Die gläserne Zelle - Patricia Highsmith - E-Book

Die gläserne Zelle E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

»Die gläserne Zelle ist die Geschichte eines Mannes, der unschuldig im Gefängnis sitzt, dabei total zerstört wird, aber dennoch versucht, sein normales, bürgerliches Leben wieder aufzubauen – bis er die Tat, wofür er bereits bestraft wurde, nachholt.« Hans W. Geißendörfer

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Patricia Highsmith

Die gläserne Zelle

Roman

Aus dem Amerikanischen von Werner Richter

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Die gläserne Zelle

Für meine liebe Katze SPIDER,

geboren in Palisades, New York,

jetzt wohnhaft in Positano,

und meine Zellengenossin bei der

Niederschrift dieses Romans.

1

Es war Dienstag nachmittag, fünf nach halb vier, und die Insassen des Staatsgefängnisses kehrten aus den Werkstätten in ihre Zellen zurück. In ungebügelten, fleischfarbenen Sträflingsanzügen, jeder mit einer Nummer auf dem Rücken, strömten die Männer durch den langen Korridor von Block A, umsummt von gedämpftem Stimmengemurmel, obwohl eigentlich keiner mit seinem Nachbarn sprach. Es war ein seltsamer, unmelodischer Chor, der Carter am ersten Tag Angst eingejagt hatte – in seiner Naivität hatte er damals tatsächlich jeden Moment mit einer Häftlingsrevolte gerechnet –, aber mittlerweile nahm er das Geräusch als Eigenheit dieses einen oder vielleicht aller Gefängnisse. Die Zellentüren im Erdgeschoß und auf den vier Etagen darüber standen offen, und die Männer verschwanden einer nach dem anderen in ihren Zellen, bis der Korridor fast leer war. Jeder hatte jetzt fünfundzwanzig Minuten, um sich am Becken in der Zelle zu waschen, bei Bedarf ein frisches Hemd anzuziehen, sofern er eins hatte, einen Brief zu schreiben oder über die Kopfhörer in das Musikprogramm hineinzuhören, das zu dieser Zeit immer lief. Um vier läutete die Glocke zum Abendessen.

Philip Carter ging langsam, weil ihm vor dem Anblick und der Gesellschaft seines Zellengenossen Hanky grauste. Hanky, ein kleiner, dicklicher Kerl, saß dreißig Jahre für bewaffneten Raubüberfall (»billig einkaufen« nannte er es) und Mord, worauf er eher stolz zu sein schien. Hanky mochte Carter nicht und nannte ihn einen Snob. In den neunzig Tagen, die sie nun schon zusammen waren, hatte es mehrere kleine Reibereien gegeben. Zum Beispiel war Hanky aufgefallen, daß Carter Hemmungen hatte, das freistehende, brillenlose Zellenklo in seiner Gegenwart zu benutzen, deshalb gestaltete er seine eigenen Sitzungen so laut und vulgär wie möglich. Carter hatte das anfangs gutmütig und gelassen hingenommen, doch vor zehn Tagen, als der Witz schon mächtig alt war, hatte er gesagt: »Zum Teufel, Hanky, hör schon auf damit«, und Hanky hatte ihn mit üblen Schimpfnamen belegt, von denen »Snob« noch der weitaus harmloseste war. Einen Moment hatten sie einander mit geballten Fäusten gegenübergestanden, aber ein Aufseher bemerkte es und ging dazwischen. Seither wahrte Carter eine kühle, aber höfliche Distanz zu Hanky, reichte ihm auch schon einmal die Kopfhörer, die sie sich teilen mußten, wenn er näher dran war, oder auch sein Handtuch oder so. Die Zelle mit den zwei Pritschen war zu klein für zwei Männer, und so galt das stillschweigende Abkommen, daß der eine sich hinlegte, wenn der andere auf war. In dieser Woche jedoch hatte Tutting, Carters Anwalt, schlechte Nachrichten gebracht: Es würde kein neues Gerichtsverfahren geben, und da die neunzig Tage bereits abgelaufen waren, kam eine Begnadigung auch nicht mehr in Frage. Carter fand sich damit ab, noch einige Zeit in dieser Zelle mit Hanky verbringen zu müssen, also sollte er vielleicht weniger reserviert und abweisend zu ihm sein. Wem half es schon, wenn das Klima so miserabel war? Hanky hatte sich letzten Freitag den Knöchel verstaucht, als er von dem Lastwagen abgesprungen war, der die Häftlinge zur Feldarbeit brachte und wieder abholte. Er konnte wenigstens Hanky fragen, was sein Knöchel machte.

Hanky saß auf dem Rand seiner unteren Pritsche und hantierte mit seinem unvollständigen Schmuddelkartenspiel.

Carter nickte ihm zu und sah auf das bandagierte Gelenk. »Wie geht’s deinem Fuß?« Er knöpfte sich das Hemd auf und steuerte direkt auf das Waschbecken zu.

»So la-la. Auftreten kann ich immer noch nicht.«

Hanky hob am Fußende der Pritsche die Matratze hoch und zog zwei Schachteln Camel hervor, die er dort versteckt hatte. Carter registrierte sie im Umdrehen, während er sich mit seinem kleinen, groben Handtuch abtrocknete.

Hanky war Nichtraucher. Die Wochenration von vier Schachteln kauften die Insassen von ihrem eigenen Geld: sie verdienten vierzehn Cent am Tag, und die Zigaretten kosteten zweiundzwanzig Cent pro Schachtel. Hanky sparte seine Ration immer auf und verkaufte sie anderen Sträflingen gegen ein Aufgeld. Die Aufseher wußten von Hankys Nebenverdienst und drückten ein Auge zu, weil er ihnen ab und an auch eine Schachtel oder sogar einen Dollar zusteckte.

»Tust du mir einen Gefallen, Cart? Bring die zu Nummer dreizehn hier unten und zu Nummer achtundvierzig in der dritten Etage. Eine für jeden. Ich mag nicht so weit laufen. Sie sind schon bezahlt.«

»Klar.« Carter ergriff sie mit der einen Hand und knöpfte sich das Hemd mit der anderen wieder zu.

