsthaft sein, beinahe streng. Doch wenn er gute Laune hatte, riss er alle mit. Wie schaffte er es nur, hatte sie sich damals schon gefragt, dass ihn alle Leute mochten, obwohl er oft kühl und arrogant wirkte? Es war diese Mischung aus verschmitzter Fröhlichkeit und ernster Intelligenz, die ihn stets im Mittelpunkt stehen ließ und die es auch ihr so angetan hatte. Wenn er sein ansteckendes Lachen ertönen ließ, verzieh man ihm alles.
«Darf ich dir eine Portion Eis kaufen?», fragte er artig, lief auf ihr gnädiges Nicken hin eilfertig zum Kiosk und kam mit zwei tropfenden Waffeln zurück. Sie leckten es wortlos auf, und Vera dachte, dass es schmerzhaft schön war, so dicht neben ihm zu sitzen, gefangen in der Angst, er könnte weggehen, und mit dem Wissen, dass er doch bleiben würde. Dann beugte er sich zu ihr, wischte mit dem Daumen einen Tropfen Himbeereis von ihrer Lippe und küsste sie.
Um sie herum hatten Bienen gesummt, die Luft war erfüllt gewesen von Wasserplätschern und leisem Lachen, und Vera hatte gewusst, dass sie nie wieder so glücklich sein würde.
1936 hatten sie geheiratet. Es war wenige Jahre nach den Reichstagswahlen gewesen, bei denen die Nationalsozialisten, die Wilhelm so verehrte, stärkste Macht im Reichstag und Hitler Reichskanzler geworden waren. Wilhelm war euphorisch, fast berauscht. Vera konnte der Politik dieses seltsamen, immer brüllenden Mannes mit dem hässlichen Bärtchen, das ihm wie eine Raupe unter der Nase klebte, zwar nicht viel abgewinnen, aber sie war vollauf damit beschäftigt, ihr neues Zuhause am Karlsplatz herzurichten und in ihrer jungen Liebe zu schwelgen. Alle ihre Freundinnen hatten sie um den gut aussehenden Wilhelm und das schöne Haus beneidet, das nun auch ihr gehörte.
Wilhelms Mutter Henny kannte sie von früher, doch Ende der Zwanzigerjahre war diese aus Deutschland fortgegangen und hatte sich in Argentinien niedergelassen. Zur Hochzeit war sie kurz angereist und hatte Vera herzlich als Schwiegertochter begrüßt. Ab und an kam ein kurzer Brief, den Wilhelm überflog und dann achtlos beiseitelegte. Vera aber las diese Briefe jedes Mal mit Spannung und wachsender Sympathie für ihre Schwiegermutter. Ihr Leben erschien ihr faszinierend und exotisch, wie aus einem Roman. Ganz verstanden hatte Vera nicht, weshalb Henny es vorzog, am anderen Ende der Welt zu leben, fern von ihrer Familie. Doch Wilhelm und sie ließen das Thema unberührt. Ihre eigenen Eltern lebten nicht mehr, ihre Mutter war gestorben, als Vera noch jung war, ihr Vater, deutlich älter als die Mutter, hatte kurz nach dem Machtantritt Hitlers einen Herzschlag gehabt. Er war ein unpolitischer Mensch gewesen, ein freundlicher und zurückgezogener Herr, der sich wenig aus der Regierung machte, dennoch schien es Vera, als wären diese beiden Ereignisse miteinander verknüpft.
Veras Elternhaus hatten sie verkauft, und so lebten sie zu dritt in der großzügigen Villa. Wilhelms Großmama Käthe, wie er die alte Dame liebevoll nannte, obwohl sie streng genommen nicht miteinander verwandt waren, bewohnte noch zwei Räume im ersten Stockwerk. Doch sie war nicht mehr gut zu Fuß, schwerhörig und meistens zufrieden damit, allein mit ihrer Handarbeit im tiefen Ohrensessel zu sitzen und auf den Karlsplatz hinauszusehen. So vergaß Vera manchmal, dass Käthe überhaupt da war. Das leere Haus hatte nur darauf gewartet, dass Wilhelm und sie es in Besitz nahmen und mit einer fröhlich lachenden Kinderschar bevölkerten. Aber dann war alles ganz anders gekommen.
