7,99 €
Robert E. Howard - der Schöpfer von Conan, dem Barbaren – hat neben seinen berühmten Romanen vor allem auch ein umfangreiches Werk an farbenprächtigen, spannenden Fantasy-Erzählungen geschaffen, die in ihrem Einfallsreichtum zeitlos sind und bis heute nichts von ihrer archaischen Kraft und ihrer Wirkung verloren haben.
Der Band Die Geister der Nacht versammelt neben der titelgebenden Erzählung noch acht weitere Storys: Der Garten der Furcht, Der graue Gott stirbt, Der Herr von Samarkand, Der Marsch nach Walhall, Das Tal des Wurms, Der Donner-Reiter, Zwei gegen Tyrus sowie die zum Cthulhu-Mythos gehörende Erzählung Das Volk der Dunkelheit.
Als besondere Ergänzung enthält dieser Band überdies das Gedicht Des Träumers Lohn in der deutschen Übersetzung von Dr. Helmut W. Pesch.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2018
ROBERT E. HOWARD
Die Geister der Nacht
Erzählungen
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Die Geister der Nacht
Der Garten der Furcht
Der graue Gott stirbt
Der Herr von Samarkand
Der Marsch nach Walhall
Das Tal des Wurms
Der Donner-Reiter
Zwei gegen Tyrus
Das Volk der Dunkelheit
Des Träumers Lohn
Einzelnachweise
Robert E. Howard - der Schöpfer von Conan, dem Barbaren – hat neben seinen berühmten Romanen vor allem auch ein umfangreiches Werk an farbenprächtigen, spannenden Fantasy-Erzählungen geschaffen, die in ihrem Einfallsreichtum zeitlos sind und die bis heute nichts von ihrer archaischen Kraft und ihrer Wirkung verlorenen haben.
Der Band Die Geister der Nacht versammelt neben der titelgebenden Erzählungen noch acht weitere Storys: Der Garten der Furcht, Der graue Gott stirbt, Der Herr von Samarkand, Der Marsch nach Walhall, Das Tal des Wurms, Der Donner-Reiter, Zwei gegen Tyrus sowie die zum Cthulhu-Mythos gehörende Erzählung Das Volk der Dunkelheit .
Als besondere Ergänzung enthält dieser Band überdies das Gedicht Des Träumers Lohn in der deutschen Übersetzung von Dr. Helmut W. Pesch.
Robert Ervin Howard (* 22. Januar 1906, + 11. Juni 1936).
Robert Ervin Howard war ein US-amerikanischer Autor von Fantasy-, Abenteuer- und Horrorgeschichten sowie mehrerer Westernromane. Er gilt als stilprägender Vertreter der Low Fantasy.
Howard wuchs in der kahlen und trockenen Landschaft von West-Texas auf und unternahm nur wenige Reisen. Als Heranwachsender arbeitete er auf den örtlichen Ölfeldern; darüber hinaus arbeitete er als Baumwollpflücker, Cowboy, Verkäufer, in einem Rechtsanwaltsbüro, als Landvermesser und als Journalist, bevor er sich durch den Verkauf seiner Geschichten an diverse Pulp-Magazine - vor allem Weird Tales, Thrilling Adventures, Argosy und Top-Notch - ein regelmäßiges Einkommen sichern konnte.
Seine erste Geschichte Spear And Fang verkaufte er im Jahre 1924 an Weird Tales. Dies war der Start einer ebenso kurzen wie beeindruckenden (und vor allem: nachwirkenden) Karriere als Schriftsteller: In den Folgejahren erschuf Howard seine bekanntesten Zyklen um Conan den Cimmerier, Kull von Atlantis, den Pikten Bran Mak Morn, den irischen Piraten Turlogh O’Brien und den englischen Puritaner Solomon Kane.
Die meisten Helden in Howards literarischem Nachlass sind latent depressiv (Solomon Kane, Turlogh O’Brien, Kull von Atlantis), was biographische Bezüge vermuten lässt. Lediglich Conan ist ein tendenziell naiver, von keinen Skrupeln oder tieferen Gefühlen berührter Abenteurer und Krieger. Über den Charakter Conan, der - vor allem auch durch die Verfilmungen in den Jahren 1982 und 1984 (beide mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle) sowie 2011 (mit Jason Momoa in der Rolle des Barbaren) - wohl die populärste der von ihm geschaffenen Figuren ist, sagte er, sie sei die realistischste von allen, da sie eine intuitive Kombination diverser Männer darstelle, mit denen er in seinem Leben zu tun gehabt habe.
Viele von Howards Fantasy-Geschichten spielen vor dem Hintergrund des – fiktiven – Hyborischen Zeitalters.
Howard war ein Brieffreund H. P. Lovecrafts, der auch Einfluss auf Howards Geschichten ausübte. Umgekehrt geht das fiktive Buch Unaussprechliche Kulte, dessen Erfindung häufig Lovecraft zugeschrieben wird, auf Howard zurück.
Robert E. Howard Howard beendete sein Leben im Alter von 30 Jahren durch Selbstmord. Als seine kranke Mutter ins Koma fiel und wenig Hoffnung auf Genesung bestand, stieg er in seinen Wagen und erschoss sich in der Einfahrt zu seinem Haus.
»Hat er einen Geist der Nacht gesehen? Lauschte er jenen, die in der Finsternis lauern?«
Seltsame Worte für ein Fest in Naram-ninubs heiterer Halle, wo Lautenklänge die Gäste unterhielten, wo die Springbrunnen plätscherten und die Frauen fröhlich lachten. Die gewaltige Halle verriet den Reichtum ihres Herrn nicht nur durch ihre Größe, sondern durch den Prunk ihrer Ausstattung. Die Wände waren mit einem kostbaren Emaille-Bezug in leuchtenden Farbmustern bedeckt, unterbrochen von Platten aus gehämmertem Gold. Schwer hing der Duft von seltenem Räucherwerk in der Luft, vermischt mit jenem der exotischen Blüten im Garten außerhalb der Halle. Die Gäste - Nippurs Adel in prachtvollen Seidengewändern - hatten es sich auf weichen Satin-Kissen bequem gemacht. Sie tranken Wein aus Alabasterschalen und liebkosten die bemalten und mit Juwelen geschmückten Sklavinnen, die mit Naram-ninubs Reichtum in allen Teilen des geheimnisvollen Ostens erstanden worden waren.
Dutzende dieser Sklavinnen gab es hier. Ihre Weißen Glieder wiegten sich grazil im Tanz oder schimmerten wie Elfenbein auf den Kissen der Gäste. Eine glitzernde Tiara ragte aus der Fülle nachtschwarzen Haares; kostbare Steine funkelten am schweren Goldband am Arm einer Schönen; Ringe aus geschnitztem Jade baumelten von zierlichen Ohren. Schmuck wie dieser war die einzige Bekleidung dieser zauberhaften Sklavinnen. Ihr Duft war betörend. Sie kannten keine Scham in ihren Tänzen, in ihrer Unterhaltung oder ihren Zärtlichkeiten. Ihr silberhelles Lachen übertönte oft die stimmungsvollen Lautenklänge.
Auf einer mit Seidenkissen gepolsterten Plattform saß der Gastgeber. Mit sinnlichen Bewegungen strich er über die glänzenden Locken einer anmutigen Araberin, die sich auf den Kissen neben ihm ausgestreckt hatte. Seine wachsamen Augen, deren Blick immer wieder über seine Gäste streifte, straften den Eindruck eines die Bequemlichkeit liebenden Lüstlings Lügen. Er war von dicklicher Gestalt mit gestutztem blau-schwarzen Bart: ein Semit - einer von vielen, die es jährlich nach Sumer verschlug.
Mit einer Ausnahme waren seine Gäste alle Sumerer mit kahlgeschorenem Kinn und Kopf. Sie waren wohlbeleibt durch ihr Leben in der Völlerei, und ihre Züge waren glatt und zufrieden. Die erwähnte Ausnahme bildete einen erstaunlichen Kontrast zu ihnen: Größer als sie war dieser Mann, und er hatte nichts von ihrer Weichheit und Glätte an sich. Ihn hatte die Sparsamkeit der unerbittlichen Natur geformt. Sein Aussehen war nicht das des kultivierten Athleten, sondern das eines kraftstrotzenden Wilden. Er war die fleischgewordene Kraft - ungezähmt, hart, wölfisch - mit seinen breiten, muskulösen Schultern, dem sehnigen Hals, dem schwellenden Brustkasten, den geschmeidigen Gliedern. Die blauen Augen unter der goldenen Lockenmähne glitzerten wie Eis. Seine scharfgeschnittenen Züge spiegelten die Wildheit wider, die sein mächtiger Körper ahnen ließ.
