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Charlotte Perkins Gilmans einflussreichste Werke in einem Band: Mit der feministischen Horrorerzählung »Die gelbe Tapete« gelang ihr 1892 der Durchbruch. Eine junge Frau wird nach der Geburt ihres Kindes zu strikter Schonung verdammt, im Bett einer Dachkammer mit vergitterten Fenstern soll sie sich erholen, von ihrem Ehemann und dem Arzt streng überwacht. Doch die Muster der Wandtapete führen ein unheilvolles Eigenleben ... In Gilmans utopischem Roman »Herland« brechen drei abenteuerlustige Männer auf zu einem geheimnisvollen »Frauenland«; die Realität der friedlichen Frauengesellschaft wird das Welt- und vor allem Frauenbild der drei für immer verändern. Als erste klassisch feministische Utopie ist »Herland« in die Literaturgeschichte eingegangen.
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Seitenzahl: 296
Charlotte Perkins Gilman
Aus dem Englischen neu übersetzt vonVanessa Chodor, Rebecca Gruttmann,Anna Sophie Lindner, Ken Patrick Seidelund Sarah Zuchowski
Aus dem Englischen von Sabine Wilhelm
Anaconda
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»The Yellow Wallpaper« erschien erstmals 1892 in der fünften Nummerdes New England Magazine. Die Erzählung wurdefür diese Ausgabe von fünf Studierenden der Universität Bielefeld im Rahmen eines Übersetzungsseminars unter der Leitungvon Alexandra Berlina neu übersetzt. »Herland« erschien 1915 inThe Forerunner, einem von Gilman selbst herausgegebenen Magazin.Die deutsche Übersetzung von Sabine Wilhelm erschienerstmals 1980 bei Rowohlt in Hamburg.
Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Sabine Wilhelmbei Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2023 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagmotiv: Shutterstock / Roberto Castillo,Croisy; dingbats / Eyes
Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de
Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus
ISBN 978-3-641-30346-4V001
www.anacondaverlag.de
Inhalt
Die gelbe Tapete
Warum ich Die gelbe Tapete geschrieben habe?
Herland
Die gelbe Tapete
Nur sehr selten erhalten ganz gewöhnliche Leute wie John und ich die Gelegenheit, den Sommer auf einem alten Herrensitz zu verbringen.
Eine Villa aus Kolonialzeiten, ein über Generationen vererbtes Anwesen, fast möchte ich sagen ein Spukhaus und damit den Gipfel romantischer Glückseligkeit erreichen – aber das hieße, zu viel vom Schicksal zu fordern!
Dennoch will ich stolz verkünden, dass das Haus etwas Seltsames an sich hat.
Warum sonst sollte es so günstig zu pachten sein? Und warum so lange leer gestanden haben?
Natürlich lacht John über mich, aber das erwartet man ja in einer Ehe.
John ist extrem praktisch veranlagt. Glauben schätzt er gering, Aberglauben verabscheut er und verspottet unverhohlen alles Gerede von Dingen, die sich nicht anfassen und sehen und in Zahlen ausdrücken lassen.
John ist Arzt, und möglicherweise – (ich würde es natürlich keiner Menschenseele anvertrauen, aber dies ist stummes Papier und eine große Erleichterung für mich) – möglicherweise ist das ein Grund, warum ich nicht schneller genese.
Er glaubt nämlich nicht, dass ich überhaupt krank bin!
Und was kann man da machen?
Wenn ein hoch angesehener Arzt, der eigene Ehemann, Freunden und Verwandten versichert, alles sei mit einem doch in bester Ordnung, abgesehen von einer vorübergehenden nervösen Niedergeschlagenheit, einer geringfügigen hysterischen Neigung – was soll man da machen?
Mein Bruder ist ebenfalls Arzt, ebenfalls hoch angesehen, und er sagt dasselbe.
Also nehme ich meine Phosphate ein oder Phosphite – was auch immer – und Tonika, und mache Ausflüge, und bewege mich an der frischen Luft, und es ist mir strengstens verboten, zu »arbeiten«, bis ich wieder bei Kräften bin.
Ich selbst bin nicht ihrer Meinung.
Ich selbst glaube, dass angemessene Arbeit, aufregend und abwechslungsreich, mir gut tun würde.
Doch was soll man machen?
Eine Zeit lang habe ich dennoch versucht zu schreiben, den beiden zum Trotz; aber tatsächlich ist es äußerst anstrengend für mich – so verschlagen sein zu müssen, will ich nicht auf heftigen Widerstand stoßen.
Manchmal bilde ich mir ein, dass vielleicht, wenn ich in meinem Zustand auf weniger Widerstand träfe, auf mehr Gesellschaft und Anregungen – doch John sagt, über meinen Zustand nachzudenken sei das Allerschlimmste, das ich tun könne; und ich muss gestehen, dass ich mich jedes Mal unwohl fühle.
Ich will es deshalb dabei belassen und über das Haus sprechen.
Ein wunderschöner Ort! Es steht ganz allein, ein gutes Stück von der Straße entfernt, beinah drei Meilen vom Dorf. Es erinnert mich an englische Häuser, wie man sie aus Büchern kennt, mit Hecken und Mauern und verschließbaren Toren, und vielen einzelnen kleinen Häusern für Gärtner und andere Bedienstete.
Es gibt einen hinreißenden Garten! Noch nie habe ich solch einen Garten gesehen – weit und schattig, voll buchsbaumbestandener Wege und durchzogen von langen, rebenbedeckten Laubengängen, unter die man sich setzen kann.