Nummer 13 war nur zwei Zellen von seiner und Hankys entfernt.

Ein alter Schwarzer mit weißen Haaren saß auf der unteren Pritsche.

»Zigaretten?« fragte Carter.

Der Schwarze hob die knochige Hüfte ein Stück hoch und zog einen schmalen Zettel aus der Hosentasche. Mit steifen schwarzen Fingern drückte er Carter Hankys Quittung in die Hand.

Carter schob sich das Papier in die Tasche, warf eine Schachtel Camel auf die Pritsche und ging hinaus. Er trabte durch den Korridor weiter zur Treppe nach oben. In diesem Moment kam der Aufseher, den alle Moony nannten – eigentlich hieß er Moonan –, mit raschen Schritten stirnrunzelnd auf ihn zu. Carter hielt die andere Zigarettenschachtel in der Hand. Es war klar, daß Moony sie auch sah.

»Na, Zigaretten austragen?« Moonys langes, schmales Gesicht verzog sich noch mehr. »Als nächstes bringst du den Leuten auch noch Zeitungen und die Milch, was?«

»Ich mache das bloß für Hanky, der hat sich den Fuß verknackst.«

»Her mit den Händen!« Moony griff nach den Handschellen an seinem Gürtel.

»Ich habe die Zigaretten nicht geklaut. Fragen Sie doch Hanky.«

»Die Hände her!«

Carter streckte die Hände aus.

Moony ließ die Handschellen um die Gelenke klicken. Im selben Augenblick gingen ganz in der Nähe zwei Klospülungen los, und gleichzeitig sah Carter über Moonys Schulter hinweg einen pickligen, feisten Sträfling, der die Szene mit leiser Schadenfreude beobachtete und ihn angrinste. Eben noch war Carter sicher gewesen, Moony mache nur Spaß. Er hatte schon ein paarmal gesehen, wie Moony und Hanky miteinander scherzten, einmal hatte Moony ihm sogar mit dem Knüppel gedroht. Jetzt wurde ihm klar, daß Moony keinen Spaß machte. Moony hatte etwas gegen Carter. Er nannte ihn immer »Professor«.

»Rüber zum Ende vom Block!« sagte Moony laut.

Als er Carter angehalten hatte, war es in den zwei oder drei Zellen, von denen aus man sie sehen konnte, ganz still geworden, und diese Stille breitete sich nun im gesamten Erdgeschoß aus. Carter marschierte los, Moony hinter ihm. Vor ihnen, am Ende des Korridors, waren zwei Treppenaufgänge in den nächsten Stock, daneben die vergitterte Tür des Aufzugs, die Carter bisher nur zweimal hatte aufgehen sehen, wenn Leute nach oben auf die Krankenstation gebracht worden waren, und dann noch zwei blanke Metalltüren, die direkt in die Mauer eingelassen und mit großen runden Schlössern versehen waren. Die eine führte in den benachbarten Zellenblock B, die andere in den sogenannten Bau. Moony trat einen Schritt vor und löste klappernd das große Schlüsselbund vom Gürtel.

Ein leises, kollektives Stöhnen erhob sich von den Sträflingen, die der Szene zusahen, ein Raunen, so körperlos wie ein Windhauch.

»Was ist los, Moony?« Diese selbstsichere Stimme konnte nur einem anderen Aufseher gehören, das wußte Carter, ehe er sich umgedreht hatte.

»Hab den großen Diplomingenieur hier beim Zigarettenaustragen erwischt«, sagte Moony und stieß die Tür auf. »Da hinunter!« herrschte er Carter an.

Die Stufen führten nach unten. In den Bau.

Carter hielt nach einigen Stufen kurz inne. Vom Bau hatte er schon einiges gehört. Auch wenn die anderen übertrieben – und sie konnten ja nur übertrieben haben –, war das eine Folterkammer. »Aber hören Sie, was ich da angestellt hab … ich wollte doch nur Hanky einen Gefallen tun … das sind doch höchstens ein paar Strafpunkte, oder?«

Moony und Cherniver, der sich ihnen angeschlossen hatte, kicherten überheblich, als hätten sie einen Schwachsinnigen vor sich.

»Los, vorwärts«, gab Moony zurück. »Du hast schon mehr Strafpunkte zusammen, als du oder ich zählen können.« Er schubste ihn weiter.

Carter wahrte mühsam das Gleichgewicht und stieg dann weiter abwärts, sorgfältig auf die Stufen achtend; wenn er stolperte, könnte er den Sturz mit gefesselten Händen nur schwer abfangen. Auch am Einlieferungstag war er gestürzt, und damals hingen seine Handschellen an einem schweren Ledergürtel fest. Übrigens hatte er tatsächlich viele Strafpunkte, aber das lag vor allem daran, daß er noch nicht genau wußte, was man nun eigentlich durfte und was alles verboten war. Es gab Strafpunkte, wenn man beim Gänsemarsch in die Kantine aus dem Tritt kam, wenn man auf dem Weg zu den Werkstätten sprach oder sich auch nur entschuldigte (auf dem Rückweg wiederum durfte man das), sich zu ganz bestimmten Zeiten kämmte oder irgendwelche Besucher (egal, ob Mann oder Frau) durch die doppelte Gitterwand am Ende von Block A allzu lange anstarrte; und wegen solcher Strafpunkte hatte man Carter nun schon zum viertenmal hintereinander die Besuchszeit am Sonntagnachmittag gestrichen. Das war um so ärgerlicher, als jedesmal die beiden Briefe, die er wöchentlich abschicken durfte, bereits an Hazel unterwegs gewesen waren, so daß er ihr nicht mehr schreiben konnte, sie werde ihn am kommenden Sonntag nicht besuchen dürfen. So etwas wie eine Liste von Vorschriften gab es nicht, anhand deren man als Häftling hätte erfahren können, wie sich Übertretungen der Hausordnung vermeiden ließen. Als Carter am Anfang einige der Männer gefragt hatte, womit man sich überall Strafpunkte einhandeln konnte, bekam er dreißig oder vierzig Möglichkeiten zu hören, bis einer resigniert lächelnd bemerkte: »Ach, da gibt’s tausend Gründe. Damit die Schließer etwas zu tun kriegen!« Nun standen ihm vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden Einzelhaft im Dunkeln bevor. Carter atmete tief durch und versuchte, gelassen zu bleiben: es würde ja nicht ewig dauern, und was waren bei dem miesen Essen, das er hier bekam, schon drei oder sechs verpaßte Mahlzeiten? Leid tat es ihm nur um den täglichen Brief von Hazel, der immer gegen halb sechs in seine Zelle gebracht wurde.