Nichts von einem geruhsamen Genießer, wie die anderen Gäste es zweifellos waren, war an ihm. Jede seiner Bewegungen verriet seine unbeugsame Geradlinigkeit. Während sie an ihren Schalen nippten, trank er in tiefen Zügen; wo sie geziert von den dargebotenen Delikatessen naschten, packte er eine ganze Fleischkeule mit den Händen und riss mit den Zähnen daran. Und doch war sein Blick umwölkt, sein Ausdruck düster - seine sonst so offenen Augen waren nach innen gerichtet.
Deshalb flüsterte Prinz Ibi-Engur erneut in Naram-ninubs Ohr: »Hat Lord Pyrrhas dem Wispern der Nachtgeschöpfe gelauscht?«
Naram-ninub musterte seinen Freund besorgt. »Nun kommt, mein Lord«, sagte er. »Ihr erscheint mir seltsam abwesend. Hat jemand hier etwas getan, das Euch beleidigte?«
Pyrrhas riss sich aus seinen unerfreulichen Gedanken und schüttelte den Kopf. »Durchaus nicht, mein Freund. Wenn ich Euch abwesend erscheine, so liegt das nur an einem Schatten über meinem Geist, der mir zu schaffen macht.« Seine Aussprache war barbarisch, doch der Klang seiner Stimme stark und schwungvoll.
Die übrigen blickten ihn interessiert an. Er war Eannatums Söldnergeneral, ein Argiver, dessen Legende schon zu dieser Zeit einem Epos gleichkam.
»Geht es um eine Frau, Lord Pyrrhas?«, fragte Prinz Enakalli lachend.
Der Söldnergeneral fixierte ihn düster. Dem Prinzen lief ein kalter Schauder über den Rücken.
»Ja, in der Tat - eine Frau«, murmelte der Argiver. »Eine, die mir meine Träume zur Hölle macht und die wie ein Schatten zwischen mir und dem Mond schwebt. Im Schlaf spüre ich ihre Zähne an meiner Kehle, und ich erwache vom Flattern schwerer Flügel und dem Heulen einer Eule.«
Schweigen senkte sich über die Gruppe auf der Plattform, doch in der großen Halle darunter herrschte weiter laute Fröhlichkeit. Die Gäste unterhielten sich, die Lauten spielten, ein Mädchen lachte laut. Es klang jedoch ein merkwürdiger Ton aus ihrem Lachen. »Ein Fluch liegt auf ihm«, flüsterte die Araberin.
Naram-ninub legte einen Finger auf ihren Mund und wollte gerade sprechen, als Ibi-Engur lispelte: »Mein Lord Pyrrhas, was Ihr sagt, hört sich unheimlich an, als verfolge Euch die Rache eines Gottes. Habt Ihr vielleicht etwas getan, das eine Gottheit beleidigt haben könnte?«
Naram-ninub biss sich verärgert auf die Lippen. Es war allgemein bekannt, dass der Argiver während des Feldzugs gegen Erech einen Prinzen namens Anus in dessen Schrein niedergestochen hatte.
Pyrrhas' Kopf zuckte hoch, und der General starrte Ibi-Engur an, als wäre er sich nicht sicher, ob er diese Bemerkung als Bosheit des Prinzen oder lediglich als unüberlegte Taktlosigkeit auslegen sollte. Der Prinz erbleichte. Glücklicherweise setzte sich in diesem Augenblick die schlanke Araberin auf die Knie und fasste Naram-ninubs Arm.
»Seht Euch Belibna an!«, rief sie und deutete auf das Mädchen, das kurz zuvor so eigenartig gelacht hatte.
Die Gäste, die um sie herumgesessen hatten, zogen sich erschrocken von ihr zurück. Sie schien es nicht einmal zu bemerken. Heftig warf sie ihren mit Edelsteinen geschmückten Kopf zurück und stieß ein schrilles Gelächter aus, das in der plötzlich stillen Halle widerdröhnte. Ihr graziler Körper wiegte sich vor und
zurück, ihre Armreifen schlugen klingelnd gegeneinander, als sie ihre Weißen Arme in die Höhe riss. Ein gefährliches Feuer brannte in ihren dunklen Augen. Ihre
roten Lippen verzogen sich in unnatürlicher Heiterkeit.
»Arabus Hand ruht auf ihr«, flüsterte die Araberin beunruhigt.
»Belibna!«, rief Naram-ninub scharf.
Wildes Gelächter antwortete ihm, und das Mädchen schrie schrill: »Auf das Haus der Finsternis, das Heim Irhallas; auf den Pfad ohne Widerkehr! Oh, Apsu, bitter ist dein Wein!«
Ihre Stimme überschlug sich in einem gellenden Schrei. Sie schnellte sich mit einem Dolch in der Hand auf die Plattform. Von Panik erfüllt machten ihr Kurtisanen und Gäste Platz; sie stürzte sich auf Pyrrhas, ihr liebliches Gesicht eine Fratze unbeherrschter Wut. Der Argiver packte ihr Handgelenk. Den eisernen Muskeln des Barbaren unterlag selbst die übermenschliche Kraft des Wahnsinns. Er schleuderte sie von sich, die mit Kissen bedeckten Stufen hinab, wo sie wie ein Häufchen Elend liegenblieb - mit dem eigenen Dolch im Herzen, auf den sie beim Aufprall gestürzt war.
Die lautstarke Unterhaltung, die so plötzlich verstummt war, wurde schnell wiederaufgenommen, als Bedienstete die Leiche fortschafften und die bemalten Tänzerinnen zu ihren Kissen zurückkehrten. Aber Pyrrhas drehte sich um und ließ sich von einem Sklaven seinen weiten roten Umhang bringen, den er sich um die Schultern warf.
»Bleibt doch, mein Freund«, bat Naram-ninub. »Wir wollen uns durch diese kleine Störung nicht von unserem Vergnügen abbringen lassen. Ein Anfall von Wahnsinn ist nichts Seltenes.«
Pyrrhas schüttelte gereizt den Kopf. »Nein, ich bin des Trinkens und des Prassens ohnedies müde. Ich kehre nach Hause zurück.«
»Dann beenden wir das Fest!«, erklärte der Semit. Er erhob sich und klatschte in die Hände. »Meine eigene Sänfte wird Euch zu dem Haus bringen, das der König Euch zugewiesen hat. Verzeiht, ich vergaß, dass Ihr es verabscheut, Euch von Menschen tragen zu lassen. Dann werde ich Euch persönlich nach Hause bringen. Meine Herren, wollt ihr uns begleiten?«
»Wie bitte? Wir soll gleich einfachen Bürgern zu Fuß gehen?«, stotterte Prinz Urilishu. »Bei Enil, ich komme mit. Das ist fürwahr mal etwas anderes. Aber ich benötige einen Sklaven, der mir die Schleppe meines Gewandes trägt, da- mit sie nicht im Staub der Straße schleift. Erhebt euch, Freunde! Bei Ischtar, wir alle begleiten Lord Pyrrhas nach Hause!«
»Ein merkwürdiger Mann«, lispelte Ibi-Engur Libitishbi zu, als die kleine Gesellschaft aus dem prunkvollen Palast trat und den breiten, von Bronzelöwen bewachten Treppenaufgang hinunterschritt. »Wie ein einfacher Händler läuft er ohne Dienerschaft durch die Straßen!«
»Achtet auf Eure Worte«, warnte der andere leise. »Sein Grimm ist schnell geweckt. Und er steht hoch in der Gunst Eannatums.«
»Doch selbst die Schützlinge des Königs wären besser beraten, nicht den Zorn Anus' auf sich zu ziehen«, erwiderte Ibi-Engur mit genauso leiser Stimme.
