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Hamburg, 1947. Leni, Alice und Elsa haben sich mit Einsatz und Tatkraft auf dem Kiez Achtung verschafft. Insbesondere die Frauen vertrauen sich ihnen an, denn die Arbeitsbedingungen sind oft sehr schlecht. Aber als die Schutzpolizistinnen einschreiten wollen, werden sie von den männlichen Vorgesetzten nicht ernstgenommen. Erst als ein Unglück geschieht, wendet sich das Blatt. Leni fühlt sich zunehmend wohl in ihrem Leben als alleinstehende Frau. Ihr winkt sogar eine Beförderung. Als zarte Bande zu ihrem Kollegen Lasse von Hallberg entstehen, ist sie hin und her gerissen. Soll sie ihre Unabhängigkeit aufgeben? Doch dann geschieht etwas, das alles so hart Erkämpfte bedroht ...
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Seitenzahl: 503
Hamburg, 1947. Leni, Alice und Elsa haben sich mit Einsatz und Tatkraft auf dem Kiez Achtung verschafft. Insbesondere die Frauen vertrauen sich ihnen an, denn die Arbeitsbedingungen sind oft sehr schlecht. Aber als die Schutzpolizistinnen einschreiten wollen, werden sie von den männlichen Vorgesetzten nicht ernstgenommen. Erst als ein Unglück geschieht, wendet sich das Blatt. Leni fühlt sich zunehmend wohl in ihrem Leben als alleinstehende Frau. Ihr winkt sogar eine Beförderung. Als zarte Bande zu ihrem Kollegen Lasse von Hallberg entstehen, ist sie hin und her gerissen. Soll sie ihre Unabhängigkeit aufgeben? Doch dann geschieht etwas, das alles so hart Erkämpfte bedroht …
Steffi von Wolff weiß, wovon sie schreibt. Nach einer Ausbildung zur Hotelkauffrau begann sie 1991 beim Hessischen Rundfunk zunächst als Redaktionsassistentin, später als Reporterin, Moderatorin und Redakteurin bei hr3.Sie lebt in Hamburg und ist Autorin zahlreicher Romane in der humorvollen Frauenunterhaltung. Zuletzt hat sie für Aufbau die Saga »Die Frauen vom Nordstrand« als Marie Sanders geschrieben.
S T E P H A N I EV O N W O L F F
D I E
F R A U E N
V O N D E R
D A V I D W A C H E
L I C H T B L I C K E
R O M A N
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Christiane Branscheid, Bremervörde
Umschlaggestaltung: © SO YEAH DESIGN, Gabi Braun
Einband-/Umschlagmotiv: © mattomedia KG / shutterstock.com; Gile68 / shutterstock.com; © Richard Jenkins Photography; © SZ Photo / Alfred Strobel / Bridgeman Images; © United Archives / Roba Archive / Bridgeman Images
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-5609-9
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lesejury.de
Hamburg, Winter 1946
Leni starrte die Person vor sich mit weit aufgerissenen Augen an. Alles drehte sich plötzlich, das, was Lotti sagte, schien in Zeitlupe in Lenis Bewusstsein zu dringen. Sie hielt sich an der Wohnungstür fest, wollte schlucken und merkte, dass ihr Hals wie ausgedörrt war. Das musste ein Irrtum sein. Das konnte nicht stimmen.
»Leni …«, hörte sie wie aus weiter Ferne. In ihren Ohren sauste es. Sie brauchte Wasser. Sie brauchte unbedingt Wasser. Nur jetzt nicht umfallen, bat sie sich selbst. Bloß nicht umfallen. Sie versuchte, sich wieder zu fangen, doch es fiel ihr unglaublich schwer.
»Komm doch bitte endlich rein«, hörte sie Lotti sagen. Ihre Stimme hallte, Leni hörte alles doppelt und dreifach. Sie hielt sich weiter an der Tür fest.
Einige winzige Sekunden lang hatte sie geglaubt, dass Alfred gleich vor ihr stehen würde. Doch er war es nicht. Es war … es war … tatsächlich … es war …
»Franzi …«, brachte sie endlich heiser hervor, dann ließ sie die Tür los, ging einen Schritt auf die tot geglaubte Freundin zu und fiel ihr in die Arme. Beinahe hätte sie sie zu Boden gerissen. Es drehte sich immer noch alles.
Franzi war doch 1943 während der Operation Gomorrha umgekommen. Das Haus hatte sie und ihre Familie unter sich begraben. Leni hatte es doch mit eigenen Augen gesehen.
Wie war dies alles möglich?
Sie drückte die Freundin und wollte sie nie wieder loslassen. Jetzt endlich sah sie wieder klar, schien die Zeit sich weiterzudrehen.
»Leni«, murmelte Franzi und hielt sie fest. »Leni, meine liebste Leni. Meine liebe, liebe Freundin.« So standen sie da, minutenlang. Lotti ließ ihnen Zeit. Zeit brauchten die beiden jetzt.
»Bitte erzähle von Anfang an, Franzi«, bat Margot Harding die Freundin ihrer Ältesten. Alle waren völlig durcheinander. »Komm, Kind, setz dich hier hin. Möchtest du etwas trinken?«
Franzi nickte, und Margot stand auf und ging mit schnellen Schritten in die Küche, um einen Krug mit Wasser zu füllen. Leni hatte sich mittlerweile wieder halbwegs im Griff und sah die Freundin genauer an. Franzi war wie so viele während des Krieges schmal geworden, ausgemergelt wirkte sie. Noch mehr als damals, als sie sich kurz vor Gomorrha zum letzten Mal gesehen hatten. Und sie schien ängstlich und schreckhaft geworden zu sein. Bei jedem kleinen Geräusch zuckte sie zusammen. Ihre Hände konnte sie nicht ruhig halten. Dauernd strich sie über den Tisch oder über ihr Knie oder sie verschlang die Finger ineinander.
Am meisten erschreckten Leni Franzis Augen. Einst hatte die Freundin mit leuchtendem Blick ihre Umgebung und ihre Mitmenschen betrachtet, nun aber wirkten die Augen glanzlos und matt und eine Ängstlichkeit lag in ihnen. Es waren die Augen einer Frau, die schon viel zu viel Schreckliches mit ansehen musste. Leni fragte sich, ob sich das in Zukunft wieder ändern würde.
Die Kleidung, die Franzi trug, war schadhaft und löchrig. Die schmutzige Arbeitshose hatte sie mit einem Strick um die viel zu schmale Taille gebunden, der Pullover war aus dünner Wolle, eine Jacke hatte sie nicht. Ihre Schuhe waren abgelaufen und das Leder hatte Löcher. Leni sah, dass Franzi keine Strümpfe trug. Sie musste draußen entsetzlich gefroren haben. Ihr Gesicht war eingefallen, die Haare notdürftig mit einem Band nach hinten gebunden. Leni fragte sich, wann Franzi sich zum letzten Mal gewaschen hatte. Sie würde ihr nachher anbieten, ein Bad zu nehmen.
»Dürfte ich wohl auch eine Scheibe Brot bekommen?«, bat Franzi nun mit brüchiger Stimme, nachdem Margot mit dem Wasser zurückgekommen war. Die stellte den Krug ab, goss Wasser in einen Becher und ging dann wieder Richtung Küche, um Brot zu holen.
Ömchen, die bis jetzt am Tisch gesessen hatte, stand auf. »Ich mach ihr was Richtiges. Bleib du mal sitzen, Margot. Bleib du mal mit den Kindern bei Franziska.«
Ömchen kannte Franzi, seit sie ein kleines Mädchen war. Unzählige Male hatte die Kleine mit Leni bei ihr im Innenhof gespielt, unzählige Male waren die zwei verschwitzt und hungrig hinaufgepoltert, um bei Rundstücken mit Leberwurst und frischer Milch davon zu erzählen, dass sie sich nie trennen und für immer Freundinnen bleiben würden. Manchmal hatten die beiden bei Ömchen und Opa Michel übernachten dürfen, dann hatte Opa ihnen Decken über die Stühle gehängt und ihnen damit ein Zelt gebaut, und Ömchen hatte ihnen Butterbrote geschmiert und frisch gebackenen Streuselkuchen mit Aprikosen oder Kirschen gebracht, sie hatten sich dann wie Abenteurer gefühlt. Es war herrlich gewesen. So lange war das her. Was war seitdem alles passiert! Wie hatte das Leben sich doch verändert. Leni blickte ihrer Oma hinterher. Manchmal schien es ihr, dass ihre Stärke nachließ, langsam zwar, aber spürbar. Sie war nun siebzig, und die letzten Jahre waren alles andere als einfach gewesen. Zwar wurde es nun Stück für Stück besser, aber dieser Hungerwinter war auch nicht ohne. Und doch würden sie das auch noch schaffen. Liebevoll sah Ömchen Franzi an, die dasaß wie ein Häufchen Elend, dann verschwand sie in der Küche.
