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Der großangelegte und hochemotionale Debüt-Roman von Henrike Scriverius, einer Autorin, die das Zeug hat, die deutsche Kate Morton zu werden! Monte Spina - eine einsame Insel vor Lanzarote, sucht einen neuen Gärtner, was nicht ganz einfach ist, denn außer Stille und Einsamkeit hat die kleine Privatinsel wenig zu bieten. Doch das kommt der dreißigjährigen Gärtnerin Toni gerade recht, denn ihr Mann ist gerade bei einem Autounfall gestorben und der Sinn ihres Lebens und alle ihre Liebe mit ihm. Weit draußen im Atlantik trifft sie auf eine karstige Landschaft und auf Menschen, die sie nicht gerade herzlich empfangen. Aber Sonne und harte Arbeit wecken neben ihren Lebensgeistern vor allem eins: ihre Neugier. Denn auf der schweigsamen Insel Monte Spina am Ende der Welt gibt es eine ganze Reihe von Merkwürdigkeiten und Geheimnissen: Warum blieben Tonis Vorgänger immer nur wenige Wochen? Wieso ist das oberste Stockwerk des Haupthauses tabu für sie? Und was steckt hinter dem abwesenden Besitzer der Insel, dem geheimnisvollen Bror, von dem alle nur im Flüsterton sprechen?
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Seitenzahl: 458
Henrike Scriverius
Die Gärten von Monte Spina
Roman
Knaur e-books
Monte Spina – eine einsame Insel vor Lanzarote, sucht einen neuen Gärtner, was nicht ganz einfach ist, denn außer Stille und Einsamkeit hat die kleine Privatinsel wenig zu bieten. Doch das ist der dreißigjährigen Toni gerade recht, denn ihr Mann ist gerade bei einem Autounfall gestorben und der Sinn ihres Lebens mit ihm. Weit draußen im Atlantik trifft sie auf eine karstige Landschaft und auf Menschen, die sie nicht gerade herzlich empfangen. Aber Sonne und harte Arbeit wecken neben ihren Lebensgeistern vor allem eins: ihre Neugier. Denn auf der schweigsamen Insel am Ende der Welt gibt es eine ganze Reihe von Merkwürdigkeiten: Warum blieben Tonis Vorgänger immer nur wenige Wochen? Wieso ist das oberste Stockwerk des Haupthauses tabu für sie? Und was steckt hinter dem abwesenden Besitzer der Insel, dem geheimnisvollen Bror, von dem alle nur im Flüsterton sprechen?
Für J.
Wenn man sich nicht mehr spürt, ist alles grau. Und irgendwie wattig. Als würde man in einer Blase leben und mit der Welt da draußen nichts mehr zu tun haben.
So oder so ähnlich habe ich es zu beschreiben versucht, als sie mich fragten, wie es mir geht. Hat aber nicht funktioniert. Stattdessen haben sie nur komisch geguckt und mich mit ein paar Bogen Papier wieder nach Hause geschickt. Das wird Ihnen helfen, haben sie gesagt: sich einfach mal hinsetzen und alles aufschreiben. Wer Sie sind und was Sie so ausmacht. Damit Sie sich wieder spüren.
Ich spüre mich nicht mehr, habe ich ihnen gesagt, ich funktioniere nur noch. Ich stehe morgens auf und ziehe mich an und laufe los und komme abends wieder und gehe ins Bett und schlafe. Wenn ich Glück habe. Wenn nicht, dann liege ich wach, manchmal die ganze Nacht. Das ist das Schlimmste. Tagsüber sind da Geräusche und Dinge, die getan werden müssen und mein Hirn beschäftigen. Aber nachts ist es ganz still. Nur nicht in meinem Kopf. Dann sind sie wieder da, diese ganzen blinkenden Knöpfe, und das Piepsen und Schnaufen von irgendwelchen Geräten, die Hoffnung machen sollen, dass alles vielleicht doch wieder gut wird. Doch dann kommt dieser Arzt ins Zimmer, und er ist noch so jung, und man sieht ihm die Angst an. Er sollte doch eigentlich keine Angst haben, er soll Leon doch wieder gesund machen, nicht wahr? Aber er schaut mich nur an, so müde und erschöpft. Er hat die ganze Nacht gekämpft, ich weiß das doch, er muss es mir nicht sagen. Ich habe ihn gesehen, als ich in die Notaufnahme kam und Leon auf dieser Trage lag, und um ihn herum die vielen Menschen in ihren weißen und grünen Kitteln. Der Arzt hat was zu ihm gesagt, ich habe Leons Augen gesehen, sie waren ganz groß und dunkel, und ich habe noch gedacht, er spricht. Alles wird gut.
Aber als sie mich schließlich zu ihm gelassen haben, zu Leon mit all den Drähten und Schläuchen, und seine Haare noch orange vom Jod, da hat er nicht mehr gesprochen. Er hatte die Augen geschlossen und war ganz bleich. Und – so klein. Der große Leon. Als hätte er schon begonnen, sich aufzulösen.
Ich heiße Toni Andersen. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt und habe meinen Mann verloren. Ich kam eines Abends nach Hause, er nicht. Am nächsten Morgen war er tot.
Ich soll nicht von dem Unfall schreiben, haben sie gesagt. Was wann passiert ist und warum. Ich soll über die Zeit davor schreiben. Als noch alles in Ordnung war. Als ich mich noch gespürt habe.
Irgendwie war ich schon immer anders als die anderen. So richtig dazugehört habe ich wohl nie. Auf dem Schulhof stand ich oft abseits und habe mich gewundert über dieses ganze Tuscheln und Kichern und diese Aufregung um Zigaretten und irgendwelche pickligen Jungs. Das war nicht schlimm, ich wurde nicht gehänselt oder so. Na ja, manchmal haben sie mir was hinterhergerufen wegen meiner Haare. Ich habe Locken. Nicht diese großen, schönen, die man sich immerzu um den Finger wickeln möchte, sondern diese wilde Wolle, die aus Prinzip schon nicht macht, was sie soll. Einmal, ich glaube, ich war schon im Abitur, da hatte ich die Nase voll davon und habe sie mir abgeschnitten, ganz kurz und schief. Es war das einzige Mal, dass mein Vater so richtig sauer wurde. Wann wirst du endlich erwachsen?, hat er geschimpft und die Hände gerungen. Weiß ich nicht, habe ich geantwortet. Weiß ich bis heute nicht.
Aber mit zweiunddreißig sollte man so langsam erwachsen werden, nicht wahr? Und seinen Platz in der Welt kennen oder zumindest zielstrebig danach suchen. Man sollte sich eine Liste gemacht haben, was man in seinem Leben alles erreichen möchte, ob man Kinder haben will und, wenn ja, wie viele, wie der Traummann auszusehen hat und welche Farbe die Einbauküche haben soll. Man sollte auch mittlerweile wissen, welche Frisur einem am besten steht, in welcher Jeans der Po am besten zur Geltung kommt und welche Absatzhöhe gerade angesagt ist. Und man sollte vor allem wissen, wann man die Klappe halten soll. Einfach mal den Mund halten, vor allem wenn man keine Ahnung hat. Doch genau hier fangen meine Probleme an.
Raushalten ist nicht mein Ding. Und damit meine ich jetzt nicht das stundenlange Verteilen von Flugblättern in der Fußgängerzone. Ich bin nicht so politisch. Eigentlich gar nicht. Es kommt mir immer sinnlos vor, wenn ich diese Menschen an den Rednerpulten stehen sehe, und wie sie wild gestikulierend was verändern wollen. Mit irgendwelchen Quoten oder neuen Regeln und Gesetzen, an die sich dann doch keiner hält. Die wollen die Welt verbessern? Pfff. Ich, ich kann die Welt verbessern, und zwar mit meinen eigenen Händen. Weil ich Gärtnerin bin.
Ich weiß, was jetzt kommt: Ach Gott, so ein grüner Trampel, der mit dem Laubbläser durch den Park läuft und den Taubenschiss durch die Gegend pustet. Aber ich bin kein grüner Trampel. Zumindest glaube ich es nicht. Aber ich hab auch ehrlich gesagt kein klares Bild von mir. Ich weiß nicht, was mir steht und welche Farbe zu mir passt. Wenn ich mir was Schickes zum Anziehen kaufen muss, macht mir das Angst. Ich bin nicht so gut in so was. Ich stehe dann immer vor den Spiegeln der Umkleidekabinen und sehe Hände mit kurzen Fingernägeln und Beine, die viel zu verschrammt sind, um sie herzeigen zu können. Dann schaue ich verlegen nach rechts und links zu den Mädchen, die genau zu wissen scheinen, dass Pink zu Rot ein richtiger Knaller ist, Pink zu Orange aber nicht, es sei denn, irgendein Blogger trägt das, dann muss das so sein. Und ich? Keine Ahnung. Kann man nicht auch in Jeans zur Hochzeit gehen?
