Die Frauen von La Principal - Lluís Llach - E-Book
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Die Frauen von La Principal E-Book

Lluís Llach

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Beschreibung

Die Frauen von La Principal erzählt von Müttern, von Töchtern und Schwestern, von all denjenigen, die sich hingebungsvoll einer Aufgabe widmen und ihr Glück erkämpfen – ein Lebensglück, das so schillernd und flüchtig bleibt wie der Lichtschein an den Weinhängen ihres Dorfes.

Spanien im Sommer 1893: Während ihr Vater mit den Brüdern einen Neuanfang in Barcelona wagt, muss Maria auf dem ruinierten Weingut La Principal zurückbleiben, um zu verwalten, was davon noch übrig ist. Für sie die Enttäuschung ihres Lebens, für alle anderen im Dorf der Beginn einer neuen Zeit. Denn Maria findet überraschend einen Weg, mit viel Mut und noch mehr Eigensinn verwandelt sie La Principal in das Anwesen von damals und sich selbst in die mächtigste Frau ihrer Heimat. Ein Leben lang bewundert, ein Leben lang beneidet. Doch als man am Vorabend des Spanischen Bürgerkriegs eine Leiche findet, wird Marias Vermächtnis an die Tochter zu einer gefährlichen Bürde …

»Es war ein riesiges Vergnügen, dieses Buch zu lesen.« Iris Berben

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Maria weiß, die Entscheidung ist längst gefallen: Ihr Vater geht mit den vier Brüdern nach Barcelona, sie selbst muss bleiben. Als einzige Tochter soll sie das verwalten, was nach dem Sommer 1893 vom Weingut La Principal übrig ist. Für sie die Enttäuschung ihres Lebens, für alle anderen im Dorf der Beginn einer neuen Zeit. Denn Maria findet überraschend einen Weg; mit viel Mut und noch mehr Eigensinn verwandelt sie La Principal in das Anwesen von damals und sich selbst in die mächtigste Frau ihrer Heimat, ein Leben lang bewundert, ein Leben lang beneidet. Doch als man am Vorabend des Spanischen Bürgerkriegs eine Leiche findet, wird Marias Vermächtnis an die Tochter zu einer gefährlichen Bürde …

Die Frauen von La Principal ist ein Roman über die Wärme und Kraft der eigenen Heimat. Lluís Llach erzählt darin eine Geschichte von Müttern, von Töchtern und Schwestern, von all denjenigen, die sich hingebungsvoll einer Aufgabe widmen und ihr Glück erkämpfen – ein Lebensglück, das so schillernd und flüchtig bleibt wie der Lichtschein an den Weinhängen ihres Dorfes.

Lluís Llach, geboren 1948, erlangte als Sänger der Nova cançó große Berühmtheit. Sein während der Franco-Diktatur im Pariser Exil entstandener Song L'Estaca gilt als die Hymne der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Llach lebt auf seinem Weingut im katalanischen Dorf Porrera.

Lluís Llach

Die Frauen von La Principal

Roman

Die Übersetzung wurde gefördert aus Mitteln des Institut Ramon Llull

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016.

© Lluís Llach, 2014.

Licence given by Grup Editorial 62, S.L.U., Editorial Empúries.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagfoto: Corbis, Berlin

1IM SCHAUKELSTUHL

Donnerstag, 7. November 1940

Úrsula stieg in den ersten Stock hinauf, wie immer, wenn sie allein im Haus war. Sie setzte sich in Senyor Andreus Schaukelstuhl, rief sich sein Bild ins Gedächtnis und sagte: »Mögest du in Frieden ruhen.«

Und wie immer schweifte ihr Blick dann über Möbel und Zierrat in dem vornehmen Salon. Viel zu viel Kram, dachte sie bei sich. Seit der große Flügel dort stand, fand sie das Zimmer überfüllt. Sie würde den Federwedel auch mal mit raufbringen müssen, im Licht der großen Fenster verriet der Staub auf der lackierten Oberfläche, dass sie schon seit drei Tagen nicht mehr saubergemacht hatte. In Wahrheit taugte sie nur noch zum Staubwischen. Doch die vielen Jahre im Dienst der Familie und die Zuneigung, die Maria ihr entgegenbrachte, hatten ihr zu dem einen oder anderen Privileg verholfen. Und so war sie von der Pflicht entbunden, zusammen mit allen anderen Dienstboten und Arbeitern der Principal an diesem Morgen die Senyora zur Messe im Mas Gran, dem Haupthaus des Anwesens, zu begleiten.