»Danke, Mutti«, sagte Margot nun, die wie Leni und Lotti immer noch sichtbar durcheinander war. Die Kinder hatten sie rausgeschickt, die kleinen konnten sich gar nicht mehr an Franzi erinnern, nur Lenis beiden ältesten, Hannes und Liesel, kannten Franzi noch von früher. Dass Leni und Franziska wie die Kletten zusammengeklebt hatten, hatte ihre Mutter ihnen erzählt. Auch als sie älter wurden und schließlich erwachsen waren und heirateten. Zusammen mit Alfred und Franzis Mann Paul hatten sie Ausflüge mit dem Fahrrad unternommen, sie waren zum Tanzen gegangen. Und sie hatten ihre »geheimen« Gespräche geführt, weil sie beide das Regime unter Hitler und seinen Schergen verabscheut und verachtet hatten.
Dann war dieser Tag gekommen. Unter dem Decknamen Operation Gomorrha hatten die Alliierten Hamburg bombardiert und ein Feuer ausgelöst, das riesige Teile der Stadt dem Erdboden gleichgemacht und über 34.000 Menschen das Leben gekostet hatte. Auch das Haus von Franziska und ihrer Familie war zerstört gewesen, als Leni und die anderen sich endlich aus ihrem Luftschutzraum getraut hatten. Alle, die sich damals im Keller des Nachbarhauses aufgehalten hatten, waren umgekommen.
Leni hatte damals gedacht, dass sie das nie im Leben würde verkraften können. Alles in ihr war tagelang eiskalt gewesen, sie hatte sich zu nichts in der Lage gefühlt.
Irgendwann dann hatte sie gelernt, nach vorn zu sehen, weiter zu funktionieren, so wie die meisten anderen Menschen in dieser Zeit, bis es halbwegs erträglich geworden war. Weil sie einfach keine andere Möglichkeit hatten, als weiterzumachen. Aber hin und wieder hatte Franzi sie in ihren Träumen besucht und sie angelächelt.
»Wir sehen uns wieder«, hatte sie in diesen Träumen geflüstert, und manchmal war Leni lächelnd aufgewacht und hatte einige Sekunden lang geglaubt, alles wäre gut, dann aber kam die Erinnerung wie ein Fausthieb zurück und mit ihr der Schmerz des Verlusts.
Und nun saß Franzi hier. Sie saß einfach hier und lebte.
»Franzi …«, sagte Leni und streichelte die Hand ihrer Freundin. »Franzi, was ist denn nur passiert? Wo bist du seit 1943 gewesen? Wie konntest du überleben?«
Durfte sie diese Fragen überhaupt stellen? Würde Franzi überhaupt in der Lage sein, darüber zu sprechen? Leni biss sich auf die Lippe und wartete einfach ab.
Franzi antwortete nicht gleich, sondern machte sich über den Teller mit den Broten her und trank von dem heißen Tee, die Ömchen gerade vor ihr abgestellt hatte. Sie musste schrecklich hungrig und durstig sein, denn der Wasserkrug war schon halb geleert.
Margot, Ömchen, Lotti und Leni waren zwar gespannt wie die Flitzebögen, aber sie gaben Franzi die Zeit, die sie brauchte.
Irgendwann sah sie kauend auf. »Danke«, sagte sie leise. »Kann ich wohl ein wenig bei euch bleiben oder muss ich wieder fort?«
Diese Frage zerriss Leni beinahe das Herz. Wahrscheinlich hatte Franzi überhaupt keine Möglichkeit, woanders hinzugehen.
»Franzi! Selbstverständlich bleibst du, solang du willst. Ich bin ja so glücklich, dass du hier bist, dass du lebst! So glücklich. Ich lasse dich nicht wieder gehen!« Wieder streichelte sie die Hand der Freundin, die jetzt von der Teetasse gewärmt war.
»Danke«, sagte Franzi wieder und sah Leni mit hoffnungslosem Blick an. »Es waren ganz schreckliche Zeiten«, erklärte sie dann leise.
»Möchtest du uns davon erzählen?«, fragte Lenis Mutter Margot fürsorglich.
»Ich … ja … ich werde erzählen. Aber es ist schwer, ich versuche, so wenig wie möglich dran zu denken.«
Sie sah so verletzlich aus, wie sie dasaß und versuchte, sich zu sammeln. Leni sah vereinzelte weiße Strähnen in ihren braunen Locken. Sie wagte es nicht, nach Franzis Tochter Marie zu fragen, die sie alle nur Mimi genannt hatten. Auf gar keinen Fall wollte sie Wunden aufreißen. Doch Leni vermutete, dass Marie tot war, so wie der Rest der Familie.
Franzi hatte nun das Brot aufgegessen und trank noch einen Schluck Tee. Leni bemerkte, dass sich um die Augen und die Mundwinkel der Freundin tiefe Falten gegraben hatten.
Nun, dachte sie. Wer hat die nicht? Sie selbst war auch nicht mehr so jung, frisch und sorglos wie vor dem Krieg. Dabei war sie immer so stolz auf ihre fast makellose Haut gewesen. Sie alle waren schneller als gewöhnlich gealtert und hatten dies hinnehmen müssen.
Leni sah ihre Freundin an und nickte ihr aufmunternd zu.
Franzi lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloss kurz die Augen.
»Ich bin noch mal aus dem Keller gegangen, weil ich Mimis Puppe von oben holen wollte«, begann sie dann ruhig. »Weißt du, die Schildkröt-Puppe, die du ihr geschenkt hast … Sie hat so geweint, und ich war mir sicher, dass ich es schaffen würde. Aber ich war zu langsam.« Sie stockte, und Leni sah Tränen in Franzis Augenwinkeln. »Rechts und links von mir fielen plötzlich Bomben, ich bin nur noch gerannt und in einem anderen Keller untergekommen. Die Leute, die schon dort waren, wollten mich erst nicht reinlassen, weil der Keller bereits überfüllt war, aber dann hat ein Mann ein Machtwort gesprochen.« Sie schluckte. »Die Zeit in diesem Keller erschien mir endlos. Ich hab die ganze Zeit nur geweint und gebetet, dass ich Mimi und die anderen wiedersehe. Weißt du noch, wie uns gesagt wurde, dass es sein kann, in einem Keller zu ersticken oder zu verbrennen?«
Oh ja, Leni erinnerte sich gut daran. Das war eine große Angst gewesen. Einmal hatte sie geglaubt, dass es keine Rettung mehr geben würde, und mit dem Leben abgeschlossen. Sie wusste noch ganz genau, was sie damals gedacht hatte: Bitte lass es schnell gehen und lass die Kinder, Mutti, Lotti, Ömchen und mich nicht lange leiden. Glücklicherweise waren sie jedoch mit dem Leben davongekommen.
Franzi schluckte. »Diese Gefahr war alles, woran ich während der Stunden dort unten denken konnte. Und dann herrschte endlich Stille, wir konnten hinaus auf die Straße, doch nichts sah mehr aus wie zuvor. Von unserem Haus war nichts mehr übrig geblieben. Es war wie ausgelöscht, der Keller verschüttet. Überall lagen tote Menschen. Ich konnte nicht klar denken, bin nur herumgelaufen und hab meine Familie gesucht, meine Tochter. Bin durch die Trümmer gestapft, habe mir die Hände blutig gebuddelt, um sie zu finden, doch es war hoffnungslos. Ich hatte nichts mehr. Nur das, was ich am Körper trug – und Mimis Puppe. Ich hatte keinen Ausweis, nichts.«
Sie schaute in ihre leere Tasse. »Kann ich wohl noch einen Tee bekommen? Mein Hals ist immer noch wie ausgedörrt«, bat sie Ömchen, und die nickte und stand auf.
»Natürlich, mein Kind«, versprach sie liebevoll.
»Ach, das gute Ömchen.« Franzi seufzte, und Ömchen strich ihr im Vorbeigehen sachte übers Haar. »Dass ich euch alle wiedersehe. Ich kann es noch gar nicht glauben.«
»Wie ging es denn dann weiter?«, fragte Leni ihre Freundin. »Wo bist du dann hin? Warum bist du nicht zu uns gekommen? Wo warst du und wo kommst du jetzt her und …«
Ihre Mutter hob eine Hand. »Lass Franzi doch erst mal verschnaufen. Wir werden schon alles erfahren, was sie uns erzählen will, doch das hat Zeit.«
»Schon gut, Margot. Leni hat recht. Ich muss es jetzt loswerden. Ich bin auf einen älteren Mann gestoßen, der genau so verwirrt war wie ich. Er war völlig orientierungslos und litt offenbar an Vergesslichkeit, denn er sagte dauernd, dass ich seine Tochter wäre. Du bist mein Kind, bleib bei mir, hat er ständig gerufen. Ich habe ihn untergehakt und uns in Sicherheit gebracht. Nun, und dann trafen wir auf zwei Widerlinge von der SS. Mein Begleiter hieß Gottlieb Silberstein, er hatte einen Pass dabei. Mehr muss ich euch nicht sagen. Man hat uns beide mitgenommen, als Judensäue beschimpft. Ich konnte sagen, was ich wollte, sie haben mir nicht geglaubt. Es herrschte ja auch das reinste Chaos überall. Menschen haben geschrien und gebrannt, die Leute sind panisch und kreischend durcheinandergelaufen; niemand wusste noch, wo vorn und wo hinten war.« Sie stockte. »Mir hat der alte Mann so leidgetan, aber ich hab dennoch versucht, den SS-Leuten klarzumachen, dass ich keine Jüdin bin, und dass ich nicht seine Tochter bin. Aber sie haben mich einfach mitgezerrt und sich einen Dreck darum geschert, was ich sagte. Ich …« Sie stockte.