Vera und Wilhelm tanzten. Vera sang leise die letzte Liedzeile. Die Worte schwebten wie Staubflocken durch die Luft und sanken dann zu Boden. Als sie endete, fiel der Zauber des Augenblicks von ihnen ab. Wilhelm ließ ihre Hand los und begann wieder mit seiner rastlosen Wanderung durch das Zimmer. Dann trat er zur Anrichte aus Mahagoni und schenkte sich aus einer Kristallkaraffe einen Schnaps ein. Mit geübter Handbewegung kippte er sich die Flüssigkeit in den Mund und goss sofort nach, diesmal war das Glas randvoll. Er trank, als wäre es Wasser. Vera wusste aus Erfahrung, dass es jetzt gefährlich wurde.
Zaghaft sagte sie: «Wilhelm, mach langsam. Es gibt gleich Essen. Dann können wir uns an den Tisch setzen und in Ruhe weiterreden. So wie früher, weißt du noch?»
Wilhelm schüttelte den Kopf, als gäbe sie Unsinn von sich. «Nein, ich weiß es nicht mehr. Alles, was ich weiß, ist, dass meine Frau nur mit mir zankt, mir nicht zu Willen ist und mir jetzt auch noch das Trinken verbieten will. Du bist grausam, weißt du das? Ich riskiere jeden Tag mein Leben, für unser Land, für dich! Und wie dankst du es mir?»
«Das machst du nicht für mich», brach es aus Vera heraus. Sie spürte den brenzligen Geruch der Gefahr in der Luft, doch sie konnte nicht an sich halten. «Für dich allein riskierst du Kopf und Kragen in diesem unsinnigen Krieg und für deinen geliebten Führer. Vielleicht solltest du mit ihm eine Familie gründen, man hört ja so einiges über Hitlers Vorlieben …»
Weiter kam sie nicht. Wilhelm war mit einem Schritt bei ihr und schlug ihr mit der flachen Hand auf den Mund. Ihr Kopf flog zu Seite, und sie spürte, dass ihre Lippe aufplatzte, dort, wo sein Ehering sie getroffen hatte. Schon war die hellblaue Baumwolle ihres Kleides auf der Brust mit Blut besudelt. Sie hatte nicht einmal aufgeschrien, weil sie es gewohnt war, dass er seiner Wut auf diese Weise Ausdruck verlieh. Wortlos griff sie nach einem Stück Stoff, das im Flickkorb lag, und drückte es auf ihren Mund, um die Blutung zu stillen.
Wilhelm sah sie aus glasigen Augen an, der Alkohol wirkte bereits. «Sieh dich vor», sagte er leise, der Ton in seiner Stimme ließ in Vera alle Alarmglocken schrillen. «Du beleidigst nicht vor meinen Ohren den Führer.» Mit dem Daumen deutete er auf das gerahmte Porträt und legte dann einen Finger auf die Lippen, als könnte der Mann darauf sie hören. Langsam schob er sein vor Wut verzerrtes Gesicht vor Veras geschundene Züge. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen, und Vera meinte, im Blau von Wilhelms Iris das übermütige Funkeln wiederzuerkennen, das sie früher so verrückt gemacht hatte. Doch im nächsten Moment erlosch es. Stattdessen packte Wilhelm sie unsanft am Arm und zog sie zu sich. Sie überlegte fieberhaft, wie sie dem, was nun folgen würde, entgehen konnte. Doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Er würde sich nicht davon abbringen lassen, mit ihr zu schlafen. Ein bisschen verstand sie ihn sogar. Während seiner Flugeinsätze schwebte er in Todesgefahr, der Kampf in diesem Krieg verlangte ihm und seinen Kameraden täglich alles ab, stürzte sie von einem Taumel aus Adrenalin und Todesangst in den nächsten. Kam er dann die wenigen Male im Jahr nach Hause, sehnte er sich nach Idylle, nach trippelnden Kinderfüßen und duftenden Blondschöpfen in sauberen Kinderbettchen. Nach einer willigen und liebevollen Heldenfrau, die für ihn die Bewunderung hegte, die ihm seiner Meinung nach zustand. Stattdessen war das Haus kalt und leer, die Straßen aufgerissen von Bomben, das Essen knapp und sie, Vera, melancholisch und ängstlich. Kein Wunder, dass sie stritten und Wilhelm wütend auf sie war.