Sooft man sie für eine Weile allein ließ, ging sie hinauf in die Gemächer der Herrschaft zu Andreus Schaukelstuhl. Behutsam ließ sie sich darin nieder und schob sich ein Kissen hinter den Kopf. Von diesem Sessel aus betrachtete sie die Einrichtung, als hätte sie sie noch nie gesehen, und jedes Mal blieb ihr Blick an irgendeinem Gegenstand hängen, der sie im Geist zurücktrug in die Erinnerung und weiter bis an die Schwelle der Träume.

Doch kaum hatte sie die richtige Sitzposition gefunden, bemerkte sie in der Ritze der angelehnten Tür einen Schimmer. Er kam aus der Bibliothek. Ach, Maria hatte wohl wieder mal vergessen, das Licht auszuschalten. »Die Kleine verkriecht sich in letzter Zeit viel zu lange da drin«, murmelte sie und stand auf. Sie ging hinüber und löschte die Lampe über dem Lesetisch, auf dem sich Dokumente, mit Notizen übersäte Skizzen von Lageplänen und Bücher voller Zahlen häuften. Sie wusste nicht, womit die Kleine beschäftigt war, aber irgendetwas brütete sie aus. Eine große Sache, denn sie hatte allen auf der Principal streng verboten, das Zimmer zu betreten. Allein Úrsula war es gestattet, die Teppiche zu klopfen, den Boden zu wischen und die Möbel abzustauben, nachdem sie bei Gott und ihrer Mutter hatte schwören müssen, kein Stück Papier anzurühren und alles zu lassen, wo es war.

Murrend kehrte sie zum Schaukelstuhl zurück. Sitzmöbel, die das Ungleichgewicht zur Tugend erhoben, waren mit Vorsicht zu genießen, sowohl beim Hinsetzen als auch beim Aufstehen, besonders in einem Alter, in dem die Kraft in den Armen und überall sonst nachließ. Noch während sie es sich erneut bequem machte, um ihr Ritual wieder aufzunehmen, war ihr plötzlich, als hätte jemand leise an die Haustür geklopft. Bestimmt eines der Dorfkinder mit seinen Streichen, das war sowieso egal. Und sie hatte keine Lust, sich noch mal zu erheben. Beim Betreten der Bibliothek hatte sie daran denken müssen, wie die Alte – das war der Spitzname von Maria Roderich gewesen, der Mutter der jetzigen Senyora – damals dieses prächtige Lesezimmer zu Ehren ihres Gatten Narcís Magí eingerichtet hatte. Oh ja, herrliche Zeiten waren das …

DIE ALTE UND DIE PRINCIPAL TRÄUMERISCHE ERINNERUNG

Kein Zweifel, die Frau besaß Durchsetzungsvermögen und stand dem Gut vor wie ein Kasernenchef, aber den Spitznamen »die Alte« hatte man ihr schon mit knapp zwanzig Jahren verpasst, zu einer Zeit, als die Reblaus die Abadia verwüstete und sie fast den gesamten Besitz der Roderichs in Pous erbte. Die Leitung der Principal, des Weinkellers, der Ländereien und sämtlicher Geschäfte, war keine leichte Aufgabe für eine im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts geborene Frau. Wenn sie aber obendrein so vermögend war, dass sie den Neid der gesamten Region auf sich zog und einen Status genoss, der in ihrer von Männern dominierten Umgebung dumpfe Eifersucht schürte, waren die Schwierigkeiten unermesslich.

In Pous war man einhellig der Meinung, diesem Verstoß gegen die Konventionen sei nur durch eine ordentliche Ehe abzuhelfen, weil im reichsten Haus des Dorfes nun mal ein gestandener Mann das Regiment führen müsse. Doch als Maria Roderich zu heiraten beschloss, war ihr Auserwählter ebenso reich wie frei von irdischen Machtgelüsten. Maria heiratete gewiss aus Liebe, aber die Schlaueren unter den Dörflern sahen zwei weitere Vorzüge: Zum einen vergrößerte sie auf diese Weise ihr Vermögen, und zum anderen behielt sie auf der Principal die Zügel in der Hand.