»Was, Franzi?«, fragte Lotti beinahe atemlos.
Franzi schaute auf den Boden und verschränkte die Finger. Sie atmete plötzlich schwer und zitterte.
»Willst du dich besser hinlegen?«, wollte Ömchen wissen und streichelte Franzi über den Rücken.
Die schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur … die Erinnerung.« Sie sah Leni an und schluckte.
»Sie haben mich in eine Art Bordell für SS-Leute gebracht«, gestand sie dann leise.
Leni, Lotti, Ömchen und Margot hielten kurz die Luft an und Ömchen schlug die Hände vor den Mund. Keine von ihnen brachte einen Ton heraus.
»Ich weiß noch nicht mal, wo das war. Sie haben mir die Augen verbunden und mich in einen Wagen gesetzt, dann sind wir stundenlang durch die Gegend gefahren, ich habe bis heute keine Ahnung, wo ich seit 1943 war.«
Wieder schluckte sie. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie widerwärtig die Männer zu mir waren. Sie haben mich nicht behandelt wie eine Frau, sondern wie eine … wie eine Sache, ein Ding, das man benutzt und dann liegen lässt. Ich bin fast umgekommen vor Angst um meine Familie. Ich hatte keine Gewissheit, wusste ja nicht, was passiert ist, nachdem ich den SS-Männern in die Arme gelaufen bin. Ich habe auch nie erfahren, was aus dem alten Herrn Silberstein geworden ist. Ich nehme an, dass auch er weggebracht wurde und wahrscheinlich ermordet.«
Nun liefen die Tränen über Franzis Wangen, und Leni rutschte näher zur Freundin. Sie legte ihr den Arm um die Schultern und hielt sie einfach fest. Franzi brauchte einige Zeit, um sich wieder zu sammeln, dann räusperte sie sich.
»In all der Zeit wusste ich nicht, was mit meiner Familie passiert ist. Könnt ihr euch diese Ungewissheit vorstellen? Und dann, von einem Tag auf den anderen, waren wir allein. Das Haus, in dem ich mit fünf anderen Frauen untergebracht worden war, war plötzlich leer, niemand bewachte uns mehr, niemand wollte etwas von uns. Wir haben unsere Sachen genommen und sind einfach losgelaufen, ohne Ziel. Ich wusste ja nicht, wo Hamburg war. Ob ich westlich oder östlich laufen musste. Endlich haben wir zwei Bauern getroffen und fragen können, was los war. Sie teilten uns mit, dass der Krieg beendet war, und es stellte sich heraus, dass man uns irgendwo in Schleswig-Holstein gefangen gehalten hatte. Mit zwei der Frauen, die auch aus Hamburg kamen, hab ich mich dann durchgeschlagen. Es war eine merkwürdige Stimmung überall. Der Krieg war vorbei, aber niemand glaubte es so richtig, also anfangs. Wie sollte man das auch glauben nach sechs Jahren. Wir haben auf dem Weg nach Hamburg in Scheunen geschlafen und einmal bei einer Bäuerin, bei der wir auch etwas zu essen bekamen. Sie wartete auf ihren Mann und ihre drei Söhne, wer weiß, ob die Männer überhaupt zurückkommen. Nun, und dann sind wir von einem auf den anderen Tag krank geworden. Eine der Frauen und ich. Lungenentzündung. Es hat Ewigkeiten gedauert, bis wir wieder halbwegs auf den Beinen waren. Monate. Wir haben zum Glück bei der Bäuerin unterkommen können, das war eine so reizende Frau, das kann man sich gar nicht vorstellen. Als es uns besser ging, sind wir weitergezogen. Dann kamen wir in Hamburg an und sahen überall die Trümmer und die Verwüstung, noch schlimmer als vorher.«
Sie lehnte sich an Leni. »Ich hab unsere Straße gesucht. Aber ich habe nur Trümmer gefunden. Sie ist weg. So wie fast alles. Alles ist weg. Ich habe nach euch gefragt, euch gesucht und nicht gefunden. Niemand wusste was. So viele sind tot.« Sie richtete sich auf. »Habt ihr was von meiner Familie gehört oder gesehen?«
Leni schüttelte den Kopf, konnte Franzi kaum in die Augen sehen. »Nein. Nach der Operation Gomorrha nicht wieder. Wir dachten, auch du wärst im Haus gewesen, in diesem Keller, der nach jener Nacht keiner mehr war. Auch für uns war es ein Schock, nach dem Angriff wieder auf die Straße zu treten. Nichts stand mehr.« Leni brachte es nicht übers Herz, »Sie sind alle tot« zu sagen. Aber wenn die Familie von Franzi im Keller gewesen war, als der Angriff stattfand, gab es keine andere Möglichkeit. Man musste der Wahrheit ins Gesicht sehen, so bitter das war.
Lenis Herz krampfte sich zusammen, wenn sie die Freundin ansah. Was hatte sie alles durchgemacht!
»Habt ihr denn was von Paul gehört?«, fragte Franziska nun.
»Nein, auch nicht. Seitdem er eingezogen wurde, haben wir keine Nachricht von ihm erhalten«, erklärte Lotti.
Franzi nickte. »Natürlich nicht. Warum sollte ausgerechnet mein Mann überlebt haben. Das wäre ja zu viel des Guten.« Nun klang ihre Stimme verbittert und sarkastisch. Sie fuhr sich durch die strähnigen Locken und wirkte noch verlorener.
»Alfred ist auch tot«, sagte Leni, als ob das Franzis Leid schmälern könnte.
»Oh Leni, das tut mir so leid«, sagte die mit ehrlicher Bestürzung. »Wie ist es …?«
»In der Sowjetunion ist er an Schwindsucht gestorben. Angeblich«, erklärte Leni. »Niemand wird erfahren, was wirklich passiert ist. Wir alle versuchen, nach vorn zu schauen. Etwas anderes bleibt uns ja auch gar nicht übrig. Wir sind so froh, dass wir uns haben.«
Franzi nickte langsam. »Das werde ich auch versuchen müssen. Ich werde probieren, nicht dran zu denken, dass meine Tochter, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und meine Tante tot sind und ich keine Heimat mehr habe. Ich habe nichts, nur das, was ich bei mir habe«, sagte sie tonlos. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen soll.«
»Aber ich«, kam es von Ömchen, resolut wie so oft. »Du bleibst hier bei uns. Du hilfst uns bei der Arbeit. Du wirst selbst auch eine Arbeit finden. Zusammen werden wir es schaffen. Wir stützen uns gegenseitig, wir sind eine Familie, und du, Franziska, gehörst dazu! Schon immer.« Sie legte eine Hand auf die schmalen, zarten Finger der verzweifelten jungen Frau. Sanft und doch fest und voller Zuversicht, und Margot legte ihre drauf, dann Lotti und zuletzt Leni.
»Wir lassen uns nicht unterkriegen«, sagte Ömchen mit fester Stimme. »Das versprechen wir uns hiermit.«
Und alle nickten.
Hamburg, im März 1947
Resigniert legte Ömchen das Einkaufsnetz auf den Tisch und blickte sorgenvoll auf den Inhalt. Zwei Kartoffeln und eine dünne Stange Lauch, die schon kurz vor dem Verfaulen war, das war alles, was sie hatte ergattern können. Lebensmittelmarken zu besitzen bedeutete nicht, dass man von dem Wenigen, was es gab, auch etwas bekam.
»Ach, Ömchen, wieder nichts?«, fragte Leni traurig, und ihre Großmutter nickte.
Dieser Winter war für die Hamburger Bevölkerung unerträglich. Seit November herrschten eisige Temperaturen, auf die die noch immer vom Krieg gebeutelte Stadt nicht vorbereitet gewesen war. Die Lebensmittel reichten hinten und vorn nicht, man hatte die Rationen radikal reduziert. Lediglich achthundert Kalorien am Tag bekam ein normal arbeitender Erwachsener zugeteilt. Im Januar war es besonders hart gewesen. Der massive Kälteeinbruch hatte die Situation verschärft. Es hatten tagelang Temperaturen bis minus zwanzig Grad geherrscht, was die Vorratslager für Essen und Brennmittel leerte. Um die Stromversorgung in den wichtigsten Bereichen aufrechtzuerhalten, hatte man den Privathaushalten abends immer wieder das elektrische Licht abgeschaltet. Inzwischen gab es kein Holz mehr, keine Briketts für die Öfen. Mangelernährung war an der Tagesordnung, Kinder starben schon im Säuglingsalter, und keiner wusste, wie es weitergehen würde.
Wie gut, dass es die Schwedenspeisung gab. Schwedische Bürger spendeten Geld, um vor allem den Kindern zu helfen, so wie es auch Ömchen getan hatte, bis ihr die Lebensmittel ausgegangen waren. So konnten wenigstens die Kinder täglich eine Suppe mit Fleisch bekommen. Trotzdem lag alles noch im Argen, und man konnte nur hoffen, dass dieser schlimme Hungerwinter bald vorbei war. Doch vom Frühling war noch keine Spur zu sehen – und das, obwohl der März bereits Einzug gehalten hatte.