Gemächlich schritt die vornehme Gesellschaft durch die breite Weiße Straße, bestaunt von den einfachen Bürgern, die ihre kahlgeschorenen Köpfe neigten, als sie an ihnen vorüberkam. Erst kürzlich war die Sonne aufgegangen, doch das Volk Nippurs ging bereits seinem Tagwerk nach. Ein reger Verkehr herrschte zwischen und um die Stände der Kaufleute. Handwerker, Händler, Sklaven, Huren und Soldaten in Kupferhelmen drängten sich hier Seite an Seite. Dort schritt ein Kaufmann aus seinem Lager, eine gesetzte Gestalt in wollenem Gewand, von dem ein heller Mantel nur wenig frei ließ; hier eilte ein Sklave in weißer Leinen-Tunika dahin, und da rannte ein junges Ding, dessen kurzer Schlitzrock bei jedem Schritt die festen Schenkel enthüllte. Über ihnen erwärmte sich das Blau des Himmels unter den Strahlen der langsam höher steigenden Sonne. Die flachen, glänzenden Dächer der drei- bis vierstöckigen Häuser schimmerten in ihren Strahlen. Nippur war eine Stadt aus sonnengetrockneten Ziegeln, aber ihre emaillierte Fassade in vielen leuchtenden Farben verlieh ihr den Ausdruck steter Heiterkeit.
Irgendwo betete ein Priester: »Oh, Babbat, Rechtschaffenheit neigt dir das Haupt zu...«
Pyrrhas unterdrückte einen Fluch. Sie kamen an Enlils großem Tempel vorbei, der sich dreihundert Fuß in den blauen Himmel hob. »Die Türme sehen aus, als wären sie ein Teil des Firmaments«, brummte er und schob sich eine vom Schweiß feuchte Locke über die Stirn zurück. »Der Himmel ist emailliert, und das hier ist eine Welt, von Menschen geschaffen.«
»Nein, Freund«, widersprach Naram-ninub. »Ea erschuf die Welt aus dem Leibe Tiamats.«
»Ich behaupte: Menschen erbauten Sumer!«, rief Pyrrhas, dem der genossene Wein aus den Augen glänzte. »Ein flaches Land ist es, eine Festtafel von Land, mit Flüssen und Städten darauf gemalt und einem Himmel aus blauem Emaille darüber. Bei Ymir, ich bin in einem Land geboren, das die Götter schufen! Hohe blaue Berge schauen dort auf die winzigen Menschen herab. Täler wie lange Schatten liegen dazwischen, und die schneebedeckten Gipfel glitzern blendend in der Sonne. Bäche rauschen schäumend mit immerwährender Gewalt die Felswände herab, und die breiten Blätter der Bäume schütteln sich im heftigen Wind.«
»Auch ich wurde in einem weiten Land geboren. Pyrrhas«, erklärte ihm der Semit. »Nachts schläft die Wüste weiß und atemberaubend in ihrer Unendlichkeit unter dem Schein des Mondes, und bei Tag erstreckt sie sich in brauner, sandiger Weite unter der Sonne. Doch Reichtum und Ruhm liegen in den von Leben erfüllten Städten, diesen Bienenstöcken aus Bronze und Gold und Emaille und Menschen.«
Pyrrhas öffnete gerade die Lippen zu einer Erwiderung, als ein lautes Wehklagen seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Eine Prozession schob sich die Straße abwärts. Auf einer geschnitzten und bemalten Tragbahre lag eine unter Blumen verborgene Figur. Ihr folgte ein Zug junger Frauen, deren knappe Bekleidung in Fetzen von ihnen hing. Sie schlugen sich auf die nackten Brüste und klagten: »Ailanu! Tammuz ist tot!« Die Menge auf der Straße nahm den Schrei auf, bis er von den Häusern widerhallte. Die Bahre, die auf den Schultern ihrer Träger schwankte, zog vorbei. Wo die Blumen weniger dicht gehäuft waren, leuchteten die bemalten Augen eines hölzernen Abbilds hervor. Das Wehklagen der Gläubigen echote in der Straße und verlor sich schließlich in der Ferne.
Pyrrhas zuckte die mächtigen Schultern. »Bald werden sie herumspringen und tanzen und fröhlich jubeln: Adonis lebt! Und die Weiber, die jetzt so bitterlich lamentieren, werden sich vor Entzücken den Männern auf der Straße an die Brust werfen. Wie viele Götter gibt es hier, in Teufels Namen?«
Naram-ninub deutete auf die große Zikkurat Enlils, die wie der Traum eines wahnsinnigen Gottes über der Stadt kauerte. »Seht Ihr die sieben Stufen? Die unterste schwarz, die nächste aus rotem Emaille, die dritte blau, die vierte orange, die fünfte gelb, während die sechste ganz mit Silber bezogen ist und die siebte mit reinem Gold, das im Sonnenlicht wie Feuer brennt? Jede Stufe dieses Tempels ist das Haus eines Gottes: des Gottes der Sonne, des Mondes und der fünf Planeten, die Enlil und sein Stamm als ihr Wappen in den Himmel gesetzt haben. Aber Enlil ist größer als alle anderen, und Nippur ist seine Stadt, die er am meisten liebt.«
»Größer als Anu?«, fragte Pyrrhas und dachte an einen brennenden Schrein und einen sterbenden Priester, der einen schrecklichen Fluch ausstieß.
»Welches Bein eines Dreibeins ist das stärkste?«, entgegnete Naram-ninub.
Pyrrhas setzte zu einer Erwiderung an, als er mit einem Fluch zurückzuckte und sein Schwert zog. Unter seinen Füßen schnellte eine Schlange empor. Ihre gespaltene Zunge schoss wie ein roter Blitz auf ihn zu.
»Was habt Ihr, Freund?«, wunderte sich der Semit, und die Prinzen starrten ihn erstaunt an.
»Was ich habe?« Pyrrhas fluchte lauthals. »Seht ihr denn diese Schlange nicht? Tretet beiseite, damit ich sie mit einem schnellen Hieb erledigen kann...« Er hielt inne, und seine Augen verdüsterten sich in plötzlichem Zweifeln. »Sie ist verschwunden«, murmelte er.
»Ich habe nichts gesehen«, versicherte ihm Naram-ninub. Die anderen schüttelten die Köpfe und tauschten verwunderte Blicke aus.
Der Argiver fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Vielleicht ist es der Wein«, brummte er. »Und doch bin ich sicher, dass ich die Otter sah. Ich schwöre es beim
Herzen Ymirs, ich bin verflucht!«
Die anderen zogen sich unwillkürlich einen Schritt von ihm zurück und musterten ihn besorgt.
Schon immer Pyrrhas, der Argiver, in seinen Träumen von der Ruhelosigkeit seiner Seele gequält - diese Ruhelosigkeit war es gewesen, die ihn auf die lange Wanderschaft getrieben hatte. Sie hatte ihn von den blauen Bergen seiner Rasse südwärts in die fruchtbaren Täler und in die meerumschlungenen Ebenen geführt, wo sich die Hütten der Mykenäer erhoben; und von dort auf die Insel Kreta, wo dunkelhäutige Fischer in einer einfachen Stadt aus unbehauenem Stein und Holz mit den Schiffen aus Ägypten Handel trieben.
Mit einem dieser Schiffe war er nach Ägypten gefahren, wo die Menschen unter der Peitsche ihrer Herren die erste Pyramide errichteten und wo er in den Reihen weißhäutiger Söldner die Kriegskunst erlernte. Doch seine Wanderlust trieb ihn weiter, über das Meer, zu einem Handelsstädtchen an der Küste Kleinasiens, die man Troja nannte. Von dort aus zog er südwärts hinein in das Gemetzel und Brandschatzen von Palästina, wo die ursprünglichen Bewohner des Landes unter den Füßen der barbarischen Kananiter zertrampelt wurden. Und so kam er auf Umwegen schließlich zu den Ebenen Sumers, wo Stadt gegen Stadt kämpfte und wo die Priester einer Unzahl von Göttern gegeneinander Intrigen woben, wie sie es seit Anbeginn der Zeit getan hatten und noch Jahrhunderte danach, bis eine obskure Grenzstadt namens Babylon ihren Stadtgott Merodach über alle anderen Götter als Bel-Marduk, den Bezwinger Tiamats, erhob.