Also ergab sich Vera in ihr Schicksal. Er war schließlich ihr Mann, dachte sie, während er grob ihre Strümpfe aufhakte und hinunterschob. Sie kannte ihn in- und auswendig. Jede Berührung war vertraut und lief fast automatisch ab. Nur an das Gewaltsame, das ihr Zusammensein in den letzten Jahren angenommen hatte, konnte sie sich nicht gewöhnen. Sie schloss die Augen, während er ihr schmerzhaft den Kopf zurückbog, und erinnerte sich an ihre ersten Berührungen, als sie jung und voller Freude aneinander gewesen waren. Seine weichen Lippen, mit denen er ihr im Sommerbad die Wassertropfen von der Schulter geküsst hatte, seine sanften Finger in ihren dichten blonden Locken.
Gerade, als er seine Hose aufknöpfte und Vera hoffte, dass es schnell vorüberginge, heulten draußen die Sirenen auf, in einem auf- und abschwellenden Ton, der den Berlinern unmissverständlich befahl, schleunigst im Luftschutzkeller zu verschwinden. Selten war Vera das verhasste Geräusch so willkommen gewesen wie in diesem Augenblick.
November 1943, Mitte
An diesen Anblick gewöhnte man sich nicht, fand Vera, als sie durch die Überreste der Leipziger Straße stolperte, die einmal eine der prächtigsten Alleen der Stadt gewesen war. Heute wirkte die Straße wie eine Schwerverletzte mit klaffenden Wunden.
Das Straßenpflaster war aufgerissen und mit Schutt und Ziegeln bedeckt. Die Einschläge der amerikanischen und britischen Bomben hatten etwa jedes dritte Haus getroffen, die Mauern standen wie Skelette vor dem grauen Novemberhimmel, unter dem heute ein dichter, beißender Teppich aus Qualm hing. Die Fensterhöhlen glotzten dunkel auf das Treiben auf der Straße.
Das geschäftige Hin- und Hereilen der Menschen, die voll beladenen Handkarren und der Eifer, mit dem sie in den verbliebenen Geschäften einkauften und sich über ein Sonderangebot freuten, erschien Vera vor dieser Kulisse gespenstisch. Als wäre sie auf einem fremden Planeten gelandet, dessen Bewohner nicht bemerkten, dass ihr Leben in Schutt und Asche lag. Besonders an diesem Morgen hatte sie das Gefühl, dem Treiben in einem Tollhaus zuzusehen. Die Angriffe der letzten Nacht waren heftig gewesen, Richtung Westen hing ein roter Feuerschein über den Ruinen der Stadt. Doch die Menschen, die nicht unter den Trümmern ihrer Häuser begraben worden waren, rappelten sich auf, stiegen aus Staub und Qualm und gingen ihrem Tagwerk nach. Überleben war alles.
Vera eilte weiter zu ihrer Arbeitsstelle, dem großen Kaufhaus, das früher den Namen «Tietz» getragen hatte, bevor die Betreiber enteignet worden waren. Heute hieß es Hertie, nach dem früheren Besitzer Hermann Tietz. Die meisten Kunden wussten nicht, dass es auf diese Weise immer noch einen jüdischen Namen trug, im deutschen Gedächtnis prangte dort, wo einst jüdisches Leben gewesen war, ein blinder Fleck. Juden waren auf den Straßen Berlins überhaupt nicht mehr zu sehen, das fiel Vera heute zum ersten Mal deutlich auf. Oder hatte sie nur nicht darüber nachdenken wollen, was mit ihnen geschehen war?