Carters Fuß ertastete ebenen Steinboden. Die Luft war ungewöhnlich feucht und stank vertraut nach abgestandenem Urin.

Moony hatte eine Taschenlampe, leuchtete damit aber nur für sich und Cherniver, während Carter im Dunkeln vorausging. Rechts und links konnte er jetzt die kleinen Zellentüren ausmachen, von denen er schon gehört hatte; dahinter lagen angeblich winzige finstere Löcher, in denen man nicht einmal aufrecht stehen konnte, und mit so hohen Stufen vor den Eingängen, daß man hineinkriechen mußte. Die Strafanstalt war 1869 gebaut worden, hatte Carter gehört, demnach mußte dies noch einer der ursprünglichen Gefängnistrakte sein, die man nicht mehr hatte modernisieren können. Der Rest des Gefängnisses war offenbar irgendwann renoviert worden.

»… den Gummischlauch?« fragte Cherniver leise.

»Nein, etwas Härteres. So, da wären wir. Halt! Da hinein!«

Sie standen vor einer türlosen Zelle, deren Eingangsöffnung sehr hoch war. Als Carter eintrat, hörte er aus einer Nachbarzelle ein Ächzen oder Stöhnen und ein Schnaufen. Also war mindestens noch ein weiterer Mensch hier unten, was Carter irgendwie beruhigend fand. Verglichen mit der Zelle, die Carter mit Hanky teilte, war dieser Raum riesengroß, doch er enthielt weder Pritschen noch Stühle, noch ein Klosett, nur einen kleinen runden Abfluß in der Mitte. Die Wände waren nicht aus Stein, sondern aus Metall, schwarzgrau mit rötlichem Rostanflug. Dann bemerkte Carter zwei Ketten, die von der Decke herabhingen und in schwarzen Schlaufen endeten.

»Hände her!« befahl Moony.

Carter hielt ihm die Hände hin.

Moony nahm ihm die Handschellen ab. »He, Cherny, kannst du einen Hocker auftreiben?«

»Klar«, sagte Cherniver, knipste seine Taschenlampe an und ging hinaus.

Er kam zurück mit einem viereckigen Holzschemel, der aussah wie ein kleiner Tisch. Unter den Ketten stellte er ihn auf.

»Los, hinauf!« befahl Moony.

Carter kletterte hinauf, Moony hinterher. Noch ehe es ihm befohlen wurde, hob Carter die Hände hoch. Die Lederschlaufen waren innen mit Gummi bezogen und hatten Schnallenverschlüsse.

»Daumen!« befahl Moony.

Gehorsam drehte Carter die Daumen nach oben, und erst da wurde ihm schlagartig klar, was Moony vorhatte. Moony legte die Schlaufen um die unteren Daumenknochen, dann zog er sie straff zu. Die Riemen waren auf der ganzen Länge im Zentimeterabstand gelocht.

Moony stieg hinunter. »Hocker wegstoßen!«

Carters Hände waren so hoch oben aufgehängt, daß er bereits auf Zehenspitzen stand und nicht auch noch den Schemel wegstoßen konnte.

Moony versetzte dem Schemel einen Tritt, so daß er mehrere Meter über den Boden schlitterte und dann umkippte. Carter baumelte. Der erste stechende Schmerz ging ihm durch Mark und Bein. Das Blut schoß ihm in die Daumenenden. Er hing mit dem Rücken zu den Aufsehern, und er machte sich auf einen Schlag gefaßt.

Moony lachte auf, dann trat ihn einer der beiden gegen den Oberschenkel, so daß Carter vor- und zurückpendelte und sich dabei leicht zu drehen begann. Als nächstes traf ihn ein Stoß ins Kreuz. Carter zwang sich, nicht aufzustöhnen. Er hielt den Atem an. Der Schweiß rann ihm von den Schläfen die Backenknochen hinab. Seine Ohren dröhnten. Er schnupperte Zigarettenrauch. Ob sie ein Zeitlimit hatten, wenn auch nur ein ganz vages, eine Stunde vielleicht oder zwei? Wieviel Zeit war wohl schon verstrichen? Drei Minuten? Eine Viertelstunde? Carter glaubte, er müsse gleich laut aufschreien. Nicht schreien, ermahnte er sich, darauf warten die Schließer ja nur. Seine Rückenmuskulatur begann zu zittern. Das Luftholen fiel ihm schwer. Er hatte kurz das Gefühl zu ertrinken, als triebe er durchs Wasser statt durch die Luft. Dann übertönte sein Ohrensausen die Stimmen der Aufseher.

Etwas klatschte ihm in den Rücken. Wasser rauschte vor ihm über den Steinboden, ein Eimer kollerte davon. Alles geschah wie in Zeitlupe. Er fühlte sich schwerer als sonst, gleichsam als hätten sich ihm die beiden Aufseher an die Beine gehängt.

»Ach, Hazel«, murmelte Carter.

»Hazel?« wiederholte der eine Aufseher.

»Seine Frau. Er kriegt jeden Tag Post von ihr.«

»Na, heute bestimmt nicht, das steht fest.«

Carter hatte das Gefühl, die Augen würden ihm aus den Höhlen quellen. Er versuchte zu blinzeln. Seine Augen fühlten sich trocken und riesengroß an. Er hatte eine flüchtige Vision von Hazel, die händeringend und gereizt in seiner Zelle vor ihm auf und ab ging, ihn hie und da ansah und etwas sagte, das er nicht hören konnte.

