Die Gefangene - Martina Cole - E-Book
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Die Gefangene E-Book

Martina Cole

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Beschreibung

Sie ist im Gefängnis – für einen Mord, über den sie eisernes Schweigen bewahrt … Susan Dalston sitzt hinter Gittern: Über einhundert Mal hat sie mit dem Tischlerhammer auf ihren Ehemann Barry eingeschlagen, sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerstört. War es Rache für die vielen Male, die er sie gedemütigt und verprügelt hat? Ihre Anwältin Geraldine hat eine andere Vermutung, als sie erfährt, wie hingebungsvoll Susan sich jahrelang um ihre Kinder gekümmert hat. Aber da Susan nicht über ihre Tat sprechen will, muss sie ihre Nachforschungen heimlich anstellen. Was sie dabei herausfindet, ist so ungeheuerlich und tragisch, dass es ihr den Atem verschlägt … »Kraftvoll und unglaublich spannend. Martina Coles Figuren sind unvergesslich.« Mirror Was als Familientragödie beginnt, endet in brutalem Mord – wer ist Opfer, wer Täter? Ein Thriller der britischen Bestsellerautorin, der die brutale Realität alltäglicher Gewalt gegen Frauen schonungslos und authentisch darstellt. Fans von Joy Fielding werden begeistert sein.

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Seitenzahl: 865

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Über dieses Buch:

Susan Dalston sitzt hinter Gittern: Über einhundert Mal hat sie mit dem Tischlerhammer auf ihren Ehemann Barry eingeschlagen, sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerstört. War es Rache für die vielen Male, die er sie gedemütigt und verprügelt hat? Ihre Anwältin Geraldine hat eine andere Vermutung, als sie erfährt, wie hingebungsvoll Susan sich jahrelang um ihre Kinder gekümmert hat. Aber da Susan nicht über ihre Tat sprechen will, muss sie ihre Nachforschungen heimlich anstellen. Was sie dabei herausfindet, ist so ungeheuerlich und tragisch, dass es ihr den Atem verschlägt …

Über die Autorin:

Martina Cole ist eine britische Spannungs-Bestsellerautorin, die bekannt für ihren knallharten, kompromisslosen und eindringlichen Schreibstil ist. Ihre Bücher wurden für Fernsehen und Theater adaptiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Martina Cole hält regelmäßig Kurse für kreatives Schreiben in britischen Gefängnissen ab. Sie ist Schirmherrin der Wohltätigkeitsorganisation »Gingerbread« für Alleinerziehende und von »Women's Aid«.

Die Website der Autorin: martinacole.co.uk/

Die Autorin bei Facebook: facebook.com/OfficialMartinaCole/

Bei dotbooks veröffentlichte Martina Cole ihre Thriller »Die Gefangene«, »Die Tochter«, »Kidnapped«, »Perfect Family«, »The Runaway« sowie die Spannungsromane »Eine irische Familie«, »Die Ehre der Familie«, und »Die Abgründe einer Familie«.

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eBook-Neuausgabe November 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1997 unter dem Originaltitel »Two Women« bei Hieronymus.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1997 by Hieronymus, Inc.

Published by Arrangement with Martina Cole

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1999 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlasgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Ana / Adobe Stock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-485-9

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Martina Cole

Die Gefangene

Thriller

Aus dem Englischen von Michélle Pyka

dotbooks.

WIDMUNG

Für Christopher, Freddie und Lewis.

Sohn, Tochter und Enkel, Hüter meines Herzens.

Und für Sally Wilden

Mit deinen hübschen Kostümen und Nobelschuhen!

Für mich wirst du immer Sally Wally bleiben.

Spielkameradin und Spätabends-Weinflaschen-Künstlerin!

Eine Freundin fürs Leben, ein Kumpel für die Ewigkeit.

(Erinnerst du dich an die Wand in der technischen Fachschule?)

PROLOG

Im Inneren des Gefangenentransporters war es schwülwarm. Die Hitze des Sommertages wurde von den Metallwänden noch verstärkt. Susan Dalston spürte, wie Schweißtropfen zwischen ihren Brüsten hinabliefen, und hob mit einer müden Geste beide Hände an ihre Schläfen.

»Irgendeine Chance auf ein kaltes Getränk?«

Die Vollzugsbeamtin schüttelte den Kopf.

»Wir sind schon fast da, du wirst warten müssen.«

Susan beobachtete, wie die Frau einen tiefen Schluck aus einer Pepsidose trank und sich dann genüsslich über die Lippen leckte. Sie zwang sich, auf den Boden zu starren, und bekämpfte den Drang, dieses hochnäsige Miststück ins Gesicht zu schlagen. Genau das wollte die doch – dass Susan Dalston handgreiflich wurde und sich mit einer unbedachten Bewegung ihr Berufungsverfahren versaute. Doch Susan blickte der Beamtin stattdessen fest in die Augen und grinste.

»Was ist denn so lustig?«

Sie schüttelte mit gespielter Traurigkeit den Kopf. »Ich habe nur gerade gedacht: Sie Arme, an so einem Tag hier drin zu sitzen. Echt unfair, oder? Und den ganzen Rückweg nach Durham haben Sie auch noch vor sich. Ein langer Tag, was?«

Die Beamtin nickte. »Stimmt, aber ich werde heute Abend in meinem schönen Bett liegen, fernsehen und mit dem Schwanz meines Alten spielen. Und was wirst du tun? Ich habe wenigstens etwas, worauf ich mich freuen kann.«

Der Wagen kam ruckartig zum Stehen. Susans Handgelenke schmerzten von den Handschellen. Sie wusste, dass die Beamtin sie hätte abnehmen können, aber ihr war auch klar, dass sie dies niemals tun würde. Danby war eine stahlharte Schließerin, das sagten alle, und Susan wollte ihr nicht die Gelegenheit geben, ihr eine Bitte abzuschlagen. Als Lebenslängliche, als Mörderin, hatte sie sich schon vor geraumer Zeit damit abgefunden, dass mit Menschen wie Danby nicht leicht auszukommen war.

Sie schienen es zu genießen, die Gefangenen herumzukommandieren, und auf gewisse Weise verstand Susan das sogar. Sie hatte gehört, dass Danbys Mann anderen Frauen nachstieg, ihre Kinder ständig Schwierigkeiten in der Schule hatten und das Haus der Familie in Kürze an die Bank zurückfallen würde.

Die Schließerinnen tratschten genauso viel wie die Insassen.

Susan konnte auch durchaus nachvollziehen, warum Danby das Bedürfnis hatte, jeden um sich herum schlecht zu machen. Das lag wohl in der Natur des Menschen. Und es war Danbys Art, mit ihrem beschissenen Leben und dem beschissenen Job fertig zu werden.

Der Transporter fuhr wieder an, und Susan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Verkehr in London war entsetzlich, vor allem am frühen Nachmittag. Seit halb sechs morgens saß sie nun schon in diesem Wagen, und nur einmal hatten sie angehalten, damit sie auf die Toilette gehen und einen Happen essen konnte. Danby hatte sich einen Picknickkorb mitgenommen und nach Herzenslust gegessen und getrunken, wohl wissend, dass Susan nichts tun konnte, als ihr gefesselt und verbissen dabei zuzusehen.

Das Sichtfenster zur Fahrerkabine wurde geöffnet, und eine Männerstimme dröhnte: »Wir haben es gleich geschafft, Mädels. Noch zehn Minuten, dann können wir alle endlich die Beine ausstrecken.«

Der Fahrer ließ das Fenster offen, und David Bowies »Life on Mars« drang an Susans Ohren. Wieder schloss sie die Augen und seufzte tief.

Danby starrte sie mit verschlossener Miene an.

»Dalston!«

Es war nicht mehr als ein eindringliches Flüstern.

Susan schlug die Augen auf und drehte den Kopf gerade noch rechtzeitig zur Seite, dass der letzte Schluck von Danbys Pepsi sein Ziel knapp verfehlte. Die dunkle Flüssigkeit spritzte über ihre weiße Häftlingskleidung.

»Die lassen dich nicht raus, Madam. Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

Es war eine leere Drohung, das wussten sie beide.

Susan hielt den Kopf gesenkt und starrte wieder auf den Boden. Schweigend legten sie den Rest der Fahrt zurück, und der Wagen passierte schließlich das Haupttor der Vollzugsanstalt Holloway. Fünfzehn Minuten nach der Ankunft öffneten sich endlich die Türen. Susan wurde von Danby mehr oder weniger hinausgezerrt, und während sie im blendenden Tageslicht stand und den frischen Luftzug auf ihrem Gesicht spürte, überkam sie ein überwältigendes Gefühl von Überdruss.

Die trostlose Fassade des Gefängnisses gemahnte sie eindringlich daran, welches Leben ihr hier bevorstand. Türen, die sich schlossen, Tore, die klappernd zufielen, das Geräusch von Schlüsseln, die sich in Schlössern drehten – das war alles, was sie von nun an zu erwarten hatte.

Obwohl sie bereits seit zwei Jahren so lebte, machte ihr erst diese Verlegung für ihr Berufungsverfahren all das wirklich klar. Der flüchtige Blick auf die Freiheit ließ sie das Gefängnisleben bewusster wahrnehmen.