Früher hat es auch Gewächshäuser gegeben, aber sie sind heute verfallen.
Es soll wohl rechtliche Unstimmigkeiten gegeben haben, irgendetwas zwischen den Erben und Miterben; jedenfalls ist seit Jahren niemand hier gewesen.
So viel also wohl leider zu meiner Idee vom Spukhaus; aber ich bleibe dabei: Da ist etwas Seltsames an diesem Haus – ich kann es fühlen.
Eines Abends bei Mondschein habe ich John sogar von meinem Gefühl erzählt, aber er sagte, es sei der Durchzug, und schloss das Fenster.
Manchmal werde ich über die Maßen wütend auf John. Ich bin mir sicher, dass ich früher nie so empfindlich gewesen bin. Ich denke, es liegt an diesem nervösen Zustand.
Doch John sagt, wenn ich solchen Gefühlen nachgebe, werde ich in meiner Selbstbeherrschung nachlassen. Also versuche ich nach Kräften, die Fassung zu bewahren (wenigstens in seiner Gegenwart), was sehr ermüdend ist.
Unser Zimmer gefällt mir ganz und gar nicht. Ich wollte eines im Erdgeschoss mit einer Verbindung zur Terrasse, einem Meer von Rosen vor dem Fenster und hübschen, altmodischen Chintz-Vorhängen! Aber für John kam das nicht in Frage.
Er sagte, es gebe nur ein Fenster und keinen Platz für zwei Betten und es sei kein Zimmer für ihn in der Nähe, falls er ein anderes nähme.
Er ist sehr besorgt und liebevoll und lässt mich ohne seine ausdrückliche Anweisung kaum einen Finger rühren.
Jede Stunde meines Tages folgt einem strengen Zeitplan; John erspart mir so jegliche Mühe, weshalb ich mir schrecklich undankbar vorkomme, es nicht mehr wertzuschätzen.
Er sagte, wir seien nur meinetwegen hergekommen, dass ich vollkommene Ruhe bräuchte und so viel Luft wie möglich. »Wie viel du dich bewegst, hängt von deiner Kraft ab, mein Schatz«, sagte er, »und wie viel du isst, teilweise von deinem Appetit; aber frische Luft tut dir immer gut.« So haben wir uns für das Kinderzimmer entschieden, im obersten Teil des Hauses.
Es ist ein großer, luftiger Raum, der fast das ganze Stockwerk einnimmt, mit Fenstern rundherum, voller Luft und Sonnenlicht. Es muss wohl zuerst ein Kinderzimmer gewesen sein, danach eine Mischung aus Spielzimmer und Turnhalle, denn die Fenster sind für kleine Kinder mit Gittern versperrt und an den Wänden befinden sich Ringe und Spuren anderer Geräte.
Farbe und Stoff der Tapete sehen aus, als stammten sie aus einer Jungenschule. Die Tapete ist rund um das Kopfende meines Bettes in großen Fetzen abgerissen, etwa so weit ich greifen kann, ebenso an einer großen Stelle auf der anderen Seite des Raums nahe dem Boden. Eine scheußlichere Tapete habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.
Eins dieser maßlosen, wuchernden Muster, die keine stilistische Sünde auslassen.
Es ist so stumpfsinnig, dass ihm das Auge nicht ohne Verwirrung folgen kann, so aufdringlich, dass es einen unablässig reizt und Interesse provoziert, und folgt man dann den lahmen, ziellosen Kurven ein kleines Stück, begehen sie urplötzlich Selbstmord – stürzen herab unter unfassbaren Winkeln, zerstören sich selbst in beispiellosen Widersprüchen.
Die Farbe ist abstoßend, beinah ekelerregend; ein schwelendes, unreines Gelb, seltsam verblichen durch das langsam wandernde Sonnenlicht.
Ein stumpfes, dennoch grelles Orange an manchen Stellen, ein kränklicher Schwefelton an anderen.
Kein Wunder, dass die Kinder es gehasst haben! Ich würde es sicher auch hassen, müsste ich lange in diesem Zimmer bleiben.
Da kommt John, und ich muss das hier weglegen – es ärgert ihn sehr, wenn ich einmal ein paar Worte schreibe.
Wir sind seit zwei Wochen hier, und nach dem ersten Tag war mir nicht wieder nach Schreiben zumute.
Jetzt sitze ich am Fenster, oben in diesem scheußlichen Kinderzimmer, und es hindert mich nichts daran, so viel zu schreiben, wie ich möchte – außer Erschöpfung.
John ist den ganzen Tag weg, manchmal sogar nachts, wenn seine Fälle ernst sind.
Ich bin froh, dass mein Fall nicht ernst ist!
Allerdings sind diese nervösen Zustände furchtbar deprimierend.
John weiß nicht, wie sehr ich wirklich leide. Er weiß, dass es keinen Grund zum Leiden gibt, und das reicht ihm.
Natürlich ist es bloß Nervosität. Tatsächlich lastet es sehr auf mir, meinen Pflichten nicht nachzukommen!
Ich wollte John eine Hilfe sein, ihm Erholung und Zerstreuung bieten, und hier bin ich nun – bereits eher eine Last!
Niemand würde glauben, was es für eine Anstrengung verlangt, das bisschen zu tun, was ich kann – sich anzukleiden und zu unterhalten, und das Personal anzuweisen.