Dabei ging es ihnen noch gut. Sie hatten Arbeit und eine Wohnung mit intakten Fenstern und einer abschließbaren Tür. Nicht jeder konnte sich so glücklich schätzen.
Leni trug bereits ihre Dienstuniform. Schon als Kind war es ihr großer Traum gewesen, einmal in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und Polizistin zu werden. Lange Zeit war er ihr unerreichbar erschienen, doch dann hatte es kurz nach Kriegsende einen Aufruf gegeben. Man hatte Frauen zu Schutzpolizistinnen ausgebildet, und Leni hatte ihre Chance ergriffen.
Seither arbeitete sie mit zwei weiteren jungen Frauen in der Davidwache auf der Reeperbahn. Sie waren zuständig für Delikte, die von Frauen, Kindern und Jugendlichen begangen wurden, sorgten für deren Sicherheit und waren bei Vernehmungen anwesend. Aber sie waren auch Ansprechpartner für die Schutzbedürftigen und die Prostituierten. Boten Hilfe an und unterstützten die Ärmsten der Armen.
Das erste Jahr war nicht immer leicht gewesen. Sie hatten ihren Platz auf der Straße behaupten, sich ihren Respekt erst verdienen müssen und waren auf nicht wenig Widerstand gestoßen.
Auch unter ihren Kollegen hatte es Gegenwind gegeben, besonders aber hatte Lenis Herzensprojekt bei den Männern, die hier auf der Reeperbahn die Zügel in der Hand hielten, für Unmut gesorgt und Leni und ihre Kolleginnen sogar in Gefahr gebracht.
Sie hatten in der Erichstraße ein leeres, ziemlich heruntergekommenes Haus ausfindig gemacht und mit Unterstützung der Eigentümerin Friederike Schümann sowie tatkräftiger Hilfe von allerlei Mannsbildern renoviert. Rieke, wie sie die quirlige Frau nannten, war von Lenis Vorschlag sofort begeistert gewesen. So konnten hier nun Huren, Frauen und Kinder, denen Gewalt angetan wurde oder die schlicht einen Unterschlupf, eine Nacht in einem richtigen Bett oder eine warme Mahlzeit nötig hatten, Zuflucht finden. Für viele war es schon Hilfe genug, zu wissen, wohin sie sich im Notfall wenden konnten. Lenis ganze Familie und auch ihr Kollege Lasse von Hallberg halfen hier mit, wann immer sie Zeit hatten.
Natürlich gefiel es den Kiezgrößen nicht, dass sie dadurch einen Teil ihrer Macht über diejenigen verloren, die ihnen zuvor hilflos ausgeliefert gewesen waren, und hatten das auch sehr deutlich gemacht. Doch obwohl viele ihr von ihrem Hilfsprojekt abgeraten hatten, hatten sie sich nicht unterkriegen lassen. Hatten weitergemacht und Stärke gezeigt. Sicherlich hatten sie an einigen Stellen Zugeständnisse machen müssen, hier und da ein Auge zugedrückt, aber auch wenn Leni wusste, dass noch längst nicht alles ausgestanden war, hatte man sie doch wenigstens für die Dauer dieses schrecklichen Winters gewähren und helfen lassen.
Und sie hatten wahrlich nicht nur Gegner, sondern auch Unterstützer in den eigenen Reihen und unter den Wirtsleuten und Barbesitzern. Lenis größter Fürsprecher auf der Wache war von Anfang an ihr Vorgesetzter Jochen Herbst gewesen, der sich zwar immer recht schroff und unnahbar gab, den Lenis Stärke und Tatkraft aber stets beeindruckt hatten und der ihr durch seinen Einsatz die Ausbildung zur WP ermöglicht hatte.
Und dann war da Lasse von Hallberg. Als einer der wenigen ihrer Kollegen hatte er sie immer mit Respekt behandelt, ihre Bedenken und Einwände ernst genommen. Er war höflich und gutaussehend, aber vor allem verstand er sie, hörte ihr zu und unterstützte sie in ihren Träumen und Bestrebungen.
Und so hatte sich erst eine Freundschaft und schließlich etwas entwickelt, von dem sie selbst noch nicht recht wusste, wie sie es benennen sollte. Sie mochten einander sehr und verbrachten viel Zeit gemeinsam, soweit das möglich war. Denn Leni hatte neben ihrer Arbeit und dem Einsatz für die Bedürftigen noch ihre drei Kinder und die Familie, die ihre Zeit einforderten.
Wobei sowohl die mittlerweile vierzehnjährige Liesel als auch ihr ein Jahr jüngerer Bruder den Erwachsenen inzwischen eine große Hilfe waren. Die Kriegswirren hatten sie früh erwachsen und vernünftig werden lassen, und obwohl Leni darauf achtete, dass sie fleißig lernten, um es später mal zu etwas zu bringen, packten sie mit an, wo es nur ging.
Lottis Kinder Lina und Peter sowie Lenis Jüngste zusammen mit dem kleinen Konrad Janson waren hingegen eine rechte Rasselbande, die den Großen nicht selten auf der Nase herumtanzte.
Konrad gehörte zu ihrer Familie, seit seine Mutter Sigrid und seine kleine Schwester Katharina dem Typhus zum Opfer gefallen waren. Sigrid hatte in den Monaten nach Kriegsende als Prostituierte arbeiten müssen, um sich und ihre beiden Kinder zu ernähren. In einem kalten, feuchten, stinkenden Keller hatten sie gehaust, und sie war dort auch ihrer Arbeit nachgegangen, bis Leni sie bei einem ihrer ersten Streifendienste eines Tages entdeckt und einfach mit auf die Wache genommen hatte.
Die Begegnung mit Sigrid war es gewesen, die Leni auf die Idee zu ihrem Frauenhaus gebracht hatte. Das Schicksal der kleinen Familie und Lenis Ohnmacht hatten sie aufgerüttelt und handeln lassen.
Konrad, diesen kleinen Jungen, der allein und auf sich gestellt war, zu sich zu nehmen war der ganzen Familie als das einzig Richtige erschienen und im Chaos jener Zeit ohnehin nicht weiter aufgefallen. Ein Kind mehr oder weniger interessierte hier niemanden. Inzwischen hatte er sich zu einem pfiffigen Jungen entwickelt, fragte einem Löcher in den Bauch und konnte es kaum erwarten, im August endlich in die Schule gehen zu dürfen.
Leni musste noch oft an seine Mutter Sigrid und das kleine Käthchen denken. Sie war froh, dass sie wenigstens dem Jungen eine Zukunft bieten konnte.
An eine Zukunft mit Lasse hingegen dachte sie nur zaghaft, aber dass sie die Gedanken überhaupt zuließ, erschien ihr bereits wie ein großer Schritt. Sie hatte ihn sogar schon mit nach Hause gebracht und der Familie vorgestellt. Alle waren sehr angetan gewesen von dem stattlichen, wohlerzogenen Mann mit den ehrlichen Augen und dem geraden Blick.
»Das ist Lasse, ein Kollege«, hatte Leni ihn vorgestellt und die Kinder mit einem warnenden Blick angesehen. »Ich hoffe, ihr seid alle nett zu ihm.«
An ihren gefallenen Vater dachten die Kleinen kaum noch. Zu viel Zeit war vergangen, zu lange war er schon nicht mehr Teil ihres Lebens. Nur Leni hatte ihn nicht vergessen. Auch deswegen war sie immer noch ein wenig zurückhaltend, wenn es um Lasse ging. Obwohl sie einander inzwischen so nah gekommen waren, wie es nur ging, und das nicht nur einmal, vermied sie es, Zugeständnisse zu machen und Versprechen zu geben.
Lasse war ein rücksichtsvoller, aber auch leidenschaftlicher Liebhaber, und Leni vermisste nichts in dieser Beziehung. Doch immer noch war da ein kleiner Funken in ihr, der ihre zarte Liebe zu Lasse als Verrat Alfred gegenüber betrachtete. Dagegen kam sie einfach noch nicht an.
Doch dann rief sie sich hin und wieder jenen Moment in Erinnerung, als es an der Tür geklingelt und Lotti nach ihr gerufen hatte. Für einen Moment war sie sicher gewesen, dass Alfred davorstehen müsse. Dass die Nachricht von seinem Tod ein Irrtum gewesen war. Und sie hatte einen Schreck bekommen. Gerade erst hatte sie begonnen, sich Lasse zu öffnen.
Wollte sie überhaupt, dass Alfred doch noch zurückkehrte? Hatte sie nicht inzwischen ebenfalls abgeschlossen mit diesem Kapitel, seinen Tod akzeptiert und sich weiterentwickelt? Es war für ein paar Sekunden so gewesen, als würde sie sich im freien Fall befinden. Ohne Halt. Ohne zu wissen, was richtig war. Dieser merkwürdige Augenblick blieb, auch wenn der Anblick Franzis, wie sie blass und mager im Türrahmen stand, alle anderen Gedanken für eine Weile fortgewischt hatte.
Inzwischen hatte Franzi sich bei ihnen gut eingelebt. Noch immer stand die Trauer in ihren Augen. Die Verluste, die Strapazen und Demütigungen, die sie hatte erleiden müssen, hatten sie gebrochen. Und doch spürte Leni, wie es langsam bergauf ging.