Narcís Magís Eltern gehörten zu den wohlhabendsten Kaufleuten von Rius, waren jedoch bei einem Schiffsunglück auf der Rückreise aus London ums Leben gekommen. Ihr einziger Sohn, der nur ihnen zu Gefallen Jura studiert und kurz zuvor seinen Abschluss gemacht hatte, war mit einem Mal Erbe eines immensen Landgutes. Bedauerlicherweise hatte er mit diesem Vermögen nicht auch den Ehrgeiz geerbt, es zu vermehren oder auch nur gescheit zu verwalten, so die Kritik der erlauchten Mitglieder des Unternehmerzirkels von Rius. Denn Narcís nutzte seinen Stand als sorgenfreier Erbe, indem er sich fortan dem privilegierten Leben widmete wie einem Beruf. Manche könnten nun meinen, eine solche Persönlichkeit als Faulpelz, Hallodri oder Tagedieb bezeichnen zu dürfen. Doch weit gefehlt.

Narcís verschaffte sich einen groben Überblick über sein Vermögen und erkannte, dass er bei guter Planung und deren strikter Einhaltung so viele Jahre von der Rendite würde leben können, wie der liebe Gott ihm gewähren mochte. Er überlegte es sich nicht zweimal und nutzte die Gelegenheit, endlich das Leben zu führen, das er sich erträumt hatte, seit er sich widerwillig an der Universität von Barcelona eingeschrieben hatte: Er ging spazieren, las, besuchte Konzerte, schrieb, dachte nach, reiste …, nach Ansicht vieler Leute lauter nutzlose Tätigkeiten. Doch dieser junge Mann machte das Nichtstun zu seinem Tagewerk, und wenn er sich auch anfangs gebärdete wie ein übereifriger Lehrling, entwickelte er sich mit der Zeit doch zu einem feinsinnigen Lebenskünstler.

Er war ein sonderbarer Bursche, erinnerte sich Úrsula schläfrig, mit Verhaltensweisen, die gegen die guten Sitten verstießen. Beispielsweise wollte er nach seiner Hochzeit mit Maria Roderich nicht in Rius bleiben, sondern kehrte der Stadt – zur Verblüffung der Mitglieder des Unternehmerzirkels – den Rücken und zog nach Pous, einem kleinen Dorf, halb versteckt in einem tiefen Tal und, gesellschaftlich gesehen, Ödland. Ein anderes Beispiel: Seit seiner Ankunft auf der Principal schien er bemüht, den Pulsschlag des Hauses nicht zu verändern. Vielmehr passte er sich diskret an, als wollte er den von Maria geregelten Gang der Dinge nicht stören. Er erhob keinen Anspruch darauf, die Finanzen zu überwachen, er mischte sich nicht in ihre vielfältigen geschäftlichen Aktivitäten ein. Von seiner mangelnden Begabung einmal abgesehen, ahnte er wohl auch, dass seine Frau das niemals zugelassen hätte. Maria verwaltete die großen Gewinne und die Konflikte der Principal mit einem Sinn für Autorität, der ihm völlig abging. Ihn faszinierte es, mit welcher Entschiedenheit seine Gattin sich Achtung verschaffte, und das zu Zeiten, zu denen es gar nicht gern gesehen war, wenn eine Frau über irgendetwas oder irgendjemanden das Sagen hatte.

Tatsächlich empfand Maria Roderich eine tiefe Liebe für diesen sensiblen Mann, der so anders war als alle anderen und sie selbst. Wenn sie sich morgens im Spiegel betrachtete, fand sie nicht eine einzige der Tugenden, die sie an Narcís liebte. Doch in ihrer Verschiedenartigkeit waren sie wie Zahnräder, die, wenn sie nicht passten, zu blutigen Verletzungen führen konnten, wenn sie richtig ineinandergriffen, allerdings die Maschine mit eigentümlicher Präzision am Laufen hielten. Und auch wenn manch einer es für ein Wunder halten mochte, funktionierte die Maschine während der zehn Jahre ihres Zusammenlebens reibungslos.