Ich heiße Toni Andersen, das kommt von Antonia, aber keiner nennt mich so. Mein Vater hat mich manchmal so gerufen, wenn er sauer auf mich war, aber das ist lange her. Meine Eltern waren schon alt, sie haben mich erst spät bekommen, als meine Mutter schon dachte, jetzt geht es nicht mehr. Deshalb habe ich auch keine Geschwister. Meine Eltern und ich, das war was ganz Großes. Wir hatten nicht viel Geld, aber wir wohnten in einem riesigen alten Haus, das mein Vater von seinem Vater geerbt hatte, mit bröckelndem Stuck und Türen, bei denen man höllisch aufpassen musste, sonst hatte man die Klinke in der Hand und bekam die Tür nicht mehr auf. Mit einer Bibliothek, die randvoll war mit Büchern, meine Eltern liebten Bücher, es wurde ständig gelesen bei uns. Mit einem Park und uralten Bäumen, in denen die Fledermäuse wohnten und nachts die Käuzchen riefen. Und mit einer Kinderecke, in der ich mein erstes eigenes Beet anlegen durfte. Bücher und Gärten, das war die Welt meiner Eltern. Und nun ist es meine.
Meine Eltern sind gestorben, als ich Anfang zwanzig war und wusste, was kommen würde. Sie waren schon länger krank, uns war allen klar, was passierte, weil wir viel darüber gesprochen haben. Als es dann so weit war, da war es zwar schlimm. Aber wir haben uns verabschieden können und uns gesagt, wie lieb wir uns haben. Und außerdem gab es da in meinem Leben schon Leon.
Die anderen Mädchen haben ihre Freunde in der Disco kennengelernt oder auf Feten oder beim Sport. Ich habe mein Herz beim Rasenmähen verloren. Ich hatte gerade meine Ausbildung beendet und angefangen zu studieren. Willst du dein Leben lang in fremden Gärten buddeln?, hatte mein Vater gefragt. Ich war mir nicht sicher, schließlich liebte ich das, was ich tat. Wir hatten viele große Gärten in Pflege, und wenn die Besitzer morgens in ihre Autos stiegen, durfte ich den Laubrechen rausholen und bekam auch noch Geld dafür. Einer hat mal zu mir gesagt: »Mädchen, in meinem nächsten Leben werde ich auch so was wie du. Du erschaffst etwas mit deinen eigenen Händen, während ich nur heiße Luft verkaufe.« Er machte was mit Werbung, glaube ich.
Ich dachte damals, ich wäre allein auf dem Grundstück. Es waren Semesterferien, und ich arbeitete wieder für meinen alten Chef, um Geld zu verdienen, ich wollte nach England zu den schönsten Gärten der Welt. Die Besitzer waren in Spanien, ihre zwei Jungs aus dem Haus, hatte man mir gesagt, als man mich morgens vor dem Tor absetzte. Ich hatte einen Schlüssel bekommen, um auf die Toilette gehen zu können, und als es dann so weit war – da konnte ich es mal wieder nicht sein lassen. Wie gesagt, ich dachte, ich wäre allein. Ich weiß, man macht so was nicht. Man schleicht nicht durch ein fremdes Haus, man öffnet keine Türen, die verschlossen sind. Man klaut sich keinen Apfel aus dem Kühlschrank und zieht keine Bücher aus dem Regal. Und knipst auch nicht die Stereoanlage an. Auch nicht, wenn es Mozart ist.
Leon, der Älteste, hatte Semesterferien wie ich und wollte die Ruhe im Haus zum Lernen nutzen. »Mir fallen gleich zehn Paragrafen ein, für die ich dich verklagen könnte«, waren seine ersten Worte an mich. Er studierte Jura. Die Musik war aus, die Töne hingen in der plötzlichen Stille wie abgeschnittene Seile, und ich wäre vor Schreck beinahe umgefallen.
»Bitte sehr«, habe ich getönt, mit einer ganz fremden Stimme, weil mir das Herz bis zum Hals schlug. »Dann musst du Papis Rasen eben selber mähen. Ist gar nicht schwer, ich zeig es dir gern.«
Nicht sehr originell, das gebe ich zu, aber er war so groß und ernst und hatte die Hände so lässig in den Jeanstaschen. Ich glaube, es war genau dieser Moment, in dem ich mich unsterblich in ihn verliebt habe.
»Dein Knie blutet«, war seine Reaktion nach einer Weile.
»Ich weiß«, habe ich gesagt. Ich hatte eine Stufe verfehlt und war auf dem nassen Laub ausgerutscht. Passiert mir schon mal.
»Vorschlag: Ich vergesse, dass du hier rumgeschnüffelt hast, und du fragst mich meine Paragrafen ab. Sonst krieg ich die nie in die Birne.«
»Pfff. Ich denk ja gar nicht dran. Ich werde hier fürs Rasenmähen bezahlt, und nicht, um den kleinen Jungs die Vokabeln abzufragen.« Er war zwei Köpfe größer als ich.
»Aha. Na schön, also … neuer Vorschlag: Du hilfst mir beim Lernen, und ich helfe dir später mit dem Rasen. Einverstanden?«
Er hat dann abends bei mir im Betrieb angerufen, der Garten sei so vergammelt, und er hätte mit seinen Eltern telefoniert, die Gärtnerin solle doch unbedingt die ganze nächste Woche kommen. Er hat drinnen gelernt, und ich habe draußen gearbeitet, und mittags bin ich rein und habe mit ihm gepaukt, und danach ist er mit raus in den Garten und hat mir geholfen. Nach einer Woche waren wir ein Paar, und nach den Semesterferien sind wir zusammengezogen, und als er nach zwei Jahren fertig war mit dem Studium, haben wir geheiratet. Auch wenn seine Eltern wenig begeistert waren. Der große Leon. So klug und stolz. Und dann die kleine Gärtnerin. Na ja. Es wurde besser, als sie meinen Vater kennenlernten, diesen schlohweißen Bücherwurm mit dem dicken Bäuchlein. Aber letztlich bin ich für Leons Familie immer der versponnene Gartenzwerg geblieben. Nicht ganz ernst zu nehmen. Bis heute nicht.
Dabei bin ich gar nicht so klein. Ich bin vielleicht nicht gerade groß oder auffallend oder gar schön. Aber man sollte nie den Fehler machen, mich zu unterschätzen. Nur weil meine Haare wild sind und die Schürfwunden auf meinen Schienbeinen meist frisch. Seien Sie auf der Hut, unter diesen Locken geht viel vor, hat mein Vater mal zu einem Lehrer gesagt, als ich für vorlautes Geschwätz gerügt worden war. Natürlich muss sie noch viel lernen. Den Mund zu halten im rechten Moment. Ihre Nase nicht in fremde Angelegenheiten zu stecken. Sich aus Dingen rauszuhalten, die sie nicht ändern kann. Aber es ist kein leeres Geplapper, was das Kind von sich gibt, es beobachtet scharf. Es sieht viel, und es merkt sich auch viel. Seien Sie wachsam, denn sie ist es auch …
Ich heiße Toni Andersen, und ich soll aufschreiben, wovon ich geträumt habe. Damals, als meine Welt noch nicht in Scherben lag und meine größte Sorge der Mehltau auf dem Rittersporn war. Erinnern Sie sich, was Ihre Ziele waren, hat man mir gesagt. Wofür Sie gelebt haben, was Sie morgens aus dem Bett getrieben hat.
Ich wollte mit Leon alt werden. Ich wollte mit ihm im Garten sitzen und auf die Fledermäuse warten. Ich wollte mit ihm zusammen sein. Andere Ziele hatte ich nicht. Es war mir egal, ob ich Kinder bekommen würde oder nicht. Es war mir herzlich gleichgültig, wie viel Geld ich verdienen würde, welche Wohnung ich mir leisten könnte, ob ich weite Reisen machen würde und, wenn ja, wohin. Ich wollte Leon. Ich bin immer viel allein gewesen, mit meinen Büchern und meinen Gärten, das war in Ordnung. Solange immer jemand irgendwo auf mich wartete. Meine Mutter in der Küche. Mein Vater im Ohrensessel. Leon an seinem Schreibtisch oder mit einem Glas Wein unter dem Birnbaum. Aber jetzt?
Jetzt wartet niemand mehr.