Etwas, das man nicht mehr sah, fehlte wohl nicht, dachte sie erstaunt und erinnerte sich, dass noch vor Kurzem Menschen mit gelben Sternen auf der Brust durch die Straßen gelaufen waren. Viele allerdings nicht, was wohl auch daran lag, dass für jüdische Berliner andere Regeln galten als für Arier. Sie durften nicht mit der Straßenbahn oder dem Bus fahren, keine Parks betreten und nicht ins Schwimmbad oder Kino gehen. Auch in den Geschäften waren sie nur noch zu bestimmten Zeiten geduldet, eine Stunde am Tag, wenn die anderen bereits alles Nötige für ihre Lebensmittelmarken ergattert hatten und nur noch die leeren Auslagen gähnten.
Jetzt schienen sie alle vom Erdboden verschluckt, als wären sie über Nacht unsichtbar geworden. Wie Vera wusste, waren alle jüdischen Unternehmen in den vergangenen Jahren zu einem Spottpreis zwangsverkauft oder arisiert worden, also enteignet – auch wenn man das nicht aussprechen durfte. Die Nazis hatten daraus kein Geheimnis gemacht, sondern führten die oft prächtig laufenden Warenhäuser, Banken und kleineren Geschäfte unverhohlen unter neuen Namen weiter.
Veras eigene Arbeitsstätte war das beste Beispiel. Manchmal kam ihr der Gedanke, dass sie damals aus Protest hätte kündigen können, als man aus Wertheim ein vaterländisches Unternehmen gemacht hatte. Sie hatte nichts gegen ihren jüdischen Arbeitgeber gehabt. Es war Unrecht gewesen, ihm das Kaufhaus wegzunehmen, das wusste sie wohl. Doch andererseits musste jeder sehen, wo er blieb. Und welche Begründung hätte sie Wilhelm geben sollen? Er wetterte gegen die Zersetzung der deutschen Volksseele durch den «jüdischen Parasiten», seit Vera denken konnte. Jahrelang hatte sie das ignoriert, es hatte sie nicht sonderlich interessiert, schließlich kannte sie nur wenige Juden persönlich.
In der Schlossstraße in Steglitz war das Warenhaus Feidt, in dem sie gelernt hatte, 1937 enteignet worden. Seitdem hieß es Textilhaus Sommer. Was mit der Witwe Feidt und ihrem Sohn Gerhard passiert war, wusste Vera nicht. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt, nachdem sie an die Leipziger Straße gewechselt war. Nun fragte sie sich, wie es der Familie Feidt wohl ergangen war, nachdem sie ihr Kaufhaus hatte aufgeben müssen. Man hörte so einiges, doch bisher hatte Vera ihre Ohren lieber verschlossen, wenn das Thema hinter vorgehaltener Hand besprochen wurde. Von Lagern war die Rede, von Erschießungskommandos im Osten, wo Juden in langen Reihen in ausgehobene Gräben fielen, aus denen noch Stunden später Schreie drangen. Von grausamen Details, die zu glauben sie sich weigerte. Die Nazis waren fanatisch, das ja, doch so etwas konnte es einfach nicht geben. Das war Feindpropaganda, hatte Vera beschlossen, und mit dieser Entscheidung weitergelebt, auch wenn die nagende Stimme in ihr flüsterte, dass sie sich selbst belog.
Zuletzt hatten die Steglitzer ordentlich Stimmung gegen die jüdischen Unternehmer in der Schlossstraße gemacht und sogar öffentlich diejenigen Deutschen denunziert, die dort weiterhin einkauften. Vera erinnerte sich an die beschmierten Plakate vor den Schaufenstern, auf denen die Bewohner von Steglitz zum Ladenboykott aufgefordert wurden. Frau Feidt hatte auf den Knien gehockt und versucht, die weiße Farbe, mit der Hetzparolen auf das Pflaster gemalt worden waren, mit einem Schwamm fortzuschrubben. Vera schüttelte das Bild ab, es schmerzte und schmeckte bitter nach schlechtem Gewissen. Warum hatte sie ihrer ehemaligen Vorgesetzten nicht geholfen?