Von all den Männern, die die Alte umschwärmt und um ihr Geld oder ihre Liebe gebuhlt hatten, war Narcís der Einzige, dem es gelang, Eigenschaften in ihr zu wecken, die sie nie zuvor besessen hatte: Neugierde und Wissensdurst. Er war ein gebildeter, seltsamer Mann, der ihr auf Augenhöhe begegnete, immer interessante Themen anschnitt oder zu Fragen, die Ehemänner sonst niemals mit ihren Frauen besprachen, ihre Meinung hören wollte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie die Notwendigkeit, über ihre Fragen länger nachzudenken als über ihre Antworten. Und wenn, was häufig vorkam, ihre Gedanken oder Sichtweisen nicht übereinstimmten oder gar völlig gegensätzlich waren, sah er darin vor allem die Herausforderung, nach der Ursache zu suchen und die Differenzen auszuloten, jedoch stets in der Absicht, diese zu verringern, zu überbrücken oder, wenn das nicht möglich war, zumindest zu verstehen.

Diese Eigenschaften, die keiner ihrer früheren Verehrer auch nur ansatzweise vorzuweisen hatte, erstaunten und verzückten sie. Maria Roderich bekannte sich zu ihrer Dickköpfigkeit und der Unerschütterlichkeit ihrer religiösen Überzeugungen und brüstete sich, in fast allem konservativ und altmodisch zu sein. Aber Narcís und seine Art, die Dinge zu betrachten, regten sie zum Nachdenken an, was gelegentlich dazu führte, dass sie von unantastbar geglaubten Meinungen abrückte oder diese immerhin in Zweifel zog, ohne etwas dabei zu finden. Ganz im Gegenteil, sie freute sich darüber. Wie wenn sie als kleines Mädchen Bänder und Papier von einem Päckchen entfernt hatte, gespannt auf das neue Geschenk.

Auch entbehrte Narcís allem Anschein nach der nötigen Leidenschaft, um seiner Frau volle Befriedigung zu verschaffen, und obgleich dieser Aspekt Maria am Anfang ihrer Beziehung Sorgen bereitete, lernte sie doch bald, das fehlende Feuer zu schätzen und als unerlässlichen Preis für sein Wissen, seine Bildung und Feinfühligkeit zu begreifen. Und so fand sie sich mit einem Eheleben ab, in dem zwar ihr Körper zu kurz kam, ihr Kopf dafür umso mehr profitierte.

Die meiste Zeit des Tages gingen sie getrennte Wege, er in seine Reflexionen versunken und sie mit allem beschäftigt, was innerhalb und außerhalb der Principal anfallen mochte. Und in den Stunden zu zweit genossen sie ihr Zusammensein, als entdeckten sie einander jedes Mal neu, als schöpften sie aus ihrem wechselseitigen Bemühen um die Seele des anderen immer wieder Kraft. Weil er in diesen Momenten einen Willen bewundern konnte, über den er niemals verfügen würde, und sie das berauschende Licht neuer Horizonte wahrnahm, zu denen nur ihr Gatte sie zu führen vermochte.

Auf diese Weise verbreiteten sie eine Atmosphäre solcher Eintracht, dass niemand sich erinnern konnte, in all den Jahren ihres Zusammenlebens einen bösen Blick oder ein scharfes Wort bemerkt zu haben. Im Umfeld der Alten galt dies als das reinste Wunder, und das Personal genoss die Harmonie wie die Ruhe vor dem Sturm.

Diese ganze Entwicklung wurde von einem wesentlichen Element begleitet, einer Art Symbol ihrer Einigkeit: dem großen Flügel, den Narcís aus Rius mitgebracht hatte. Er stand mitten im Wohnzimmer der Principal, und jeden Abend ließ sich Narcís auf dem dazu passenden Klavierhocker nieder, drehte den Sitz je nach seiner Gemütslage höher oder tiefer und spielte eine Weile. Die Alte saß unterdessen im Schaukelstuhl ihres Vaters, nah bei ihrem Mann, aber mit dem Rücken zu ihm, entweder um ihre Tränen vor ihm zu verbergen oder weil sie die Mechanik nicht sehen wollte, die das musikalische Wunder bewirkte. Dann lehnte sie den Kopf zurück, schloss die Augen und verharrte vollkommen reglos. Nur ein leises Lächeln um ihre Lippen verriet das Glücksgefühl, das sie durchströmte. Narcís mochte kein Virtuose sein, doch er besaß ein Gespür für Ausdruck, und wenn er über die Tasten strich, war ihm, als liebkoste er die empfindlichsten, geheimsten Stellen seiner Frau.