Schattental
Irgendwas stimmte nicht. Ich wachte auf, ganz langsam. Und ausgesprochen widerwillig, denn im Zimmer war es eiskalt. Seltsam, ich musste wohl nachts das Fenster geöffnet haben. Leon mochte das eigentlich nicht, warm und finster wollte er es haben, sonst würde er zwischendurch mal zu mir rüberkommen müssen, um sich aufzuwärmen. Keine sonderlich abschreckende Drohung, wie ich fand, ich lächelte mit geschlossenen Augen und lauschte in die Dunkelheit.
Doch dann traf sie mich, die Erkenntnis. Dass da tatsächlich etwas nicht richtig war. Dass da mit Sicherheit etwas nicht stimmen konnte, und zwar ganz und gar nicht. Denn das Zimmer, in dem ich lag, war nicht nur viel zu kalt. Es war auch zu still.
Weil da nämlich keiner mehr war.
Keiner, der neben mir lag und atmete. Keiner, der im Schlaf manchmal murmelte oder seine Füße zwischen meine schob. Kein Leon. Nie wieder.
Ich wusste, was jetzt kam. Irgendwie fing jeder Morgen so an. Und das Einzige, was dagegen half, war atmen. Wie eine Maschine, einatmen, kurz Luft anhalten, ausatmen und wieder von vorn. Ich fand’s gut, eine Maschine zu sein. Weil Maschinen nicht denken können. Sie fühlen nichts und frieren nicht, sie kennen keine Angst und keine Tränen und kein verheultes Gesicht in der Gemeinschaftsküche. Und kein Mitleid von fremden Menschen, die sich Mühe geben und nett sein wollen, aber nun mal leider überhaupt keine Ahnung haben, von Kälte und Einsamkeit und –
Der Wecker piepste.
Es geht nicht, dachte ich und zog die Beine hoch zum Bauch. Ich kann nicht aufstehen. Nicht jetzt. Nicht heute.
Natürlich wirst du aufstehen. Leon hockte im Dunkeln und runzelte die Stirn. Na los, mach schon. Hoch mit dir.
Ich mag aber nicht … Ich vergrub mich unter den Laken. Was soll ich denn da draußen? Geh zurück auf deine Wolke und lass mich in Ruhe.
Aber du wolltest doch diesen Job unbedingt. Noch mal ganz von vorn anfangen, zwei Koffer packen und ab nach England.
Funktioniert aber nicht, du siehst es doch: Jetzt bin ich schon fast ein Jahr hier, und nichts ist besser geworden.
Aber im Bettchen liegen und jammern, das hilft? Toni. Komm schon, gib doch nicht auf.
Ich ächzte und stemmte mich hoch. Ist ja gut, dachte ich und schob die Beine aus dem Bett. Aber nur, damit du Ruhe gibst, klar?
Müde schlurfte ich durch die kleine Mansarde. Eigentlich hatte das Zimmerchen im Dachgeschoss des Herrenhauses nur eine Übergangslösung sein sollen. Aber bis heute hatte ich es noch nicht mal geschafft, mir irgendetwas anderes überhaupt anzusehen. Nicht dass es mir hier oben so gut gefiel. Die möblierten Unterkünfte waren für die Volunteers und Aushilfsstudenten gedacht. Bett, Schrank, Waschbecken, Gemeinschaftsdusche. Von den Festangestellten wohnte nur der Head Gardener auf dem Anwesen, drüben in der alten Orangerie, alle anderen Mitarbeiter hatten ihre Wohnungen im Dorf oder in Paignton, eine halbe Stunde von hier. Letztlich waren wohl alle davon ausgegangen, dass auch ich mir dort über kurz oder lang etwas Eigenes suchen würde. Aber handfestes Zupacken war zurzeit eben nicht so mein Ding.
Nach dem Duschen ließ ich frische Luft ins Bad und sah zu, wie in dem angelaufenen Spiegel nach und nach mein Gesicht sichtbar wurde. Ich stützte mich am Beckenrand ab. Es sind diese Augen gewesen, hast du immer gesagt. So groß und still und dunkel. Und diese Locken, die sich niemals zähmen lassen würden. Und heute? Mutlos und stumpf. Die Haut dazu noch winterbleich und mit ersten Falten. Ach, Leon … Ich schluckte hart und kämpfte gegen die Tränen.
Hätte ich dich besser nie getroffen? Um dich jetzt nicht so schrecklich zu vermissen?
Leon lehnte im Hintergrund an der Wand und rollte mit den Augen.
Was ist, was hast du?
Sein Blick wanderte Richtung Ablage. Ich runzelte die Stirn – und erschrak. Herrje, die Uhr …
Hastig schlüpfte ich in meine Arbeitskleidung, dann huschte ich in den Flur hinaus, die verwaiste Haupttreppe hinunter in die Halle und weiter in die Gemeinschaftsküche. Leere Stühle, benutztes Geschirr, die Kaffeekanne stand ausgespült auf dem Kopf. Mist, dachte ich. Frühstück fällt mal wieder aus.
Der Wind schlug mir eisig ins Gesicht, als ich hinaus ins Freie lief. Eine glutrote Wintersonne ging über dem Waldrand auf und tauchte den Wirtschaftshof in einen kalten Glanz. Es musste gefroren haben in der Nacht, ich schauderte und schlug mir den Kragen hoch, während ich hinüber zu den Stallgebäuden eilte. Im Gerätehaus raffte ich mein Werkzeug in die letzte einsame Karre, dann rumpelte ich über das Kopfsteinpflaster, an den Anzuchthäusern vorbei und hinaus durch den steinernen Torbogen. Unter der gewaltigen Atlaszeder blieb ich wie jeden Morgen kurz stehen und ließ einen Moment lang den Blick schweifen.
Vor mir lagen im kalten englischen Morgenlicht die prachtvollen Gärten von Beaulieu House. Die eisig blaue Seenlandschaft, in der sich uralte Baumriesen spiegelten. Die berühmte Sandsteinbrücke, tausendfach fotografiert. Das Inselchen mit dem Gedenkstein für den namenlosen Dichter, heute Morgen Rastplatz Dutzender Wildgänse, wie dunkle Kugeln in dem bereiften Gras. So viel Schönheit, dachte ich. So viel Schönheit, und ich mittendrin. Weißt du noch, Leon? Wie ich mit Mrs. Heligan an meinem ersten Morgen durch den Park gelaufen bin? Beaulieu House ist ein Anwesen mit einem Namen, hatte die Alte getönt und ihr Kinn in den Wind gereckt. Es ist eine Auszeichnung, hier arbeiten zu dürfen, enttäuschen Sie mich nicht! Ich habe Sie wegen Ihrer Zeugnisse eingestellt, nicht wegen Ihrer traurigen Augen, verstanden? Bei uns erwarten Sie englisches Wetter und harte Arbeit, das hat noch jeden wieder auf die Beine gebracht. Ich mochte die Heligan. Irgendwie hatte ich bei ihr immer das Gefühl, sie schon eine Ewigkeit zu kennen. Was natürlich Quatsch war. Es hatte vielmehr mit der Herzdame eines ältlichen Prinzen zu tun, deren Foto in ihrem Büro an der Wand hing und mit der sie eine fatale Ähnlichkeit hatte. Aber hinter der altbackenen Frisur und der blasierten Nase steckte eine warmherzige Frau. Mit einer guten Menschenkenntnis. Die sie in meinem Fall allerdings kräftig im Stich gelassen hatte. Nicht wahr, Leon?
Doch Leon war nicht da.
Natürlich nicht, dachte ich und schluckte. Weiß schon. Lassen Sie diese Stimmen in Ihrem Kopf nicht zu groß werden, wurde mir gesagt. Sonst hängen Sie fest wie in einer Schleife und finden nicht heraus. Ich sah drei Kolleginnen am anderen Ufer Richtung Rosengärten ziehen, ein gärtnergrüner Gänsemarsch hinter morgenleeren Arbeitskarren. Kurz stoppten die Mädchen und winkten mir zu, es versetzte mir einen kleinen Stich in der Brust, als ich ihr Gelächter hörte. Doch dann winkte ich nur stumm zurück und lief weiter, bis ich zu dem steinernen Harfenspieler kam. Noch ein Blick zurück. Dann verließ ich den Hauptweg und tauchte ab in den Eichenhain.