Vor der prächtigen Fassade des Kaufhauses am Dönhoffplatz blieb Vera stehen. Das Gebäude glich mit seinen herrschaftlichen Pfeilern und den Skulpturen, die über der Eingangstür wachten, eher einem Palast als einem Warenhaus. Auf dem Dach wehten Wimpel mit dem Schriftzug Hertie, daneben viele rote Hakenkreuzflaggen, die im Wind flatterten und gegen die Masten schlugen. Sie zog ihren Mantel enger um sich, weil sie fröstelte. Der Rauchgeruch biss in ihrer Lunge. Die Bombenangriffe der vergangenen Nacht waren die schwersten gewesen, die Vera bisher erlebt hatte. In Lichterfelde hatte sie, als sie im Morgengrauen mit Käthe am Arm aus dem Keller gewankt war, einen grellroten Schein über der Stadt gesehen. Es sah wunderschön aus, wie glühende Morgenröte mit dramatischen Rauchschwaden darüber. Doch der Anblick hatte Vera die Luft abgeschnürt. Dort, über dem Westteil Berlins, leuchtete es deshalb so prächtig, weil die alliierten Bomber Unmengen an Gebäuden getroffen haben mussten. Für viele Berliner, da war Vera sicher, würde nach dieser Nacht keine Morgensonne mehr aufgehen. Das Schrecklichste an diesem Gedanken war, dass er nicht einmal mehr Entsetzen in ihr auslöste. Man gewöhnte sich an das Sterben ringsum und hoffte nur, dass man selbst verschont blieb.
Da so viele Schienen der Bahn zerstört waren und bei den Luftangriffen immer wieder Waggons und Brücken getroffen wurden, wurde es jeden Tag zu einer größeren Herausforderung, aus Lichterfelde nach Mitte zu gelangen. Die Züge fuhren unregelmäßig, fielen auch oft aus, was bedeutete, dass man stundenlang zu Fuß gehen musste. Heute war in Schöneberg Schluss gewesen, alle Fahrgäste waren wegen der blockierten Gleise ausgestiegen. Vera hatte also ihre Tasche über die Schulter gehängt und sich zu Fuß auf den Weg gemacht. Immerhin hatte ihr Vorgesetzter es längst aufgegeben, seine Verkäuferinnen bei Verspätung zu tadeln. Er war froh, wenn sie überhaupt auftauchten, denn wenn nicht, bedeutete dies meist, dass sie Opfer der Bombardierungen geworden waren und die Kunden nie mehr mit Wollgarn, Jerseystoff und Weißwäsche bedienen konnten.
Die kalte Luft auf ihrem langen Weg durch das zerstörte Berlin saß Vera in den Knochen. Ihre Schicht hatte längst begonnen, sie sollte sich beeilen, aber immer öfter hatte sie, wenn sie ihren Arbeitsplatz erreichte, keine Lust hineinzugehen. Wer wusste in diesen Zeiten schon, wie viele Atemzüge einem noch blieben? Weshalb sollte man kostbare Lebenszeit mit nörgelnden Kundinnen verschwenden, die ohnehin nicht zufriedenzustellen waren? Es gab so gut wie keine Stoffe mehr in der Kleiderabteilung, das Lager im Keller war wie leer gefegt. Die elektrischen Lüster warfen ihr strahlendes Licht auf nackte Regale und Tische. So penetrant die verzweifelten Damen auch mit ihren Kleidermarken wedelten, Vera konnte keine Meterware aus dem Hut zaubern. Die Sinnlosigkeit ihrer Tätigkeit legte sich wie eine Schlinge um ihren Hals.
Die Sehnsucht nach einer Zigarette wurde übermächtig. Zur Hölle mit Wilhelm und seinen Ansichten zur weiblichen Fruchtbarkeit, dachte Vera grimmig und bat eine Kollegin, die sie soeben begrüßte, um einen Glimmstängel. Gisela, eine schlanke Mittzwanzigerin mit dunklen schulterlangen Haaren und beeindruckend roten Fingernägeln, blieb neben ihr stehen und sah mit ihr in den trüben Himmel, während sie gemeinsam rauchten.
«Haste vom Zoo gehört?», fragte Gisela und inhalierte tief. An einem der manikürten Nägel war der Lack abgesplittert, und sie kratzte daran herum, während sie aus den Augenwinkeln einem Unbekannten mit dunklem Hut mit dem Blick folgte, der sie angelächelt hatte. Vera wusste, dass Gisela unverheiratet war und es mit der Züchtigkeit der deutschen Frau nicht allzu genau nahm.