Die Szene wechselte zur Gerichtsverhandlung. Wallace Palmer. Wallace Palmer war tot. Nun, dann sagen Sie uns doch bitte, was er mit dem Geld gemacht hat! … Kommen Sie schon, Mr. Carter, Sie sind doch ein intelligenter Mann, Ingenieur und Akademiker … ein gebildeter New Yorker … (Euer Ehren, das ist irrelevant.) Aber man unterschreibt doch nichts, was man nicht vorher gelesen hat! Gelesen hatte ich ja alles: Quittungen, Rechnungen. Es war nicht meine Aufgabe, den genauen Preis für jeden Buchungsposten zu kennen. Der Unternehmer war Palmer. Die Preise auf den Quittungen hätten auch erhöht werden können, nachdem ich unterschrieben hatte, zum Beispiel von Palmer … Ich wußte sehr wohl, daß wir schlechte Baustoffe verwendeten, und das sagte ich ihm auch. Aber wo ist das Geld, Mr. Carter? Wo sind die zweihundertfünfzigtausend Dollar geblieben? Und dann trat Hazel in den Zeugenstand und sagte mit ihrer hellen Stimme: Mein Mann und ich haben immer ein gemeinsames Konto gehabt … Wir hatten nie Geheimnisse voreinander, wenn es um Geld ging … um Geld … um Geld …

»Hazel!« schrie Carter, und das war das Ende.

Mehrere Eimer Wasser ergossen sich über ihn.

Er vermeinte hinter sich ein Johlen zu hören. Johlen und Gelächter. Dann verstummte das Geräusch, und er war wieder allein. Ihm wurde klar, daß das Johlen nichts anderes war als das Pulsieren seines eigenen Bluts in den Ohren. Es kam ihm vor, als müßten seine Daumen inzwischen schon über einen halben Meter lang sein. Er war nicht tot. Aber Wallace Palmer war tot. Palmer, der hätte reden können, wenn er nicht tot gewesen wäre. Palmer war aus dem zweiten Stock vom Gerüst gefallen und neben einem Betonmischer aufgeschlagen. Inzwischen war das Schulgebäude fertig. Carter sah es vor sich, dunkelrot, vier Etagen hoch. Es hatte eine weite U-Form, etwa so wie ein Bumerang. Oben drauf flatterte die amerikanische Flagge. Das Haus stand, aber es war schlecht gebaut. Der Beton war minderwertig, die Installationen funktionierten nicht, und der Verputz bekam Risse, noch ehe der Bau richtig fertig war. Carter hatte mit Gawill und Palmer über die Baustoffe gesprochen, aber Palmer hatte gesagt, das sei in Ordnung, so habe der Kunde es eben gewünscht: die Schulbehörde wolle Kosten sparen, und wenn ein Kunde schlechtes Material verlange, sei das nicht ihre Sache. Dann sprach es sich allmählich herum, und das Sicherheitsinspektorat oder irgendwer stellte sich auf den Standpunkt, daß man die Kinder in dieses Gebäude gar nicht hineinlassen dürfe, weil es über ihren Köpfen einstürzen konnte; die Schulbehörde habe übrigens keineswegs gespart, sondern für beste Materialien bezahlt, also wer war denn nun eigentlich verantwortlich? Verantwortlich war Wallace Palmer, und vielleicht hatten noch ein paar andere Leute bei Triumph von der Viertelmillion Dollar etwas abbekommen – Gawill zum Beispiel konnte wohl kaum übersehen haben, was da vorging –, aber Philip Carter, der Ingenieur, hatte am engsten mit dem Bauunternehmer zusammengearbeitet, außerdem war er in den Augen der Leute ein Fremder, ein gerissener Fuchs aus der Großstadt New York, der auf Kosten des Südens seine Schäfchen ins trockene hatte bringen wollen, ein Experte, der zum Verräter an seiner Standesehre und dem Vertrauen in seinen Beruf geworden war, und deshalb hatte die Behörde seinen Kopf gefordert. »Lassen wir das Schulhaus eben leer stehen, bis es der nächste starke Windstoß umbläst«, schlug der Staatsanwalt vor, »als Schandmal, als überteuertes Schandmal, das sich ruhig jeder hier einmal ansehen sollte!«

Zwei Männer kamen und holten ihn herunter. Carters Kopf schlug auf dem Steinboden auf. Unbeholfene Versuche, ihn aufzuheben. Flüche. Sie ließen ihn zusammengesunken auf dem Boden zurück und verschwanden wieder. Carter würgte, aber es kam nichts. Die Männer kamen mit einer Trage zurück. Es war ein weiter Weg durch Korridore, die Carter durch die halbgeschlossenen Lider kaum wahrnahm. Stufe um Stufe trugen sie ihn hinauf, Moony und noch ein anderer – wie hieß der noch, der vom vorigen Abend? Oder wann war das? Immer höher stiegen sie, dabei hätten sie ihn fast von der Bahre gekippt, rücklings und mit dem Kopf voran. Dann wieder Korridore, schmalere diesmal, in denen Häftlinge – Carter erkannte sie an der fleischfarbenen Kleidung – und ein paar Schwarze in blauen Overalls, ebenfalls Häftlinge, ihnen schweigend nachstarrten. Schließlich der Geruch nach Jod und Desinfektionsmittel: sie brachten ihn in die Krankenstation. Die Trage wurde auf einem harten Tisch abgelegt. Eine Stimme murmelte wütend. Eine angenehme Stimme, fand Carter.

Moony antwortete der Stimme: »Ständig tanzt er aus der Reihe … Andauernd. Was soll man mit einem Kerl wie dem anfangen? … Sie sollten meinen Beruf haben, Doktor … Bitte, dann erzählen Sie es eben dem Direktor. Werd ihm selber einiges erzählen.«

Wieder sprach der Arzt und hob dabei Carters Handgelenk. »Jetzt sehen Sie sich das an!«

»Ach was, gibt Schlimmeres«, sagte Moony.

»Wie lange hat er gehangen?«

»Keine Ahnung. Habe ich ihn vielleicht aufgehängt?«

»Nicht? Wer denn dann?«

»Keine Ahnung.«

»Dann finden Sie es bitte heraus. – Würden Sie das bitte herausfinden?«

Ein Mann mit einer runden Hornbrille und einem weißen Kittel wusch Carter mit einem großen feuchten Lappen das Gesicht ab und drückte ihm ein Paar Tropfen auf die Zunge.