Die Saga von Pyrrhas, dem Argiver, ist farblos und kraftlos - verglichen mit seinem Leben. Sie vermag kaum, die Echos der Heldentaten zu beschreiben, die sie
aufzeichnet - die rauschenden Feste, die Gelage, das wahre Gesicht der Kriege, das Bersten der Schiffe und den Sturm der Streitwagen. Möge es genügen, zu erwähnen, dass Könige den Argiver ehrten und dass in ganz Mesopotamien kein Mann so gefürchtet war wie dieser goldhaarige Barbar, dessen Kriegskünste und Wildheit die Heere Erechs auf dem Schlachtfeld brachen.
Von einer Berghütte hatte Pyrrhas es zu einem Palast aus Jade und Elfenbein gebracht. Doch die fast vergessenen Träume der Kindheit in der armseligen Hütte seines Vaters waren nicht so fremdartig und grauenvoll gewesen wie jene Träume, die ihn im seidenen Bett im Türkis-Turm seines Palasts in Nippur heimsuchten...
Aus diesen Träumen erwachte Pyrrhas plötzlich.
Keine Lampe brannte in seinem Gemach. der Mond war noch nicht aufgegangen, nur das Licht der Sterne suchte sich kraftlos einen Weg durch das Fenster. Und in seinem Schein bewegte sich etwas und nahm Form an. Die vagen Umrisse einer schlanken Gestalt waren zu sehen, das Glitzern eines Auges. Plötzlich drückte die Nacht heiß und still auf Pyrrhas herab. Er hörte das wilde Pochen seines Blutes in den Adern. Weshalb sollte er sich vor einer Frau in seinem Schlafgemach fürchten? Aber nie hatte es eine Sterbliche von so katzengleicher Grazie gegeben, nie hatten die Augen einer Frau in der Dunkelheit gebrannt! Mit einem keuchenden Knurren sprang er aus dem Bett, und seine Klinge schnitt pfeifend durch die Luft - durch die leere Luft. Von irgendwoher drang ein spöttisches Lachen an seine Ohren, aber die Gestalt war verschwunden, Ein Mädchen rannte hastig mit einer Lampe ins Gemach.
»Amytis! Ich habe sie gesehen! Es war kein Traum! Nicht dieses Mal! Sie lachte mich aus!«
Amytis zitterte, als sie die Lampe auf den Ebenholztisch stellte. Sie war ein schlankes, sinnliches Geschöpf mit langen Wimpern, leidenschaftlichen Lippen und einer Fülle glänzender schwarzer Locken. Die Üppigkeit ihrer formvollendeten Gestalt hätte selbst den Verwöhntesten erregt. Sie war ein Geschenk Eannatums, und sie verabscheute ihren Herrn. Er wusste es, aber er fand eine grimmige Genugtuung darin, sie zu besitzen. Doch jetzt überschwemmte ihre Angst den Hass.
»Es war Lilitu!«, stammelte sie. »Sie hat Euch als ihr Eigentum gezeichnet! Sie ist ein Nachtgeist, die Gefährtin Ardat Lilis. Sie kommen aus dem Hause Arabus. Ihr seid verflucht, Herr!«
Seine Hände waren in Schweiß gebadet, statt Blut schien geschmolzenes Eis durch seine Adern zu fließen. »Was kann ich tun? An wen kann ich mich wenden? Die Priester hassen und fürchten mich, seit ich Anus' Tempel niederbrannte.«
»Es gibt einen Mann, der nicht durch den Eid des Priesters gebunden ist«, stieß sie hervor.
»Wie heißt er, Mädchen?« Er zitterte vor Ungeduld. »Seinen Namen!«
Aber bei diesem Anzeichen seiner Schwäche kehrte ihre Bosheit zurück. Nur aus Angst vor dem Übernatürlichen war ihr diese Bemerkung überhaupt entschlüpft. Doch jetzt war ihre Rachsucht neu in ihr erwacht.
»Ich habe ihn vergessen«, antwortete sie frech. Ihre Augen funkelten vor Hass.
»Verdammtes Weibsstück!« Keuchend vor Wut packte er sie am Haar und zog sie an ihren dicken Locken über eine Couch. Dann nahm er seinen Schwertgürtel und versetzte ihr damit unbarmherzige Hiebe. Jeder Schlag hinterließ Striemen wie von einer Peitsche. Immer wieder drückte er ihren sich aufbäumenden nackten Leib zurück und prügelte weiter auf sie ein. Er war derart vom Wahnsinn seines Zorns erfüllt, dass es eine Weile dauerte, bis ihm klar wurde, dass sie in ihrer Pein einen Namen hinausschrie. Er stieß sie von der Couch, dass sie auf dem Boden zusammensackte, warf den Gürtel von sich, stupste sie mit den Zehenspitzen und funkelte auf sie hinab.
»Gimil-ishbi, richtig?«
»Ja!«, schluchzte sie und wand sich in kaum erträglichem Schmerz auf dem Teppich. »Er war Priester Enlils, bis er zum Teufelsanbeter wurde und man ihn verbannte. Ahhh, meine Sinne schwinden! Habt Erbarmen! Erbarmen!«
»Und wo kann ich ihn finden?«
»Im Hügel Enzus, westlich der Stadt. Oh, Enlil! Ich sterbe!«
Pyrrhas wandte sich von ihr ab und schlüpfte schnell in sein Gewand und die Rüstung, ohne nach einem Sklaven zu rufen, ihm dabei behilflich zu sein. An den schlafenden Bediensteten schritt er vorbei, ohne sie zu wecken. Dann wählte er sein bestes Pferd aus. Es gab insgesamt vielleicht zwanzig in ganz Nippur. Sie waren das Eigentum des Königs und seiner wohlhabenderen Edlen. Erstanden waren sie von den wilden Stämmen weit im Norden, jenseits des Kaspischen Meeres, die sie
aufgezogen hatten. Jedes dieser Tiere war ein Vermögen wert. Pyrrhas legte dem Ross die Zügel um und den Sattel auf, der nicht mehr als ein reichverziertes dünnes Kissen war.
Die Soldaten am Tor starrten ihn erstaunt an, als er vor ihnen anhielt und ihnen befahl, die großen Bronzeflügel zu öffnen, aber sie verbeugten sich und gehorchten, ohne Fragen zu stellen. Sein roter Umhang flatterte hinter ihm her, als er hindurchgaloppierte.
»Enlil!«, fluchte einer der Soldaten. »Der Argiver hat zu viel von Naram-ninubs Wein getrunken!«
»Nein«, widersprach ein anderer. »Hast du nicht gesehen, wie bleich sein Gesicht war und wie seine Hände zitterten? Die Götter haben ihn berührt. Wer weiß, vielleicht reitet er zum Haus Arabus.«
Achselzuckend blickten sie ihm nach und lauschten den Hufschlägen. bis sie sich im Westen verloren.
Nördlich, südlich und östlich von Nippur zogen sich Bauernkaten, Dörfer und Palmenhaine über die Ebene. Auf der ein Netzwerk von Kanälen die Flüsse miteinander verband. Aber westlich lag das Land öde und still bis zum Euphrat. Nur Asche und Schutt verrieten. wo früher einmal blühende Dörfer gestanden hatten.
Ein paar Monate zuvor war eine Bande Plünderer in einer gewaltigen Welle aus der Wüste herbeigebraust und hatte die Weingärten und Hütten überschwemmt und sich gegen die erbebenden Mauern Nippurs geworfen. Pyrrhas erinnerte sich der Kämpfe entlang der Mauern und auf der Ebene, als sein Ausfall die Belagerer zurückgeworfen und sie in kopfloser Flucht über den großen Fluss getrieben hatte. Damals war die Ebene rot von Blut und schwarz vom Rauch gewesen. Nun reckte sich bereits das erste Grün des Getreides hervor, unberührt von Menschenhand, denn die Bauern, die die Saat in die Erde gegeben hatten, waren in das Land der Schatten und Finsternis eingegangen.
Aber schon sickerte ein Teil der Flut aus den übervölkerten Gebieten in die von Menschen geschaffene Öde. In ein paar Monaten, höchstens einem Jahr, würde das Land wieder das typische Bild mesopotamischer Ebenen aufweisen - bedeckt mit Dörfern und winzigen Feldern. Die Menschen würden die Narben bedecken, die Menschen verursacht hatten, und die schlimme Zeit würde in Vergessenheit geraten, bis die Plünderer erneut aus der Wüste herbeistürmten. Doch einstweilen lag die Ebene noch öde und still, die Kanäle verschüttet und leer.