Es ist ein Glück, dass Mary sich so gut um das Baby sorgt. So ein liebes Baby!
Und dennoch kann ich nicht bei ihm sein, es macht mich so nervös.
John war vermutlich niemals im Leben nervös. Er lacht so über mich wegen der Tapete!
Zuerst wollte er das Zimmer neu tapezieren lassen, doch dann sagte er, man dürfe solchen Launen nicht nachgeben, es gäbe nichts Schlimmeres für eine Nervenkranke.
Er sagte, dass es nach der Tapete das schwere Bettgestell sein würde, und dann die Gitter an den Fenstern, dann jenes am Treppenabsatz, und immer so weiter.
»Du weißt, dass der Ort dir guttut«, sagte er. »Und wirklich, Liebes, ich habe nicht vor, ein Haus zu renovieren, das wir für nur drei Monate mieten.«
»Dann lass uns doch unten schlafen«, sagte ich. »Dort gibt es so schöne Zimmer.«
Dann nahm er mich in die Arme und nannte mich seine liebe kleine Gans, und er sagte, er würde im Keller schlafen und ihn obendrein tünchen lassen, wenn ich es wünschte.
Aber er hat schon recht mit den Betten und Fenstern und solchen Dingen.
Es ist ein luftiges und gemütliches Zimmer, so wie man es sich nur wünschen kann, und natürlich würde ich nicht so albern sein und ihm bloß aus einer Laune heraus Unannehmlichkeiten bereiten.
Ich fange wirklich an, das große Zimmer zu mögen – alles außer dieser schrecklichen Tapete.
Aus einem der Fenster kann ich den Garten sehen, diese mysteriösen schattigen Lauben, die wuchernden altmodischen Blumen, und die Büsche und knorrigen Bäume.
Aus einem anderen habe ich einen reizenden Blick auf die Bucht und einen kleinen privaten Anlegeplatz, welcher zum Anwesen gehört. Es gibt einen wunderschönen schattigen Weg, der vom Haus hinunterführt. Ich stelle mir immer vor, Leute auf diesen vielen Wegen und Lauben zu sehen, aber John warnte mich, diesen Launen nicht nachzugeben.
Er sagt, eine nervöse Schwäche wie meine, gepaart mit meiner Vorstellungskraft und meinem ständiges Geschichtenerfinden führe zu allen möglichen Einbildungen, und ich solle mit meinem Willen und gesundem Menschenverstand diese Tendenz in Zaum halten. Also versuche ich es.
Manchmal denke ich, dass es den Ideenansturm besänftigen und mir Erholung verschaffen würde, wenn ich doch nur in der Verfassung wäre, ein wenig zu schreiben.
Aber ich merke, dass ich ziemlich müde werde, wenn ich es versuche.
Es ist so entmutigend, dass ich keinen Rat und keine Gesellschaft für meine Arbeit habe. John sagt, dass wir Cousin Henry und Julia zu einem langen Besuch einladen werden, wenn es mir wieder viel besser gehe, aber er würde mir eher Feuerwerkskörper ins Kopfkissen legen als jetzt schon diese stimulierende Gesellschaft zu erlauben.
Ich wünschte, ich könnte schneller gesund werden.
Aber ich darf nicht darüber nachdenken. Diese Tapete sieht aus, als ob sie wüsste, was für einen bösartigen Einfluss sie hat!
Es gibt einen wiederkehrenden Punkt, an dem das Muster wie mit gebrochenem Genick baumelt und dich zwei hervorquellende Augen von unten her anstarren.
Es macht mich richtig wütend, wie unverschämt es ist und wie es nie aufhört. Hoch und runter kriechen sie, und seitwärts, und überall diese absurden, starren Augen. Es gibt eine Stelle, an der zwei Bahnen nicht aneinanderpassen, und diese Augen laufen die ganze Linie entlang, nach oben und unten, eines ein wenig höher als das andere.
Ich habe noch nie so viel Ausdruck in einem unbelebten Ding gesehen, und jeder weiß ja, wie viel Ausdruck in ihnen steckt!
Als kleines Mädchen lag ich oft wach und habe mich an kahlen Wänden und schlichten Möbeln mehr amüsiert und gegruselt, als die meisten Kinder in einem Spielzeugladen.
Ich erinnere mich an das nette Blinzeln der Griffe an unserem großen alten Sekretär, und da war ein Stuhl, der schien immer wie ein starker Freund.
Sobald einer der anderen Gegenstände mir zu grimmig erschien, konnte ich immer auf diesen Stuhl springen und mich dort beschützt fühlen.
Die Möbel in diesem Zimmer sind lediglich unharmonisch, schließlich mussten wir es alles von unten hinauf holen. Ich nehme an, dass alle Babymöbel herausgetragen wurden, als das Zimmer zu einem Spielzimmer wurde, und kein Wunder! Ich habe noch nie eine solche Verwüstung gesehen, wie die Kinder sie hier veranstaltet haben.
Die Tapete, wie ich bereits sagte, ist an Stellen abgerissen, und wie sie verhaftet an den Wänden klebt – diese Kinder mussten Ausdauer ebenso wie Hass besessen haben.
Dann ist der Fußboden zerkratzt und ausgemeißelt und zersplittert, selbst der Verputz ist hier und dort ausgehöhlt, und dieses große schwere Bett, welches wir als einziges im Zimmer gefunden haben, hat offenbar Schlimmes erlebt.