»… Morphium, Pete«, sagte der Arzt. »Geben wir ihm gleich dreißig Milligramm.«

Sie rollten ihm den Ärmel hoch und gaben ihm eine Spritze. Der Schmerz verebbte rasch, wie eine zurückweichende Flut, wie ein versickerndes Meer. Wie im Himmel. Ein wohltuendes, schläfriges Klingeln erfüllte seinen Kopf, ein leichtfüßiger Tanz, sanfte Musik. Sie machten irgend etwas mit seinen Händen, und darüber schlief er ein.

2

Als Carter erwachte, lag er auf dem Rücken in einem weißen Bett, ein Kissen unter dem Kopf. Die Arme ruhten auf der straff gespannten Bettdecke, und seine Daumen waren riesige Klumpen aus Bandagen, ebenso groß wie die ganze Hand. Er sah sich um. Das linke Bett war leer, im rechten schlief ein Schwarzer, der den Kopf verbunden hatte. Der Schmerz sickerte in seine Daumen zurück, und ihm wurde klar, daß er von diesem Schmerz aufgewacht war. Er wurde immer stärker, und das erschreckte ihn.

Ein Arzt kam herein. Carter musterte ihn mit vor Angst weit aufgerissenen Augen, und als er merkte, daß man ihm die Angst ansah, zwinkerte er. Der Doktor lächelte. Er war ein kleiner dunkelhaariger Mann von Mitte Vierzig.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte ihn der Arzt.

»Die Daumen tun mir weh.«

Der Arzt nickte, immer noch leise lächelnd. »Ja, die sind auch übel strapaziert worden. Ich geb Ihnen noch eine Spritze.« Er sah auf seine Armbanduhr, runzelte die Stirn und ging aus dem Zimmer.

Als er mit der Spritze zurückkam, fragte ihn Carter: »Wie spät ist es?«

»Halb sieben. Sie haben ordentlich durchgeschlafen.« Die Nadel drang ein, verharrte einige Sekunden. »Wie wär’s mit etwas zu essen – bevor das Zeug da Sie wieder einschläfert?«

Carter gab keine Antwort. Nach der Helligkeit draußen mußte es halb sieben Uhr abends sein. »Welchen Tag haben wir heute?«

»Donnerstag. Rührei? Eingeweichter Toast? Etwas anderes sollten Sie einstweilen nicht probieren – Eiskrem? Hätten Sie darauf Lust?«

Carters Gehirn registrierte träge, daß dies die freundlichste Stimme war, die er seit seiner Einweisung ins Gefängnis gehört hatte. »Rührei.«

Carter blieb zwei Tage auf der Krankenstation, dann nahm man ihm die Verbände ab. Seine Daumen waren unförmig und krebsrot und schienen gar nicht zu ihm, zu seinen Händen, zu gehören. Die Daumennägel wirkten in diesen Fleischmassen winzig klein. Und es tat immer noch weh. Alle vier Stunden bekam er eine Morphiuminjektion, doch er hätte sie lieber in kürzeren Abständen gehabt. Zwar gab sich der Arzt betont hoffnungsfroh, doch Carter merkte deutlich, daß er sich Sorgen machte, weil die Schmerzen nicht abklangen. Der Arzt hieß Dr. Stephen Cassini.

Strafpunkte hin oder her, am Sonntag durfte Carter keinen Besuch haben, weil er in der Krankenstation lag.

Am Sonntag um halb zwei, als die Besuchszeit begann, stellte sich Carter Hazel in der großen graugrünen Vorhalle im Erdgeschoß vor, wie sie sich beschwerte: Sie sei gekommen, um ihren Mann zu besuchen, und sie werde nicht eher gehen, bis sie ihn auch gesehen hätte. Carter hatte Dr. Cassini einen Brief diktiert, in dem stand, der Besuchstag werde leider ins Wasser fallen müssen, und der Brief war irgendwann am Freitag hinausgeschmuggelt worden, aber es stand nicht fest, ob Hazel ihn noch rechtzeitig erhalten hatte. Doch sie würde in jedem Fall kommen, weil er geschrieben hatte, er habe sich an den Händen »leicht verletzt«, aber Carter wußte auch, daß sie letzten Endes an den zwei grauen Gittertüren in der Vorhalle scheitern würde ebenso wie an den uniformierten Beamten, die die Ausweise kontrollierten und prüften, ob die Häftlinge überhaupt Besuch bekommen durften. Carter krümmte sich im Bett zusammen und preßte das Gesicht in das harte Kopfkissen.

Er holte ihre beiden letzten Briefe unter dem Kissen hervor, hielt sie mit zwei Fingern fest und las sie noch einmal.

… Timmie hält sich recht gut, Schatz, mach Dir seinetwegen keine Sorgen. Ich rede ihm jeden Tag gut zu und hoffe, daß es nicht allzu belehrend klingt. In der Schule hänseln sie ihn natürlich alle, das liegt ja wohl leider in der Natur des Menschen …

Und im letzten Brief:

Liebster Phil,

habe gerade über eine Stunde lang mit Mr. Magran gesprochen, Du weißt, das ist der Rechtsanwalt, den David schon immer statt Tutting empfohlen hat, und er ist mir sehr sympathisch. Er redet vernünftig und ist optimistisch, aber nicht (wie Tutting) so optimistisch, daß man schon wieder mißtrauisch wird. Aber Tutting hat ohnehin gesagt, er könne jetzt »nichts mehr tun«. Als gäbe es nicht den Obersten Gerichtshof, aber Tutting soll die Finger davon lassen! Ich habe ihn jetzt ausbezahlt, das heißt, er hat die letzten $ 500 seines Honorars gekriegt, und wenn Du einverstanden bist, kann Magran den Fall übernehmen. Magran sagt, es wird $ 3000 kosten, die Gerichtsprotokolle Deines Prozesses für den Obersten Gerichtshof abtippen zu lassen, aber das können wir uns ja leisten. Magran will Dich jedenfalls so bald wie möglich sehen. Ach, Schatz, das furchtbarste sind diese idiotischen Vorschriften, die sie mir jeden Sonntag zur Begrüßung vorbeten: Nr. 37765 hat zu viele Strafpunkte und darf daher diese Woche keinen Besuch bekommen. Und das bloß, weil Du, wie Du schreibst, in der Kantine nicht im Gleichschritt gegangen bist. Um Himmels willen, Liebster, halt bloß ihre blödsinnigen Regeln ein!