Susan wusste, dass sie niemals freikommen würde, wenn sie nicht kooperierte, aber sie wusste genauso gut, dass sie niemals verraten konnte, was mit ihr geschehen war, niemandem jemals die Wahrheit erzählen konnte. Sie war zu schrecklich und immer noch zu real, als dass Susan darüber reden konnte. Manche Dinge behielt man einfach für sich.

Sie lächelte über die Ironie des Schicksals.

Susan war angemeldet, die Übergabe ging reibungslos vonstatten. Aus Danbys Mund ergoss sich ein endloser Strom von Beschimpfungen, aber die Holloway-Vollzugsbeamtin gab sich keine Mühe, ihr zu antworten. Sie kannte das alles schon.

Sie unterbrach Danby mitten im Satz und sagte leise: »Gehen Sie zurück zur Aufnahme, von dort wird man Sie gemeinsam mit den anderen zur Kantine bringen. Hier haben Sie keinen weiteren Zutritt.« Sie warf die Tür heftig vor Danbys Nase zu, und Susan erlaubte sich ein kleines Lächeln. Sie blickte zwischen den Gitterstäben hindurch und zwinkerte der anderen Frau zu.

»Ich hab ein Auge auf dich, Dalston.«

»Sie können mich mal gernhaben, Mrs Danby.«

Die Schließerin nahm ihr die Handschellen ab. Susan rieb sich die Handgelenke und folgte ihr einen staubigen Korridor entlang.

»Nordenglisches Arschloch! Die in Durham halten sich alle für was Besseres, weil sie einen Hochsicherheitsknast führen. Die sollten mal für eine Weile in diesem Scheißhaus arbeiten! Bei Untersuchungshaft dreiundzwanzig Stunden Einschluss ... Sogar die Ladendiebe werden irgendwann sauer, ganz zu schweigen von den richtigen Sträflingen.«

Die Beamtin schloss eine weitere Tür auf. »Schon was gegessen?«

Susan schüttelte den Kopf. »Nichts seit heute Morgen. Aber ich habe einen Schluck Pepsi bekommen.« Sie lachte, doch die Schließerin verzog keine Miene, da sie den Witz nicht verstand.

»Du solltest es hier ruhig angehen lassen, Dalston. Wir wissen alles über dich und diese kleine Schlägerei. Ich habe gehört, dass die Schwester es verdient hatte, und das ist in Ordnung, aber versuch erst gar nicht, solche Mätzchen hier zu bringen. Wir haben alle genug zu tun und wollen nicht noch den Babysitter für dich spielen müssen, O. K.? Wenn du jemandem einen Tritt verpassen willst, dann mach das in deiner eigenen Zelle. Wir haben nichts gesehen. Verstehen wir uns?«

Susan wurde plötzlich ernst und nickte.

»Denk daran – hier triffst du an allen Ecken und Enden auf Lesben, und zwar nicht nur unter den Häftlingen. Pass auf dich auf. Wenn du etwas tust, tu es vorsichtig und unauffällig, das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann. Dein Ruf ist dir vorausgeeilt, aber das hast du dir bestimmt schon gedacht. Die Art und Weise, wie du deinen Alten abgeschlachtet hast, spricht nicht gerade für dich. Hör auf mich – zieh den Kopf ein und bleib sauber, dann haben wir alle was davon.«

Schweigend setzten sie ihren Weg zum Zellentrakt fort. Der Lärm von Hunderten von Frauen war ohrenbetäubend und wurde immer lauter, je näher sie kamen.

Im Inneren des Gebäudes überfielen Susan nicht nur Geräusche, sondern auch Gerüche. Überall hing der Gestank nach verkochtem Kohl in der Luft, zusammen mit den schärferen Gerüchen nach Schweiß und billigen Seifen und Deodorants. Die Frauen redeten laut miteinander, um die plärrenden Radios zu übertönen. Susan wusste, dass jeder Neuankömmling genau beobachtet wurde, also hielt sie sich gerade und presste ihr Bündel gegen die Brust. Die Menge bestand aus der üblichen Gefängnismischung: aufgetakelte Prostituierte, unscheinbare Scheck- und Kreditkartenbetrügerinnen, verbraucht aussehende Junkies. Ein anderer Knast, dieselben Gesichter.

Es war alles so deprimierend.

Als Susan die Treppe zum ersten Stock hochstieg, hörte sie auf einmal ein lautes Lachen, drehte sich um und starrte unvermittelt in ein Paar wunderschöne, weit aufgerissene grüne Augen. Die dazugehörige Frau war sehr zierlich und wirkte wie eine Puppe. Sie lächelte Susan so strahlend an, dass diese das Lächeln beinahe zurückgab.

Die Vollzugsbeamtin stieß das Mädchen fort. »Eine Kindesmörderin, Dalston. Nimm dich vor ihr in Acht. Sieht aus wie ein Engel, aber sie ist verrückter als ein tollwütiger Hund. Hat ihr Baby auf den Bürgersteig fallen lassen – aus ihrer Sozialwohnung im sechzehnten Stock. Wochenbettdepression. Sie wird freikommen. Aber bis dahin haben wir sie am Hals.«

Sie erreichten eine offene Zelle. Die Beamtin trat ein, und Susan folgte ihr mit einem Gefühl von Beklemmung. Man hatte keine Ahnung, mit wem sie einen zusammenlegten, und ehe man seiner Zellengenossin nicht gründlich auf den Zahn gefühlt hatte, konnte man sich kaum entspannen.

Auf dem oberen Bett lag Matilda Enderby, mit kastanienbraunen, untadelig frisierten Haaren und perfektem Make-up. Sie setzte sich auf und warf Susan einen kurzen Blick aus dunkelbraunen Augen zu. Dann wandte sie sich an die Beamtin und sagte leise: »Sie wollen das da bei mir einquartieren?«

Matilda hatte eine tiefe, rauchige Stimme, deren Akzent ihre Zugehörigkeit zur Mittelschicht verriet.

Susan sah der Frau direkt in die Augen und versuchte es mit einem Lächeln.

Die Beamtin erwiderte scharf: »Hör zu, Enderby, hier drin kannst du es dir nicht aussuchen, Schätzchen. Das Recht hast du in der Nacht verwirkt, in der du deinen Alten umgebracht hast. Und da ihr beide aus dem gleichen Grund sitzt, habt ihr vielleicht mehr gemeinsam, als ihr denkt.«

Sie verließ die Zelle und zog die Tür hinter sich zu.

Susan legte ihr Bündel auf das untere Bett und öffnete es. Als Erstes entnahm sie ihm die Fotos und Briefe ihrer Kinder. Dann entrollte sie schnell ihre wenigen Habseligkeiten und verstaute sie in der leeren Schublade des kleinen Schreibtisches.

Matilda Enderby verfolgte jede ihrer Bewegungen.

Nachdem Susan fertig war, legte sie sich auf das Bett und betrachtete die Gesichter ihrer Kinder, vor allem dasjenige des Babys.

Matilda ging hinaus und kam einige Zeit später mit zwei großen Tassen Tee zurück. Sie riss eine Packung mit Keksen auf und platzierte ein paar davon neben Susan auf das Bett.

»Hast du auf deinen Alten tatsächlich ...«

Susan unterbrach sie mit beißendem Tonfall. »Einhundertzweiundfünfzig Mal mit einem Tischlerhammer eingeschlagen? Ja. Ich habe die Schläge gezählt, da hatte ich wenigstens etwas, worauf ich mich konzentrieren konnte.«

Matilda nickte. Sogar ihr Gesicht wirkte nun völlig ruhig. Die zwei Frauen schwiegen für eine Weile.

»Und was ist mit dir?«

Matilda lächelte. »Erkennst du mich nicht? Mein Fall erregt zurzeit ziemlich große Aufmerksamkeit in den Medien. Ich werde bald hier rauskommen. Bei mir war es ein einziger Stich ins Herz, und der Mistkerl hatte es verdient, bei allem, was ich seinetwegen durchmachen musste.« Ihre Stimme war voller Verbitterung, als sie fragte: »Warum hast du es getan?«

Susan zuckte mit den Achseln. »Wer weiß?«

»Nun, du weißt es bestimmt, auch wenn du es nicht sagst.«

Susan gab ihr keine Antwort. Stattdessen sank sie zurück auf das Bett und versuchte, an gar nichts zu denken. Sie hatte nie jemandem von den Ereignissen erzählt, die dem Mord vorausgegangen waren, und glaubte auch nicht, dass sie jemals darüber reden würde. Zu viele Menschen waren darin verwickelt, zu viele Geheimnisse galt es zu bewahren.

Genau genommen hatte ihr ganzes Leben aus nichts anderem bestanden als aus Lügen und Geheimnissen.

Später am Tag, als der Gefängnislärm langsam verebbte und sich die Zellentür endgültig schloss, überließ sich Susan ihren Gedanken. Denselben Gedanken wie jede Nacht. Nur in ihrem eigenen Kopf und in der Dunkelheit der Nacht erlaubte sie sich, darüber nachzudenken, was sie getan hatte, und – wichtiger noch –, warum sie es getan hatte.