Hier und dort ragten die traurigen Überreste von Palmenhainen und die Ruinen von ehemals prunkvollen Landsitzen empor. Weiter draußen, in ihrem Licht schwach abgezeichnet, streckte sich jene geheimnisvolle Erhebung, die als Hügel Enzus, des Mondes, bekannt war, den Sternen entgegen. Es war keine von der Natur
geschaffene Kuppe, doch wessen Hände sie errichtet hatten, noch aus welchem Grund, wusste niemand. Schon ehe Nippur erbaut wurde, hatte sie aus der Ebene emporgeragt, und die namenlosen Finger, die sie einst erschaffen hatten, waren längst zu Staub zerfallen.
Zu dieser Kuppe lenkte Pyrrhas sein Pferd.
In der Stadt, die er verlassen hatte, stahl Amytis sich aus seinem Palast und begab sich auf heimlichen Wegen zu einem bestimmten Ort. Ihr Schritt war steif und qualvoll, und des Öfteren blieb sie stehen, um die Hände auf die schmerzenden Stellen zu legen und ihr Geschick zu beklagen. Doch fluchend, weinend erreichte sie schließlich ihr Ziel und stand vor einem Mann, dessen Reichtum und Macht groß waren in Nippur. Er blickte ihr fragend entgegen.
»Er ist zum Hügel des Mondes, um mit Gimil-ishbi zu sprechen«, sagte sie. »Lilitu kam heute Nacht erneut zu ihm.« Sie schauderte und vergaß kurz ihre Wut und ihre Schmerzen. »Er ist wahrhaftig verflucht.«
»Von den Priestern Anus'?« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Das glaubt er.«
»Und du?«
»Was soll mit mir sein? Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht.«
»Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, weshalb ich dich dafür bezahle, ihn zu bespitzeln?«
Sie zuckte die Schultern. »Ihr bezahlt mich gut. Das genügt mir.«
»Weshalb besucht er Gimil-ishbi?«
»Ich sagte ihm, der Abtrünnige könnte ihm vielleicht gegen Lilitu helfen.«
Plötzlicher Ärger verfinsterte das Gesicht des Mannes. »Ich dachte, du hasst ihn.«
Sie zuckte vor der Drohung in seiner Stimme zurück. »Ich sprach von dem Teufelsanbeter, ehe ich auch nur darüber nachdachte. Und dann zwang er mich, ihm seinen Namen zu verraten. Verflucht sei er! Ich werde viele Wochen lang nicht mehr ohne Schmerzen sitzen können!«
Der Mann beachtete sie nicht mehr, so sehr war er in seine eigenen finsteren Überlegungen vertieft. Schließlich erhob er sich entschlossen, »Ich habe schon zu lange gewartet«, murmelte er, als spreche er nur seine Gedanken laut aus. »Die Dämonen spielen mit ihm, während ich an meinen Nägeln kaue; und jene, die sich mit mir verschworen haben, werden unruhig, und der Argwohn nagt an ihnen. Enlil allein weiß, welchen Rat Gimil-ishbi ihm geben wird. Wenn der Mond aufgeht, werde ich mich auf mein Pferd setzen und den Argiver auf der Ebene suchen. Ein unerwarteter Streich - er wird ahnungslos bleiben, bis mein Schwert in ihm steckt. Eine Bronzeklinge ist sicherer als alle Mächte der Finsternis. Ich war ein Narr, einem Dämon zu vertrauen.«
Amytis schluckte vor Entsetzen und suchte Halt an den Samtvorhängen. »Ihr? Ihr?« Ihre Lippen formten eine Frage, die zu schrecklich war, sie auszusprechen.
»Ja!« Er warf ihr einen Blick grimmiger Belustigung zu.
Von Panik erfüllt, rannte sie durch die Behänge der Tür und vergaß in ihrer Angst sogar ihre Schmerzen.
Ob der Mensch oder die Natur die Höhle geschaffen hatte, wusste niemand. Zumindest ihre Wände, der Boden und die Decke waren symmetrisch und aus Blöcken grünlichen Steins, wie er sonst nirgendwo in diesem flachen Land gefunden wurde. Doch was immer auch ihr Ursprung und ihr Zweck, ein Mensch bewohnte sie jetzt. Eine Lampe hing von der Steindecke herab. Sie warf ein gespenstisches Licht auf den kahlen Schädel des Mannes, der über eine Pergamentrolle gebeugt saß. Er blickte auf, als schnelle Schritte auf der Steintreppe erschallten, die in seine Behausung herabführte. Im nächsten Augenblick schon stand eine hochgewachsene Gestalt unter dem Türrahmen.
Der Mann am Steintisch musterte diese Gestalt mit großem Interesse. Pyrrhas trug ein Haubert aus schwarzem Leder mit Kupferplättchen. Sein Messingbeinschutz glänzte im Lampenschein. Aus dem weiten roten Umhang, der lose über seine Schultern hing, ragte der lange Schwertgriff heraus. Unter dem gehörnten Bronzehelm glitzerten die Augen des Argivers eisig.
Und so blickte der Krieger dem Gelehrten entgegen.
Gimil-ishbi war sehr alt. In seinen Adern floss kein Tropfen semitischen Blutes. Sein kahler Kopf war rund wie der Schädel eines Aasgeiers, und aus ihm ragte seine große Nase wie der Schnabel eines Geiers. Seine Augen standen schräg, eine Seltenheit, selbst bei einem reinrassigen Sumerer, und sie waren glänzend und schwarz wie Perlen. Während Pyrrhas' Pupillen große Tiefe verrieten, blaue Tiefen, über die Wolken und Schatten sich schoben, waren Gimil-ishbis so undurchsichtig wie Kohle, und nie veränderten sie ihren Ausdruck. Sein Mund war ein Schlitz, und sein Lächeln war schrecklicher als ein Fletschen.
Er trug einen einfachen schwarzen Kittel, und seine Füße in Sandalen aus leichtem Tuch wirkten unförmig. Pyrrhas empfand ein merkwürdiges Kribbeln zwischen seinen Schulterblättern, als sein Blick auf diese Füße fiel. Hastig wandte er ihn davon ab und wieder dem finsteren Gesicht zu.
»Beehrt meine armselige Behausung mit Eurer Gegenwart, Krieger«, forderte Gimil-ishbi Pyrrhas auf. Seine Stimme klang weich und schien nicht zu den dünnen, harten Lippen zu passen, die die Worte formten. »Ich würde Euch gern zu essen und zu trinken anbieten, doch ich fürchte, das Essen, das ich zu mir nehme, und der Wein, den ich trinke, wären nicht nach Eurem Geschmack.« Er lachte sanft wie über einen nur ihm verständlichen Witz.
»Ich kam nicht, um mit Euch zu speisen«, erwiderte Pyrrhas abrupt und schritt auf den Tisch zu. »Ich kam, um einen Talisman gegen Dämonen von Euch zu kaufen.«
»Kaufen?«
Der Argiver leerte einen Beutel voll Goldstücke auf die Steinplatte des Tisches. Sie leuchteten stumpf im Lampenschein. Gimil-ishbis Gelächter klang wie das Rascheln einer Schlange in verdorrtem Gras.
»Was soll mir dieser gelbe Schmutz? Ihr sprecht von Dämonen und bringt mir Staub, den der Wind verweht.«
»Staub?« Pyrrhas runzelte die Stirn. Gimil-ishbi legte die Hand auf den glänzenden Haufen und lachte. Irgendwo heulte eine Eule. Der Priester hob die Hand. Unter ihr lag ein Häufchen gelben Staubes, der stumpf im Lampenschein glomm. Ein plötzlicher Wind fegte die Stufen herunter. Er brachte die Lampe zum Flackern und wirbelte den goldenen Staub auf. Für einen Augenblick glitzerte die Luft von den winzigen Staubkörnchen.
Pyrrhas fluchte. Seine Rüstung war gelb bestäubt, und die Glieder seines Kettenhemdes glitzerten golden.