Vera schüttelte den Kopf. «Nee, was ist damit?»
«Er wurde gestern getroffen. Der halbe Ku’damm ist futsch, sagen die Leute. Muss schlimm gewesen sein. Selbst bei uns draußen in Siemensstadt hat die Erde ordentlich gewackelt. Wer weiß, wie viele in der Nacht in Charlottenburg hopsgegangen sind.»
«Und die Tiere?», fragte Vera und fühlte sofort, wie in ihr ein schlechtes Gewissen aufstieg. Sorgte sie sich mehr um die Löwen und Elefanten als um ihre Mitmenschen?
Gisela fuhr sich mit einer eindeutigen Geste mit der Handkante über den schlanken weißen Hals. «Die meisten hat es wohl erwischt», antwortete sie düster. «Und weil die Gehege kaputt sind, stromert so manches Raubtier jetzt ungehindert über den Ku’damm, so erzählten es die Leute an der Straßenbahnhaltestelle. Irgendwie eine putzige Vorstellung, wenn’s nicht so traurig wäre.»
Vera musste wider Willen kichern. «Denk dir mal, so ein Schimpanse beim Schaufensterbummel», sagte sie. «Oder ein Flamingo, der mir nichts, dir nichts einen Kaffee im Kranzler trinkt.»
Auch Gisela musste lachen, doch es ging in Husten über, weil sie sich am Zigarettenrauch verschluckte. «Die Welt ist übergeschnappt», krächzte sie, als sie wieder Luft bekam. «Wir sitzen auf einem Pulverfass.»
«Oder in der Falle», ergänzte Vera und trat die glimmende Kippe auf dem Straßenpflaster aus.
Gisela nickte. «Diese verdammten Amis und die Tommys mit ihren Terrorbombern, die uns jede Nacht Feuer unterm Hintern machen», fluchte sie. «Wie lange wollen sie uns noch in Grund und Boden bombardieren?»
Vera schwieg. «Bis sie den Krieg gewonnen haben», sagte sie leise und horchte überrascht ihren Worten nach.
Gisela starrte sie an. «Was meinst du? Weißt du, was du da redest?» Sie trat einen Schritt von Vera weg, als wäre ihre bloße Nähe plötzlich gefährlich. «Du, das ist Verrat!»
Vera spürte, wie sie blass wurde. Sie wusste nicht, woher die Worte gekommen waren. Sagte Wilhelm nicht immer, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Deutschland die Feinde von der Landkarte fegte? Dass der Führer eine Geheimwaffe habe, die die Briten schon bald das Fürchten lehren werde? Der Krieg, behauptete er, sei bald vorbei, und Deutschland werde als triumphaler Sieger daraus hervorgehen. Doch Vera bekam so manches mit, was sie an Wilhelms Worten zweifeln ließ. Es war verboten, feindliche Sender im Radio zu hören, doch manchmal, wenn sie allein im Haus war und die schwerhörige Käthe in ihrem Zimmer wusste, zog sie die Vorhänge vor. Unter einer Decke verborgen, um die Geräusche zu dämpfen, saß sie dicht am Radio und fummelte an den Knöpfen herum, bis sie Gustav Siegfried 1 zu fassen bekam, einen Widerstandssender. Manchmal gelang es ihr sogar, die BBC zu erwischen. Geschmiegt in die Höhle aus Dunkelheit und Ungehorsam lauschte sie atemlos. Sie wusste nicht genau, weshalb sie das tat. Zuerst hatte sie sich eingeredet, dass sie die Jazzmusik mochte, die auf den ausländischen Sendern gespielt wurde und so ganz anders war als die deutschen Lieder. Die Jazzkapellen trugen wilde, berauschende Rhythmen der fernen Welt in die kalte Stille der Villa am Karlsplatz. Doch immer öfter ertappte sich Vera dabei, dass sie nach der Musiksendung weiter ihr Ohr an den Lautsprecher drückte und den Stimmen lauschte, die die Frontverläufe und Siege der Alliierten kommentierten. Es war auffällig, dass sich die Darstellungen der ausländischen Radiostationen ganz anders ausnahmen als die, die der deutsche Rundfunk verkündete. Und