Sie wusste, dass sie sich ihre Kindheit und Jugend vor Augen führen musste, wenn sie ihre Handlungen verstehen wollte. Darin lag der Schlüssel für alles, was ihr später widerfahren war. Nach zwei Jahren, in denen die Psychiater immer wieder versucht hatten, das Motiv hinter ihrem Verbrechen zu entdecken, begriff Susan nun endlich, warum sie das mit Barry gemacht hatte.

ERSTES BUCH | 1960

Nichts beginnt und nichts vergeht

Das nicht mit Schmerz bezahlt;

Denn uns gebiert des anderen Schmerz

Und uns zerstört die eigene Qual.

Francis Thompson | 1859–1907, »Daisy« | 1913

»Oh! Wie viele Qualen enthält das kleineRund eines Eherings.«

Colley Cibber | 1671–1757, »The Double Gallant« | 1707

KAPITEL EINS

Das Mädchen schlug die Augen auf. Schlaf klebte in ihren Augenwinkeln, und sie wischte ihn mit ihrer kleinen Hand fort. Sie hörte das gleichmäßige Atmen ihrer Schwester, kurze, gedämpfte Schnaufer, die sie an einen Hundewelpen erinnerten. Das Bett war warm und wie eine Schutzhülle. Sie schmiegte sich an den Rücken der Schwester – die beiden kleinen Körper passten aneinander wie zwei Löffel – und dämmerte wieder ein.

Ein Krachen weckte sie beide.

Susan wusste, dass sie nicht lange geschlafen haben konnte, denn ihr Arm fühlte sich noch nicht so taub an wie sonst, wenn sie sich die ganze Nacht an die knochige Gestalt ihrer Schwester gekuschelt hatte.

Das Geschrei ihres Vaters erreichte gerade einen neuen Höhepunkt.

Debbie kicherte. »Blöder alter Mistkerl! Ich wünschte, er würde endlich schlafen gehen.«

Susan lachte.

Der Streit dauerte nun schon zwei Tage und drehte sich darum, dass ihre Mutter einen Job im Pub um die Ecke angenommen hatte. Vater war der Meinung, dass sie nur dort arbeitete, weil zwischen ihr und dem Wirt etwas lief.

Er glaubte, dass ihre Mutter ständig Affären hatte, und für gewöhnlich hatte er damit Recht.

Das war es, worüber die beiden Mädchen lachten. Sie waren erst acht und neun Jahre alt, aber sie wussten genau, was gespielt wurde, und wunderten sich, dass ihr Vater noch nicht dahintergekommen war. Ihr Gelächter verstummte, als sie ein lautes Klatschen hörten und direkt danach das Klappern der Absätze ihrer Mutter über den mit Linoleum ausgelegten Flur.

»Du fetter Scheißkerl! Eines Tages steche ich dich noch ab!«

»Ach ja? Du faselst immer was vom Abstechen. Dabei lässt du dich vom Schwanz dieses Saftsacks stechen, und das ist das Einzige, wofür du gut bist.«

Nun ging die Prügelei richtig los. Die beiden Mädchen hörten den dumpfen Knall, mit dem der Kopf ihrer Mutter gegen die Wand schlug, und zuckten zusammen.

»Steh du auf, Sue, ich bin letztes Mal gegangen.«

Susan setzte sich auf und schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Er hasst mich, das weißt du doch.«

Ein ohrenbetäubendes Klirren verriet den Mädchen, dass sich der Streit in das kleine Zimmer verlagert hatte, das zur Straße hinausging.

»Das war die neue Lampe – jetzt wird Mutti richtig aufdrehen.«

Debbie hatte Recht. June McNamara kreischte aus Leibeskräften: »Du Arschloch! Du mieser Bastard! Warum musst du immer alles kaputtmachen?«

Der Streit wurde noch heftiger. Den Mädchen war klar, dass ihre Mutter durchaus austeilen konnte. Sie hörten ihren Vater brüllen: »Hör auf, du blöde Kuh, verdammte Scheiße!« Er lachte dabei, und sein Gelächter brachte die Frau erst recht zur Raserei. Und genau das bezweckte er damit.

Die beiden Schwestern saßen kerzengerade und mit weit aufgerissenen Augen im Bett. Sie wussten, dass Joey McNamara bald mit den richtigen Schlägen beginnen würde, denjenigen, von denen seine Frau blaue Augen und möglicherweise ein paar Knochenbrüche davontrug.

Debbie sprang aus dem Bett. Sie war neun, groß für ihr Alter und sehr hübsch. Sie sah viel zu schön aus für ihre verwahrloste Umgebung und das Leben, das sie lebte. Sie öffnete vorsichtig die Tür und trat hinaus auf den Korridor.

June lag im Wohnzimmer auf dem Boden, das Gesicht eine blutige Masse. Ihr Ehemann stand über sie gebeugt, atmete schwer und riss ihr büschelweise die Haare aus. Susan tapste ängstlich hinter ihrer Schwester her. Als die Polizei gegen die Vordertür schlug, stießen beide einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Komm schon, Joey. Mach die Tür auf, Freundchen. Wir wissen, dass du da bist.«

Susan rannte durch den Flur und öffnete die Tür. Sergeant Simpson und zwei weitere Uniformierte stürmten herein und drängten das Kind beiseite. Susan sah zu, wie die Polizisten den Vater von ihrer Mutter wegzerrten, während er noch erfolglos nach ihrem Kopf trat.

»Beruhige dich, Mann. Wir nehmen dich hiermit wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in trunkenem Zustand fest. Willst du dich etwa auch noch des tätlichen Angriffs auf einen Polizeibeamten schuldig machen?«

»Sie ist eine Hure ... eine alte Hure! Jetzt bumst sie auch noch den Wirt vom verfluchten Victory, wenn es euch interessiert. Dabei ist der so schwarz wie ein Kohlenkasten. Du Schlampe!« Wieder versuchte er, seine Frau zu attackieren. »Eine Witzfigur, das macht sie aus mir, und alle wissen davon.«

June erbrach sich auf den orange und grün gemusterten Langflorteppich, wobei ihr einer der beiden jungen Polizisten den Kopf hielt.

»Komm mit, Joey, du übernachtest heute bei uns. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Schlaf erst mal deinen Rausch aus, Junge. Komm.«

Joey nickte, doch als sie ihn aus dem Zimmer führten, hob er blitzschnell noch einmal den Fuß und bohrte den Absatz seines Stiefels mit voller Wucht in die Hand seiner Frau.

June schrie auf, rappelte sich hoch und versuchte sich erneut auf ihren Mann zu stürzen.

Ihre beiden Töchter beobachteten die Szene mit großen Augen.

Sergeant Simpson wandte sich an Susan und zuckte mit den Achseln. »Beweg deinen Hintern zu deiner Oma. Erzähl ihr, was hier los ist, und bring sie her. Deine Mutter muss ins Old London Hospital, er hat sie ja fast bewusstlos geschlagen.«

Susan nickte und lief zurück in ihr Zimmer. Sie zog ihre Gummistiefel und einen alten Mantel an. Weil sie stämmiger war als Debbie und nicht so hübsch, musste sie die ganze Drecksarbeit erledigen. Außerdem nahmen immer alle an, sie sei die Ältere.

Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, saß ihre Mutter auf der Couch und hielt sich die verletzte Hand, während Debbie ihr gerade den Arm um die Schultern legte und versuchte, sie zu trösten. Susan sah, wie June den Arm abschüttelte, und seufzte. Debbie würde nie lernen, die Dinge auf sich beruhen zu lassen.

Susan huschte aus der Haustür in die Kälte der Winternacht und marschierte die Commercial Road entlang zu ihrer Großmutter.

Es war vier Uhr morgens, und Ivy McNamara würde es nicht gefallen, sich aus ihrem warmen Bett erheben zu müssen. Offen gesagt konnte Susan es ihr nicht verdenken.

Als sie das Haus erreichte, waren ihre Füße taub vor Kälte. Sie klopfte an die Tür, hüpfte von einem Bein auf das andere und wartete auf das unvermeidliche Geschrei.

»Wer ist da, mitten in der Nacht?«

Susan konnte Oma McNamara nicht leiden. Niemand mochte sie. Ivy war eine gemeine alte Hexe mit einer großen Klappe – und das war noch das Netteste, was die Leute über sie sagten.

Die Haustür flog auf. Ivy stand in voller Pracht vor ihrer Enkelin. Knallgelbe Lockenwickler umschlossen ihren Kopf wie ein Sturzhelm, und Spucke klebte in den Winkeln ihres zahnlosen Mundes. Ein Netz aus Knitterfalten und Runzeln überzog ihr Gesicht, und ihre Hände glichen schmutzigen Klauen, da regelmäßige Körperpflege noch nie zu ihren Tugenden gezählt hatte.

Sie war erst siebenundfünfzig Jahre alt.

»Komm schon rein. Du lässt die ganze Wärme raus!«

Susan folgte ihr in das Schlafzimmer, wo Ivy einen alten Pelzmantel aus dem Kleiderschrank zog und sich überwarf.