»Staub, den der Wind wieder fortwehen wird«, murmelte der Priester. »Setzt Euch, Pyrrhas von Nippur. Wir wollen uns unterhalten.«
Pyrrhas blickte sich in der schmalen Kammer um, betrachtete die aufgestapelten Tontafeln entlang den Wänden und die Papyrusrollen über ihnen. Dann ließ er sich auf der Steinbank gegenüber dem Priester nieder und drehte seinen Gürtel so, dass der Schwertgriff unter seiner Hand ruhte.
»Ihr seid fern der Wiege Eurer Rasse«, sagte Gimil-ishbi, »und der erste goldhaarige Wanderer, der über die Ebenen Sumers streift.«
»Ich bin durch viele Lande gekommen«, murmelte der Argiver, »aber mögen die Geier an meinen Knochen nagen, wenn mir jemals eine Rasse oder ein Land begegnet ist, in dem es so viele Götter und Dämonen gibt, die den Menschen das Leben schwermachen.«
Sein Blick hing fasziniert an Gimil-ishbis Händen. Sie waren lang. schmal, weiß und kräftig - junge Hände! Sie passten nicht zu ihm, dessen Aussehen das eines
Greises war. Es beunruhigte Pyrrhas.
»Jede Stadt hat ihre eigenen Götter und Priester«, bestätigte ihm der Gelehrte. »Und sie taugen alle nichts. Wem sind Götter von Nutzen, die je nach den Umständen von den Menschen erhoben oder gestürzt werden können? Hinter all den Göttern der Menschen, hinter der Dreieinigkeit von Ea, Anu und Enlil herrschen doch immer noch die älteren Götter, die die Kriege oder Ambitionen der Menschen nicht zu verändern vermochten. Die Menschen verleugnen, was sie nicht sehen. Die Priester Eridus - jener Stadt, die Ea und dem Licht geweiht ist – sind nicht blinder als die Nippurs, die Enlil anbeten, der als der Herr der Finsternis angesehen wird. Aber er ist nur der Gott der Dunkelheit, die den Menschen in Träumen begegnet, nicht die wirkliche Finsternis, die hinter allen Träumen lauert und die echten, erhabenen Götter verbirgt. Mir war als Priester Enlils ein Blick auf diese Wahrheit gewährt, deshalb verbannten sie mich. Ha! Sie würden staunen, wenn sie wüssten, wie viele ihrer Gläubigen des Nachts zu mir gekrochen kommen - so wie Ihr!«
»Ich krieche vor keinem Menschen!«, brauste der Argiver auf. »Ich kam, um einen Talisman zu kaufen. Nennt mir den Preis, verdammt!«
»Regt Euch nicht auf«, beruhigte ihn der ehemalige Priester. »Erzählt mir, wozu Ihr diesen Talisman benötigt.«
»Wenn Ihr so verflucht weise wäret, dann müsstet Ihr es bereits wissen«, knurrte der Argiver. Sein Blick verdüsterte sich, als er kurz über seine Lage nachdachte. »Irgendein Zauberer hat mich verflucht«, murmelte er schließlich. »Als ich zurückritt von meinem Sieg über Erech, wieherte mein Streitross und scheute vor etwas, das niemand außer ihm sehen konnte. Dann begannen mich Alpträume zu quälen. In der Dunkelheit meines Gemachs rauschten Schwingen, und Füße huschten über den Teppich. Gestern verfiel eine Frau auf einem Fest, das ich besuchte, dem Wahnsinn und wollte mich erdolchen. Später schnellte eine Schlange, die nur aus leerer Luft bestand, auf mich zu. Dann kam heute Nacht jene zu mir, die man Lilitu nennt, und machte sich mit höhnischem Gelächter über mich lustig...«
»Lilitu?« Die Augen des Priesters leuchteten überlegend auf, und seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem grässlichen Lächeln. »Wahrlich, Krieger, sie schmieden Euren Untergang im Hause Arabus. Euer Schwert vermag nichts gegen Lilitu und auch nichts gegen ihren Gefährten Ardat Lili auszurichten. In der Finsternis der Mitternacht werden ihre Zähne Eure Kehle finden. Ihr Gelächter wird Euch das Trommelfell zerreißen, und ihre heißen Küsse werden Euch verdorren wie ein Blatt in der Gluthitze des Wüstenwindes; Wahnsinn und Auslöschung werden Euer Los sein, und Ihr werdet hinabsteigen ins Haus Arabus, aus dem noch keiner zurückkehrt.«
Pyrrhas rutschte unruhig auf der Steinbank und fluchte. »Was kann ich Euch außer Gold denn bieten?«, knurrte er dann.
»Oh... vieles!« Die schwarzen Perlenaugen glänzten, der messerscharfe Mund verzog sich freudig erregt. »Aber ich muss meinen eigenen Preis nennen, nachdem ich Euch Unterstützung gewährt habe.«
Pyrrhas erklärte sich mit ungeduldiger Geste einverstanden.
»Wer sind die Weisesten der Welt?«, fragte der Gelehrte abrupt.
»Die Priester Ägyptens, die auf jene Pergamente dort kritzeln«, erwiderte der Argiver.
Gimil-ishbi schüttelte den Kopf. Sein Schatten fiel auf die Wand wie der eines großen Aasgeiers, der über einem sterbenden Opfer kauerte. »Niemand ist so weise wie die Priester Tiamats, von der die Narren glauben, sie sei vor langer Zeit unter Eas Schwert gefallen. Allein: Tiamat ist unsterblich. Sie herrscht in den Schatten. Sie breitet ihre dunklen Schwingen über die Gläubigen aus.«
»Ich kenne sie nicht«, murmelte Pyrrhas unsicher.
»Die Städte der Menschen kennen sie nicht, wohl aber die Öden, die schilfigen Marschen, die steinigen Wüsten, die Berge und Höhlen. Dorthin... stehlen sich die Geflügelten aus dem Hause Arabus.«
»Ich dachte, niemand kommt zurück aus diesem Haus.«
»Kein Sterblicher vermag von dort wiederzukehren. Doch die Diener Tiamats kommen und gehen, wie es ihnen beliebt.«
Pyrrhas schwieg. Er stellte sich den Ort der Toten vor - so, wie die Sumerer ihn sahen -: als eine gewaltige Höhle, staubig, dunkel, still, durch die die Seelen der Toten für immer und alle Zeiten wanderten, jeglicher menschlicher Attribute entblößt, freudlos und ohne Liebe. Sie erinnerten sich ihres früheren Lebens und hassten deshalb die Lebenden und alles, was sie darstellten, umso mehr.
»Ich werde Euch helfen«, murmelte der Priester.
Pyrrhas hob seinen behelmten Kopf und starrte ihn an.
Gimil-ishbis Augen wirkten nicht menschlicher als Feuer, das sich in unterirdischen Teichen tintiger Schwärze spiegelte. Seine Lippen waren gespitzt, als grüble er über Weh und Leid der Menschheit nach. Pyrrhas hasste ihn, wie der Mensch die Schlange hasst.
»Helft mir und nennt mir Euren Preis«, bat der Argiver.
Gimil-ishbi schloss die Hände. Als er sie öffnete, lag auf seiner Handfläche ein goldenes Kästchen mit juwelenbesetztem Verschluss. Er nahm den Deckel ab, da sah Pyrrhas, dass es mit grauem Staub gefüllt war. Er schauderte, ohne zu wissen, weshalb.
»Dieser Staub war einst der Schädel des ersten Königs von Ur«, erklärte Gimil-ishbi. »Als er starb - denn selbst die mächtigsten Zauberer müssen irgendwann einmal sterben -, verbarg er seinen Leib mit all den Künsten, die ihm zur Verfügung standen. Aber ich... ich fand seine zerfallenden Gebeine, und in der Dunkelheit kämpfte ich mit seiner Seele, wie ein Mann, der in der Nacht mit einem Python ringt. Meine Beute war sein Schädel, der dunklere Geheimnisse enthielt als die Totenkammern Ägyptens.