Aber es stört mich alles nicht im Geringsten – bloß die Tapete.
Hier kommt Johns Schwester. Was ein liebes Mädchen sie ist, so umsichtig mit mir! Ich darf mich von ihr nicht beim Schreiben erwischen lassen.
Sie ist eine perfekte und enthusiastische Haushälterin und hofft auf keine bessere Berufung.
Wahrlich glaube ich, dass sie denkt, das Schreiben habe mich krank gemacht!
Aber ich kann schreiben, wenn sie außer Haus ist; und durch diese Fenster schon von Weitem sehen, wann sie zurückkommt.
Es gibt ein Fenster, welches auf die Straße geht, eine bezaubernde, gewundene Straße, und eines, das über die Landschaft blickt. Eine bezaubernde Landschaft, voller großer Ulmen und samtiger Wiesen.
Diese Tapete hat eine Art Untermuster in einer anderen Farbe, ein besonders irritierendes, welches du bloß in einem bestimmten Licht sehen kannst, und selbst dann nicht ganz klar.
Doch an den Stellen, an denen es nicht verblasst ist und wenn die Sonne auf eine ganz bestimmt Art hereinscheint, kann ich eine seltsame, provozierende, formlose Figur erkennen, die hinter diesem albernen und auffälligen Vordergrund zu lauern scheint.
Oh, die Schwester ist auf der Treppe!
Nun, der 4.Juli ist vorbei! Die Leute sind weg und ich bin vollkommen erschöpft. John dachte, ein wenig Gesellschaft würde mir vielleicht guttun, darum hatten wir Mutter und Nellie und die Kinder für eine Woche bei uns.
Natürlich habe ich keinen Finger gerührt.
Jennie kümmert sich jetzt um alles.
Dennoch hat es mich erschöpft.
John sagt, wenn ich mich nicht schneller erhole, schickt er mich im Herbst zu Weir Mitchell.
Aber da will ich auf keinen Fall hin. Ich hatte eine Freundin, die einmal bei ihm in Behandlung war, und sie sagt, dass er wie John und mein Bruder ist, nur schlimmer!
Außerdem ist es ein viel zu großer Aufwand, so weit zu fahren.
Ich habe nicht das Gefühl, dass es die Mühe wert ist, überhaupt irgendetwas zu tun, und ich werde langsam schrecklich unruhig und quengelig.
Ich weine wegen nichts, und weine die meiste Zeit.
Natürlich nicht, wenn John hier ist oder irgendwer anderes, nur wenn ich allein bin.
Und zurzeit bin ich oft allein. John wird sehr oft von ernsten Fällen in der Stadt gehalten, und Jennie ist so gut und lässt mich allein, wenn ich sie darum bitte.
Also spaziere ich ein bisschen im Garten oder die schöne Straße entlang, sitze auf der Veranda unter den Rosen und lege mich oft hier oben hin.
Das Zimmer gefällt mir inzwischen immer mehr, trotz der Tapete. Vielleicht gerade wegen der Tapete.
Sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf!
Ich liege hier auf diesem großen, unbeweglichen Bett – es ist festgenagelt, glaube ich – und folge diesem Muster Stunde um Stunde. Es ist so gut wie Gymnastik, das kann ich versichern. Ich beginne, sagen wir, ganz unten in der Ecke, dort, wo es nicht beschädigt wurde, und ich beschließe zum tausendsten Mal, in diesem Muster zu irgendeiner Art von Abschluss zu finden.
Ich kenne mich ein wenig mit den Grundlagen der Gestaltung aus, und ich weiß, dass dieses Ding nicht nach irgendwelchen Radial- oder Abwechslungs- oder Wiederholungs- oder Symmetrieprinzipien oder irgendetwas anderem angeordnet wurde, von dem ich je gehört habe.
Es wird natürlich durch die Bahnen wiederholt, aber sonst nicht.
Betrachtet man sie auf eine bestimmte Weise, steht jede Bahn für sich allein: die aufgedunsenen Kurven und Schnörkel – eine Art verkommene Romanik mit delirium tremens – watscheln ohne Sinn und Zweck jede Spalte hoch und runter.
Aber andererseits sind sie diagonal miteinander verbunden und die räkelnden Linien zerfließen in großen schrägen Wellen von Scheußlichkeit wie ein waberndes, wogendes Algengewucher.
Außerdem verläuft das Ganze auch horizontal, zumindest scheint es so, und der Versuch, das System hinter dieser Anordnung zu begreifen, erschöpft mich.
Statt eines Frieses haben sie oben eine horizontale Bahn verwendet, und diese macht die Verwirrung komplett.
Es gibt eine Ecke des Zimmers, wo die Tapete fast intakt ist, und dort kann ich mir, wenn das Licht nicht mehr schräg einfällt und die tief stehende Sonne direkt darauf scheint, dann doch beinahe ein Radialprinzip vorstellen – die endlosen grotesken Figuren scheinen sich um ein gemeinsames Zentrum zu formieren und dann alle auf einmal kopfüber davon zu stürzen.
Es macht mich müde, dies zu verfolgen. Ich denke, ich werde ein Schläfchen halten.
Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt schreibe.
Ich will es nicht.
Ich kann nicht.
Und ich weiß, John würde es für lächerlich halten. Aber ich muss auf irgendeine Weise sagen, was ich empfinde und denke – es ist so eine Erleichterung!
Doch die Anstrengung fängt an größer zu werden als die Erleichterung.