»Hol mal meine Zähne, ohne die kann ich nicht gehen.«

Susan blickte sich suchend um und entdeckte das Gebiss in einem Glas neben dem Bett. »Hier, bitte schön, Oma.«

Ivy schob sich das Gebiss in den Mund. Sofort wirkte ihr eingefallenes Gesicht etliche Jahre jünger.

»Was ist denn nun schon wieder passiert?«

»Die Polizei hat Vater mitgenommen. Er hat Mutter verprügelt.«

Ivy lachte laut auf und ließ gleichzeitig einen fahren. »Er hat die Sache zwischen ihr und dem Mohrenkopf aus dem Victory spitzgekriegt, was?«

Susan nickte.

»Ne verdammte Hure, das ist sie! Ich habe keine Ahnung, warum er sie geheiratet hat, aber er wollte ja nicht auf mich hören! O nein, er musste sie haben – das größte Flittchen der ganzen Gegend. Du wirst noch einmal den Tag bereuen, an dem du die aufgegabelt hast, habe ich zu ihm gesagt. Und genau so ist es gekommen.«

Susan schaltete ihre Ohren auf Durchzug. Die Großmutter zog regelmäßig über ihre Mutter her, sie kannte das alles schon. Während sich die alte Frau ereiferte, stand das Mädchen neben der Schlafzimmertür und beobachtete sie.

Ivy zog Strümpfe an, darüber ein Paar Socken und dann ihre gefütterten, knöchelhohen Stiefel. Ein breiter Strickhut vervollständigte das Ensemble. Sie schnappte sich eine riesige Handtasche aus schwarzem Leder, die vollgestopft war mit alten Lebensmittelkarten, den Geburtsurkunden ihrer Kinder und Rabattgutscheinen, und bedeutete ihrer Enkelin mit einem Nicken, dass sie bereit war.

Und in der lähmenden Kälte eines eisigen Londoner Winters marschierte Susan den ganzen Weg zurück nach Hause – ohne etwas Warmes getrunken zu haben, ohne anständigen Pullover oder Schal.

Als sie dort eintrafen, kochte Debbie gerade Tee. Junes Gesicht war völlig verwüstet, und die beiden Mädchen vermieden es, sie anzusehen. Oma McNamara riss auf der Stelle das Regiment an sich, sodass sie sich noch schlechter fühlten. Sie hielt den Kopf ihrer Schwiegertochter fest und drehte ihn von einer Seite auf die andere.

»Alles halb so schlimm. Aber eines Tages wird er dich wirklich fertig machen, und wer könnte es ihm verdenken? Jeder redet über dich und diesen schwarzen Kerl aus dem Pub.«

Die beiden kleinen Mädchen schnitten Grimassen. Mr Omomuru, wie sie ihn nannten, war ein netter Mann. Er gab ihnen Limonade und Kartoffelchips und erzählte ihnen lustige Geschichten von Afrika und seiner Familie.

Nachdem das Blut von Junes Gesicht gewaschen war, sah es zwar nicht mehr ganz so schlimm aus, war aber dennoch übel zugerichtet. Schwankend erhob sie sich von der Couch, trat vor den Spiegel, der auf der Fensterbank stand, und stöhnte.

»Dieser elende Bastard! Sieh nur, was er angerichtet hat!«

Ivy stieß ein heiseres Lachen aus. »Mit dem Gesicht wird dich dein Schornsteinfeger wahrscheinlich für eine Weile nicht mehr sehen wollen. Aber Joey wird dich sowieso erledigen, wenn er zurückkommt.«

Sie schien großen Gefallen an diesem Gedanken zu finden, doch June, gestärkt von Tee und Brandy, drehte sich zu ihr um und rief: »Red nicht so einen Mist, du vertrocknete alte Schreckschraube!«

Ihre Hand war auf das Dreifache ihrer normalen Größe angeschwollen. Susan füllte eine Schüssel mit eiskaltem Wasser und brachte sie ihr. Die Mutter tauchte die Hand ein und seufzte. »Das tut gut. Solltest du nicht langsam wieder abhauen, Ivy? Oder willst du etwa warten, bis dein Musterknabe von Sohn heimkommt, und dir das Ende des Dramas anschauen?«

Ivy blieb stumm. Sie wusste, wenn sie es zu weit getrieben hatte. June war durchaus fähig, sie aus dem Haus zu werfen, also hielt sie ihre Zunge vorerst im Zaum. Auf keinen Fall wollte sie die Rückkehr ihres Sohnes aus dem Gefängnis verpassen, denn dann hatte sie beim Bingo etwas zu erzählen.

»Bist du da, Junie?«, rief Maud Granger mit lauter Stimme, als sie später an jenem Morgen die kleine Wohnung betrat. Sie kam in die Küche, sah Ivy und nickte ihr zu.

»Ich habe gesehen, wie die Bullen ihn mitgenommen haben. Es ist eine verdammte Schande, wie dieser Mann dich behandelt. Jetzt schau sich einer nur dein Gesicht an!«

June setzte Teewasser auf. Der pochende Schmerz in ihrer Hand ließ sie zusammenzucken. »Er wird bald wieder zu Hause sein, normalerweise schmeißen sie ihn um die Mittagszeit raus. Dann geht das alles von vorne los. Er ist davon überzeugt, dass ich ein Verhältnis habe. Wie gewöhnlich.«

»Und wie gewöhnlich hast du auch eins«, warf Ivy ein.

June wandte sich ihr zu, seufzte schwer und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich habe kein Verhältnis. Wenn du es unbedingt wissen willst, Ivy: Er bezahlt mich, und ohne das Geld wäre ich am Ende, denn dein lieber Sohn vertrinkt jeden Penny. So, jetzt weißt du es!«

Sofort wünschte June, sie hätte nicht so unverblümt gesprochen, denn das Mundwerk ihrer Freundin Maud stand niemals still, sodass bis spätestens zwei Uhr nachmittags die ganze Siedlung von ihrer Bemerkung erfahren haben würde.

Mit Augen so groß wie Untertassen flüsterte Maud: »O Junie, du bist mir vielleicht eine!«

Ivy äffte ihren Tonfall nach. »Ja, dafür bist du gerade die Richtige, was, Junie? Wenn ich das meinem Jungen erzähle, wird er dir die Augen aus dem Kopf prügeln, Schätzchen.«

June saß am Küchentisch und spürte Tränen in sich aufsteigen. Ihr Gesicht war geschwollen und voller schwarz-violetter Blutergüsse. Es würde Wochen dauern, bis sie auch nur annähernd wieder so aussah wie sie selbst. Die Schmerzen in ihrer Hand brachten sie schier um, und ihr Rücken fühlte sich an, als wolle er jeden Moment durchbrechen. Ihr gesamter Körper schmerzte. Aber daran war sie gewöhnt. Was sie wirklich bekümmerte, war das Wissen, dass ihr Mann es nicht dabei bewenden lassen würde. Sie mochte ihren neuen Liebhaber. Er war liebenswürdig, sanftmütig, freundlich und behandelte sie mit Respekt. Und er war großzügig.

Wie die meisten ihrer Nachbarinnen hatte auch June jahrelang schwarz als Prostituierte gearbeitet. Das gehörte einfach zum Leben. Die Kinder brauchten neue Schuhe? Dann los, und niemand bekam etwas davon mit.

Allerdings redete man nicht darüber, und vor allem riss man nicht die Klappe auf, wenn Maud in der Nähe war. Die hätte selbst aus einer Gebetsstunde noch eine Klatschgeschichte gemacht.

Susan und Debbie traten just in dem Augenblick in die Küche, als ihre Großmutter ihre Schimpfkanonade wieder aufnahm. Ihrer Meinung nach war June zu nichts nütze. Susan fragte ihre Mutter, ob sie draußen spielen dürften.

Bevor June antworten konnte, wurde derart heftig gegen die Haustür geklopft, dass sie beinahe aus den Angeln fiel.

June seufzte. »Geh du bitte zur Tür.«

Susan öffnete die Haustür. Vor ihr stand der größte Schwarze, den sie jemals gesehen hatte, und lächelte sie freundlich an.

»Ist deine Mutter da?«

Susan starrte ihn verdutzt an. Sie mochte diesen Mann, er war nett. Aber sie wusste, dass seine Anwesenheit auf Oma McNamara wie ein rotes Tuch wirken würde.

Debbie rannte in die Küche und quietschte: »Es ist der schwarze Mann, Mama, er steht vor der Tür!«

June verdrehte die Augen gen Himmel und musste sich beherrschen, um angesichts der Ungerechtigkeit der Welt nicht laut zu schreien. Sie quälte sich aus ihrem Stuhl und sagte mit sarkastischem Tonfall: »Mach deinen Mund zu, Maudie, sonst entgeht dir womöglich noch ein Leckerbissen.«

Während sie die Küche durchquerte, begann ihr Herz zu hämmern. Jacob Omomuru war ein guter Mann, das wusste sie genau. Das machte die ganze Sache ja so schwierig. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass ihr Alter sie wegen Jacob umbrachte. Hätte sie einen Funken Verstand besessen, dann wäre sie mit ihm davongelaufen, das war ihr tief in ihrem Inneren klar. Aber sie wusste auch, dass sie dies nicht tun würde. Sie fand sich im wirklichen Leben nicht zurecht, wäre nicht damit fertig geworden, dass Joey sie ständig verfolgte – denn darauf würde es hinauslaufen.