Franziska arbeitete nun auf dem Amt und kümmerte sich dort um die Witwen- und Waisenrenten. Eine Aufgabe, die ihr das Gefühl gab, helfen zu können und das Leid der Menschen ein wenig zu lindern. Manchmal bekam sie von dankbaren Frauen einen Brotkanten zugesteckt. Ihr war es unangenehm, den anzunehmen, aber die Frauen bestanden darauf.
»Sie unterstützen uns so nett und sind so lieb«, hatte erst letzte Woche eine zu ihr gesagt. »Da muss ein bisschen Dankbarkeit schon sein.«
Leni seufzte.
»Musst du zum Dienst, min Deern?« Ömchen setzte sich an den Küchentisch und verschnaufte einen Moment. Es war so kalt, bitterkalt.
»Ja, gleich. Ich würde noch eine Tasse Kaffee mit dir trinken.«
»Das würd ich auch gern, mein Kind, aber wir haben kaum noch was. Die Bohnen, die wir haben, müssen die ganze Woche reichen. Da gibt’s für jeden nur morgens eine Tasse.«
Leni nickte. »Ist gut, Ömchen.« Sie beugte sich zur Großmutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Ömchen hatte im letzten Jahr stark abgebaut. Kurz nach ihrem siebzigsten Geburtstag, den sie am liebsten einfach ignoriert hätte, weil sie »nix feiern wollte, was einen näher ans Grab bringt«, sich dann aber doch nicht gegen das kleine Fest gewehrt hatte, das ihre Enkelinnen für sie organisiert hatten, hatte es angefangen. Ömchen gab alles für andere und wenig für sich. Zwackte noch immer so viel wie möglich für Lottis und Lenis Kinder ab und verzichtete lieber selbst. Die fünf Frauen und die Kinder hatten kaum genug, für andere blieb da nichts übrig, die Küche im Keller, von wo aus Ömchen in den ersten beiden Jahren nach dem Krieg stets eine warme Suppe an die Waisen verteilte, blieb meist kalt. Trotzdem begab sich Ömchen täglich nach unten, um wenigstens mal ein frierendes Kind in den Arm zu nehmen oder den Frauen einfach zuzuhören.
Sie war in wenigen Monaten so dünn wie ein Besenstiel geworden. »Ach, das macht nix«, wehrte sie ab, wenn ihre Tochter oder eine der Enkelinnen sich besorgt darüber äußerten. »Unkraut vergeht nicht.«
Ihre Ohnmacht grämte Ömchen, fraß an ihrer Gesundheit und nahm ihr die Hoffnung. Doch sie war da, und die Menschen waren dankbar.
Auf dem Küchenschrank stand Ömchens kleines Radio und spielte fröhliche Musik. Schon im September 1945 war der Nordwestdeutsche Rundfunk als Nachfolger von Radio Hamburg gegründet worden. Obwohl die Briten mit strenger Hand regiert und ihre Macht als Sieger und Besatzer in mancher Hinsicht ausgenutzt hatten, so hatten sie doch auch von Anfang an auf die Selbstständigkeit Deutschlands hingearbeitet. Die Deutschen mussten eine »unabhängige Berichterstattung« lernen, hatte es geheißen. Die BBC galt als Vorbild für den neuen Radiosender, dessen Programm der Information und demokratischen Erziehung der Bevölkerung dienen sollte. Aber was gerade die jungen Leute interessierte, war, dass es hier auch britische und US-amerikanische Popmusik zu hören gab. Einen britischen Moderator gab es auch: Chris Howland hieß er und war witzig und sehr charmant. Leni und der Rest des fünfblättrigen Frauen-Kleeblatts hörten den Briten und die Musik, die er spielte, gern. War doch so was jahrelang verboten gewesen. Man hörte die Musik und bekam gleich bessere Laune, vergaß für einige Minuten den Hunger und die Kälte und schöpfte Hoffnung auf bessere Zeiten.
Die britischen Besatzer hatten sich die schönsten, unversehrtesten Häuser und Wohnungen gesichert. An der Alster standen viele intakte Gebäude, die um 1900 gebaut worden und eine Augenweide waren. Die reich verzierten Fassaden, das Mauerwerk im Barockstil und die Innenausstattung waren ein Traum. Ebenso das glänzende Parkett, die hohen Decken, Sprossenfenster und Stuckrosetten, von denen üppige Kronleuchter hingen.
Wo die Besitzer waren, konnte man nur ahnen. Es hatten viele Menschen jüdischen Glaubens dort gewohnt. Die Bereiche um die Alster hatten wie durch ein Wunder die Brandnacht der Operation Gomorrha nahezu unversehrt überstanden.
»Manchmal hab ich das Gefühl, die Nazis sind noch immer da«, hatte Ömchen einmal kurz nach der Übernahme der Stadt durch die Alliierten leise gesagt und den Kopf geschüttelt.
Die Briten regierten mit strenger Hand. Private Gespräche zwischen Deutschen und Briten waren verboten, und in der Bahn hatten die Briten eigene Waggons.
Die Tür ging auf und Franziska trat in die Küche. Ihr Dienst war zu Ende. Lenis Spätschicht würde in einer Stunde beginnen.
Die Freundinnen umarmten sich zur Begrüßung. Seit Franzis Rückkehr genossen und schätzten sie die Zeit miteinander noch mehr.
»Weißt du, was ich mir wünsche?«, fragte Leni.
»Hm?«
»Dass wir beide mal wieder einen ganzen Tag für uns haben und einfach so zusammen sind. Es ist zu lang her. Mal nicht über Kohleknappheit und Hunger, die Besatzer und die Zukunft nachdenken zu müssen, sondern einfach so wie früher einen Nachmittag genießen zu können. Weißt du noch, wie schön das immer war?«
»Oh ja.« Franzi lächelte die Freundin an.
»Wir hatten immer was zu reden«, schwärmte Leni. »Uns ist nie langweilig gewesen. Ja, das hätte ich so gern. Dummerweise haben wir nur nie zur gleichen Zeit frei, oder besser gesagt, fast nie, und wenn es so ist, werde ich von meinen Kindern belagert. Sowenig ich ihnen das verdenken kann, ich vermisse die Zeit mit dir.«
»Wisst ihr was?«, sagte Ömchen, die alles mit angehört hatte. »Ihr macht das. Gleich in der nächsten Woche, wenn das mit euren Dienstplänen zu machen ist. Schaut nach, und ich übernehme deine drei einen ganzen Tag, Lenchen. Wir machen einen Ömchen-Tag, bei dem meine Süßen sich nicht beschweren können. Versucht mal, ob ihr frei kriegt.«
»Du bist ein Schatz, Ömchen. Wir hatten das so lange nicht.« Franzi gab ihr einen Kuss, und Ömchen errötete vor Freude. »Du bist die Beste, aber das weißt du ja!«
»Ach, mach ich doch gern. Nun mach, dass du fortkommst, Lenchen, sonst kommste noch zu spät zum Dienst. Schaust du heut mal im Haus vorbei?«
Leni nickte. »Ja, sicher, ich sehe nach dem Rechten. Und du hast recht.« Sie stand auf. »Ich muss los. Bis morgen!«
»Bis morgen, Leni«, sagte Franzi, und Ömchen lächelte ihr zu.
Leni schwang sich auf ihr Fahrrad und hoffte, dass die Straßen nicht so vereist waren, dass sie mit den abgefahrenen Reifen schlittern und stürzen würde, aber sie hatte Glück. Die glatte Schneedecke war nicht tückisch, und so radelte sie wie beinahe jeden Tag an der Alster entlang und sah sich rechts und links um.
Langsam wurde der Wiederaufbau sichtbar, auch wenn es noch an vielen Ecken und Enden fehlte. Aber die Hamburger waren stolz und ließen sich nicht unterkriegen. Sie räumten weiterhin den Schutt von den Straßen, sie hielten zusammen und planten neue Gebäude, sie waren eine Gemeinschaft, die Hamburger, und wenn es etwas Gutes gab, was der Krieg hervorgebracht hatte, dann, dass sie alle gelernt hatten, sich nicht unterkriegen zu lassen, sondern immer weiterzumachen. Natürlich war es oftmals schwierig, gerade in der Zeit des großen Hungers, aber auch hier gab man, teilte man, bekam man.
Immer noch waren überwiegend Frauen am Werk, und manchmal dachte Leni, dass es daran lag, dass es überhaupt weiterging. Die Frauen redeten nicht lange, sie handelten. Sie schafften was weg. So wie Ömchen, die sich um die hungernden Kinder kümmerte. Sie gaben, was sie hatten. Es war nicht viel, aber es war ein gutes Gefühl, es zu teilen.