Schon nach wenigen Metern wurde die Luft milder, und das Laub roch angenehm modrig. Eine knarzende Stille empfing mich, ein Hallen wie beim Betreten eines Kirchenschiffs. Als hätte sich in meinem Rücken eine Tür geschlossen und die Welt hinter mir ausgesperrt. Nur ein Specht klopfte hoch oben über meinem Kopf, als ich tiefer und tiefer in die feuchte Niederung fuhr. Rhododendronriesen rechts und links des Weges streiften meine Schultern, als würden sie mich in ihrer Mitte begrüßen wie einen alten Freund. Mein Schattental, dachte ich. Mein kühles, dunkles Reich. Wir beide, wir passen richtig gut zusammen, stimmt’s? So tief und still und einsam. Irgendwie geht es mir immer ein bisschen besser hier unten. Weil hier niemand ist, der Leon aus meinem Kopf vertreiben will.
Als ich nach gut einer Stunde Stimmen im Hang hörte, unterbrach ich meine Arbeit und richtete mich auf. Hastig zerrte ich mir die Kleidung zurecht. Daphne Heligan war im Anmarsch.
Ich stehe ja nicht so auf Wagner, Ed Sheeran und Katie Melua sind mir drei Dutzend Mal lieber. Aber so in der Art musste man sich Siegfrieds Walküre wohl vorstellen: groß, stolz, die üppige Figur nur mühsam gebändigt von ihrer Gärtnerjacke. Und dabei so donnernd schnell, dass die spindeldürre Fremde in ihrem Rücken kaum mithalten konnte. Ich versenkte das Kinn im Kragen. Ich selbst war schon oft von der ondulierten Schrulle durch den Park gescheucht worden und kannte diese Treibjagden nur zu gut. Selbst die Eichen am Wegesrand schienen strammzustehen.
Wer wohl die junge Frau in ihrer Begleitung war? Selbst ein so berühmter Garten wie Beaulieu House hatte um diese Jahreszeit nur sehr wenige Besucher. Erst mit der Narzissenblüte würden dann die Reisegruppen in Scharen durch die Westwiesen pilgern und anschließend das Teehaus stürmen. Aber jetzt, so früh im Jahr, kamen nur wenige Liebhaber englischer Gartenkunst zu Daphne Heligan.
Und wie eine Azaleenzüchterin sah das Mädchen auch nicht aus. Ich reckte den Hals ein wenig. Raspelkurzes Haar, knapper Mini, quietschbunte Overknees. Und – Pumps? Herrje, dachte ich und verkniff mir ein Kopfschütteln. Was mag in Menschen vorgehen, die in so was Anfang Februar einen Park betreten …
»Kindchen! Du lieber Himmel, wie sehen Sie aus.« Die Heligan hatte sich ein wenig kurzatmig vor mir aufgebaut. »Wo ist Ihr Schal? Und wo sind Ihre Handschuhe?«
»Mir ist nicht kalt, Mrs. Heligan.«
»Nein, natürlich nicht. Sie haben Tinte getrunken, nur deshalb sind Ihre Lippen so blau.« Sie begann meine Finger zu reiben, bis sie brannten. »Ein Kleinkind! Ich habe eine Fünfjährige eingestellt. Wie soll ich den Laden hier wirtschaftlich führen, wenn Ihr Mädchen andauernd krank werdet. – Und da, die Karre! Das rostige Ding ist was für die Volunteers, nichts für einen gestandenen Gärtner. Mal wieder die Letzte gewesen heute Morgen, was?«
Oha, ich schluckte insgeheim. Doch die Heligan hatte mich bereits stehen lassen und lief die Beete rechts und links ab. »Sie denken an den Dünger, Miss Andersen?«
»Klar, Mrs. Heligan.«
»Da hinten sehe ich noch vertrocknete Knospen vom Vorjahr.«
»Sind gleich weg, Mrs. Heligan.«
»Und dieser Rhododendron da …« Die Heligan hielt inne und runzelte die Stirn. »Ist ja fast kahl. Und krumm und verwachsen ist er auch.«
Ich ahnte, was kommen würde.
»Reißen Sie ihn heraus. Die ganze Ecke hier, weg damit. Nehmen Sie Ilex und Rodgersien, vielleicht ein paar Frühlingsblüher dazu, denken Sie sich was aus. Machen Sie eine Skizze, dann setzen wir uns zusammen und entscheiden.«
»Aber Mrs. Heligan …«
»Was?«
»Dieser Rhododendron steht da doch schon so lange. Wenn ich ihn zurückschneide und ordentlich dünge … Vielleicht wird er ja wieder.«
Toni, wie alt bist du …
»Miss Andersen, wie alt sind Sie? Ein guter Gärtner kann nicht um jede Seele kämpfen, wir sind ein Garten und kein Krankenhaus. Manchmal muss man etwas herausreißen. Sonst wächst nichts Neues.«
Dann sah sie meine Miene. »Ach, Kindchen.« Die Züge um ihren Mund wurden weicher. »Schon wieder nichts gegessen, hm?«
Wie auf Kommando knurrte mein Magen.
»Und schlecht geschlafen haben Sie auch.«
Ich wollte etwas sagen, doch vergeblich.
»Wissen Sie, ich glaube, diese Wangen müssen mal ans Licht. Sonst kommt auch keine Sonne ins Herz. Immer so allein, hier unten in dem feuchten Tal, das ist wohl keine so gute Idee gewesen.« Die Fältchen um ihre Augen vertieften sich, als sie mir ans Kinn griff. »Sie müssen kämpfen, Mädchen. Sie haben es sich viel zu gemütlich gemacht hier unten in Ihrem Grau. Ich hatte ja gedacht, frische Luft und ein kräftiger Muskelkater würden schon ausreichen. Aber um Sie auf Trab zu bringen, braucht es wohl ein ganz anderes Kaliber.« Sie schaute zufrieden.
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt. »Nanu?« Ihr Lächeln erstarb. »Wo ist sie denn hin, diese Miss Thorn? Dünn wie ein Grashalm, aber die Nase hoch im Wind. Sie wird doch nicht verloren gegangen sein?«
Doch dann sahen wir die fremde Frau durch das Dickicht leuchten. Mit geschürzten Lippen hatte sie sich ein Deckchen aus Papiertaschentüchern gebastelt und sich damit auf eine Parkbank gehockt.
Die Heligan runzelte die Stirn. »Viel zu mager. Und diese Haare. Und dieser Ring in ihrer Nase! Dass er so was überhaupt einstellt … Na. Irgendwann kommt wohl jeder herunter von seinem hohen Ross.« Sie rümpfte die Nase. »Dieser bunte Vogel da ist heute Morgen mit einem Stellenangebot bei mir aufgetaucht. Hören Sie sich das mal an, Miss Andersen, ich hielte das für eine Möglichkeit. Eine Pflanze am falschen Standort entwickelt sich nicht. Und ohne Blüten bleibt das Leben grau.« Sie fröstelte und zog sich die Barbourjacke enger um ihre Mitte. »Verdammt kalt heute … Bringen Sie das Mädchen zurück in mein Büro, wenn Sie mit ihr fertig sind. Nicht dass sie sich noch verläuft und den Head Gardener erschreckt. – Und!«
Meine Hände glitten zur Hosennaht.
»Sie denken an den Dünger, Fräulein! Verstanden?«
Ein Windstoß fegte durch das Tal und brachte die Eichen zum Rauschen, ich sah kurz hoch. Als ich den Blick wieder senkte, war die Heligan verschwunden.
Die Fremde schaute säuerlich, als sie meine Schritte hörte. »Verfluchte Scheiße, was für ein Drachen. Wie halten Sie das nur aus jeden Tag?« Sie blickte an sich hinunter. »Sehen Sie sich das mal an. Das sind Carolina Herreras! Die Schuhe krieg ich doch nie wieder sauber.«
Erdbeerpumps. In einem Landschaftsgarten. Ich schob die Hände in die Taschen. »Mrs. Heligan sagt, Sie kommen mit einem Angebot, und ich soll mir das mal anhören.«
»Da haben Sie was missverstanden. Sie sollen sich nichts anhören. Sie sollen mit mir mitkommen.« Die Frau rutschte tiefer und schlug die Beine übereinander. »Ich bin Louise Thorn. Und ich brauche einen Gärtner.«
Nun war es tatsächlich nicht unüblich, Personal aus Beaulieu House abzuwerben, für Menschen mit sehr viel Geld gehörte zu einem sehr großen Haus nun mal auch ein sehr großer Park. Und da sich lackierte Fingernägel nicht gut vertrugen mit Schuffel und Heckenschere, hing am Schwarzen Brett fast jede Woche ein neuer Aushang.