Mit diesem Staub werdet Ihr Lilitu gefangen nehmen können. Begebt Euch schnell zu einem von Mauern umgebenen Ort - eine Höhle oder Kammer... nein, die zerfallene Villa, etwa halbwegs zwischen hier und der Stadt, ist genau richtig für diesen Zweck. Verteilt den Staub in einer dünnen Linie entlang Schwelle und Fenster. Gebt Acht, dass keine Stelle, die breiter ist als eine Hand, unbedeckt bleibt. Dann legt Euch nieder, als schlafet Ihr. Wenn Lilitu den vermeintlichen Schlafraum betritt, was sie sicherlich tun wird, dann sprecht die Worte, die ich Euch lehren werde. Von diesem Augenblick an seid Ihr ihr Meister, bis Ihr sie wieder freigebt, indem Ihr die Beschwörung rückwärts sprecht. Ihr könnt sie nicht töten, doch Ihr könnt sie schwören lassen, dass sie Euch in Zukunft nicht mehr belästigt. Seht zu, dass sie beim Busen Tiamats schwört. Und jetzt beugt Euch zu mir, und ich werde Euch die Worte der Zauberformel vorsagen.«
Irgendwo schrie ein Vogel schrill in der Nacht. Sein Schrei klang menschlicher als das Flüstern des Priesters, das nicht viel lauter war als eine Schlange, wenn sie durch schleimigen Schlamm gleitet. Schließlich lehnte Gimil-ishbi sich zurück. Seine dünnen Lippen waren zu einem bösen Lächeln verzerrt. Einen Augenblick lang blieb der Argiver starr wie eine Bronzestatue sitzen. Ihre beiden Schatten an der Wand schufen das Bild eines Aasgeiers, der einem seltsamen gehörnten Ungeheuer gegenüberkauerte.
Pyrrhas nahm das Kästchen. Er zog den roten Umhang enger um sich. »Und der Preis?«
Gimil-ishbis Finger krallten sich wie Klauen zusammen. Sie zitterten vor Erregung. »Blut! Ein Leben!«
»Wessen Leben?«
»Irgendeines, solange Blut fließt, es Angst und Pein gibt und ein Geist aus dem bebenden Fleisch gerissen wird! Ich habe für alle und alles nur einen Preis – das Leben eines Menschen. Tod entzückt mich. Ich kann nicht genug davon bekommen! Es ist mir egal, wer ihn erleidet - Mann, weib oder Kind. Ihr habt geschworen. Erfüllt Euer Versprechen. Ein Leben! Ein Menschenleben!«
»Einverstanden! Ein Leben!« Pyrrhas' Schwert durchschnitt die Luft, und Gimil-ishbis Geierschädel fiel auf den Steintisch. Der Leib stand noch einen Augenblick aufrecht, dann sackte er zusammen und kam auf dem Steinboden zu ruhen. Der Kopf rollte über den Tisch, ehe er dumpf auf den Boden polterte. Und als eine Maske unerwarteten Grauens starrte das Gesicht in die Höhe.
Ein schrilles Wiehern außerhalb der Höhle brach die Stille, als Pyrrhas' Hengst sich losriss und wie besessen über die Ebene galoppierte.
Aber auch Pyrrhas floh. Ohne einen weiteren Blick auf die düstere Kammer, die mit Keilschrift bedeckten Tontafeln, die mit Hieroglyphen bekritzelten Papyrus-Rollen und den enthaupteten Toten zu werfen, eilte er die Stufen hoch und hinaus ins Sternenlicht. Alles war derart schnell gegangen, dass er an seinem Verstand zweifelte.
In der Ferne ging über der Ebene der Mond auf. Er leuchtete gespenstisch in einem fast dunklen Rot. Drückende Schwüle und Stille lagen über dem Land. Pyrrhas spürte kalten Schweiß über seinen Rücken perlen. Sein Blut schien ihm wie ein eisiger Strom durch die Adern zu fließen. Seine Zunge klebte am Gaumen. Seine Rüstung zerrte ihn schier zu Boden, und sein Umhang beengte ihn. Wild fluchend schleuderte er ihn von sich. Dann riss er mit zitternden Händen die Rüstung auf und warf auch sie von sich. Der Anschein der Zivilisation war nun von ihm abgefallen. Nackt, von einem Lendentuch abgesehen, schritt er mit dem Schwert in einer, das goldene Kästchen in der anderen Hand durch die Nacht.
Kein Laut rüttelte an der erwartungsvollen Stille, als er schließlich die zerfallene Villa erreichte, deren Wände sich windschief aus einem Trümmerhaufen hoben. Ein Gemach war durch eine Laune des Schicksals so gut wie unberührt geblieben. Nur die Tür war von ihren bronzenen Angeln gerissen worden. Pyrrhas trat hindurch. Der Mondschein folgte ihm und verlieh dem Raum ein schwaches Silberlicht. Drei Fenster hatte dieses Gemach. Pyrrhas ging sparsam mit dem grauen Staub um, als er damit Linien über die Schwelle und Fenstersimse strich. Dann legte er das leere Kästchen zur Seite und streckte sich auf dem einzigen übriggebliebenen Möbelstück, einem Diwan, aus. Seine Angst hatte er überwunden. Er, der ein Gejagter gewesen war, war nun der Jäger. Die Falle war gestellt. Jetzt lauerte er mit der Geduld des Wilden auf seine Beute.
Er brauchte nicht lange zu warten. Schwerer Flügelschlag verdrängte die Luft außerhalb des Gemachs, und die Schatten gewaltiger Schwingen glitten über die vom Mond beschienene Schwelle. Atemlose Stille herrschte. Pyrrhas hörte sein Herz gegen die Rippen hämmern. Und dann stand eine nur vage erkennbare Gestalt an der Tür. Einen Herzschlag lang war sie dort zu sehen gewesen, jetzt musste der Nachtgeist sich bereits im Gemach befinden.
Pyrrhas' Hand umklammerte den Schwertgriff, während er von dem Diwan aufsprang. Seine Stimme zerschmetterte das Schweigen, als er den geheimnisvollen Zauberspruch hervorstieß, den der tote Priester ihn gelehrt hatte. Ein furchtsamer Schrei antwortete ihm. Flüchtig war das Tappen nackter Füße zu hören, dann ein schwerer Sturz, und etwas wand und krümmte sich in den Schatten auf dem Boden. Als Pyrrhas noch auf die verschleiernde Dunkelheit fluchte, schob der Mond sich über das Sims, und eine Lichterflut schwamm über den Boden. In ihrem bleichen Schimmer sah der Argiver sein Opfer.
Aber keine Werfrau war es, die sich dort gegen den Zauberbann auflehnte, sondern ein Wesen wie ein Mann, von grazilem Körperbau, nackt und mit dunkler
Haut. Nur in der Geschmeidigkeit seiner Augen unterschied es sich von einem Menschen. Es krümmte sich in unerträglichem Schmerz, und sein ganzer Leib zuckte und verrenkte sich.
Mit einem blutrünstigen Schrei stieß Pyrrhas sein Schwert durch die sich windende Gestalt. Die Spitze schlug klirrend auf dem Steinboden auf, und ein furchterregendes Geheul drang über die schäumenden Lippen des Getroffenen, aber mehr hatte der Stich offensichtlich nicht bewirkt. Der Argiver zerrte seine Klinge aus dem ungewöhnlichen Körper, an dem keine Wunde, kein Blut zu sehen war. Verwirrt wirbelte er herum, als der Schrei seines Gefangenen von außerhalb des Gemachs echote. Unmittelbar vor der zaubergeschützten Schwelle stand eine Frau, so nackt, grazil und von dunkler Haut wie der Mann, der sich am Boden wand. Ihre Augen glühten in einem seelenlosen Gesicht. Das Geschöpf auf dem Boden hörte auf, sich zu krümmen, und rief:
»Lilitu!«
Zitternd stand sie an der Schwelle, als hielten unsichtbare Bande sie. Hass funkelte aus ihren Augen, sie gierten nach Pyrrhas' Blut, seinem Leben. Sie sprach, und die menschliche Stimme, die aus diesem wunderschönen, unmenschlichen Mund drang, war erschreckender, als wenn ein wildes Tier sich der menschlichen Sprache bedient hätte.