Während sie so dahinfuhr, dachte sie daran, wie ihr Leben sich verändert hatte. Wie schnell man sich doch an Neuheiten gewöhnen konnte. Früher war sie eine einfache Hausfrau und Mutter gewesen. An einen Beruf war damals überhaupt nicht zu denken, obwohl sie immer damit geliebäugelt hatte, zur Polizei zu gehen wie ihr Vater. Ihr Leben war in geordneten, ruhigen Bahnen verlaufen, und dann war der Krieg gekommen und hatte alles verändert. Angst, Hunger, Tod. Und das alles Schlag auf Schlag. So viele hatte sie verloren. Die sechs Kriegsjahre hatten sie und ihre Schwester Lotti, die Mutter Margot und ihr aller Ömchen überstanden, indem sie fest zusammenhielten. Jeden Schicksalsschlag hatten sie gemeistert und waren zu einer festen Gemeinschaft gewachsen.
Dann, nach dem Krieg, hatte Leni die Gelegenheit ergriffen und sich bei der Polizei beworben. Erst als Hilfskraft, und jetzt war sie sogar bei der Weiblichen Schutzpolizei – eine WP!
Sie bremste vor der Davidwache und schloss ihr Rad an einer Laterne an. Es war eiskalt und sie würde sich gleich noch aus ihrem Spind einen warmen Wollmantel holen und überziehen, bevor sie mit ihrer Kollegin auf Streife ging.
Als sie gerade eintreten wollte, wurde von drinnen die Tür aufgerissen und Rosamunde Pietsch stand überraschend vor ihr. Sie hatten zusammen die Ausbildung absolviert.
Rosamundes Einsatzgebiet war der Hauptbahnhof, doch da die Zusammenarbeit zwischen den Revieren eng war, liefen die beiden sich hin und wieder über den Weg. Dadurch war es auch gelungen, zwei hochrangige Beamte der Wache vom Hauptbahnhof der schweren Misshandlung von drei Prostituierten zu überführen. Herbert Leißner und Karsten Eveling waren zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden und hatten ein Dienstverbot auferlegt bekommen.
»Rosamunde, das ist aber schön. Was treibst du hier?«
»Ich habe mich auf der Davidwache beworben«, sagte die Kollegin heiter. »Aber was sagt man mir: Wir haben hier schon drei sehr fähige WPs. Wie wär es dann mit einer vierten?, hab ich gefragt. Herr Herbst meinte, vielleicht im nächsten Jahr.«
»Das wäre schön, Rosamunde, du würdest gut zu uns passen«, meinte Leni. »Obwohl es rau zugeht.«
»Och, du, im Bahnhof ist auch nicht alles eitel Sonnenschein, wir haben gut zu tun«, sagte Rosamunde. »Aber ich würde gern mal etwas anderes sehen. Vielleicht klappt’s ja noch mit mir.«
»Wir rollen dir dann einen roten Teppich aus«, lachte Leni, und sie verabschiedeten sich.
Heute hatte Leni mit Elsa Dienst und darauf freute sie sich. Auch Elsa von Roth und Alice Lindenberg hatte sie während der Ausbildung kennengelernt, und die drei waren riesig froh gewesen, zusammen der Davidwache zugewiesen worden zu sein.
Leni traf Elsa im Umkleideraum. Die Kollegin wirkte fahrig und unkonzentriert.
»Was ist los?«, wollte Leni sofort wissen. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte.
»Ach nichts. Nichts Wichtiges«, kam es von Elsa, während sie ihre dunklen Haare zurückstrich.
»Das glaub ich dir aufs Wort. Raus damit«, befahl Leni mit Nachdruck.
»Ach Leni.« Elsa setzte sich auf einen Holzstuhl. »Es ist wegen meinem Mann. Ich habe ihn hier in Hamburg gesehen.«
Leni erschrak. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Es war Gernot. Hundertprozentig war er es. Er sucht nach mir, und natürlich ist er hierhergekommen. Denn ich stamme ja ursprünglich aus Hamburg, ich hatte hier Familie. Wegen ihm bin ich nach Berlin gezogen. Und er kennt so schrecklich viele Leute. Er muss nur herumfragen, dann wird er irgendwann Erfolg haben. Zum Glück weiß er nicht, dass ich von Roth heiße, das ist ja der Mädchenname meiner Oma.« Sie atmete kurz durch. »Also, ich hoffe zumindest, dass er es nicht weiß. Gernot ist kein Mann, der verlieren kann. Ich wundere mich allerdings, wie er es fertiggebracht hat, ohne Strafe davonzukommen, obwohl er in der Partei war, und in der SS. Er war bei Folterungen und Erschießungen dabei, und niemand zieht ihn zur Rechenschaft. Und mit solch einem Menschen war ich verheiratet!«
Obwohl Elsa sich stets schwertat, über ihre Ängste und Probleme und die schlimmen Erfahrungen mit ihrem Ehemann zu sprechen, schien jetzt ein Bann gebrochen und all die Gedanken, die sie so beschäftigten, purzelten mit einem Mal hervor. »Einen biederen, gutverdienenden Ehemann hatten meine Eltern für mich gewollt, deshalb hab ich ihn geheiratet. Wie dumm wir alle waren. Wir haben sein wahres Gesicht nicht erkannt. Wie kann es sein, dass er noch immer herumspaziert, obwohl er so grausame Dinge getan hat?«
Sie strich erneut eine Strähne ihres dunklen Haars aus dem Gesicht und sah Leni mit ihren großen braunen Augen ängstlich an. Leni wusste all das bereits. Sie und Alice hatten Elsa zu Beginn ihrer Zusammenarbeit zur Rede gestellt und ihr Hilfe angeboten. Damals hatte Elsa ihnen erzählt, wie sie herausgefunden hatte, was für ein schlechter Mensch ihr Ehemann gewesen war und dass sie ihn in einem Akt der Notwehr niedergeschlagen hatte und aus dem gemeinsamen Leben als vorzeigbare Nazi-Ehefrau geflohen war. Seit sie eines Tages erfahren hatte, dass ihr Mann ihren Angriff überlebt hatte, war sie in der ständigen Angst, dass er sie finden und für ihre Tat zur Rechenschaft ziehen würde.
»Du weißt doch, wie es ist, Elsa. Seit Kriegsende gibt es einfach zu wenige Männer in Deutschland. Man kann es sich nicht leisten, jeden zu verurteilen, der das Regime unterstützt hat«, erklärte Leni. »Zu viele sind im Krieg geblieben. Wir haben hier überall viel zu wenig Arbeitskräfte. Niemand spricht darüber, es ist einfach so.«
»Ich weiß.« Elsa nickte und schluckte. »Aber ich hab Angst, Leni. Gernot ist nicht dumm. Der wird rumfragen.«
»Er weiß nicht, wo er suchen muss, und er wird sicher nicht damit rechnen, dass du bei der Schutzpolizei arbeitest. Sicher sein, dass du überhaupt in Hamburg bist, kann er auch nicht. Ich glaube, dass du dir umsonst Sorgen machst, Elsa.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.« Elsa seufzte. »Ich habe solche Beklemmungen in der Brust, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Als würde ein eiserner Ring sich zuziehen.«
»Wo hast du ihn denn überhaupt gesehen? Wenn er es überhaupt war«, wollte Leni wissen.
»Er war es«, wiederholte Elsa mit Nachdruck. »Es war nicht weit von hier, auf dem Nachhauseweg. Er sieht noch genauso aus wie damals. Bestimmt hat er sich wunderbar vor der Front drücken können und hat überall seine Geldgeber. Er ist so gewieft. Ich hab ihn an seinem Gang erkannt und an seinem Mantel. Ein dunkelgrüner Lodenmantel mit einem Lederkragen und Leder an den Ärmeln. Den hat er sich schneidern lassen. Ich weiß es noch genau. Das ist ein Einzelstück. Und seinen Hut erkannte ich auch, denn ich selbst habe ihm den geschenkt.«
»Hm.« Leni war immer noch nicht sicher, ob das ausreichte. Aber Elsa schien große Befürchtungen zu haben, und das nahm sie ernst. »Wenn er sich wirklich hier in der Nähe herumtreibt, dann hast du vielleicht recht und wir müssen vorsichtig sein«, entschied sie. »In den nächsten Wochen bringen entweder Alice oder ich oder einer der Kollegen dich von der Schicht nach Hause und du gehst nirgends allein hin.«
»Nein, dann muss ich ja erklären, warum, und dann erfahren alle meine Vorgeschichte.« Elsa war richtig panisch.
»Aber Elsa. Es ist nicht deine Vorgeschichte. Es ist die deines Mannes. Nicht du warst bei der SS«, stellte Leni klar.
»Aber man könnte es denken.«
»Elsa, nun übertreibst du. Von mir aus lassen wir die männlichen Kollegen außen vor und ich hol dich ab und bring dich heim. Oder eben Alice. In Ordnung?«
»Ja.« Elsa biss auf ihrer Unterlippe herum. »Ich weiß nicht, was er tut, wenn er mich findet.«
»Dann sorgen wir dafür, dass er dich nicht finden wird«, sagte Leni bestimmt. »Nun komm. Wir sind spät dran.«
Ihre dicken Mäntel über dem Arm, damit sie nach der abendlichen Dienstbesprechung direkt zu ihrem Streifgang durch ihr Revier aufbrechen konnten, betraten die Frauen den Besprechungsraum.
Leni freute sich, als sie Lasse von Hallberg entdeckte, der bereits am Besprechungstisch saß. Ihr Herz pochte etwas heftiger als sonst und sie merkte, dass eine leichte Röte ihr Gesicht überzog. Lasse ging es genauso. Sie hatten ihre Beziehung nicht öffentlich gemacht, aber trotzdem pfiffen es die Spatzen von den Dächern. Hier und da wurde getratscht, aber im Großen und Ganzen war es in Ordnung.