Vera, die Berlins Zerstörung täglich vor Augen hatte, musste sich eingestehen, dass sie den ausländischen Stimmen mehr Glauben schenkte als der schnarrenden Stimme von Goebbels und den anderen deutschen Rednern, die unbeirrt behaupteten, Deutschland erringe an den Fronten einen Erfolg nach dem anderen. Wenn das so war, fragte sich Vera, weshalb wurde die Situation an der Heimatfront dann immer dramatischer? Weshalb waren sie in Berlin so schlecht mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern versorgt? Und weshalb ließ die siegreiche deutsche Armee es zu, dass die Hauptstadt dieses herrlichen Dritten Reiches von den Feinden dem Erdboden gleichgemacht wurde? Ihr fiel seit Jahren auf, dass die Zeitungen und die Wochenschauen zwar eifrig die unfassbaren Zahlen der feindlichen Gefallenen nannten und sich damit brüsteten, niemals jedoch die Zahlen der deutschen Toten veröffentlichten. Wenn Vera nachrechnete, in wie vielen ihr bekannten Familien die Söhne und Männer nicht zurückgekehrt waren, wurde ihr klar, dass es Unzählige sein mussten. Einmal, vor zwei Jahren, hatte sie sogar die Todesanzeigen in der Morgenpost gezählt, die dort für die Gefallenen von ihren Hinterbliebenen annonciert worden waren. Beinahe jede trug eine Überschrift wie Gefallen für seinen geliebten Führer oder dergleichen. Wenn man diese mit der Zahl der deutschen Zeitungen multiplizierte und hochrechnete, kam man auf über dreißigtausend tote deutsche Soldaten im Jahr. Und das, obwohl sicher nicht alle Familien eine Anzeige schalteten, was hieß, dass es noch viel mehr sein mussten. Veras Zweifel an Wilhelms Versicherung, der Krieg sei so gut wie gewonnen, wurden jeden Tag größer. Wie lange konnten die Nazis dieses Bild aufrechterhalten? Was würde mit den Deutschen geschehen, wenn die Alliierten und die Russen den Krieg gewännen?
All diese Fragen hätte Vera gerne ihrer Kollegin gestellt. Doch ein Blick in deren reservierte Miene zeigte ihr, dass dies keine gute Idee wäre. In einem Land, in dem selbst Kinder ihre Eltern bei der Gestapo denunzierten, hatten Zweifel, hatte die Wahrheit keinen Platz.
«Ich habe es nicht so gemeint», sagte sie daher und sah Gisela eindringlich an. «Das sollte ein Scherz sein.»
«Kein besonders gelungener», antwortete Gisela und behielt ihren misstrauischen Ausdruck. «Lass das bloß nicht jemanden hören, der damit zur Gestapo rennt. Diese Kuh Sieglinde aus der Kurzwarenabteilung brennt nur darauf, Leute anzuschwärzen. Und gerade du solltest so nicht reden. Ist nicht dein Wilhelm bei den Jagdfliegern? Mit Ritterkreuz und Eichenlaub und so weiter?»
Vera nickte, sie fühlte sich schwach in den Knien. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können? Sie lächelte die Kollegin um Verzeihung bittend an.
Giselas Gesicht wurde wieder freundlicher. «Wär schade um dich», sagte sie leichthin und fuhr mit ihrer manikürten Hand durch Veras blonde Strähnen. «Bist doch die Vorzeigearierin mit deinem schmucken Offizier und deinen blonden Haaren und grünen Augen. Siehst aus wie die deutsche Frau auf diesen Reklametafeln. Nur die Schar Rotznasen fehlt noch, die du dem Führer gebären sollst.»
Vera sah Gisela unsicher an. Nun war sie nicht sicher, ob die Kollegin scherzte oder ernst war. Auch ihr Tonfall, fand sie, grenzte jetzt gefährlich an Lästerung. Doch aus Giselas Gesicht, aus ihren runden Puppenaugen strahlte die blanke Unschuld.
«Damit haben wir es nicht eilig», murmelte Vera, um das Thema zu umgehen.