Die Hälfte der Zeit bin ich jetzt unglaublich träge und liege meistens nur herum.
John sagt, ich muss bei Kräften bleiben, deshalb lässt er mich Lebertran und viele Toniken und so weiter einnehmen, ganz zu schweigen von Bier und Wein und blutigem Steak.
Mein guter John! Er liebt mich so sehr und hasst es, mich so krank zu sehen. Ich habe neulich versucht, ein echtes, ernsthaftes, vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen, und ihm zu sagen, wie sehr ich mir wünsche, er würde mich Cousin Henry und Julia besuchen lassen.
Aber er sagte, ich sei weder imstande zu reisen noch in der Lage, es dort durchzustehen; ich konnte ihn schlecht vom Gegenteil überzeugen, denn ich weinte, ehe ich fertig war.
Langsam wird es sehr anstrengend für mich, klar zu denken. Das muss an der Nervenschwäche liegen, nehme ich an.
Und der gute John hob mich in seine Arme und trug mich einfach die Treppen hoch und legte mich ins Bett, und setzte sich zu mir und las mir vor, bis es mich müde machte.
Er sagte, ich sei sein Liebling und sein Trost und alles, was er habe, und dass ich um seinetwillen auf mich aufpassen und gesund bleiben müsse.
Er sagt, dass niemand außer ich selbst mir daraus helfen kann; ich müsse meinen Willen und meine Selbstbeherrschung nutzen und dürfe keine albernen Fantasien mit mir durchgehen lassen.
Der einzige Trost ist: Das Baby ist gesund und munter und muss nicht in dem Kinderzimmer mit der scheußlichen Tapete schlafen.
Hätten wir das Zimmer nicht bezogen, dann hätte es das liebe Kind! Was für ein glückliches Entkommen! Ich würde kein Kind von mir, ein beeinflussbares kleines Wesen, in so einem Zimmer leben lassen, nicht um alles in der Welt.
Ich habe nie zuvor daran gedacht, aber es ist ein Glück, dass John mich nach alledem hierbehalten hat. Ich kann es ja viel eher ertragen als ein Baby.
Natürlich erwähne ich in ihrem Beisein die Tapete nicht mehr – dafür bin ich zu klug – aber ich behalte sie trotzdem im Auge.
Es gibt Dinge in dieser Tapete, die niemand außer mir kennt oder jemals kennen wird.
Hinter diesem äußeren Muster werden die düsteren Formen von Tag zu Tag deutlicher.
Es ist immer die gleiche Form, nur sehr zahlreich.
Und sie sieht aus wie eine Frau, die sich niederbeugt und hinter dem Muster herumkriecht. Das gefällt mir kein bisschen. Ich frage mich – ich fange an zu denken – ich wünschte, John würde mich von hier wegbringen!
Es fällt mir so schwer, mit John über meinen Fall zu sprechen, weil er sich mit allem so gut auskennt und mich so sehr liebt.
Doch letzte Nacht habe ich es versucht.
Der Mond schien. Sein Licht kommt von überall ins Zimmer, ganz wie das der Sonne.
Manchmal hasse ich den Anblick. Es kriecht so langsam und findet immer durch eins der Fenster herein.
John schlief und ich wollte ihn keinesfalls wecken. Also verhielt ich mich still und beobachtete das Mondlicht auf der welligen Tapete bis es mir unheimlich wurde.
Die schemenhafte Gestalt dahinter schien am Muster zu rütteln, als wollte sie ausbrechen.
Vorsichtig stand ich auf und betastete die Tapete, um zu sehen, ob sie sich tatsächlich bewegte, und als ich zurückkam, war John wach.
»Was ist denn, Kleines?«, fragte er. »Du darfst hier nicht so herumlaufen – du wirst dich noch erkälten.«
Es schien mir ein guter Zeitpunkt für ein Gespräch zu sein, deshalb sagte ich ihm, der Ort täte mir wirklich nicht gut und bat ihn, mich von hier wegzubringen.
»Aber Liebling!«, sagte er, »die Pacht läuft in drei Wochen ab und ich sehe nicht, wie wir vorher abreisen könnten.
Die Renovierung zu Hause ist noch nicht erledigt und gerade jetzt kann ich die Stadt wohl kaum verlassen. Natürlich könnte und würde ich es tun, wenn du in irgendeiner Gefahr wärst, mein Schatz, aber es geht dir ja wirklich besser, ob du es nun sehen kannst oder nicht. Ich bin Arzt, Schatz, und ich weiß es. Du legst an Gewicht zu und gewinnst Farbe, dein Appetit hat zugenommen. Ich mache mir schon viel weniger Sorgen um dich.«
»Ich habe kein Gramm zugenommen«, sagte ich, »ich wiege nicht einmal genau so viel; und ich habe ja vielleicht abends, wenn du da bist, mehr Appetit, aber dafür morgens, wenn du weg bist, weniger.«
»Mein kleines Mädchen!«, sagte er und umarmte mich fest. »Sie darf so krank sein, wie sie möchte! Aber jetzt lass uns schlafen, damit wir den Tag besser genießen können. Wir sprechen morgen früh darüber.«
»Und du wirst nicht abreisen?«, fragte ich bedrückt.