Viel mehr Aufsehen hatte es gegeben, nachdem bekannt geworden war, dass der Chef der Davidwache, Jochen Herbst, mit Lenis Mutter Margot Harding ausging. Ausgerechnet Lenis größter Widersacher unter den Kollegen, Henning Aversen, der unbeliebteste Kollege überhaupt, hatte die beiden Hand in Hand in Planten un Blomen herumspazieren sehen.
»Das ist ja mal wieder typisch, die Tippse angelt sich den Chef«, hatte er gehässig von sich gegeben. Und nicht nur er hielt dieses Bündnis für »untragbar«. Die männlichen Kollegen auf der Wache haderten ohnehin schon mit der Anwesenheit der Frauen auf der Wache. Die einstige Männerdomäne war gestört worden.
Erst war es nur eine Dame gewesen, die sich als Sekretärin um das Abtippen der Berichte und Vernehmungen kümmern sollte. Hanne Rudinger war eine resolute, aber ruhige, kettenrauchende Frau, die, wenn man sie näher kannte, durchaus als herzlich zu bezeichnen war. Als ihr die Arbeit irgendwann über den Kopf gewachsen war, war Leni gekommen. Sie hatte sich einigen Respekt erworben, ihre Stelle zugunsten der Ausbildung zur WP jedoch schnell wieder aufgegeben und ihrer Mutter Platz gemacht.
Und nun waren sie schon zu fünft, denn nach der dreimonatigen Ausbildung war Leni ja mit Elsa und Alice auf die Davidwache zurückgekehrt.
Viele Kollegen hatten noch althergebrachte Meinungen und waren gegen den Einsatz von Frauen im Polizeiberuf. Und dann hatte der Chef auch noch was mit der Harding – es war unerhört! Wo sollte das noch hinführen.
Jochen Herbst war es eines Montags zu bunt geworden, und so hatte er in der Morgensitzung verkündet, dass er und Lenis Mutter ein Paar seien.
»Das ist nun ganz offiziell. Wer Einwände hat, komme damit bitte direkt zu mir, aber hören Sie auf, sich die Mäuler zu zerreißen. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Mann und eine Frau sich am Arbeitsplatz kennenlernen. Insofern benehmen Sie sich bitte wie erwachsene Männer und nicht wie ein Haufen Pennäler.«
Das hatte gesessen, trotzdem fiel hier und dort noch eine Bemerkung. Aber da stand Margot drüber und Jochen Herbst sowieso.
»Nun, dann wünsch ich euch eine gute Schicht«, meinte Lasse, als sie gemeinsam den Raum verließen. »Wie geht es dir eigentlich, Elsa? Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Nach und nach war man auf der Davidwache zum Du übergegangen. Nur einige bestanden auf das Sie, und das wurde natürlich auch akzeptiert.
»Oh, gut, gut«, kam es schnell aus Elsas Mund. »Es ist ein bisschen kalt und ich habe ständig Hunger, aber ansonsten geht es mir gut.«
»Da geht es dir wie mir«, sagte Lasse und sah Leni kurz und liebevoll an. »Sehen wir uns morgen?«, fragte er leise, und sie nickte. Zu gern hätte sie ihm einen Kuss gegeben und ihn umarmt, aber sie ließ es. Das Geschwätz war sowieso schon nervtötend genug.
Dann hüllte sie sich in ihren dicken Mantel, zog Mütze und Handschuhe an und begann mit Elsa ihren Rundgang über den abendlichen Kiez. Schon seit über einem Jahr konnten sie nun ohne männliche Begleitung ihre Schichten absolvieren. Nur manchmal, wenn der Dienstplan es nicht anders zuließ, war einer der Kollegen dabei. Aber die drei Frauen von der Davidwache stemmten den Kiez und seine Bewohner auch allein. Sie hatten sich einen rauen, aber gleichzeitig netten Umgangston zugelegt, sie kannten alle beim Namen, hielten oft einen Schnack, und überwiegend freuten sich die Leute, die Frauen zu sehen. Bei den Huren hatten die drei Frauen sowieso einen Stein im Brett, seit es das Haus in der Erichstraße gab.
Während sie die Straßen entlanggingen, fröstelte Leni. Diese verflixte Kälte fuhr einem durch Mark und Bein.
Trotz der Hungersnot standen die Huren leicht bekleidet auf den Straßen und warben um Freier. Die meisten von ihnen teilten sich mit anderen Frauen ein Zimmer, in dem sie wohnten, schliefen und ihrer Arbeit nachgingen.
»Moin Leni«, grüßte Anke, eine Frau Mitte zwanzig, deren Familie bis auf die Mutter verschollen war. Tinka war Ende vierzig und erkannte ihre Tochter nur noch in den allerseltensten Fällen. Manchmal saß sie tagelang mit tumbem Gesichtsausdruck am Fenster und kauderwelschte unverständliches Zeug vor sich hin. Dann wieder rief sie nach ihrem Mann, ihrer Mutter, ihrem Sohn, ihrer Tochter. Wenn Anke zu ihr kam, wurde sie angeschnauzt, und wenn sie Tinka tagsüber allein lassen musste, schloss sie sie in dem kleinen Zimmer ein, in dem sie wohnten. Jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, hatte sie Angst, dass Tinka was angestellt haben könnte.
Anke hatte studieren wollen, das hatte sie Leni und Alice einmal erzählt. Ärztin zu werden war als Mädchen ihr größter Wunsch gewesen. Sie hatte den Männern zeigen wollen, dass auch eine Frau einen solch anspruchsvollen Beruf erlernen konnte. Aber dann war der Krieg gekommen und hatte alles verändert. Anke arbeitete tagsüber als Putzfrau im Rathaus und hatte versucht, an besseren Stellen Arbeit zu finden, aber vergeblich. Da das Geld für sie und ihre Mutter vorn und hinten nicht reichte, war das Anschaffen die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, um über die Runden zu kommen.
Leni war immer verzweifelt, wenn sie die Geschichten der Frauen hörte. Zu gern hätte sie jeder einzelnen von ihnen geholfen, ihnen eine Wohnung vermittelt, eine gute Arbeitsstelle. Doch sie konnten sich in dieser Zeit kaum selbst ernähren, wie sollte sie dann auch noch andere retten?
»Lassen Sie die Dinge nicht zu sehr an sich rankommen«, hatte ihr Vorgesetzter Jochen Herbst anfangs zu ihr gesagt. Leni versuchte das. Aber es gelang nicht immer. Sie tat sowieso schon, was sie konnte.
»Wie geht’s dir, Anke?«, fragte Leni nun fürsorglich.
»Och.« Die junge Hure zuckte mit den Schultern. »Ich friere. Letztens hab ich mir eine Blasenerkältung geholt, das war kein Spaß, kann ich dir sagen.«
»Ihr müsst euch wärmer anziehen«, befand Leni zum tausendsten Mal.
»Oh bitte, Leni! Du weißt ganz genau, was dann ist«, meinte Anke kopfschüttelnd und zupfte an ihrer dünnen Bluse herum. »Die Kunden gehen weiter und suchen sich eine, bei der man sich schon mal Appetit holen kann.«
»Ich weiß«, gestand Leni resigniert.
»Wir haben hier übrigens zwei Neuzugänge. Ich weiß nicht, wo Freddy die beiden herhat, aber er scheint sie sehr eingeschüchtert zu haben.«
Anke deutete auf zwei Mädels, die wohl noch nicht mal zwanzig waren. Wenn sie unter achtzehn sind, dachte Leni, ist was los.
Freddy Großmann nannte sich selbst gern den »König vom Kiez«. Zuhälter, Lude, Krimineller. Wo Freddy seine Finger drin hatte, war Schmutz. Er handelte mit Drogen, konnte auf dem Schwarzmarkt fast alles besorgen, natürlich zu horrenden Preisen, und herrschte mit harter Hand über »seine Mädchen«. Er stand ganz oben auf Lenis Liste unliebsamer Personen. Leider galt das auch umgekehrt, denn er war es gewesen, dem sie mit ihrem Frauenhaus ganz besonders auf die Füße getreten war. Deshalb hatte er Leni und Alice entführt und gedroht, sie in der Elbe zu versenken, wenn sie sich nicht zurückhielten und nach seinen Spielregeln spielten.
Jetzt hatte er also schon wieder neue Mädchen rekrutiert. Wo kamen nun diese beiden jungen Dinger her?
Langsam und mit einem Lächeln auf den Lippen, um sie nicht zu verschrecken, ging sie mit Elsa zu ihnen hinüber.
»Ich bin Leni von der Schutzpolizei«, sagte sie freundlich. »Das ist meine Kollegin Elsa. Wir sind hier für die Sicherheit von Frauen und Kindern zuständig, also auch für euch. Wie heißt ihr denn?«
Die beiden mittelgroßen Frauen hatten dunkle Haare und sahen einander ähnlich, wie Leni feststellte.
»Ich bin Brigitte und das ist meine Schwester Wilma«, sagte die etwas Kleinere. Aha. Schwestern also.