Jacob stand vor den Augen der ganzen Nachbarschaft auf ihrer Schwelle, in einem schicken, marineblauen Anzug, mit passendem Hemd und Krawatte. Sein herrliches krauses Haar, das sie so liebte, war kurz geschnitten. Seine großen, mandelförmigen dunklen Augen blickten sie flehend an. Jacob Omomuru liebte sie, und dieses Wissen machte June insgeheim zu einer sehr glücklichen Frau. Aber sie hatte sich ihr Leben eingerichtet, und daran würde nichts etwas ändern.

Mit einem entsetzten Ausruf schloss Jacob sie in die Arme, wobei sie vor Schmerz zusammenzuckte. Er roch nach Sandelholzseife und Zigarillos. Dann schob sie ihn rasch von sich, denn ihre Schwiegermutter stampfte herbei, das Gesicht wie eine weiße Maske, den Mund weit aufgerissen, sodass er aussah wie ein riesiges, hässliches O.

»Lass sie in Ruhe, du schwarzer Scheißkerl! Mein Junge wird dir die Kehle durchschneiden, wenn er davon erfährt.«

Jacob stand mit seiner hoch gewachsenen, einschüchternden Gestalt wie ein Fels inmitten der Frauen und Mädchen. Maud machte sich vor Angst und Aufregung beinahe in die Hose. Das war besser als Fernsehen – wie sie später am Tag jedem sagen würde, bei dem sie auf eine Tasse Tee und eine Kippe hereinschneite. Maud war der Ausdruck ›den Mund halten‹ gänzlich unbekannt.

»Bitte, June. Komm jetzt mit mir, Liebling. Lass mich für dich und die Kinder sorgen.«

June blickte in Jacobs gutaussehendes Gesicht und schüttelte den Kopf. »Du solltest lieber gehen, Jacob. Joey wird bald nach Hause kommen, und wenn er dich hier sieht, ist der Teufel los.« Ihre Stimme war leise und klang völlig ausdruckslos.

Auf dem Bürgersteig ging eine Nachbarin vorüber, eine junge Mutter von dreiundzwanzig mit vier Kindern, mit genug Schwangerschaftsstreifen, um als Straßenkarte zu dienen, und einem mehr als dreisten Mundwerk.

»Hallo Junie, nimmst du dir die Arbeit jetzt mit nach Hause, oder was?«

June ignorierte sie.

Jacob betrachtete das Gesicht, das er so liebte. Er kannte June McNamaras schlechten Ruf genauso gut wie jeder andere. Sie war eine ›Marke‹, wie die Bewohner des East End sagten. June nutzte das einzige Kapital, das sie hatte. ›Ich sitze auf einer Goldgrube‹, so hatte er andere Frauen über ihre Körper reden hören. Nichtsdestotrotz hatten Junes schwere, weiche Brüste und die feuchte Grotte zwischen ihren Beinen es ihm angetan.

Er war ihr hörig, das war ihm klar.

Ihm war auch bewusst, dass es im Jahr 1960 für zwei Menschen verschiedener Rassen praktisch unmöglich war, eine funktionierende Beziehung zu führen. Vor allem in diesen Breiten.

Aber June hatte ihm etwas gegeben, das er in der Kälte Londons niemals zu finden erwartet hätte. Sie hatte ihm ein kleines bisschen Glück gegeben. Bei der Arbeit im Victory musste er eine Menge hinunterschlucken, musste sich für sein Geld jeden Tag die als Witze getarnten Beleidigungen gefallen lassen und durfte nie vergessen, dass er sich auf brüchigem Eis bewegte. Nur seiner beeindruckenden Größe und dem Angstfaktor hatte er es zu verdanken, dass er gesund und wohlbehalten im Osten von London leben konnte.

Jacob setzte sein bedrohlich wirkendes, kräftiges Äußeres im Pub sehr erfolgreich und wirkungsvoll ein und wusste, dass er den weißen Männern damit etwas voraushatte. Die Frauen flogen auf ihn. In London und besonders im East End waren starke Männer sehr begehrt. Sie galten unter den Frauen als Trophäen. ›Mein Mann kann deinem Mann den Schädel einschlagen.‹ Beinahe wie ein Stammesritual. Bei dem Gedanken lächelte Jacob in sich hinein.

June schob ihn ein paar Schritte in Richtung Treppe, während ihre Schwiegermutter aus Leibeskräften keifte, damit auch ja alle Nachbarn es mitbekamen.

June drehte sich zu ihr um und schrie zurück: »Sei still, du alte Schabracke! Kannst du nicht einmal dein Maul halten?« Dann flehte sie Jacob an: »Bitte geh! Du machst alles nur noch schlimmer. Er bringt mich um, wenn er erfährt, dass du hier warst. Geh einfach und lass mich in Ruhe!«

Ihre Stimme klang nun rau und aufgewühlt. Jacob erkannte schweren Herzens, dass er nicht nur die Schlacht, sondern den gesamten Krieg verloren hatte. Er starrte in Junes verwüstetes Gesicht.

»Du bist eine Närrin, June. Ich biete dir einen Ausweg an. Ein neues Leben.«

Sie stieß ein gehässiges Lachen aus. »Ich habe schon ein Leben, Jacob, und das hat einen Scheiß mit dir und deinesgleichen zu tun.« Sie wusste, dass sie ihn verletzt hatte, und flüsterte in freundlicherem Ton: »Lass mich allein, Junge. Lass es einfach dabei bewenden.«

Er versuchte, ihr den Arm um die Taille zu legen. Sie schüttelte ihn ab.

»Sieh mich doch an, Jacob. Das ist alles, was ich zu erwarten habe. Es wird nie anders sein. Wenn mein Alter nach Hause kommt und dich hier findet, wird einer von euch beiden im Gefängnis landen. Und ganz ehrlich – das bin ich nicht wert. Würdest du jetzt bitte gehen?«

Noch ehe er etwas erwidern konnte, klatschte ihnen beiden ein Eimer kaltes Wasser entgegen.

Ivy war in ihrem Element. Die ganze Nachbarschaft versammelte sich auf der Straße, und ihr Sohn würde in absehbarer Zeit eintreffen, also konnte sie einmal richtig die Hosen runterlassen. Falls June sie hinauswarf, würde eine der Nachbarinnen sie mit Freuden aufnehmen, also waren ihr eine schöne Tasse Tee und ein Logenplatz sicher, während sie auf Joeys Rückkehr wartete.

June stürzte sich auf ihre Schwiegermutter wie eine tollwütige Katze. »Du heimtückisches Miststück! Warum hast du das gemacht?«

Unter dem Gelächter der Nachbarn trieb sie die vor Angst und Aufregung kreischende Ivy zurück in die Wohnung. Ihr Leben wäre so viel leichter, wenn ihre Schwiegermutter einfach tot umfallen würde! Susan und Debbie sahen mit aufgerissenen Augen, wie ihre Mutter über Oma herfiel. June teilte einige schallende Ohrfeigen aus, während Ivy ihrer Schwiegertochter ein Büschel Haare ausriss und schrie: »Du Hure! Er wird dich quer durch die ganze Siedlung prügeln, wenn ich ihm das erzähle. Ausgerechnet ein Kaffer! Ein verfluchter Nigger! Herrgott noch mal, du bist noch gewöhnlicher als eine Hafennutte. Sogar die würde es sich zweimal überlegen, ob sie einen Schwarzen ranlässt, aber du treibst es ja mit jedem.«

June schleifte ihre Schwiegermutter am Kragen ins Wohnzimmer, stieß sie auf den Sessel neben dem Fernseher und brüllte: »Er ist ein anständiger Mann! Ein verflucht anständiger Mann. Zu gut für eine wie mich. Wenn ich genug Mumm hätte, würde ich mit ihm abhauen, darauf kannst du Gift nehmen. Aber ich weiß genau, dass du und mein Saftsack von Ehemann uns niemals in Ruhe lassen würdet. Dein Sohn hat mir alles genommen – alles! Sieh dich doch um, sieh uns an, und dann klopf dir selbst auf die Schulter, Ivy. Du hast bei deinen Söhnen ganze Arbeit geleistet. Wirklich ganze Arbeit. Wir haben nichts, sogar noch weniger als du.«

Die beiden Frauen waren erschöpft vom Streiten und Schreien. Stille kehrte im Raum ein, und die Gegnerinnen starrten einander an wie zwei Frettchen in der Falle.

»Soll ich noch eine Kanne Tee aufsetzen?«

June wirbelte zu ihrer Freundin und Nachbarin herum und fuhr sie an: »Ach, verpiss dich, Maudie! Hast du für heute nicht schon genug gesehen? Geh heim und kümmere dich um deine Kinder. Bei den dünnen Wänden kriegst du doch sowieso alles mit, wie immer, Schätzchen.«

»Ich werde den Tee kochen, Mama«, erklang leise Susans Stimme, und June warf ihrer Tochter einen traurigen Blick zu.