»Wie könnte ich denn, Liebes? Nur noch drei Wochen, und dann wollen wir für ein paar Tage eine schöne kleine Reise machen, während Jennie das Haus vorbereitet. Wirklich, Schatz, es geht dir besser!«
»Körperlich vielleicht« – begann ich und unterbrach mich sofort, denn er hatte sich aufgesetzt und sah mich so ernst und vorwurfsvoll an, dass ich kein Wort mehr sagen konnte.
»Mein Schatz«, sagte er, »ich bitte dich für mich und unser Kind und um deiner selbst willen, diesem Gedanken niemals auch nur einen Moment nachzuhängen! Nichts sonst ist so gefährlich, so faszinierend, für ein Temperament wie deines. Es ist eine törichte und falsche Einbildung. Kannst du mir nicht glauben, wenn ich als Arzt es dir sage?«
Somit sagte ich diesbezüglich natürlich nichts mehr, und wir legten uns bald darauf schlafen. Er dachte, ich sei als Erste eingeschlafen, doch so war es nicht – stundenlang lag ich da und versuchte zu entscheiden, ob sich die Muster im Vorder- und Hintergrund tatsächlich zusammen oder getrennt voneinander bewegten.
Ein derartiges Muster zeigt bei Tageslicht einen Mangel an Ordnung, eine absichtliche Regelwidrigkeit, die jeden normalen Verstand unablässig provoziert.
Die Farbe ist bereits scheußlich genug, und trügerisch genug, und empörend genug, aber das Muster ist eine Qual.
Du glaubst, es gemeistert zu haben, aber gerade als du beginnst, ihm mit einiger Sicherheit zu folgen, macht es einen Rückwärtssalto, und da stehst du dann. Es ohrfeigt dich, schlägt dich nieder und trampelt auf dir herum. Es ist wie ein böser Traum.
Das äußere Muster besteht aus verschlungenen Arabesken, die an einen Schimmelpilz erinnern. Wenn du dir ein Pilzgeflecht vorstellen kannst, eine endlose Reihe von Giftpilzen, die in immer neuen Windungen sprießen und keimen – das kommt der Sache nahe.
Das heißt, manchmal!
Die Tapete hat eine besonders seltsame Eigenschaft, etwas, das niemand außer mir wahrzunehmen scheint: sie verändert sich mit dem Licht.
Wenn das Sonnenlicht morgens zum Ostfenster hereinfällt – ich warte stets auf diesen ersten langen, geraden Strahl –, verändert sie sich derart schnell, dass es mich jedes Mal aufs Neue überrascht.
Deshalb beobachte ich sie immerzu.
Bei Mondlicht – ist der Mond zu sehen, scheint er die ganze Nacht lang ins Zimmer – erkenne ich die Tapete kaum wieder.
Nachts, unabhängig von der Art des Lichts, im Zwielicht, bei Kerzen- oder Lampenlicht, und am allerschlimmsten bei Mondlicht, werden Gitterstäbe daraus! Aus dem äußeren Muster, meine ich, und die Frau dahinter wird so deutlich wie es überhaupt möglich ist.
Mir ist lange Zeit nicht klar gewesen, was sich im Hintergrund abzeichnete – jenes unscharfe zweite Muster –, doch jetzt bin ich mir sehr sicher, dass es eine Frau ist.
Bei Tageslicht ist sie unterdrückt, ruhig. Ich bilde mir ein, dass das Muster sie zurückhält. Es ist so rätselhaft. Es hält mich stundenlang in seinem Bann.
Mittlerweile lege ich mich sehr oft hin. John sagt, es tue mir gut und ich solle so viel schlafen wie möglich.
Seinetwegen habe ich überhaupt damit angefangen, mich nach jeder Mahlzeit für eine Stunde hinzulegen.
Ich bin überzeugt, dass das eine sehr schlechte Angewohnheit ist, denn in Wirklichkeit schlafe ich gar nicht!
Und das begünstigt Unaufrichtigkeit, denn selbstverständlich sage ich ihnen nicht, dass ich wach bin!
Tatsächlich fange ich an, mich ein bisschen vor John zu fürchten.
Er scheint mir manchmal sehr sonderbar, und sogar Jennie hat so einen unerklärlichen Ausdruck.
Zuweilen kommt mir der Gedanke, bloß als wissenschaftliche Hypothese, dass es an der Tapete liegen könnte!
Ich habe John ohne sein Wissen beobachtet und bin dann plötzlich mit irgendeiner ganz harmlosen Ausrede in den Raum gekommen – und mehrmals betrachtete er gerade die Tapete! Ebenso Jennie. Einmal habe ich Jennie mit der Hand darauf erwischt.
Sie wusste nicht, dass ich im Raum war und als ich sie mit ruhiger, mit sehr ruhiger Stimme, auf die allerzurückhaltendste Weise fragte, was sie da mit der Tapete mache, drehte sie sich um als wäre sie beim Stehlen erwischt worden und sah geradezu verärgert aus – wollte wissen, warum ich ihr denn einen solchen Schrecken einjagen müsse!
Dann sagte sie, dass die Tapete alles beschmutzt, was sie berührt, und dass sie gelbe Schmierflecken auf all meiner Kleidung und auf Johns gefunden hätte, und sie wünschte, wir wären vorsichtiger!
Klingt das nicht unschuldig? Aber ich wusste, sie studierte das Muster, und ich bin entschlossen, dass niemand außer mir dahinterkommt!
Das Leben ist jetzt viel aufregender als früher. Ich kann mich auf so viel mehr freuen, so viel mehr erwarten, beobachten. Ich esse wirklich besser, und ich bin viel ruhiger.