Aber genauso üblich war es, solche Angebote abzulehnen. »Ich habe aber nicht vor zu wechseln, ich bin ja kaum ein Jahr hier. Sie sind bei mir falsch, tut mir leid.«
»Warten Sie doch erst mal ab, was ich zu bieten habe.«
»Wozu?«
»Mrs. Heligan sagt, wenn überhaupt jemand infrage kommt, dann die Andersen.«
»Die Andersen sagt: nein, danke.«
»Na, hören Sie mal.« Miss Thorn schaute beleidigt. »Ich bin Hunderte von Kilometern gefahren. Ich lasse mich nicht so ohne Weiteres abwimmeln, klar?«
Die Sache wurde anstrengend. Besten Dank auch, Mrs. Heligan. »Also schön, wo liegt denn Ihr Garten? Hier an der Südküste?«
»Ich suche den Gärtner nicht für mich. Ich komme im Auftrag von Maximilian Bror.«
Sie machte eine erwartungsvolle Pause. Doch wenn sie dachte, der Name würde mir etwas sagen, dann irrte sie sich. Miss Thorn bemerkte es und ließ die Schultern hängen. »Mr. Bror ist alt und reich und besitzt jede Menge Häuser auf der ganzen Welt. Und für eines davon sucht er einen Gärtner. Es geht um sein Anwesen auf Monte Spina, einer kleinen Insel vor Lanzarote. Das Haus liegt etwas … tja, wie sagt man: abgeschieden, nicht jeder mag das. Der letzte Gärtner blieb gerade mal sechs Monate dort. Mr. Bror hat mich nach Beaulieu House geschickt, um einen robusten Nachfolger zu finden, dem die Lage der Insel nichts ausmacht.«
Fast hätte ich laut losgelacht. »Robust?« Ausgerechnet …
»Mrs. Heligan hat schon gesagt, dass Sie erst mal skeptisch reagieren würden.« Miss Thorn betrachtete mich neugierig. »Ich soll Ihnen von Monte Spina erzählen, hat sie mir empfohlen. Von diesem Lavaklumpen, ganz allein in der rauen See. Wie eine Festung, meilenweit entfernt vom Rest der Welt. Ein Ort, um mal loszulassen. Für einen Neuanfang, Sie wissen schon.«
Wie bitte? Ich starrte sie an.
»Mr. Bror kaufte die Insel vor genau zehn Jahren für unanständig viel Geld. Haben Sie denn nichts darüber gelesen? Das Geschrei war riesig damals, die Insel und ihre Umgebung sind als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Brutplätze für Sturmtaucher und Fischadler und so was. Max Bror hat drauf gepfiffen und im Krater des Vulkans gebaut, ein … wie soll ich es nennen: ein Ferienhaus. Eine Art Hideaway zu seiner Entspannung.« Sie schürzte die Lippen. »Es wird Ihnen dort gefallen, Toni Andersen. Es ist einsam. Es ist still. Kein Mensch weit und breit, der Sie stört. Nichts, das Sie ablenkt von was-auch-immer.«
Mein Blick streifte den Königsfarn, über dem im Sommer die Libellen tanzen würden. »Ich habe eine Ewigkeit von so einem Job wie dem hier geträumt. Das werde ich ja wohl jetzt nicht einfach so hinschmeißen.«
»Verdammt, die Alte ist wirklich gut … Genau das hat sie kommen sehen.« Miss Thorn setzte sich bequemer. »Ich soll Ihnen von dem Garten erzählen, hat Mrs. Heligan gesagt. Ein kleines Paradies, ein Meisterwerk. Den toten Steinen abgetrotzt mit einem Haufen Geld und Wasser. Ich könnte Ihnen jetzt was vorschwärmen von der Poollagune, dem Palmenhain, dem kleinen Sandstrand unten am Wasser. Aber ich weiß was viel Besseres: Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich den schönsten Garten im Atlantik vor.« Sie räkelte sich. »Haben Sie’s? Pah! Sie liegen immer noch meilenweit daneben. Na schön, mittlerweile ist vielleicht alles ein wenig vergammelt. Schon traurig. Wenn das so weitergeht, wird der Park wohl bald nicht mehr zu retten sein. Aber was soll man machen, wenn die Gärtner immer wieder aufgeben? Was richtig Gutes wäre zur Abwechslung toll.«
Hörte ich da nicht – ein Rauschen? Wie von Palmen in einer leichten Brise? Den Schrei einer Möwe hinter Winterwolken? Ich suchte Halt am Spaten. »Wo … würde er denn dort wohnen? Ihr Gärtner.«
»Es gibt einen kleinen Wirtschaftshof oben am Westkamm. Nichts Dolles, aber soweit in Ordnung. Manchmal fällt der Strom aus, und heißes Wasser ist auch Glückssache. Aber dafür hat man dort seine Ruhe. Nur Meeresrauschen, klappernde Fensterläden und jede Menge Vogelschiss. Halt, wichtige Frage: Haben Sie eine Sonnenallergie? Dann sollten wir das Ganze hier abbrechen.«
Die Härchen an meinen Unterarmen richteten sich auf, als ich die Wärme zu spüren meinte. Wie von einer Atlantiksonne, die durch die Wolken bricht. Meine Finger waren so kalt, dass sie anschwellen würden diese Nacht. »Ich kann doch nicht jetzt schon wieder hier weg. Mrs. Heligan hat Dutzenden Bewerbern meinetwegen abgesagt, was soll die denn von mir denken?«
»Hat die Alte mich nicht extra zu Ihnen geführt?«
»Vielleicht … hat sie sich geirrt? So jung ist sie ja nicht mehr.«
»Die frisst Sie mit Haut und Haaren, wenn sie das hört.«
»Oder es ist ein Test? Ob sie sich auf mich verlassen kann.«
»Macht sie denn oft solche Tests?«
»Nein.« Ich schluckte. »Das braucht sie nicht, sie kennt sich gut aus mit den Menschen.«
»Aha. Na denn. Mir ist kalt, Toni Andersen, beeilen Sie sich. Ihre Antwort bitte.«
Du hast doch schon mal alles verloren, Toni. Es war doch schon mal von einem Tag auf den anderen alles weg. Willst du denn jetzt schon wieder alles aufs Spiel setzen?
»Ich bin zufrieden hier, ich hab hier alles, was ich brauche.« Ich reckte mich ein wenig. »Wie ich schon sagte: Es tut mir leid.«
»Sie sind ja wirklich ein harter Brocken …« Miss Thorn ließ die Schultern sinken. »Also alles umsonst. Verdammter Mist. Mr. Bror wird stinksauer auf mich sein.« Sie erhob sich ein wenig umständlich. »Wissen Sie, er hat mich den ganzen weiten Weg nach Beaulieu House geschickt. Gehen Sie zu Daphne Heligan, hat er gesagt, wenn irgendjemand den Richtigen weiß für Monte Spina, dann sie.« Sie strich sich den Minirock glatt. »Aber das Fräulein Andersen sitzt halt tief unten in ihrem Schattental und traut sich nicht raus. Tja. So ein Pech …« Sie begann, den Weg hinaufzustöckeln.
»Warten Sie.« Ich fuhr mir durch die Haare, sodass sie nach allen Seiten abstanden. »Und – wenn der Garten nun zu groß für mich ist?«
»Mrs. Heligan sagt Nein.« Miss Thorn war stehen geblieben.
»Und wenn ich mit der Insel nicht klarkomme? Wenn das Ganze zu einsam für mich ist?«
»Tja. So ist es, das Leben, nicht wahr? Immer diese gemeinen Risiken.«
»Und –« Ich rieb mir die Hände an der Hose. »Wenn sich Ihr Mr. Bror nun was ganz anderes vorstellt? Wenn er enttäuscht ist von mir?«
Ein breites Grinsen entblößte Zähne wie aus einer Zahnpastareklame. »Ach, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Das ist er ganz bestimmt. Mr. Bror wird Sie genauso scheiße finden wie alle anderen auch.«
Ich zögerte. Dann holte ich tief Luft. »Wann müsste ich denn anfangen?«
Der Ring im Nasenflügel fing die Wintersonne und blitzte kurz auf. »Das kommt ganz darauf an. Wie lange brauchen Sie denn zum Packen?«
Monte Spina
Fliegen war sowieso nicht mein Ding. Gar nicht mal wegen dieser Enge oder dem langen Sitzen, oder wegen der Angst, Teil einer traurigen Schlagzeile zu werden. Es war mehr diese Nähe. Zu Menschen, die mir in den allermeisten Fällen nicht ganz geheuer waren. Und da mir Leon beim Start irgendwie verloren gegangen war, hockte ich nun einsam und stumm in dem voll besetzten Ferienflieger und starrte den Wolken nach.