Magran will auch an den Gouverneur persönlich schreiben, Du erhältst dann eine Kopie. Du darfst Dir keine Sorgen machen. Ich weiß genau wie Du, daß es nicht für ewig ist, nicht einmal für so lange. Sechs bis zwölf Jahre! Es werden nicht einmal sechs Monate werden …

Magran würde mindestens dreitausend Dollar Honorar haben wollen, dazu die dreitausend für die Abschrift der Protokolle, und damit wäre ihr Bargeld so ziemlich aufgebraucht. Alle diese Summen klangen astronomisch. Seine Kaution zum Beispiel: fünfundsiebzigtausend Dollar, die sie allein natürlich nicht aufbringen konnten, und seine Tante Edna hatte Carter nicht darum bitten wollen. Ihr Haus war mit einer Hypothek belastet, der Oldsmobile war tausendachthundert Dollar wert, aber Hazel brauchte den Wagen zum Einkaufen und um jeden Sonntag die siebenundzwanzig Meilen hinauszufahren, um ihn zu besuchen – oder es jedenfalls zu versuchen.

Und jetzt waren seine Daumen ausgerenkt. Das war die ganze bizarre Wahrheit. Der Arzt hatte zwar einen anderen Begriff gebraucht, aber im wesentlichen lief es darauf hinaus, und Dr. Cassini zufolge würde selbst eine Operation nur wenig nützen. Das Gefängnis – von dem Carter noch vor kurzem geglaubt hatte, ein paar Wochen darin wären gut auszuhalten und nur gerade eine Episode in seinem Leben – hatte ihn nun für alle Zeit gezeichnet. Die Daumengrundgelenke würden nie mehr voll beweglich werden, und die Delle in der Haut ging auch nicht mehr weg. Er würde mit diesen komisch aussehenden Daumen herumlaufen, und viel Kraft würde er auch nicht darin haben. Es brauchte keine große Phantasie, um sich vorzustellen, was sie so zugerichtet hatte. Nie wieder würde er beim Bridge die Karten so flink wie früher austeilen oder für Timmie Pfeil und Bogen schnitzen können – aber bis er herauskam, dürfte Timmie das Interesse für Pfeil und Bogen ohnehin verloren haben. Gleich am Sonntag, schon in der ersten Stunde, nachdem ihm die Verbände abgenommen worden waren, hatte er an Hazel geschrieben, den Füller ungelenk zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, und nun mußte er ihr erzählen, was passiert war, so scheußlich es auch klang, und seine sonderbare Handschrift erklären, doch er hatte den Vorfall weitgehend heruntergespielt und zum Beispiel von einigen Stunden geschrieben statt fast achtundvierzig. Seine Daumen waren für immer entstellt, nur weil ihm ein Mann namens Hanky aus unerfindlichen Gründen übelwollte. Warum? Weil er Hanky nicht das Foto von Hazel gezeigt hatte? »Verheiratet bist du? … Hast ein Foto von ihr? … Zeig her«, hatte Hanky am ersten Tag ihrer Bekanntschaft gesagt. »Ach, ein andermal«, hatte ihm Carter so freundlich wie möglich geantwortet. »Du hast ja gar kein Foto.« Das wäre vielleicht seine Chance gewesen, es Hanky doch noch zu zeigen und ihn zu versöhnen, aber er hatte es verpatzt. Hazels Bild, das er in der Brieftasche mit sich trug, war aus der Vergrößerung eines Farbfotos herausgeschnitten, auf dem sie vor ihrer New Yorker Wohnung an der East Fifty-seventh Street im Schnee stand, ohne Mütze, ihr dunkles Haar wehte im Wind; sie lachte und hatte diesen wunderschönen, typischen Gesichtsausdruck, und deshalb war es Carters Lieblingsfoto von ihr, und was hätte ein Schwein wie Hanky schon von der Aufnahme einer Frau, die den Biberpelzkragen ihres Mantels bis zum Kinn zugeknöpft hatte?

Am Sonntagnachmittag gegen vier erschien Dr. Cassini zur Visite bei den gut vierzig Patienten der Station. Als er zu Carter kam, fragte er: »Nun, Carter, möchten Sie versuchen, ein bißchen zu gehen?«

»Aber sofort«, sagte Carter und setzte sich auf. Schmerzen durchzuckten seinen Rücken, doch er ließ sich nichts anmerken. Er wankte zum Fuß des Bettes und mußte sich dabei an der ausgestreckten Hand des Arztes festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Dr. Cassini schüttelte lächelnd den Kopf. »Sie machen sich immer nur Sorgen um Ihre Daumen. Wissen Sie überhaupt, daß diese Gerinnsel in Ihren Beinen fast die Zirkulation abgeschnürt haben? Sie hätten eine Gangrän bekommen können! Ist Ihnen klar, daß Sie noch gestern früh fast vierzig Grad Fieber hatten und ich schon Angst hatte, Sie würden eine Lungenentzündung bekommen?«

Carter war froh, sich wieder setzen zu können. Ihm war schwindlig. »Wann geht das aus meinen Beinen wieder heraus?«

»Die Gerinnsel? Mit der Zeit. Und durch Massieren. Gehen Sie ruhig ein bißchen am Fuß Ihres Bettes auf und ab, aber einstweilen nicht mehr«, sagte Dr. Cassini und ging zum nächsten Patienten.