John ist so froh zu sehen, dass es mir besser geht! Neulich lachte er auf und sagte, ich scheine trotz meiner Tapete aufzublühen.
Ich tat es mit einem Lachen ab. Ich hatte nicht vor, ihm zu erzählen, dass es wegen der Tapete war – er würde sich über mich lustig machen. Er könnte mich sogar wegbringen wollen.
Ich möchte so jetzt nicht gehen. Mir bleibt noch eine Woche, und ich denke, das wird reichen.
Ich fühle mich so viel besser! Nachts schlafe ich nicht viel, weil es so interessant ist, die Entwicklungen zu beobachten, aber tagsüber schlafe ich die meiste Zeit.
Tagsüber ist es ermüdend und verwirrend.
Der Pilz sprießt immer fort, in immer neuen Gelbtönen. Ich kann sie gar nicht mitzählen, obwohl ich es gewissenhaft versucht habe.
Diese Tapete hat das merkwürdigste Gelb! Es lässt mich an alle gelben Sachen denken, die ich jemals gesehen habe – nicht die schönen wie Butterblumen, sondern alte, faule, schlechte gelbe Sachen.
Aber da ist noch etwas anderes mit der Tapete – der Geruch! In dem Moment, als wir den Raum betraten, ist er mir aufgefallen, aber wegen der vielen Luft und Sonne war es nicht schlimm. Jetzt hatten wir eine Woche lang Nebel und Regen, und ob die Fenster geöffnet sind oder nicht, der Geruch ist da.
Er kriecht durchs ganze Haus.
Ich finde ihn, wie er im Esszimmer schwebt, im Wohnzimmer umherschleicht, sich in der Halle versteckt und mir auflauert auf der Treppe.
Er zieht in meine Haare.
Selbst wenn ich ausreite und meinen Kopf plötzlich drehe, überrasche ich ihn – da ist dieser Geruch!
So ein eigentümlicher Geruch! Stunden habe ich mit dem Versuch verbracht, ihn zu analysieren, herauszufinden, wonach es riecht.
Er ist nicht schlecht – zuerst, und sehr zart, aber der unterschwelligste, beständigste Geruch, der mir je begegnet ist.
Bei diesem dunstigen Wetter ist es schrecklich. Ich wache in der Nacht auf, und er hängt über mir.
Anfangs hat es mich gestört. Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, das Haus abzubrennen, um den Geruch loszuwerden.
Aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich kann ihn nur auf eine Weise beschreiben: er ist, wie die Farbe der Tapete ist! Ein gelber Geruch.
An dieser Wand ist eine komische Stelle, tief unten, in der Nähe der Sockelleiste. Ein Streifen, der durch den ganzen Raum verläuft. Er geht hinter jedes Möbelstück, außer dem Bett, ein langer, gleichmäßig verschmierter Fleck, als wäre wieder und wieder darüber gerieben worden.
Ich frage mich, wie das passiert ist und wer es getan hat, und wofür. Immer im Kreis herum – herum und herum und herum – mir wird schwindelig!
Schließlich habe ich wirklich etwas entdeckt.
Durch nächtelanges Beobachten, wenn es sich so sehr verändert, bin ich endlich dahintergekommen.
Das vordere Muster bewegt sich tatsächlich – und kein Wunder! Die Frau dahinter rüttelt daran!
Manchmal denke ich, es sind eine Menge Frauen dahinter, und manchmal nur eine, und die krabbelt schnell herum, und ihr Krabbeln schüttelt alles.
In den hellsten Stellen hält sie still und in den schattigsten ergreift sie die Gitterstäbe und rüttelt fest daran.
Und die ganze Zeit versucht sie hindurchzuklettern. Aber niemand kann durch dieses Muster klettern – es würgt so, ich glaube, das ist der Grund für die vielen Köpfe.
Sie kommen durch und dann schnürt das Muster sie ab und dreht sie kopfüber und macht ihre Augen weiß!
Wenn diese Köpfe abgedeckt oder weggenommen würden, wäre es nicht halb so schlimm.
Ich denke, die Frau kommt tagsüber raus!
Und ich verrate auch warum – ganz im Vertrauen – ich habe sie gesehen!
Ich kann sie aus jedem meiner Fenster sehen!
Es ist dieselbe Frau, ich weiß es, denn sie kriecht immer, und die meisten Frauen kriechen nicht bei Tageslicht.
Ich sehe sie auf dem langen schattigen Weg hinauf- und hinunterkriechen. Ich sehe sie unter diesen dunklen rebenbewachsenen Lauben, wie sie durch den ganzen Garten kriecht.
Ich sehe sie auf der langen Straße unter den Bäumen entlangkriechen, und wenn eine Kutsche kommt, versteckt sie sich unter den Brombeerranken.
Ich werfe ihr nichts vor. Es muss sehr demütigend sein, bei Tageslicht kriechend erwischt zu werden!
Wenn ich bei Tageslicht krieche, verschließe ich immer die Tür. Nachts kann ich das nicht machen, denn ich weiß, John würde es verdächtig finden.
Und John ist jetzt so seltsam, dass ich ihn nicht reizen möchte. Ich wünschte, er würde ein anderes Zimmer nehmen. Im Übrigen will ich nicht, dass jemand anders sie des Nachts herauslässt als ich.
Oft frage ich mich, ob ich sie aus allen Fenstern gleichzeitig sehen kann.