»Soll ich einen Schuss Scotch dazutun? Dann kriegt ihr wieder einen klaren Kopf.« Susan schloss die Haustür hinter Maud und setzte den Kessel auf. Fünf Minuten später brachte sie zwei große Tassen mit dampfend heißem Tee ins Wohnzimmer.

Ihre Mutter und ihre Oma waren völlig erledigt, auch wenn keine von beiden das zugegeben hätte. Nun, da jeden Moment mit Joey zu rechnen war, verfiel selbst seine Mutter in Schweigen. Bei ihm wusste man nie, woran man war. Seine Stimmung konnte von einer Minute auf die andere von Fröhlichkeit in rasenden Zorn umschlagen.

In der Wohnung war es so still, dass sie alle das Ticken der Herduhr in der Küche hörten.

KAPITEL ZWEI

Eine Stunde später schloss Joey die Haustür auf. Ivy sah ihre Schwiegertochter an und flüsterte: »Reg ihn jetzt bloß nicht noch auf. Widersprich ihm nicht. Egal, was er sagt – gib ihm einfach Recht.«

June würdigte sie noch nicht einmal einer Antwort.

Joey kam leise zur Tür herein. Sein schmales Gesicht wirkte verschlossen, aber gelassen. Er hob Debbie hoch und gab ihr einen Kuss auf den Mund. »Wie geht’s denn Papas kleinem Mädchen?«

Debbie umarmte ihn und erwiderte den Kuss. Susan beobachtete die beiden. Joey zwinkerte ihr zu und ging dann in die Küche. Als er seine Mutter erblickte, stieß er einen Seufzer aus.

»Hallo Mama. Bist wohl gekommen, um Feuer ins Öl zu gießen, was?«

Ivy blieb stillsitzen, die Lippen aufeinander gepresst. Joeys Blick wanderte hinüber zu June und fiel auf ihr geschundenes Gesicht und ihre geschwollene Hand. Er blinzelte einige Male, als könne er nicht glauben, was er da sah.

»Was ist denn mit dir passiert, June? Bist du unter einen Bus gekommen, Schätzchen? Du siehst ganz schön wüst aus.«

Niemand sagte ein Wort.

Bei Joey hatte man nichts anderes zu erwarten. Er hielt sich alle Optionen offen und genoss es, die Frauen in seinem Leben darüber im Unklaren zu lassen, was er im nächsten Augenblick tun würde. Würde June gleich Prügel bekommen, oder würde er alles vergeben und vergessen und ihr eine langatmige Liebeserklärung machen? Solche Spielchen gefielen ihm.

Ivy starrte ihn gespannt und mit glänzenden Augen an. So war es schon besser. Genau darauf hatte sie gewartet. Plötzlich war sie wieder eine junge Frau, und Joey war sein Vater.

Was für ein Mann! Joey trug nicht nur den Namen seines Vaters, er glich ihrem Ehemann auch aufs Haar.

Susan setzte wieder Tee auf und bemühte sich, dabei möglichst leise zu sein. Wenn ihr Vater in dieser Stimmung war, konnte jedes laute Geräusch unangenehme Folgen haben.

Joey grinste sie an. »Gutes Mädchen, mach deinem alten Vater ein Tässchen Tee, damit er sich beruhigt, nachdem deine Mutter ihn hat einlochen lassen.«

Immer noch herrschte bei den anderen Schweigen.

Joey betrachtete sie eine nach der anderen und sog ihre Angst und Anspannung in sich auf. Er setzte sich an den Küchentisch, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.

»Erst mal eine Tasse Tee und ein Eiersandwich, dann fühle ich mich wieder wie ein richtiger Mensch.«

Beim ruhigen Klang seiner Stimme seufzten die beiden Mädchen erleichtert auf. Die Katastrophe war abgewendet, Dad würde die Sache auf sich beruhen lassen, sodass sie sich entspannen konnten.

»Und nach dem Frühstück geh ich den Nigger erschießen. Auf dem Heimweg habe ich kurz bei Jonnie Braithwaite reingeschaut und eine hübsche kleine Wumme gekauft. Ich werde ihm die Eier abschießen und rechtzeitig zum Mittagessen wieder hier sein.«

Joey zog einen alten Armeerevolver aus der Jackentasche. Er war groß, glänzte und sah bedrohlich aus. Die Mädchen rissen die Augen auf. Ivy erbleichte, und June sackte auf dem Stuhl in sich zusammen.

»Sei doch nicht dumm, Joey. Die werden dich für alle Ewigkeit einbuchten, und was dann?«

Joey hatte noch keinen Gedanken an die möglichen Konsequenzen verschwendet und blieb stumm. Seine Schweinsäugelchen funkelten.

»Darüber kann ich mir hinterher immer noch Gedanken machen. Der Kaffer ist so gut wie tot, Schätzchen. Ich lasse mir ja eine Menge von dir gefallen, June, aber Nigger zu bumsen, das geht zu weit. Jetzt muss es auf einmal ein großer Kaffer mit behaartem Arsch sein, wie? Was hast du denn gegen all die anderen? Hast wohl genug von weißen Kerlen, was? Wolltest wohl mal ein bisschen Schokopudding probieren?«

Er strich zärtlich über den Lauf und drückte ihn seiner Frau dann von unten gegen das Kinn. Das Metall war eiskalt. June schloss die Augen.

Die Spannung in der Küche war mit Händen zu greifen.

Joey war es durchaus zuzutrauen, dass er sie erschießen und dann in Tränen der Reue zerfließen würde. Er würde den gekränkten Mann spielen, den betrogenen Ehemann, dem von seiner flatterhaften Frau, die eine Schwäche für Schwarze hatte, Hörner aufgesetzt worden waren.

Wie gewöhnlich lebte er in seiner ureigenen Fantasiewelt.

Alle anderen in der Küche warteten mit angehaltenem Atem, die Augen auf die Waffe gerichtet.

Susan ging zu ihrem Vater und legte vorsichtig die Arme um ihn. »Erschieß meine Mama nicht, am Mittwoch ist doch die Schulaufführung, bei der ich den Engel Gabriel spiele.«

Joey starrte seiner Tochter ins Gesicht.

Aber war sie wirklich seine Tochter? War überhaupt eines der Mädchen von ihm? Darüber wollte er definitiv nicht nachdenken. Er betrachtete sein Goldkind, seine Deborah, die Ältere, der er sich auf besondere Weise verbunden fühlte. Hauptsächlich, weil sie den gleichen selbstsüchtigen Zug und die gleiche Faulheit an den Tag legte wie er. Eltern möchten sich in ihren Kindern wiedererkennen, und je mehr ihrer eigenen Fehler sie in ihnen sehen, desto mehr lieben sie sie. Das liegt in der Natur des Menschen.

Deborah war das Ebenbild ihres Vaters. Sie besaß einen trotzigen Charme und stellte stets sicher, dass sie von allem den Löwenanteil bekam. Sie würde ihr ganzes Leben lang die Hand aufhalten und alles nehmen, ohne jemals etwas zurückzugeben. Und im Grunde würde sie immer einsam sein, genau wie ihr Vater.

Selbst jetzt sorgte sie sich eher darum, was mit ihr geschehen würde, falls ihr Vater ihre Mutter erschoss, als darum, dass June in tödlicher Gefahr schwebte – durch einen Mann, für den es im Leben nicht darum ging, anderen Freude und Liebe zu schenken, sondern ihnen seinen Willen aufzuzwingen.

Joey war ein Schwächling, der andere bedrohte, schlug und hasste, weil er glaubte, dadurch stark zu wirken. Er hasste manchmal auch June und Susan, denn er wusste, dass sie ihn durchschauten und als das sahen, was er wirklich war: ein großmäuliger Tyrann.

Und gerade deswegen jagte er ihnen Angst ein. Joey würde den Schwarzen nicht erschießen. Wenn jemand erschossen wurde, dann June, weil sie ein einfaches Ziel war und die Nachbarn Joey wegen der vorangegangenen Ereignisse Glauben schenken würden. Und die Nachbarn waren die Leute, die er für wichtig hielt.

Joey kam nicht in den Sinn, dass es auch eine Welt jenseits des Roman Road Market gab und dass es den Menschen außerhalb seines Viertels egal war, ob er lebte oder starb.

Er wollte in seiner kleinen Welt ein großes Tier sein.

Die Leute nahmen sich vor ihm in Acht. Im Pub bekam er eine Menge Getränke spendiert. Alte Huren und kleine Flittchen brachten ihm die Bewunderung entgegen, nach der er sich sehnte. Aber June, seine June, sah ihn trotzdem mit leerem Blick an und lachte hinter seinem Rücken über ihn. Weil sie wusste, dass er ein Feigling war, ein Aufschneider, ein Lügner. Im Grunde war Joey eine Null. Und das wusste er auch. Am schlimmsten war jedoch, dass seine Frau es ebenfalls erkannt hatte. Sie war seine Achillesferse, denn tief in seinem Inneren liebte er sie, liebte sie wahrhaftig – und er wusste, dass auch sie ihn einmal geliebt hatte. Sie hatte ihn sogar angebetet. Bis sie ihn durchschaute.

Er spannte den Abzug. In der Stille der Küche klang das Geräusch schockierend.