Der Abschied von Beaulieu House war mir schwergefallen. Weniger wegen der Kollegen, denn in den paar Monaten oben im Dachgeschoss hatte ich von den meisten kaum mehr erfahren als ihre Vornamen. Aber um die Heligan tat es mir leid. Als ich damals in ihrem Büro gestanden hatte, mit meinen hastig übersetzten Zeugnissen und einem Herzschlag wie ein Presslufthammer, hatte sie nur meine Hände genommen. Eine ganze Weile hatte sie sie betrachtet, die Fingernägel, die Handinnenflächen, die blutigen Striemen am Unterarm, wo sich die Damaszener-Rosen letzte Woche erfolgreich gegen den Rückschnitt gewehrt hatten. »Verwitwet?«, hatte sie irgendwann gefragt und aufgeschaut, als mein Hals wie zugeschnürt war und ich kein Wort herausbrachte. »Sie werden wenig Zeit haben in den nächsten Wochen. Unser Schattental besitzt eine der größten Sammlungen lichtmeidender Gehölze und ist in einem erbärmlichen Zustand. Junge Menschen mit Liebe zu dem, was wir hier tun, sind selten geworden, selbst bei uns in England.« Sie gab meine Hände wieder frei. »Sie wissen, wie man arbeitet. Das sieht man.«
Von diesem Moment an war irgendwas zwischen uns gewesen, irgendwas Seltsames. Ich war mir sicher, dass sie jedes Mal mitbekommen hatte, wenn ich nach einer schlaflosen Nacht zu spät zur Arbeit erschien, oder wie ich mich vor diesen Grillabenden gedrückt hatte, die für die jungen Mitarbeiter meist knutschend im Heckenlabyrinth endeten. Aber sie hatte nie etwas gesagt. Dass es da draußen jemanden gab, der wie ich in lauen Sommernächten mit Schere und Taschenlampe auf Schneckenjagd ging, hatte mir geholfen, wenn es mal wieder schlimm wurde. Hätte ich sie doch nur hier und jetzt an meiner Seite gehabt … Und als wir dann das spanische Festland hinter uns ließen und über den Atlantik hinausflogen – da meinte ich auf einmal irgendwo von den hinteren Sitzreihen ganz klar und deutlich ihre Stimme zu hören.
»Das ist kein Tee, Kindchen, das ist eine Zumutung! Nehmen Sie das ganz schnell wieder weg.«
Ich seufzte erleichtert. Dann ließ ich mich tiefer in den Sitz sinken und versuchte zu schlafen.
Bei meiner Ankunft auf Lanzarote war ich dann heilfroh, dass auch Leon wieder aufgetaucht war und zunehmend besorgt neben mir auf den Koffern hockte. Während sich die Flughafenhalle zügig leerte, schauten wir den Reisebussen nach und überlegten schon, ob man das »Sie werden abgeholt« wohl irgendwie missverstanden haben könnte. Bis plötzlich wie aus dem Nichts ein kleiner dicker Mann vor mir stand. Mit wilden Gesten wies er abwechselnd nach draußen und auf die Uhr, tat schließlich einen Satz nach vorn und schnappte sich meine Koffer.
»Monte Spina?«, fragte ich erschrocken.
»Sí, sí! Monte Spina!«
Ich war mir nicht sicher, was ich erwartet hatte, vielleicht nicht unbedingt einen Chauffeur in Livree. Aber mit einem windschiefen Kerlchen voller Ketchupflecken hatte ich nicht gerechnet. Hastig lief ich ihm nach, hinaus aus dem Terminal, mitten hinein in eine Wand aus Hitze und Kerosin und hinüber zum Parkplatz, auf dem ein staubbedeckter Geländewagen in der Sonne glühte. Ich sah mein Hab und Gut im Kofferraum verschwinden, erklomm den Beifahrersitz und musste Halt am Türgriff suchen, als wir mit quietschenden Reifen das Flughafengelände verließen. Wir nahmen drei Taxis die Vorfahrt, dann drehte der Mann das Autoradio auf und deutete glücklich plappernd mal rechts, mal links in die Landschaft. Ich verstand nicht ein Wort. Am Anfang versuchte ich es noch mit ratloser Miene und Kopfschütteln, doch irgendwann gab ich auf. Schweigend betrachtete ich die trostlosen Geröllwüsten vor den Fenstern und begann, mich möglichst weit fortzuwünschen.
Was für ein Irrsinn, Beaulieu House schon wieder zu verlassen … Da war der Abschied aus Deutschland damals ganz anders gewesen, stimmt’s? Erleichtert, beinahe glücklich. Sie müssen was machen, hatten sie gesagt, sonst gehen Sie vor die Hunde, wenn Sie sich weiterhin in sich selbst verkriechen. Und als ich dann dieses Stellenangebot im Internet gelesen hatte – Beaulieu House sucht einen Gärtner. Nicht irgendein Garten, nein, Beaulieu House, ausgerechnet! Legende und Vorbild und flammend rote Nymphenbäume im Sonnenuntergang –, da hatte ich gedacht: ja. Vielleicht. Einen Versuch ist es wert. Ab da war alles ganz schnell gegangen: Anruf, Flug, Vorstellungsgespräch und schließlich an einem Frühlingsmorgen der DHL-Bote mit meinem Vertrag. Und du an meiner Seite, Leon, mit diesem unbeschreiblichen Lächeln und sichtbar stolz: meine Toni. Gut gemacht. Wie egal auf einmal alles gewesen war, das Befremden deines Vaters, der noch nie verstanden hatte, worum es mir ging, und das Gesicht deiner Mutter, die mir niemals verzeihen würde, dass sie meinetwegen auf Rang zwei abgerutscht war. Du bist immer das Band zwischen deiner Familie und mir gewesen, als du weg warst, blieb mir nichts. Ob ich irgendwann mal einen von ihnen wiedersehen würde? Schwer zu sagen. Ich wüsste nicht, wo.
Wir hatten den Hafen erreicht. Mein schwungvoller Fahrer ignorierte Verbotsschild und Schranke, warf den bewaffneten Beamten einen Gruß zu und fuhr mit dem Wagen direkt auf den Kai. Und wie das immer so ist: Hatte ich eben noch das Ende der Fahrt herbeigesehnt, wünschte ich mir nun auf einmal, sie würde noch dauern. Betroffen musterte ich die protzige Jacht, vor der wir gehalten hatten: Jayden. Blitzender Chrom, Peitschenantennen, ganz in Schwarz. Und ich? Ich spürte jede einzelne Knitterfalte. Unbeholfen rutschte ich vom Sitz und horchte auf die plötzliche Stille, als ich hinüber zur Gangway schlich. Weiß schon, dachte ich und zerrte an meiner Jeans. Passt nicht.
Zu dem kleinen Mann übrigens auch nicht, den das im Gegensatz zu mir jedoch überhaupt nicht zu stören schien. Lachend sprang er um mich herum, schleppte mein Gepäck an Bord und löste schließlich die Leinen. Letzte Chance zur Flucht, dachte ich, als der Dieselmotor ansprang. Möwen erhoben sich mit lautem Kreischen. Dann glitt die Jacht von der Hafenmauer. Düster und voll böser Vorahnungen sah ich den rasch schrumpfenden Häusern nach, während die Jayden ihren Bug zum Horizont drehte und Fahrt aufnahm.
Draußen auf offener See wurde der Wellengang stärker, doch wir beschleunigten ungerührt. Der kalte Fahrtwind blies mir die Haare ins Gesicht, dass ich fast das Gleichgewicht verlor und Halt an der Reling suchen musste. Rasch entfernten wir uns vom Hafen und nahmen Kurs auf die kleine Vulkaninsel, die uns schweigend den Rücken zukehrte.
So ganz unvorbereitet war ich natürlich nicht in mein Abenteuer gestolpert. Ich hatte Luftbilder von Monte Spina gegoogelt, die einen erloschenen Krater zeigten, zum offenen Meer hin eingestürzt und dort von Wind und Wellen zu einem Strand zermahlen. Ein Stück verpixeltes Grün musste das Grundstück sein, ansonsten schien die Insel unbewohnt. Nur braune Ödnis. Kahl, unbewachsen. Menschenleer. Kein Link, kein Foto, noch nicht mal der Schnappschuss eines Hobbyskippers war im Netz zu finden. Als gäbe es diesen Ort gar nicht. Und tatsächlich spürte ich gerade so etwas wie eine kalte Hand im Nacken, als die sturmumtosten Klippen wesentlich schneller näher rückten, als mir lieb war. Während sich die Kraterwände zwischen mich und die Sonne schoben, schlang ich beide Arme um mich und verkroch mich in meiner Jacke.