Von Kindern, dieser unabdingbaren ehelichen Pflicht, war zwischen ihnen kaum je die Rede. Nur einmal deutete die Alte an, sie hätte gern ein kleines Mädchen, kam jedoch nicht wieder darauf zurück, denn wann immer sie im Gespräch die Mysterien des Ehebettes erwähnte, wich Narcís dem Thema aus. Das Zusammenspiel unbekannter Zufälle führte trotz allem dazu, dass es Narcís gelang, seine Frau zu schwängern, als diese längst alle Hoffnung aufgegeben hatte. Maria konnte sich mit dem Gedanken erst gar nicht recht anfreunden. Und die bösen Zungen im Dorf auch nicht. Bald kursierten die Namen jener kernigen Jungs aus Pous, die an dem Phänomen angeblich beteiligt gewesen sein sollten.

Maria Roderichs Fruchtblase platzte ohne jede Vorankündigung, und fast im selben Augenblick setzten mit höllischen Schmerzen die Wehen ein. Ihre gellenden, kläglichen Schreie ließen das ganze Haus vom Weinkeller bis zum Dachboden erbeben. Als die Bediensteten sahen, dass das Ereignis keinen Aufschub mehr duldete, trafen sie schleunigst die nötigen Vorbereitungen, und zwei Mägde eilten ins Dorf, um Presentaciò zu holen, die einzige Hebamme in Pous. Zugleich schickte Senyor Narcís den Vorarbeiter Raül zum Telegrafenamt, damit er Doktor Lluch in Rius benachrichtigte und dieser sich sofort auf den Weg machte.

Die beiden Dienstmädchen waren darauf eingestellt, durchs halbe Dorf rennen zu müssen, da Presentaciò bekanntermaßen nie zu Hause war, wenn man sie dringend brauchte. Unterdessen setzte Rosa, die Köchin, Töpfe auf den Herd, damit ausreichend heißes Wasser zum Waschen und Saubermachen zur Verfügung stand. Daneben stellte sie einen kleineren Topf für den Tee aus Zitronenverbene, von der man glaubte, sie lindere die Krämpfe der Gebärenden, und noch einen weiteren für einen Thymianaufguss, falls an zarter Stelle eine Wunde zu versorgen wäre.

Bei Rosa in der Küche war auch Úrsula; die schiefe Stirnfalte besonders scharf ausgeprägt, schnitt sie Baumwolllappen zurecht und stapelte sie ordentlich auf einem Tischchen. Sie würden zum Abtrocknen und Reinigen dienen. Oder als heiße Umschläge für die Nierengegend, um Maria das Pressen zu erleichtern. Die feinsten Gewebe tat sie zur Seite, sie sollten als erste Windel für das Neugeborene verwendet werden, bevor es in die Spitzen gekleidet würde, die ebenfalls schon bereitlagen.

Doch die Geburt ließ sich weder von der Ungeduld der Wartenden noch von der Fahrzeit des Arztes beeinflussen, und in den zwei Stunden, die dieser für die hundertsiebenundzwanzig Kurven zwischen Rius und Pous brauchte, sah sich Presentaciò gezwungen, die Sache allein in die Hand zu nehmen. Nachdem sie verstohlen ein ganzes Glas Melissengeist gekippt hatte, um ihre Nerven zu beruhigen, fühlte sie sich gewappnet, begann, Anweisungen zu erteilen, und versetzte das ganze Haus in Aufruhr, indem sie die Frauen zwischen Küche, Bad und Schlafzimmer hin und her scheuchte.

Auch Senyor Narcís, den niemand davon abbringen konnte, seiner Frau beizustehen, hielt sich im Zimmer auf und sah zu, wie Töpfe hereingetragen und Mulltücher gebracht wurden, die den Raum dann blutbefleckt wieder verließen, hörte Ratschläge, Schreie, Stöhnen … und las in den Gesichtern immer schlimmere Befürchtungen. Fünf Minuten nachdem Doktor Lluch aus Rius eingetroffen war, erschien das runzlige Körperchen, über und über von Blut und Schleim bedeckt, ein winziges Mädchen, das die Alte nicht sehen konnte, weil ihr der Schmerz zusammen mit dem Blutverlust schließlich die Besinnung geraubt hatten.