Carter saß keuchend da, wie nach einem Sprint. Er erinnerte sich an Dr. Cassinis Bemerkung vom Vortag: Er sei immerhin schon dreißig und könne nicht erwarten, sich von einem solchen Vorfall ebenso rasch wie ein Neunzehnjähriger zu erholen. Dr. Cassini hatte eine so fröhlich-sachliche Art, über den »Bau« und dessen Opfer zu reden, die er schon behandelt hatte, daß Carter das bizarre Gefühl bekam, nicht in einem Gefängnis, sondern in einem Irrenhaus zu sein – einem Irrenhaus, in dem die Wärter die Verrückten waren, wie in dem alten Witz. Dr. Cassini schien die Vorgänge im Haus in keiner Weise zu bewerten. Oder etwa doch? Dr. Cassini hatte ihn am Vortag gefragt, weswegen er hier sei, und Carter hatte es ihm erzählt. »Bei den meisten Burschen hier frage ich gar nicht erst nach«, hatte Dr. Cassini gesagt. »Da weiß ich es schon vorher: Einbruch, Betrug, ›Selbstbedienung‹, Autodiebstahl, aber Sie sind anders als die anderen hier.« Dr. Cassini hatte wissen wollen, auf welcher Universität er gewesen war – Carter hatte im Staat New York studiert, an der Cornell University –, und warum er in den Süden gekommen sei. Carter wünschte, er hätte sich das selbst gefragt, damals vor acht Monaten, als er mit Hazel hergezogen war. Er war wegen eines Angebots der Baufirma Triumph gekommen, das einfach sehr verlockend geklungen hatte: jährlich fünfzehntausend Dollar, dazu diverse Extras. »Was hat Palmer Ihrer Meinung nach mit dem Geld angestellt?« hatte Dr. Cassini gefragt, und Carter hatte erwidert: »Tja, er hatte eine Freundin in New York und eine zweite in Memphis, mit denen er abwechselnd die Wochenenden verbrachte. Freitags flog er immer hin. Er hat ihnen Autos und alles mögliche geschenkt.« Und Dr. Cassini hatte genickt und gesagt: »Ja, ich verstehe«, und er glaubte ihm wohl wirklich. Es stimmte ja auch. Aber das Gericht hatte ihm nicht geglaubt. Sogar als die beiden Freundinnen zum Verhör eingeflogen worden waren, wollte niemand glauben, daß Palmer in einem Jahr zweihundertfünfzigtausend Dollar für die zwei Frauen hätte ausgeben können, vor allem da die beiden zusammen nicht mehr vorzeigen konnten als einen Nerzmantel im Wert von fünftausend Dollar und ein Brillantarmband im Wert von achttausend Dollar. Niemand schien zu wissen oder sich einen Deut darum zu scheren, daß Palmer für Essen und Trinken über fünfhundert Dollar monatlich ausgeben konnte – und dies auch getan hatte – oder daß das viele Fliegen Unsummen kostete oder daß die beiden Frauen ihre teuren Autos vor der Verhandlung schnell abgestoßen und wie Palmer diverse Geheimkonten in Brasilien haben könnten.

Carter verkroch sich wieder unter der Decke. Während er auf der Bettkante saß, hatte ihn der Schwarze mit dem Kopfverband unverwandt angestarrt, wie einen langweiligen Film. Carter hatte ihn mehrfach angesprochen, aber nie eine Antwort bekommen, und an diesem Vormittag hatte ihm Dr. Cassini gesagt, der Schwarze habe immer wieder Abszesse in den Ohren und sein Gehör sei wohl kaum noch zu retten.

Immer wieder las er Hazels letzte vier Briefe: den einen, der in seiner Tasche gewesen war, als sie ihn an den Daumen aufgehängt hatten, und die drei, die seither gekommen waren. Carter hielt sie mit den Fingern fest, während es in seinen dicken Daumen im Gleichtakt pochte, als wären sie stumme Trommeln zwischen seinen Augen und dem Papier. Auf ihren letzten Brief, den fröhlichsten bisher, hatte Hazel einen Tropfen ihres Parfums getan. Der Pfleger Pete kam mit der Morphiumspritze und bereitete schweigend die Injektion vor. Pete hatte nur ein Auge, das andere war eine verschrumpelte Höhle – ob infolge einer Krankheit oder einer Verletzung, wußte Carter nicht. Die Nadel glitt in seinen Arm. Schweigend entfernte sich Pete, und Carter wandte sich wieder seinen Briefen zu. Während sich das Morphium in sein Blut stahl, hörte er auf einmal Hazels Stimme ihren eigenen Brief vorlesen, und so ging er all ihre Briefe nochmals durch, als wären sie ihm völlig neu. Er hörte sogar Timmies Stimme, wie er sie unterbrach, und wie Hazel dann sagte: »Einen Augenblick noch, mein Spatz, siehst du nicht, daß ich an Daddy schreibe? – Ach so, dein Baseballhandschuh. Na, da liegt er doch, direkt vor dir. Da auf dem Sofa. Dort hat er sowieso nichts zu suchen. Nimm ihn doch gleich hoch in dein Zimmer.« Timmie schob die kleine Hand in den schon zu klein gewordenen Handschuh. »Wann kommt Daddy nach Hause?« – »Sobald er …« – »Wann kommt Daddy nach Hause?« … Wann würde Daddy nach Hause kommen … Carter drehte sich im Bett herum und wehrte sich gegen diese Vorstellung, lag ganz passiv da, die Augen auf Hazels Brief gerichtet, bis sich ein anderer Traum davorschob. Er sah das Schlafzimmer vor sich. Hazel stand vor der Kommode, bürstete sich vor dem Zubettgehen das Haar. Er war im Pyjama. Als er auf sie zuging, lachte sie ihn im Spiegel an. Sie küßten sich, ein langer Kuß. Das Morphium intensivierte die Erinnerung, und ihm war beinahe, als läge Hazel direkt neben ihm in dem harten Bett.

Carter sah seine Träume, als spielten sie sich auf einer Bühne ab. Im Theater war er allein. Er war der einzige Zuschauer. Niemand hatte die Aufführung je gesehen. Und es würde sie auch niemand sehen, außer ihm. Die Stimmen der anderen Häftlinge waren ausgeblendet. So hatten ihm seine malträtierten Daumen wenigstens diese paar Tage der Ruhe geschenkt. Ein Schmerzenslaut von irgendwo, das Klappern einer Bettpfanne, all das klang wie Musik im Vergleich zu den Ausscheidungsgeräuschen um halb sieben Uhr morgens im Zellenblock, dem gellenden Keckern in der Nacht, das an Frauengekicher erinnerte, oder den nicht minder befremdlichen Lauten von Männern, die ihrem Trieb Erleichterung verschafften. Wer waren da die Irren?, fragte sich Carter. Wer hier drinnen? Und wie viele von den Tausenden von Geschworenen und Richtern da draußen, die diese sechstausend Männer hierhergeschickt hatten?