June schluckte laut und sagte dann mit tonloser Stimme: »Mach schon, Joey! Bring es hinter dich, ich hab die Nase voll.«

Er stierte in ihr verunstaltetes Gesicht, betrachtete die Schwellungen und Blutergüsse, mit denen jede andere Frau für eine Woche im Old London Hospital gelegen hätte, und spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Er stellte sich vor, wie er ihr das Gesicht ein für alle Mal wegblasen würde. Ihr den Kopf wegpusten würde. Aber der Augenblick ging vorüber.

Sie stand auf und begann, noch mehr Tee zu kochen.

»Ich mach dir Frühstück, und danach kannst du ein Bad nehmen.«

Er starrte sie an, den Revolver weiterhin auf sie gerichtet, nun jedoch in Brusthöhe.

June lächelte traurig. »Bring es hinter dich, Joey. Eines Tages wirst du es sowieso tun, also warum nicht jetzt, wo es mich einen feuchten Dreck kümmert.«

Susan nahm ihm die Waffe sanft aus der Hand, während sich Debbie in den Armen ihrer Großmutter verbarg. Ivy war aschfahl geworden – nicht etwa, weil ihr Sohn seine Frau hatte umbringen wollen, sondern bei dem Gedanken daran, dass er ins Kittchen wandern könnte. Joey war der Freifahrtschein für ihr Leben als gemeine alte Hexe. Die Leute ließen sie nur deshalb in ihre Häuser, weil sie Angst vor ihm hatten.

Susan trug den Revolver schweigend ins Badezimmer und ließ ihn in die Kloschüssel gleiten. Sie hatte einmal einen Film gesehen, in dem eine Pistole in Wasser getaucht worden war, um sie funktionsunfähig zu machen. Sie hoffte, dass dies stimmte.

Als die Waffe in die Schüssel fiel, klickte der Abzug, doch alles blieb still. Susan seufzte schwer.

Der Revolver war noch nicht einmal geladen. Ihr Vater hatte sie alle für nichts und wieder nichts leiden lassen.

Susan klappte den Klodeckel wieder hinunter und kehrte in die Küche zurück. Debbie saß jetzt auf dem Schoß ihres Vaters, und Oma schenkte ihm gerade einen großen Scotch ein. Einen Kater kurierte man am besten, indem man damit wieder anfing, womit man aufgehört hatte, hieß es.

Nachdem sich die Anspannung gelöst hatte, herrschte in der Küche nun eine geradezu friedfertige, kameradschaftliche Stimmung. Susan zog ihren alten Mantel und die Gummistiefel an und schlich aus dem Haus. Sie sollte in dieser Woche bei der Schulaufführung den Engel Gabriel spielen und hatte kein Kostüm, nichts, womit sie sich verkleiden konnte. Die Flügel hatte ihre Lehrerin gebastelt, aber sie hatte versprochen, sich um das Engelskostüm selbst zu kümmern.

Sie brauchte unbedingt ein Bettlaken ...

Als Susan die Stufen zur Straße hinunterging, sah sie die Leinen, die selbst an diesem kalten Wintermorgen voller Wäsche hingen. Dort drüben wehte ein herrliches weißes Laken im Wind, makellos und strahlend.

Susan lächelte in sich hinein.

Den ganzen Nachmittag lang wartete sie, belauerte das Laken und versicherte sich, dass niemand es hereinholte. Sobald es dunkel war, riss sie es von der Leine und verbarg es unter ihrem Mantel. Ein letzter Blick, um festzustellen, ob jemand sie gesehen hatte, dann rannte sie wie der Wind zurück ins Haus.

Drinnen sah alles wieder rosig aus. Ihr Vater saß auf dem Sofa, ihre Mutter hatte es sich auf seinem Schoß bequem gemacht, Oma war gegangen und Debbie war sauer, weil ausnahmsweise einmal sie den Nachmittagstee und die Sandwiches hatte zubereiten müssen.

»Was hast du da unter deinem Mantel?«, fragte sie schrill und versuchte, das Laken hervorzuzerren, doch Susan schubste sie grob zurück.

»Hau ab, Debbie, das gehört mir.«

Debbie lief in das Wohnzimmer und schraubte ihre Stimme zur vollen Lautstärke hoch. »Mama, Papa, Sue hat jemandem die Wäsche gestohlen und unter ihrem Mantel versteckt. Ich hab es genau gesehen, aber sie rückt sie nicht raus.«

Joey warf seinen Töchtern einen Blick zu. »Was hast du da, Sue?« Er klang gelangweilt.

»Ich habe ein Bettlaken geklaut, um daraus mein Engelskostüm für die Schulaufführung zu machen. Ich hab dir doch erzählt, dass ich den Engel Gabriel spiele.«

»Ich dachte immer, Engel müssten hübsch sein ... Was ist los, sind denen in der Schule die Kinder ausgegangen?«

Susan schwieg.

»Wem gehört denn das blöde Laken?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, aber keiner hat gesehen, wie ich es genommen habe.«

June seufzte. »Lass sie in Ruhe, sie hat es eben geklaut. Und jetzt gehört es ihr.« Sie lächelte ihrer Tochter zu. »Geh in dein Zimmer, ich komme gleich und mach dir eine Toga, wie die Römer sie trugen. Die sieht genauso aus wie ein Engelskostüm, Schätzchen.«

Susan lächelte strahlend. »Danke, Mama.«

Sie lief in ihr Zimmer, legte sich auf das Bett und träumte davon, ein Engel zu sein, wenn auch ein hässlicher.

Schließlich – so sagte sie sich – konnte man nicht alles haben. Was sie im Augenblick hatte, genügte ihr vollauf.

KAPITEL DREI

Susan McNamara lachte, lachte wahrhaftig laut heraus, und ihre Klassenlehrerin Miss Castleton beobachtete sie, erstaunt über die Veränderung bei der Dreizehnjährigen, die für gewöhnlich verdrießlich und still war.

Da Weihnachten vor der Tür stand, führte Miss Castleton ihrer Klasse Zeichentrickfilme vor. Sie hatten mit Schneewittchen begonnen und beendeten das Programm nun mit Tom und Jerry. Alle Schülerinnen lachten, doch es war Susans Gesicht, das die Lehrerin fesselte, weil es endlich einmal offen wirkte und Freude zeigte. Sie sah strahlend aus.

Obwohl Susan stets ordentlich gekleidet war, machte sie sonst meist einen trostlosen, verlorenen Eindruck – als würde sie ständig auf etwas warten. Worauf, das blieb im Unklaren, aber es war, als würde sie sich morgens anziehen, sich das Haar kämmen und sich dann der wichtigsten Aufgabe des Tages zuwenden: dem Warten.

Auf was?, fragte sich Karen Castleton wieder und wieder.

Jedes Mal, wenn sich eine Tür öffnete, blickte Susan mit halb ängstlicher, halb erwartungsvoller Miene hin. Vor allem in letzter Zeit.

Während der vergangenen Wochen hatte sie noch größere Zurückhaltung an den Tag gelegt als gewöhnlich. Dagegen wirkte sie heute geradezu lebhaft.

Miss Castleton führte dies auf die herannahenden Weihnachtsferien und die Abwechslung im Stundenplan zurück.

Als Einzelgängerin beschäftigte sich Susan meistens allein in der Schulbibliothek, vertiefte sich in Bücher und Musik. Die Bibliothekarin, eine ziemlich maskulin aussehende Frau namens Gloria Dangerfield, hielt das Mädchen für eine frustrierte Akademikerin, die an einer Art Wortblindheit litt.

Alle anderen glaubten, dass sie deshalb so oft in der Bibliothek war, weil kein anderer Schüler sie je betrat, es sei denn, unter Zwang oder als Bestrafung. Es war einfach ein Ort, an dem sie sich verstecken und warten konnte, bis es Zeit wurde, nach Hause zu gehen.

Karen Castleton war mittleren Alters, von einer herben Schönheit und gehandikapt durch ihre privilegierte Herkunft. Die Verhältnisse an der St Jude’s Secondary School hatten ihr einen wahren Kulturschock versetzt. Sie hatte nicht gewusst, dass Flüche und Fäkalausdrücke zum ganz normalen Wortschatz dieser Kinder gehörten, dass die Bestrafung einer Schülerin dazu führen konnte, dass am folgenden Tag eine stämmige Frau mit Bauarbeiterarmen in die Schule stürmte und drohte, ihr das Herz herauszureißen, und dass das Buchstabieren eines einfachen Wortes die Mehrheit ihrer Schüler vor unlösbare Probleme stellte.

Kurz gesagt durchlief Miss Castleton selbst einen Lernprozess und musste sich eingestehen, dass ihr dies ausgesprochen guttat. Es war ein Segen, diese Welt mit eigenen Augen zu sehen. Eines Tages würde sie einen Roman darüberschreiben – sie konnte sich durchaus vorstellen, Schriftstellerin zu werden. Aber bis es so weit war und sie die durchschnittlichen 2,5 Kinder, ein Haus und einen großen zotteligen Hund besaß, würde sie weiterhin ihre Milieustudien im East End betreiben, wo den Mädchen einfach nur geraten wurde, auf Mutterschaft oder Heirat zu warten (egal, was von beidem zuerst kam), und die Jungen lernten, dass sie später entweder in einer Fabrik oder einem Lagerhaus arbeiten würden.