»Und ihr arbeitet für Freddy?«, fragte Elsa freundlich. Wilma nickte.
»Er hat uns ein warmes Zimmer versprochen«, sagte sie leise. »Da haben wir sofort Ja gesagt. Hin und wieder bringt er uns ein Stück Schinken und Brot. Das ist mehr, als wir anderswo kriegen würden.«
Woher Freddy immer noch solche Köstlichkeiten bezog, wusste man auf der Wache nicht. Tatsache aber war, dass er überall seine Leute hatte, die ihn mit was auch immer versorgten. Freddy war wie eine Ratte, die nicht totzukriegen war.
»Wie verhält er sich euch gegenüber?«, wollte Elsa jetzt wissen, und da hatte sie den wunden Punkt getroffen, denn auf einmal klappte Wilma zu wie eine Auster.
»Och, gut«, kam es zögerlich. »Doch, schon.«
»Aha«, meinte Leni und runzelte die Stirn. »Das sagt mir alles.«
»Wieso denn?« Brigitte war nun ängstlich. »Ich hab nix Schlimmes über den Freddy gesagt.«
»Das ist es ja gerade«, befand Elsa resigniert. Solang die Frauen nicht gegen Freddy Großmann aussagten, konnten sie ihm in dieser Beziehung nicht ans Zeug flicken.
»Wenn was ist, wisst ihr, wo ihr uns findet, ja, Wilma?«, fragte Elsa nun, und Wilma nickte schnell.
»Wie alt seid ihr denn?«, wollte Leni dann fürsorglich wissen.
»Äh … ich bin neunzehn und Wilma ist zwanzig«, sagte Brigitte schnell, aber Leni glaubte ihr kein Wort. Sie waren mit Sicherheit jünger.
Trotzdem hieß es abzuwägen, was zu tun war. Die Frauen mitnehmen und ihnen die Prostitution verbieten? Freddy ins Gericht nehmen? Selbst wenn er eine Strafe bekäme, würde er die hinnehmen und weitermachen – oder gar seine Handlanger einsetzen und sich rächen. Er hatte Kontakt zu den windigsten Typen, die für Geld so gut wie alles machen würden. Wenn man den beiden Frauen verbot, als Huren zu arbeiten, hätten sie kein Obdach und nichts zu essen mehr.
Leni und Elsa sahen sich an und schienen beide dasselbe zu denken.
»Na dann«, sagte Leni und verbot sich, auch den beiden Mädels zu sagen, dass sie sich in den dünnen Kleidern den Tod holen würden. Man würde hier niemals alles zum Guten ändern können. Das war nun mal so und es hatte keinen Sinn, sich mit den Dingen aufzuhalten, die sie nicht in der Hand hatten. Sie mussten dort anpacken, wo es möglich war. Manchmal hieß es hier auf dem Kiez eben, Kompromisse einzugehen, wenn man denen helfen wollte, die es nötig hatten. Auch das hatte ihr die Auseinandersetzung mit Freddy gezeigt.
Jetzt kam Yvonne auf sie zu, eine ältere Hure, die stets eine Perücke aus schwarzem Haar trug und die sie schon länger kannten.
»Ist denn demnächst bei euch im Haus ’n Platz frei?«, fragte Yvonne, die noch müder und verlebter aussah als bei ihrem letzten Aufeinandertreffen.
»Ich denke, du teilst dir mit Gerda und Tine ein Zimmer?« Elsa zog die Augenbrauen hoch. »Habt ihr euch zerstritten?«
»Nee, eigentlich nich, ich hab nur das Gefühl, dass Gerda klaut«, sagte Yvonne zögerlich. »Außerdem wär ich so gern mal wieder allein. Also ganz allein in einem Zimmer für mich – nur für eine Nacht.«
»Ich schau nachher mal, wie es aussieht«, erklärte Leni und streichelte der Dirne über die Schulter. »Da kriegen wir bestimmt was hin, wenn auch nicht gleich.«
»Danke, Leni, lieb von dir. Hast was gut bei mir.«
»Dieser Freddy, ich könnte ihn lynchen«, sagte Elsa, als sie weitergingen. »Im Mittelalter hätte man einen wie ihn geteert, gefedert und danach gevierteilt. So junge Mädchen auf die Straße zu schicken.«
»Nun, die jungen und hübschen bringen das meiste Geld«, sagte Leni resigniert. »Mir geht es genauso wie dir, allerdings bin ich, was Freddy betrifft, ein wenig vorsichtig geworden«, sagte Leni. »Du erinnerst dich sicher an Alices und meinen Ausflug an die Elbe.«
»Natürlich! Sicher weiß ich das noch, wie könnte ich das vergessen.«
Freddy Großmann hatte versucht, sie mit Drohungen einzuschüchtern. Wenn sie weiter gegen ihn vorgingen und seine Huren gegen ihn aufhetzten, würden sie als Paket auf dem Grund der Elbe landen. Das Haus in der Erichstraße war Freddy ein Dorn im Auge.
Obwohl ihr damals alle zugeraten hatten, hatte Leni das Haus nicht geschlossen. Freddy hatte bislang stillgehalten, auch weil sie ihm einiges hatte durchgehen lassen. Außerdem hatte Lasse ein Machtwort mit ihm gesprochen.
Leben und leben lassen, so war momentan der Stand der Dinge.
Allerdings war noch eine Rechnung mit Henning Aversen offen. Denn der hatte sich damals durch einen dummen Spruch verraten, sodass Leni wusste, dass er hinter der Sache gesteckt hatte. Sie würde abwarten, was Aversen betraf. Irgendwann würde es schon eine Möglichkeit geben, es ihm heimzuzahlen. Leni war geduldig.
In der berüchtigten Schwarzen Katze herrschte an diesem Freitag Hochbetrieb. Hier traf sich alles, was in der Unterwelt Rang und Namen hatte. Leni ging nicht gern hierher, weil das Freddys Stammkneipe war, hier hielt er Hof und seine Untertanen beklatschten ihn. Aber als WP musste sie auch hier schauen, ob alles in Ordnung war. Manchmal bedauerte es Leni, nur eine Trillerpfeife als »Waffe« dabeizuhaben, denn was konnten sie letztendlich damit ausrichten. Wenn Gefahr drohte oder bestand, sollten sie nach Verstärkung pfeifen. Schön und gut, nur was würde das in einer Kneipe nützen, in der kein männlicher Polizist anwesend war? Wenigstens einen Schlagstock hätte man ihnen ja geben können, damit sie sich ein bisschen verteidigen könnten, aber das war ihnen bislang verwehrt worden.
Da sah Leni eine sehr junge Bedienung hinter dem Tresen stehen. Sie kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. Jedenfalls war es ein Unding, ein ungefähr zwölf Jahre altes Mädchen hier arbeiten zu lassen. Sie ging Richtung Tresen, zwängte sich zwischen den rauchenden und trinkenden Leuten hindurch und betrachtete das Mädel. Woher kannte sie sie nur?
Dann fiel es ihr ein! Es war Ava. Ein Mädchen, das in den ersten Tagen nach der Eröffnung des Hauses in der Erichstraße einmal dort aufgetaucht war. Sie hatte nach dem Verlust ihrer Eltern seit Kriegsbeginn in der Hamburger Kanalisation gewohnt. 1945 war sie elf gewesen, dann musste sie jetzt zwölf oder dreizehn sein.
Leni beugte sich über den Tresen. »Ava?«
Das Mädel blickte auf und erkannte sie nicht. Sie schüttelte nur den Kopf.
»Ava, ich bin es. Leni. Wir haben uns vor fast zwei Jahren in der Erichstraße kennengelernt, da hast du mir erzählt, wo du in der Kriegszeit gewohnt hast, und wir haben uns ein paar Tage um dich gekümmert, bis du bei Nacht und Nebel verschwunden bist.«
Nun erinnerte sich Ava und sie nickte zögerlich. »Ach sooo«, sagte sie dann langsam.
»Was hast du denn in der Zwischenzeit gemacht?«, fragte Leni.
»Och, nichts Besonderes«, wich Ava ihrer Frage aus, und Leni hoffte inbrünstig, dass sie sich nicht als Prostituierte hergegeben hatte.
»Geht es dir gut?«
»Schon. Ich arbeite jetzt hier.«
»Ava, du bist viel zu jung, um hier zu arbeiten«, sagte Leni ernst, während sie von Leuten, die was zu trinken bestellen wollten, angerempelt wurde. »Du bist ein Kind. Du solltest zur Schule gehen und nachmittags mit anderen Kindern spielen.« Ava riss erschrocken die Augen auf und sah an Leni vorbei. Die drehte sich um.
»Ach, da haben wir ja wieder die Hüterin der Moral.« Wie aus dem Nichts stand Freddy Großmann hinter Leni. »Na, seid ihr mal wieder die mildtätigen Engel vom bösen Kiez?«
»Ach, Freddy, sei doch einfach still«, sagte Elsa, die nun auch hinzugekommen war.
»Du hast doch Anteile an der Katze«, sagte Leni. »Also weißt du auch, dass du keine Kinder hinterm Tresen bedienen lassen kannst.«
»Ach, weiß ich das? Die Lütte hat mir gesagt, sie ist achtzehn.«