Auf Wunsch des Vaters wurde das Kind nach der Mutter benannt und wenige Tage später, in viel kleinerem Rahmen als den Pousern lieb gewesen wäre, auf den Namen Maria Blanca Basilissa Magí i Roderich getauft.

Man schrieb das Jahr 1910, und mit diesem unerwarteten Schatz in der Familie schien alles perfekt. Doch das Schicksal trifft seine Entscheidungen oft willkürlich, und vier Monate nach der Geburt seiner Tochter erkrankte Narcís an der Stelle in seiner Brust, an der seine nobelsten Gefühle entsprangen. Die namhaftesten Ärzte von Rius und Barcelona begannen mit ihrer Behandlung, bis sie eingestehen mussten, dass es keine gab. Narcís, der über seinen Zustand genau informiert zu werden wünschte, zog es angesichts der schlechten Prognose vor, auf die Principal zurückzukehren und dort in Ruhe zu sterben. Sechs Wochen später bat er seine Frau, ihn nackt auszuziehen, und ergab sich still dem Nichts, ohne einen Seufzer; als sänke er in einen friedlichen Traum, schmiegte er sich in die Arme seiner Liebsten, bis sein Herzschlag verstummte.

Die Alte war tief erschüttert. Gewiss hatte sie in Narcís nicht den erträumten Märchenprinzen gehabt und auch keinen Liebhaber, der ihre Sinne betört hätte, aber er war ihr ein Gefährte von seltener und feiner Art gewesen. Nach seinem Tod mutmaßte Úrsula, wie viele andere auch, sie würde sich wieder einen Ehemann suchen oder wenigstens einen Mann, mit dem im Bett etwas anzufangen wäre, doch das tat die Alte nicht. Ihre Gefühle verbarg sie fortan, doch tief unter der spröden äußeren Schale bewahrte sie ihrem Gatten ein stets liebendes Andenken. Nach außen jedoch zeigte sie nur noch Stacheln, die Blüten blieben fortan für immer verborgen.

Narcís hinterließ ihr ein beachtliches Vermögen, Wertgegenstände, Geld und Ländereien, auch Gemälde, Skulpturen und, neben dem Klavier, jede Menge Kostbarkeiten, mit denen er im Lauf der Jahre das Haus angefüllt hatte, wie um sie als erlesene Zeugnisse seines Aufenthaltes dort zurückzulassen. Doch der Großteil seines Vermächtnisses waren Bücher, Schränke voller Bücher, Schubladen voller Bücher, auf Tischen gestapelte Bücher; in jedem Winkel des Hauses, wo dieser Mann länger als drei Minuten gesessen hatte, lagen Bücher. So viele, dass die Alte sie alle in einem Zimmer neben dem eleganten Salon zusammentrug und eine Bibliothek einrichtete, die, präsidiert von einem Porträt des Verstorbenen, jeden Besucher mit Bewunderung und Respekt erfüllte, während sie der Principal zugleich den ehrwürdigen Glanz von Kultur und Intellekt verlieh.

Der Bestattungszeremonie wohnte die Witwe von einem Podium aus bei, das links vom Altar im Presbyterium aufgestellt war, einem exklusiv den Roderichs vorbehaltenen Platz. Anwesende berichteten, sie habe mit ungeheurer Inbrunst gebetet, die Augen gen Himmel gerichtet und das Kind an die Brust gepresst, als flehte sie Gott an, den Blick auf sie zu senken. So mancher argwöhnte, mit der Kraft ihrer Fürbitten und der Zartheit des Säuglings wolle sie den Herrgott sicherlich ihrem Mann gegenüber gnädig stimmen. Tatsächlich hegte die Witwe den Verdacht, dass ihr Narcís, falls das Fundament ihres Glaubens wirklich die Wahrheit war, die er immer bestritten hatte, längst in der Hölle schmoren musste. Und darüber war sie, selbst wenn Gott grundsätzlich recht hatte, ehrlich entrüstet.