»Du hast meinen Gefährten gefangen! Du wagst es, Ardat Lili zu foltern - ihn, vor dem selbst die Götter erzittern! Oh, das sollst du bitter bereuen! Bein um Bein, Muskel um Muskel, Ader um Ader sollen dir einzeln ausgerissen werden! Befreie ihn! Sprich die Worte, die ihn freigeben, ehe dir ein noch übleres Geschick widerfährt!«
»Ich soll die Worte sprechen?«, erwiderte Pyrrhas grimmig. »Du hast mich gejagt wie einen Hund. Jetzt vermagst du die Schwelle nicht zu übertreten, ohne das gleiche Schicksal zu erleiden wie dein Gefährte. Tritt doch ein, du Hexe, und lass dich von mir liebkosen, wie ich jetzt deinen Geliebten liebkose. Sieh doch - so - und so - und so!«
Ardat Lili schäumte und heulte bei jeder Berührung der scharfen Klinge. Und Lilitu schrillte in wildem Protest. Verzweifelt schlug sie mit den Händen wie gegen eine unsichtbare Barriere. »Halte ein! Halte ein! Oh, könnte ich dich nur erreichen!
Als blinden, verstümmelten Krüppel würde ich dich hier zurücklassen! Halte ein! Verlang' von mir, was immer du willst, ich werde es tun!«
»Das gefällt mir schon besser!«, knurrte der Argiver grimmig. »Ich kann dieser Kreatur zwar nicht das Leben nehmen, aber ich kann ihr offenbar durchaus eine Hölle bereiten. Wenn du nicht tust, was ich sage, so werde ich deinem Liebsten mehr Schmerzen zufügen, als er für möglich hält.«
»Sag', was du willst! Sag' es!«, drängte die Werfrau voll Ungeduld.
»Weshalb hast du mich mit deinem Hass verfolgt? Was habe ich getan, ihn heraufzubeschwören?«
»Hass?« Sie warf den Kopf zurück. »Was bedeuten uns die Söhne der Menschen, dass wir aus Shuala sie hassen oder lieben sollten? Das Verderben - es schlägt blind zu!«
»Wer war es dann, der das Verderben durch Lilitu auf mich herabbeschworen hat?«
»Einer, der im Hause Arabus zu finden ist.«
»Weshalb, bei Ymir?«, fluchte Pyrrhas. »Weshalb sollten die Toten mich derart hassen?« Er hielt inne, als er sich an den Priester erinnerte, der ihn sterbend verflucht hatte.
»Die Toten handeln nach dem Willen der Lebenden. Jemand, der im Licht der Sonne wandelt, sprach in der Nacht zu einem aus Shuala.«
»Wer?«
»Das vermag ich nicht zu sagen.«
»Du lügst, Hexe! Es sind die Priester Anus', und du willst sie schützen. Für diese Lüge soll dein Liebster beim Kuss meiner Klinge aufheulen...«
»Ungeheuer!«, schrillte Lilitu. »Zügle deine Hand! Ich schwöre dir beim Busen Tiamats, meiner Herrin, ich weiß nicht, wovon du sprichst. Was sind diese Priester des Anus schon, dass ich sie schützen sollte? Ich würde ihnen die Seele herausreißen - ihnen allen -, ganz so, wie ich es dir antäte, käme ich nur an dich heran! Gib meinen Gefährten frei, dann führe ich dich ins Haus der Finsternis, wo du dir die Wahrheit selbst aus dem schrecklichen Mund des Bewohners holen kannst, wenn du es wagst.«
»Ich komme mit dir«, brummte Pyrrhas. »Aber ich lasse Ardat Lili hier zurück. Solltest du versuchen, mich zu täuschen, dann wird er sich auf diesem verwunschenen Boden für alle Ewigkeit in Schmerzen winden.«
Lilitu schluchzte vor Wut. »Kein Dämon in Shuala kann grausamer sein als du. Beeile dich, im Namen Apsus!«
Pyrrhas schob sein Schwert in die Hülle zurück und trat über die Schwelle. Lilitu griff mit Fingern wie Stahl nach seinem Handgelenk und schrie etwas in einer eigentümlichen, nichtmenschlichen Sprache. Sofort tauchten der mondhelle Himmel und die weite Ebene in einer Welle eisiger Finsternis unter. Pyrrhas hatte das grauenvolle Gefühl, durch ein Nichts unerträglicher Kälte zu fallen, während titanische Winde gegen ihn anstürmten. Dann berührten seine Füße festen Boden. Dem Argiver wurde bewusst, dass er einen unvorstellbaren Abgrund überquert und einen Ort erreicht hatte, den keines Lebenden Fuß je betreten hatte.
Lilitus Finger, die ihn kurz losgelassen hatten, packten erneut sein Handgelenk, aber sehen konnte er sie nicht. Er stand in einer Dunkelheit, die undurchdringlich war. Und hier in ihrer Mitte war es kaum vorstellbar, dass es Sonnenschein gab, schaumgekrönte Flüsse und Gras, das im Wind wisperte. All das war Teil einer anderen Welt, einer Welt, die im Staub von Millionen von Jahrhunderten begraben und vergessen war.
Die Welt des Lebens und Lichtes war nur eine Laune der Schöpfung - ein heller Funke, der flüchtig in einem Universum der Schatten und des Staubes glühte. Dunkelheit und Schweigen waren der natürliche Zustand des Kosmos, nicht Licht und der Klang des Lebens.
Kein Wunder, dass die Toten die Lebenden hassten, welche die graue Stille der Ewigkeit mit ihrem schallenden Lachen störten.
Lilitus Finger zogen ihn durch diese absolute Schwarze. Er hatte das vage Gefühl, sich in einer ungeheuren Höhle zu befinden, die zu gewaltig für seine Vorstellungskraft war. Er ahnte Wände und eine Decke, obgleich er sie nicht wahrnahm und auch nicht erreichte, denn jene Wände schienen sich mit jedem Schritt zurückzuziehen, und doch war er sich ihrer Gegenwart ständig bewusst. Manchmal berührten seine Füße etwas, das, wie er hoffte, nur Staub war. Auch ein
Geruch von Staub, Moder und Fäulnis hing überall in der Luft.
Glühwürmchen gleich sah er schwache Lichter sich durch die Dunkelheit bewegen. Und doch war es kein Licht von der Art, wie er es kannte. Es wirkte eher wie Flecken einer geringeren Finsternis, die nur im Hintergrund der allumfassenden, tieferen Schwarze überhaupt zu bemerken waren. Langsam, schwerfällig krochen sie durch die ewige Nacht. Ein Fleckchen kam auf sie zu. Pyrrhas' Nackenhaar stellte sich auf, und er umklammerte den Schwertgriff. Aber Lilitu achtete gar nicht darauf. Sie zog ihn nur weiter mit sich. Der Schein hellerer Finsternis war momentan ganz nah. Pyrrhas sah flüchtig, dass er ein schattenhaftes Gesicht umrahmte, das menschlich und doch gleichzeitig eigentümlich vogelähnlich wirkte.
Das Sein wurde für ihn zu etwas Vagem, Verwirrendem, etwas, durch das er Tausende von Jahre - erfüllt von Schwärze, Staub und Verwesung - wandelte, geführt von der Werfrau.
Dann hörte er, wie sie zischend den Atem einsog.
Und gleich darauf blieb sie stehen.
Vor ihnen schimmerte ein weiterer seltsamer Schein der Finsternis. Es war Pyrrhas unmöglich zu sagen, ob er einen Menschen oder einen Vogel umgab: Die Kreatur stand aufrecht wie ein Mensch, gleichwohl war sie in graue Federn gehüllt - zumindest waren es eher Federn als etwas anderes. Die Züge wirkten nicht weniger menschlich als vogelgleich.
»Dies ist der Bewohner Shualas, der dich mit dem Fluch der Toten belegt hat«, flüsterte Lilitu. »Frag' ihn nach dem Namen desjenigen, der dich in der Welt der Lebenden so sehr hasst.«
»Sag mir den Namen meines Feindes!«, verlangte Pyrrhas. Er erschrak über den Ton seiner eigenen Stimme, die in der echolosen Finsternis nur ein gespenstisches, trauriges Flüstern war.
Die Augen des Toten glühten rot auf. Er kam mit Flügelrascheln auf ihn zu, und plötzlich sprang ein Lichtschein in seine erhobene Hand.
Pyrrhas zuckte zurück und wollte sein Schwert ziehen, aber Lilitu zischte: »Nein, nimm dies!« Er spürte einen Klingengriff in seiner Rechten. Es war ein Krummsäbel, der wie die Sichel des Mondes in weißem Feuer glühte.