Was war nur schiefgelaufen auf Beaulieu House? Jetzt mit etwas Abstand dachte ich, es könnte wohl diese Unbekümmertheit gewesen sein, mit der ich nicht klargekommen war. Zu Hause hatten mich die anderen ins Abseits geschoben, mit ihrer Betroffenheit und dem beklommenen Schweigen, wenn ich einen Raum betrat. In England hatte ich das selbst geschafft. Die meisten meiner Kollegen arbeiteten schon seit Jahren für die Heligan. Viele hatten ihre Ausbildung bei ihr gemacht oder sich gleich nach dem College bei ihr beworben, wie der Head Gardener, den sie Ryan Gosling nannten und in den alle ein bisschen verknallt waren. Gärtner zu sein war etwas Besonderes in England. Man trug die Nase hoch und die dreckige Hose mit Stolz und wurde vorgelassen an der Supermarktkasse im Austausch für einen Tipp beim Buchsbaumschneiden. Noch vor wenigen Monaten hätte ich was darum gegeben, Teil dieser Familie sein zu dürfen, mit den Fachsimpeleien am Abendbrottisch und der Pflanzenkenntnis, die schon die Schülerpraktikanten mitbekamen. Alle schienen mittig und angekommen und glücklich geborgen an dem Ort ihrer Wahl.
Nur ich nicht. Ich war allein.
Am Anfang habe ich es noch versucht. Ein paar Mal bin ich mitgegangen ins Kino oder zu Partys, habe mich in das Dorfpub mitschleppen lassen oder im Sommer zum Strand, und einmal schickten sie mir einen deutschen Studenten ins Schattental, der ein paar Tage um die Pontica-Hybriden herumstrich und dann schließlich wieder seiner Wege ging. Dass ihre guten Absichten so durchschaubar gewesen waren, hatte es nicht besser gemacht: Ich verkroch mich immer tiefer in mein Schneckenhaus. Eines Abends stellte ich fest, dass ich vom Aufwachen bis zum Löschen der Nachttischlampe mit keiner Menschenseele ein Wort gesprochen hatte. Und es hatte mich noch nicht mal gestört. Während um mich herum das Leben weiterging, verkroch ich mich mit meinen Büchern in der Mansarde und las. Wie würde es wohl auf dieser Insel mit mir weitergehen?
Ich hatte angenommen, dass wir Monte Spina über den Strand anfahren würden, doch schon bald musste ich feststellen, dass ich mich geirrt hatte. Die Jayden nahm Kurs auf einen Bojen-Korridor, knallrot und mit leuchtenden Buchstaben versehen: Privado! Watch out for video control! Eine Grotte tauchte in der Felswand auf, eine düstere Öffnung auf Meeresspiegelhöhe. Da werden wir ja wohl nicht reinfahren … Ich starrte in das finstere Loch. Etwas fing das Sonnenlicht ein und blitzte kurz auf, ich legte den Kopf in den Nacken: ein Fensterband, hoch oben im Felsen. Wie ein Sehschlitz schien es das kleine Schiff zu seinen Füßen misstrauisch zu beäugen. Der kleine Mann hatte den Motor gedrosselt, nun rauschten wir beinahe lautlos in den Bauch der Insel hinein. Für einen Moment war ich wie blind und taub. Nach der glitzernden Helligkeit draußen auf See brauchten meine Augen kurz, um sich auf die Dunkelheit einzustellen. Umrisse begannen sich abzuzeichnen, nackte Klippen, rohes Gestein. Eine weitläufige Höhlenlandschaft, nur spärlich beleuchtet von ein paar Scheinwerfern. Feuchtes Glucksen, fischiger Geruch, und vorn auf dem Anleger mehrere Gestalten, die mich zu erwarten schienen. Während die Jayden langsam näher glitt, spürte ich Blicke auf meinem Gesicht, spitz und tastend wie Finger auf der Suche nach Fehlern. Der Drang, mich einfach in Luft aufzulösen, war so groß, dass ich nicht anders konnte: Ich schlug die Augen nieder. Erst als wir mit dumpfem Beben gegen die Tender trieben, holte ich tief Luft und sah auf.
Drei Frauen. Unterschiedlich groß, unterschiedlich alt und auch sonst so verschieden, wie Menschen nur sein können.
Als Erste eine weißblonde Dame, klein, zierlich und elegant. Dezenter Schmuck, schlichtes Kostüm, ähnlich perfekt wie ihre Haltung.
An ihrer Seite das genaue Gegenteil: eine pummelige Gemütlichkeit, die Haare kurz und das Gesicht gerötet, wie direkt aus der Küche gekommen.
Und dahinter, mit einigem Abstand und lässig an das Geländer gelehnt, als würde sie nicht so recht dazugehören wollen: Louise Thorn. Tatsächlich, kein Zweifel. Zwar ohne Pumps und Overknees, aber mit deutlich zu tief dekolletiertem Top und zitronengelben Hotpants, die in der Dämmerung leuchteten wie Neon. Und obwohl mir das Mädchen neulich im Schattental wenig sympathisch gewesen war – hier, am Ende der Welt und mit einem Unbehagen größer als die Wüste Gobi, wäre ich dem einzigen mir bekannten Menschen am liebsten um den Hals gefallen.
»Willkommen auf Monte Spina.«
Die elegante Dame reichte mir die Hand, nachdem der Bootsmann mir von Bord geholfen hatte.
»Ich hoffe, Ihre Anreise war nicht allzu beschwerlich. Mein Name ist Helen. Ich bin die Hausdame von Monte Spina und verantwortlich für die Insel, wenn Mr. Bror nicht hier ist. Bitte wenden Sie sich mit Ihren Fragen als Erstes immer an mich.«
Was für eine schöne Frau, dachte ich kurz und spürte ihre Hand in meiner. Die elfenhaften Schultern, das silbrige Haar und vor allem dieser Blick, gradeheraus und ohne jeden Filter. Die Männer mussten ihr zu Füßen gelegen haben, als sie ein junges Mädchen war.
»Das hier ist unsere Sophia. Sophia hält Haupthaus und Gästezimmer in Ordnung und kocht für Mr. Bror, wenn er auf der Insel ist. Stellen Sie sich gut mit ihr, niemand kann am Herd so zaubern wie sie.«
Die dickliche Frau schüttelte den Kopf und lachte.
»An unsere Amerikanerin werden Sie sich vermutlich noch erinnern.« Die Stirnfalte wurde schärfer. »Miss Thorn kam vor einem Jahr zu uns und übernimmt seitdem die geschäftlichen Aufgaben. Wenn Mr. Bror hier ist, unterstützt sie ihn im Büro. Ignorieren Sie bitte ihre Vorliebe für unvorteilhafte Garderobe. Machen Sie es wie ich und sehen Sie das Gute darin: Zumindest wird sie in diesen Hosen niemals verloren gehen.«
»Tja, was wäre die Insel ohne mich …« Miss Thorn räkelte sich. »Da hören Sie’s, Unterstützung herzlich willkommen. Lauter eingeschlafene Füße hier.«
Die Hausdame ließ die Mundwinkel fallen. Dann wandte sie sich zur Jayden, auf der mein Fahrer das Gepäck zum Ausladen stapelte. »Sicher hat sich Ihnen unser Carlos schon selbst vorgestellt.«
Oje, und jetzt? Ich versuchte ein Lächeln. »Keine Ahnung, er … hat ja immerzu erzählt, eigentlich die ganze Zeit. Aber verstanden habe ehrlich gesagt kein Wort.«
»Nun, das ist schade.« Ein frostiger Blick. »Aber zu ändern, nicht wahr? Es ist immer ein Gewinn, die Sprache der Menschen zu lernen, bei denen man zu Gast ist. Auch wenn es nur für kurze Zeit sein sollte.«
Mein Lächeln erstarb.
»Kommen Sie. Ich zeige Ihnen rasch die wichtigsten Teile der Insel und führe Sie dann zum Gärtnerhaus. Sie werden müde von der langen Reise sein und sicherlich erst einmal ankommen wollen.«
Am Ende des Anlegers wand sich eine Rampe in steilen Kurven die Felswand empor. Die Hausdame ging voran, das Gesicht erhoben und der Helligkeit zugewandt, die von oben in die Höhle flutete. Als würde sie ein Heiligtum betreten, dachte ich verwundert und schloss zu ihr auf. Oben angekommen, hielt Helen kurz inne. Dann wandte sie sich zur Seite und trat hinaus ins Freie.