Es war alles so deprimierend.

Miss Castleton betrachtete ihre Klasse und wusste instinktiv, dass der Großteil der Mädchen bereits über irgendeine Art von sexueller Erfahrung verfügte. Sie kleisterten sich mit Schminke zu und rauchten. Und wenn sie genug Geld für eine Flasche Apfelwein übrighatten – was offenbar bei den meisten der Fall war –, tranken sie auch.

Während die Schülerinnen ihre Sachen in abgenutzten Tragetaschen verstauten, beobachtete die Lehrerin, wie Susan McNamara die Weihnachtskarten einpackte, die sie erhalten hatte. Der leeren Pappschachtel auf ihrem Tisch nach zu urteilen, hatte sie selbst keine Karten geschrieben.

Miss Castleton war sich bewusst, dass Susans familiäre Verhältnisse selbst nach den Maßstäben des East End als schlecht galten. Ihre Mutter lebte mit einem berüchtigten Verbrecher zusammen, und ihr Vater zog seine beiden Töchter allein groß, unterstützt von seiner alten Mutter und finanziellen Zuwendungen des neuen Liebhabers seiner Frau.

Der Klassenraum leerte sich. Susan wünschte ihren Mitschülerinnen frohe Weihnachten und kramte in ihrer Tasche, als suche sie etwas.

Als alle anderen gegangen waren, rief Miss Castleton dem Mädchen zu: »Ich wünsche dir ein frohes Fest, Susan!«

»Fröhliche Weihnachten, Miss Castleton«, erwiderte sie leise. Ihre Stimme klang belegt.

»Freust du dich schon auf das Fest und all die Ausgelassenheit?«

Susan McNamara starrte ihre Lehrerin an, als sei sie gerade von einer grünen Wolke gestiegen. »Freuen Sie sich denn?«

Die prompte Gegenfrage brachte sie aus dem Konzept. Sie bemühte sich um eine Antwort, lächelte dann jedoch und sagte ehrlich: »Nein, nicht wirklich.«

Dies schien das Mädchen aufzumuntern. Miss Castleton ließ sich auf einer Ecke ihres Pults nieder und erklärte: »Ich muss hinunter nach St. Ives fahren, weil sich meine Eltern vor ein paar Jahren dorthin zurückgezogen haben. Der Ort ist eine Art Künstlerkolonie, die beiden malen. Allerdings nicht besonders gut, aber Hauptsache, sie haben Spaß daran. Ich persönlich finde St. Ives langweilig, dort leben fast nur alte Menschen. Und wie verbringst du die Feiertage?«

Susan dachte einen Augenblick lang nach, bevor sie antwortete. »Heiligabend gehe ich für ein paar Stunden zu meiner Mutter und meinem Onkel Jimmy, dann muss ich nach Hause und mit den Vorbereitungen für den ersten Weihnachtstag anfangen. Ich koche jetzt immer das Essen. Meine Oma sagt, sie ist zu alt, um sich ständig um uns zwei zu kümmern.«

»Und was machst du am ersten Weihnachtstag?«

»Erst gehe ich in die Mitternachtsmesse, und wenn ich zurückkomme, sehe ich noch einmal nach, ob in der Küche alles in Ordnung ist. Sie wissen schon – die Pute muss die ganze Nacht im Ofen schmoren, und die Pastinaken werden in Brandy eingelegt, damit sie ein bisschen Pfiff bekommen. Und am Weihnachtsmorgen werde ich aufstehen, meine Geschenke auspacken und wahrscheinlich lesen. Ich hoffe, dass ich den Kleinen Hobbit bekomme. Meine Mutter hat versprochen, das Buch für mich zu besorgen. Ich finde es so toll und leihe es mir immer wieder aus der Bücherei aus. Wie verbringen Sie Weihnachten?«

»Meine Eltern werden mich bestimmt von vorn bis hinten bedienen. Sie vermissen mich sehr. Ich verrate dir mal ein kleines Geheimnis: Sie können absolut nicht verstehen, dass ich hier unterrichte. Sie sahen mich schon als Lehrerin in einem Mädcheninternat – wie in Bunty. Du weißt schon – alles dreht sich um Hockeyspiele und Ingwerlimonade!«

Susan erwiderte ihr Lächeln nicht, sondern nickte mit ernstem Gesicht. »Das ist doch klar, oder? Diese Gegend ist ja auch ziemlich beschissen. Aber Sie sind immerhin freiwillig hier, nicht wahr? Wir dagegen hatten keine Wahl. Mir würde es gefallen, so zu leben wie die Mädchen in Bunty. Das würde mir schon genügen.« Dann fügte sie hinzu: »Fröhliche Weihnachten, Miss. Und gute Reise zu Ihren Eltern.«

Karen Castleton wurde bewusst, dass ihr gerade eine Abfuhr erteilt worden war, und die Erkenntnis enervierte sie. Sie blickte dem pummeligen Mädchen mit den riesigen Brüsten nach, bis es verschwunden war. Mr Reynaldo, der das Gespräch vom Korridor aus mit angehört hatte, kam lachend herein.

»Sie werden keiner von ihnen je wirklich nahekommen, meine Liebe. Für die sind wir der Feind. Ich zwinge diesen Kindern jetzt seit zehn Jahren mein Wissen auf, und es ist reine Zeitverschwendung. Sie wissen mehr über das Leben, als wir jemals erfahren werden. Sie können nichts dafür, sie werden von Anfang an mit sämtlichen Facetten der menschlichen Existenz konfrontiert. Und jeder, der auch nur ein bisschen Autorität verkörpert, ist der Feind, egal, ob es sich um uns, die Polizei oder einen Ladenbesitzer handelt. So werden sie erzogen. McNamara hat Sie in die Schranken gewiesen. Sie haben die Art von Eltern beschrieben, für die sich das Mädchen beide Arme abhacken würde, und sich dann über sie lustig gemacht. In McNamaras Augen sind Sie eine verwöhnte Schnepfe, wie man hier sagt. Wie Sie sehen, habe ich mir sogar schon den Jargon angeeignet.«

Wie die meisten männlichen Lehrkräfte hatte auch er sich von Karens dunklen Haaren und fröhlichen blauen Augen angezogen gefühlt, doch ihr zurückhaltendes Wesen und die Tatsache, dass sie keinen Spaß verstand, hatten nach und nach alle abgeschreckt. Deshalb gefiel ihm jetzt die Demütigung, die sie erfahren hatte, und das wusste sie auch.

Karen hatte den Eindruck, eine Niederlage erlitten zu haben, und fühlte sich mehr denn je fehl am Platz. Mr Reynaldo verließ das Klassenzimmer, ohne sich zu verabschieden.

Sie klappte den Deckel ihres Pults hoch und entdeckte einen Umschlag. Er enthielt eine teure Weihnachtskarte mit Rotkehlchen und viel Silberglimmer. In runder, kindlicher Handschrift stand darauf: Fröhliche Weihnachten und ein gutes Jahr 1966 wünschen Ihnen Susan McNamara und Familie.

Während Karen die Karte betrachtete, spürte sie, wie sich ein dicker Kloß in ihrem Hals bildete. Mr Reynaldo hatte Recht – sie hatte etwas lächerlich gemacht, für das Susan alles gegeben hätte: eine normale Familie.

Karen Castleton ahnte, dass sie im neuen Jahr nicht wiederkommen würde. St. Ives schien ihr plötzlich sehr verlockend. Die Idee, durch die Arbeit in einem Viertel wie diesem hier die Welt zu retten, hatte all ihren Glanz verloren. Karen schloss das Pult, steckte die Karte in ihre Tasche und ging. Sie würde nie mehr hierher zurückkehren.

Dumme Ziege!, schoss es Susan durch den Kopf. Sie hatte Miss Castleton wirklich gerngehabt, hatte die Art gemocht, wie sie für sich blieb und wie sie sich anzog. Hatte sie für eine Verbündete gehalten, für eine Freundin.

Doch sie war genau wie die anderen, sah in Susan nur das arme, dumme kleine Mädchen mit dem großen Vorbau. Ach, die konnte sie mal.

Zwei Shilling und sechs Pence hatte diese Karte gekostet, eine verdammte halbe Krone! Die Verkäuferin hatte das Geld so sorgfältig nachgezählt, als wüsste sie genau, dass Leute wie Susan nur einmal im Leben eine Karte in dieser Preisordnung kauften.

Ach, diese alte Schachtel konnte sie auch mal.

In Gedanken fluchte Susan weiter. Sie wusste, dass sie damit aufhören sollte, aber wenigstens konnte sie auf diese Weise Dampf ablassen und ihrer Wut Luft machen.

Sie war sich sehr wohl darüber im Klaren, wer sie war und wie sie leben musste, aber durch die Bücher hatte sich ihr eine neue Welt erschlossen, und sie sehnte sich danach, an dieser anderen Welt teilzuhaben, auch wenn sie wusste, dass dies nur ein frommer Wunsch war.

»Einen Penny für deine Gedanken!«