Während die Monotonie der Totenmesse Maria einlullte und ihre Befürchtungen dämpfte, hing sie Gedanken über die Vergänglichkeit des Menschenlebens nach, sei es als letzte Huldigung für ihren Narcís, sei es, um sich von der Langeweile dieses feierlichen Hochamtes abzulenken. Ihr Korsett schnürte sie so ein, dass sie kaum Luft bekam. Sie hatte ausgiebig gefrühstückt und litt jetzt unter Blähungen. Zum Glück war das Podium weit genug von der Kirchengemeinde entfernt, und so konnte sie sich ungeniert Erleichterung verschaffen, machte sich jedoch Vorhaltungen, weil sie in letzter Zeit stark zugenommen hatte. Und dort oben im Presbyterium und in diesem feierlichen Augenblick schwor sie sich, Enthaltsamkeit zu üben, um nicht zu einem schlaffen Fettwanst zu werden.

Sie wiederholte diesen Schwur, bis sie einhundertdreiundzwanzig Kilogramm wog. Sie sagte, sie esse wenig, es seien die Nerven, und sogar die Köchin, die unablässig ihren Appetit stillte, bestätigte dies. Der Speck jedenfalls fuhr fort, die letzten Kurven ihres Körpers mit immer neuen Wülsten auszupolstern. Es waren die Nerven. Der Herrin widersprach man nicht, und der Alten von der Principal schon gar nicht.

Rosa, die Köchin, starb zwei Jahre nach der Geburt der Kleinen. Weil sie es kommen sah und mit dem neuen Laster der Herrin vertraut war, empfahl sie der Alten eine Kollegin namens Neus, eine etwa dreißigjährige Frau, die einen kleinen Sohn hatte, im sechsten Monat schwanger war und für keines der Kinder einen Vater vorweisen konnte. Die Alte hätte sie in diesem Zustand niemals genommen, doch der jungen Frau eilte ein guter Ruf voraus, eine Woche auf Probe überzeugte die Alte endgültig, und so stellte sie sie ein, auch wenn sie eigentlich gar keine Köchin brauchte, weil sie ja schon allein von den Nerven immer dicker wurde.

Ihr extremes Übergewicht führte zu Schmerzen, als deren Ursache die Ärzte in Barcelona eine Deformation der Wirbelsäule feststellten und Maria nahelegten, sich zu mäßigen, da sie sich andernfalls bald nicht mehr bewegen könnte und die Schmerzen zur Qual würden. Leider erlaubten ihr weder die Nerven noch Neus abzunehmen, und ein paar Jahre später erfüllte sich die Prognose. Noch bevor sie ihren endgültigen Umfang erreicht hatte, wurde es zu beschwerlich, mit diesem Leib ihr rühriges Leben beizubehalten. Andererseits empfand sie jeden Tag, den sie einsam zu Hause verbrachte, als Vorboten einer freudlosen Zukunft. Deshalb und auch, um es sich nicht mit Neus zu verderben, bestellte sie einen Tragsessel, eine bescheidene Replik der Sänfte auf einem der vatikanischen Bildchen, die sie in ihrer Nachttischschublade aufbewahrte. Damit würde sie auf den Schultern von vier Trägern überallhin gelangen, ohne ihre Fresslust zügeln zu müssen.

Während der Anfertigung dieses Stuhls, mit der Ramon, der beste Tischler des Dorfes, beauftragt wurde, nahm die erwartungsvolle Spannung der Pouser stetig zu. Abends nach der Feldarbeit beeilten sich die Männer, nach Hause zu kommen, um sich ein wenig frisch zu machen, mit ihren sonntäglich gekleideten Frauen zur Schreinerei zu pilgern und der Entstehung der »Sedia« zuzusehen, wie der Volksmund das Vehikel bereits getauft hatte.

Die Warteschlangen bedurften bald einer gewissen Organisation, um die Besuche der Werkstatt reibungsloser und zügiger zu gestalten. Anfangs fand Ramon es ganz in Ordnung, weil ihn diese filigrane Arbeit ins Zentrum der kleinen Dorfwelt rückte und er sich endlich gebührend gewürdigt sah. Bis die Schaulust überhandnahm und er die Tür schließen und von innen verriegeln musste, um die nötige Ruhe für seine schöpferische Arbeit zu haben. Natürlich hatte das wilde Spekulationen zur Folge. Am meisten verbreitete sich die der beiden frommen Schwestern des Apothekers, die fanden, wenn die Alte sich eine Sänfte bauen ließ wie die des Papstes von Rom, sei das eine Beleidigung der höheren Mächte, die schon dafür sorgen würden, dass der Sessel die Werkstatt des Tischlers niemals verließ. Auf jeden Fall sprach man während der Ausführung dieses ungewöhnlichen Auftrags in Pous von nichts anderem.