Noch bevor sich meine Augen an das Sonnenlicht gewöhnt hatten, roch ich den Duft: fremd, üppig, eine wilde Mischung aus Zedernholz, Thymian und sonnenwarmem Gestein. Darüber ein feiner, sinnlicher Hauch, vielleicht Oleander oder Jasmin. Dann hörte ich die Vögel. Es mochten Tausende sein, die in dem Dickicht lärmten, das sich zum Meer hinab ergoss. Ich sah unzählige Palmen, einen ganzen Wald, in deren glänzenden Wedeln der Seewind rauschte. Dazwischen bestritt wüstes Gestrüpp einen erbitterten Kampf gegen Hitze und Trockenheit und wucherte bis an den Rand der Terrasse, auf die wir hinausgetreten waren. Nach dem Fahrtwind und der nasskalten Felsengrotte schauderte ich in der plötzlichen Wärme, für einen Moment wie gelähmt von so viel Licht und Farbe. Rechts und links wuchsen die Felswände nahezu senkrecht in den Himmel. Dazwischen lag die offene See. Tiefblau und glitzernd, war sie bis hier herauf zu hören, ein Rauschen und Donnern von Wellen an einer Küste aus Stein.
Eine ganze Weile stand ich einfach nur da und schaute.
Bis mir jemand über die Schulter sah. »Na? Wie gefällt Ihnen unser Dschungel? Erzählen Sie ihr die kleine Geschichte, Helen. Von dem bärtigen Gärtner, der auf dem Absatz wieder kehrtmachte und nie mehr gesehen wurde.«
»Miss Thorn, erwähnte ich schon den Anruf aus Madrid? Mr. Bror lässt Ihnen ausrichten, dass er Ihre Abrechnung noch heute erwartet. Wir wollen Sie also nicht aufhalten.«
Das Grinsen erlosch wie ausgeknipst. Miss Thorn brummelte etwas. Dann stopfte sie sich die Hände in die Taschen und ließ uns beide stehen.
»Dies hier ist das Haupthaus von Monte Spina.« Die Hausdame wies auf ein schneeweißes Gebäude in unserem Rücken, das dem weiten Schwung des Innenkraters folgte. Klare Kanten, viel Glas, doch alle Scheiben mit Sonnenschutz oder Vorhängen verdunkelt.
»Im Obergeschoss befinden sich Mr. Brors Privaträume, seine Bibliothek und die Dachterrasse. Darunter liegen die Büros und ein Sitzungssaal für Videokonferenzen. Im linken Flügel sind Küche, Bügelzimmer, Wirtschaftsräume untergebracht, rechts im Pavillon ein Fitnessstudio mit Sauna und ein kleines Kino.« Sie wies auf ein zweites Gebäude, das sich ein wenig abseits ins Grün duckte. »Das Gästehaus verfügt über mehrere Appartements, falls Mr. Bror in Begleitung anreist.«
Erwartete sie eine Reaktion? Vermutlich. Aber von so viel Sonne, Palmen, Hitze und Glas war mein Kopf gerade leer. Mensch, Toni. Sag doch mal was. »Bringt er denn oft Besuch mit auf die Insel?«
»Nein. Nur sehr selten.« Die Hausdame betrachtete mich von der Seite. »Miss Andersen, ich denke, es ist eine Selbstverständlichkeit, und dennoch möchte ich es Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Das Obergeschoss des Haupthauses ist tabu für Sie. Mr. Bror ist recht eigen und wird schnell ungehalten, wenn etwas nicht seinen Vorstellungen entspricht. Betreten Sie diese Räumlichkeiten also nur, wenn Sie dazu aufgefordert werden.«
Ich machte große Augen, Helen bemerkte es und schürzte die Lippen. »Ich erinnere mich noch gut an eines der Zimmermädchen, es muss irgendwann im ersten Jahr gewesen sein. Mr. Bror erwischte sie in seinem Schlafzimmer, die Kleine war neugierig und schnüffelte in seinen Sachen. Sie musste die Nacht im Flughafen schlafen, weil sie so schnell kein Ticket nach Hause bekam.«
Ich blinzelte.
»Kommen Sie. Es gibt noch viel, das ich Ihnen zeigen muss.«
Betroffen sah ich der Hausdame nach. Herrje, Toni … Verbotenes Stöbern in fremden Schränken? Eine Bewegung im Rücken, ein großer Schatten in der Tür? Könnte dir das nicht genauso gut passiert sein?
Doch Helen war bereits weitergegangen, über eine Freitreppe hinunter auf die Poolterrasse, auf der ein lagunengroßes Becken in der Sonne staubte.
»Wir mussten das Wasser ablassen, weil wir in den letzten Wochen niemanden hatten, der sich um die Reinigung kümmern konnte. Es tut mir in der Seele weh, diesen schönen Ort so zu sehen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich der Sache möglichst rasch annehmen.«
Weiter ging es, eine nächste Treppe hinunter in den Palmenhain. Ein verschlungener Pfad führte scheinbar ziellos durch das Dickicht und endete schließlich in einer kleinen Bucht zwischen den Klippen. Glasklares Wasser spülte in hauchdünnen Schlieren über den Sand und färbte ihn goldgelb. Doch auch hier gab es hässliche Flecken: Treibgut, Seegras und Berge von Plastikmüll türmten sich am Spülsaum. Dazwischen verrotteten die Reste eines ausgesprochen toten Vogels.
»Der Strand ist Mr. Bror sehr wichtig. Wenn seine Zeit es ihm erlaubt, geht er jeden Morgen noch vor dem Frühstück im Meer schwimmen. Schenken Sie der Bucht bei Ihrer Arbeit also besondere Aufmerksamkeit.«
»Sieht ja ganz schön wüst aus hier.« Immerhin, jetzt war ich wach. »Und das findet Mr. Bror gut so mit dem Müll?«
»Mr. Bror verbrachte im Januar einige Tage auf der Insel. Dann trennte er sich von Ihrem Vorgänger und verließ uns wieder.«
»Er ist gar nicht hier?« Ich stutzte. »Wann kommt er denn wieder?«
»Wir erwarten ihn im August, wenn er der Sommerhitze von London oder Madrid entflieht.«
»Aber – das sind ja noch fast sechs Monate.«
»Vollkommen richtig.«
»Warum ist er denn so selten hier?« Er baut sich sein Paradies und betritt es dann fast nie?
»Mr. Bror ist ein viel beschäftigter Mann. Er besitzt Unternehmen und Beteiligungen in der ganzen Welt. Mit einer solchen Verantwortung fällt es ihm schwer, Zeit für Monte Spina zu finden.«
Nanu, was hörte ich denn da heraus? Enttäuschung? Du hättest ihn gern öfter hier, stimmt’s?
»Wissen Sie, wir alle freuen uns auf die wenigen Tage, die Mr. Bror mit uns teilt. Sein Alltag ist rau und laut, und er leistet sich Monte Spina für bitter benötigte Auszeiten. Ich wäre Ihnen also dankbar, wenn Sie ihm seinen Aufenthalt hier so angenehm wie möglich machten.«
Aber ist das denn nicht selbstverständlich?
»Kommen Sie. Es ist nicht mehr weit bis zum Gärtnerhaus.«
Seitlich wand sich eine Treppe den nackten Felsen empor. Die Hausdame ging vor mir, erstaunlich frisch angesichts der flirrenden Hitze, während ich mich zunehmend schwerfällig hinter ihr herschleppte.
»Auf dem Ostkamm finden Sie die Angestelltenhäuser für Carlos, für die beiden Frauen und mich. Der Gärtnerhof liegt etwas abseits, hier auf dem Westkamm.«
Nach ein paar Kurven erreichten wir einen schattigen Platz. Umgeben von Schuppen und Remisen lag ein gedrungenes Häuschen, doch ich schaute kaum hin. Nach gefühlt hundert Stunden auf den Beinen interessierte mich mittlerweile nur noch eins: mein Bett, und wo um Himmels willen ich hier noch was zu essen bekäme.
Die Hausdame hatte aufgeschlossen und ließ mich eintreten. Staubige Dämmerung empfing mich. Jemand hatte die schweren Vorhänge an den Fenstern zugezogen, um die Hitze abzuhalten.
»Sie werden feststellen, dass sich die Personalwohnungen vom Niveau des Haupthauses unterscheiden. Dennoch werden Sie vorfinden, was Sie zum täglichen Leben brauchen: Wohnzimmer, Bad, hier links die Küche.« Sie öffnete eine Tür. »Wir haben Ihnen einen kleinen Lebensmittelvorrat bereitgestellt, Wasser, Brot, ein wenig Aufschnitt. Ab morgen sorgen Sie bitte selbst für Ihren Unterhalt, Carlos wird Sie an Ihren freien Tagen nach Arrecife mitnehmen. – Hier hinten dann das Schlafzimmer.« Ein schmales Bett, ein Stuhl, ein dunkler spanischer Schrank. Es roch streng, nach Putzmitteln und abgestandener Luft.