Aber, wie schnell ich mich auch drehe, ich kann nur aus einem zur selben Zeit schauen.
Und obwohl ich sie immer sehe, könnte es ja sein, dass sie schneller kriechen kann als ich mich drehen!
Ich habe sie manchmal weiter weg in der offenen Landschaft gesehen, so schnell wie der Schatten einer Wolke bei starkem Wind.
Wenn sich doch bloß das obere Muster von dem unteren lösen ließe! Ich werde es versuchen, Stück für Stück.
Ich habe noch eine andere komische Sache herausgefunden, aber dieses Mal verrate ich sie nicht! Man hat nichts davon, Menschen zu sehr zu vertrauen.
Mir bleiben nur noch zwei Tage, um die Tapete zu entfernen, und ich glaube, John merkt langsam etwas. Ich mag den Ausdruck in seinen Augen nicht.
Und ich habe gehört, wie er Jennie eine Menge Fachfragen über mich gestellt hat. Sie konnte einen sehr guten Bericht erstatten.
Sie sagte, ich schliefe viel am Tag.
John weiß, dass ich nachts nicht besonders gut schlafe, und dabei bin ich so leise!
Er fragte auch mich allerlei Dinge, und gab vor, sehr liebevoll und freundlich zu sein.
Als könnte ich ihn nicht durchschauen!
Trotzdem, es wundert mich nicht, dass er sich so verhält. Immerhin hat er drei Monate lang unter dieser Tapete geschlafen.
Das ist meine Angelegenheit, aber ich bin mir sicher, dass John und Jennie insgeheim auch von ihr beeinflusst werden.
Hurra! Heute ist der letzte Tag, aber es ist genug. John musste über Nacht in der Stadt bleiben und wird es nicht vor heute Abend zurückschaffen.
Jennie wollte bei mir schlafen – das listige Biest! Aber ich sagte ihr, dass mir eine Nacht allein zweifellos besser täte.
Das war clever, in Wirklichkeit war ich kein bisschen allein. Sobald der Mond aufging, und das arme Ding zu kriechen und die Muster zu schütteln begann, stand ich auf und eilte ihr zur Hilfe.
Ich zog und sie rüttelte, ich rüttelte und sie zog, und bevor die Sonne aufging, hatten wir meterweise Tapete abgezogen.
Einen Streifen, der mir bis zum Kopf geht und einmal um das halbe Zimmer herum.
Und als dann die Sonne kam und mich dieses schreckliche Muster auszulachen begann, da verkündete ich, dass ich es heute beenden würde!
Wir reisen morgen ab, und sie bringen bereits mein ganzes Mobiliar nach unten, um alles so zu hinterlassen, wie wir es vorgefunden hatten.
Jennie schaute die Wand ziemlich erstaunt an, aber ich erzählte ihr heiter, ich hätte es nur aus Trotz getan, um es diesem scheußlichen Ding heimzuzahlen.
Sie lachte und sagte, das hätte sie auch gern getan, aber ich sollte mich nicht überanstrengen.
Dieses Mal hat sie sich wirklich selbst verraten!
Aber ich bin hier, und niemand außer mir berührt dieses Papier – jedenfalls nicht lebend!
Sie versuchte, mich aus dem Raum zu locken – es war zu offensichtlich! Aber ich sagte, es wäre jetzt so ruhig und leer und rein, dass ich glaubte, ich würde mich wieder hinlegen und so viel ich konnte schlafen; und sie solle mich nicht einmal für das Abendessen wecken – ich würde sie rufen, wenn ich aufwache.
Sie ist also endlich fort, und die Bediensteten sind fort, und die Sachen sind fort, und es ist nichts anderes übrig als das festgenagelte Bett mit der leinenbezogenen Matratze, die wir darauf vorgefunden hatten.
Wir werden heute Nacht unten schlafen und morgen das Schiff nach Hause nehmen.
Irgendwie genieße ich den Raum, jetzt da er wieder leer steht.
Wie haben sich diese Kinder hier bloß ausgetobt!
Dieses Bettgestell ist ziemlich angenagt.
Aber ich muss mich an die Arbeit machen.
Ich habe die Tür abgeschlossen und den Schlüssel hinunter auf die Zufahrt geworfen.
Ich will nicht hinausgehen und ich will auch nicht, dass irgendwer hereinkommt, bis John da ist.
Er soll Augen machen.
Ich habe ein Seil hier oben, das sogar Jennie nicht gefunden hat. Wenn diese Frau es wirklich herausschafft und versucht zu flüchten, kann ich sie festbinden!
Aber ich habe vergessen, dass ich ohne etwas zum Draufstehen nicht weit greifen kann.
Dieses Bett will sich nicht bewegen lassen!
Ich habe versucht, es zu heben und zu verschieben bis ich nicht mehr konnte, und dann bin ich so wütend geworden, dass ich ein kleines Stück von der einen Ecke abbiss – aber das hat mir an den Zähnen wehgetan.
Dann habe ich all die Tapete, die ich vom Boden aus greifen konnte, abgezogen. Sie klebt widerlich fest, und das Muster hat Spaß daran! All die strangulierten Köpfe und geschwollenen Augen und wabernden Pilzgeflechte kreischen bloß höhnisch!
Ich werde langsam wütend genug, um etwas Verzweifeltes zu tun. Aus dem Fenster zu springen wäre eine wunderbare physische Betätigung, aber die Stäbe sind zu stabil, um es auch nur zu versuchen.