An dem Tag, an dem das Möbelstück von der Schreinerei zum Tor der Principal gebracht werden sollte, formierte sich spontan etwas, das eher einer Prozession glich als der Auslieferung einer Bestellung. Ungeachtet der Proteste Ramons, der Angst hatte, sein Werk könnte Schaden nehmen, hievte sich eine Gruppe von Dorfbewohnern feixend das Ding auf die Schultern. Die Alte, über die allgemeine Erwartung in Kenntnis gesetzt, nahm sich Zeit, ihre Speckmassen in Schale zu werfen, und trat mit feierlicher Miene vor die Tür.

Es entstand eine spannungsgeladene Stille. Sie beäugte den Stuhl von allen Seiten und von oben bis unten, bis sie schließlich zur großen Erleichterung der Menge vier ihrer Arbeiter benannte, die sie als Opfer ausersehen hatte. Sie hieß sie, die Sänfte hochzuheben und versuchsweise durch die engsten Gassen des Dorfes zu tragen, und damit die Last der Wirklichkeit entspräche, befahl sie Úrsula und Neus aufzusteigen, weil ein Probelauf ohne »ein bisschen« Gewicht nicht vertrauenswürdig sei.

Und so setzte sich der Zug in Bewegung, angeführt von den schwankenden Trägern, die erst mal üben mussten, das Gerät im Gleichgewicht zu halten, was noch dazu ziemlich schmerzhaft war, weil Ramon vergessen hatte, die Tragestangen mit einem Polster zu versehen. Und obenauf, zum Gespött aller, Úrsula und Neus.

Bei der Steigung zur Kirche hörte man die Träger schon keuchen, vor allem die beiden hinteren, die mit so etwas nicht gerechnet hatten und angestrengt versuchten, den Hohn der Zuschauer zu überhören und das Zittern ihrer Beine zu überspielen. Danach bogen sie um die rechte Ecke des Gotteshauses, wo es drei schwerpassierbare Gassen gab, vor allem die zweite, in der es sofort um eine Haarnadelkurve ging, gefolgt von einem sehr steilen Anstieg und einer spitzen Häuserecke, an der selbst die erfahrensten Maulesel mit ihren Packtaschen hängenblieben. Bei ihren Manövern entgingen sie mehrmals nur knapp einem Unfall, auf den die Schaulustigen insgeheim lauerten. Doch alles in allem fiel der Probelauf zur allseitigen Zufriedenheit aus, und die Sedia kehrte, noch immer mit den beiden mittlerweile wachsbleichen Frauen auf dem Hochsitz, ohne eine Schramme zur Principal zurück.

Die Alte empfing sie auf der Straße vor dem Tor, und nachdem man ihr Bericht erstattet hatte, suchte sie Stoff und ein paar Kissen heraus und befahl mit lauter Stimme, damit jeder sie hörte, bis zum nächsten Sonntag die nötigen Vorbereitungen zu treffen: Sie beabsichtige, die Messe in der Kapelle des Mas Gran zu besuchen.

2DER BESUCH

Donnerstag, 7. November 1940

Úrsula, die selbst im Halbschlaf scharfe Ohren hatte, war, als hätte sie schon wieder den Türklopfer gehört, immer hartnäckiger drangen die Schläge durch ihre Benommenheit. Um sich zu vergewissern, blinzelte sie durch einen Lidspalt, als könnte sie, wenn sie die Augen öffnete, auch deutlicher hören. In ihrem Alter und in diesem verschlafenen Zustand war das Aufstehen aus dem Schaukelstuhl nicht so einfach und erforderte Achtsamkeit: Zuerst neigte sie den Oberkörper, um die Sitzfläche nach vorn zu kippen, wobei sie aufpassen musste, sich gut mit den Beinen abzustützen, denn tat sie es mit den Armen, bestand die Gefahr, dass der Stuhl nach hinten wegrutschte. Und während immer wieder der Türklopfer ertönte, ging sie beunruhigt die dreifach gewundene Treppe hinunter in den Eingangsbereich.

Im Gegenlicht konnte sie den Mann in der Tür nicht genau sehen, aber sie hörte ihn sagen:

»Ich klopfe schon eine ganze Weile.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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