3

Erst am Mittwoch konnte Carter wieder gehen. Dr. Cassini beschaffte ihm einen neuen Sträflingsanzug, der besser paßte als der alte. Er war noch immer sehr schwach, und das machte ihm Sorgen.

»Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte Dr. Cassini.

Carter nickte und staunte wieder einmal, wie nüchtern der Doktor über den »Bau« sprechen konnte. »Sie sagten, Sie hätten schon ähnliche Fälle gehabt – so wie meinen?«

»Ja, ein paar schon. Ich bin immerhin schon vier Jahre hier … Hören Sie, ich finde es auch nicht richtig, was die da machen. Ich habe auch schon an den Direktor geschrieben. Der verspricht, sich darum zu kümmern. Und vielleicht feuert er sogar einmal einen Aufseher, oder er versetzt ihn.« Dr. Cassini schlug die Hände über dem Kopf zusammen, dann schob er sich gereizt die Hornbrille zurecht und zwinkerte Carter zu. »Gegen Behörden kommt man einfach nicht an, es ist zum Verrücktwerden. Ich bleibe ja ohnehin nicht mehr lange hier.« Er nickte heftig, wie zur eigenen Bestätigung, was Carter sofort mißtrauisch machte. »Zeit für Ihre nächste Injektion, wie?«

Auch Carter schrieb an Direktor Joseph J. Pierson, wegen Moonan und Cherniver. Er hatte sich vorgenommen, möglichst knapp, ruhig und sachlich zu bleiben. Das Ergebnis war ein derartiges Meisterwerk an Untertreibung, daß er beim Durchlesen laut auflachen mußte. Das Schreiben lautete:

Sehr geehrter Herr Direktor Pierson,

mit Ihrer Erlaubnis möchte ich Sie davon unterrichten, daß man mich am Nachmittag des 1. März in einem der Kellerräume der Strafanstalt fast achtundvierzig Stunden lang an den Daumen aufgehängt hat. Wenn ich vor Schmerzen in Ohnmacht fiel, wurde ich jedesmal durch kalte Wassergüsse wieder zur Besinnung gebracht. Als Folge davon sind meine Daumen für immer verstümmelt, da die Grundgelenke aus den Pfannen gerissen wurden. Verantwortlich dafür waren die Aufseher Mr. Moonan und Mr. Cherniver. Mit allem Respekt ersuche ich Sie darum, in dieser Angelegenheit Ihre Autorität walten zu lassen.

Hochachtungsvoll,

Philip E. Carter (Nr. 37765)

 

PS: Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir eine vollständige Liste der Gefängnisregeln und -vorschriften zukommen ließen, damit ich in Zukunft eine Anhäufung von Strafpunkten vermeiden kann.

Von einem der Häftlinge hatte Carter gehört, Direktor Pierson bestätige zwar immer sehr gewissenhaft den Empfang jedes Briefes, eine eigentliche Antwort bekomme man aber nie darauf. Trotzdem warf Carter seinen Brief in den Schlitz mit der Aufschrift »Anstaltsintern«, und damit hatte es sich. Geduld und innere Stärke, dachte er. Ihm stand ein langer, mühsamer Kampf bevor, ganz egal, wie Hazel sich das vorstellte. Jedenfalls würde er Hazel am Sonntag sehen; Dr. Cassini hatte eine Sondererlaubnis beantragt. In nur zweiundsiebzig Stunden würde er sie zwanzig Minuten lang sehen können. Ein beschwingter Fatalismus verlieh ihm Auftrieb: umbringen würden sie ihn bis Sonntagnachmittag wohl kaum, also stand einem Wiedersehen mit Hazel nichts im Weg. Und Strafpunkte konnte er sich auf der Krankenstation auch keine einhandeln, da er ja praktisch untätig herumsaß, nirgendwo hinging und außer der Toilette auch keine Anstaltseinrichtungen benutzte.

Er machte sich wieder einmal an die Lektüre von Sturmhöhe und schrieb an Hazel:

Mein Liebes,

stell Dir vor, da sitze ich im Gefängnis und lese Emily Brontë! So schlimm ist es also gar nicht. Bitte mach Dir keine Sorgen, vor allem werde bloß nicht wütend, wenn’s geht. Ich war während der ersten Wochen hier ständig wütend, und es hat mir gar nichts eingebracht, nur lauter Strafpunkte und die Antipathie der Aufseher. Am besten läßt man den Ärger gar nicht an sich heran – soweit das möglich ist. Du weißt schon, so ähnlich wie die Yogis oder diese Burschen vom gewaltlosen Widerstand. Unser Gegner ist mächtiger als wir, das muß uns klar sein.

Bin sehr froh, daß Timmie jetzt besser im Lesen ist und daß er in der Schule nicht mehr so gehänselt wird. Hoffentlich stimmt das auch. Würde er es Dir auch bestimmt erzählen? Ich bin mir da nämlich nicht sicher. Vielleicht brütet er auch stumm vor sich hin. Sitzt er oft nur da und brütet stumm vor sich hin? Schreib mir das bitte. Ich werde meinen nächsten Brief an ihn richten, also bekommst Du dann keinen. Aber sag ihm bis dahin, daß ich sehr stolz auf ihn bin, weil er mich als Mann im Haus vertritt. Beim Schneeschippen und so. Zwei Zentimeter Neuschnee sind gar nicht so ohne!

Helfe in der Krankenstation mit, so gut ich kann – Bettpfannen wechseln und derlei erfreuliche Aufgaben. Mach Dir keine Sorgen wegen meiner Hände. So ungelenk schreibe ich gar nicht, wie Du siehst. Ich liebe Dich, mein Schatz,

Phil

Das Schreiben war die reinste Schwerarbeit, und die Schrift sah ziemlich schlecht aus – wackelig und fast alles Einzelbuchstaben.

»Mista Carter«, sagte der Schwarze im Nachbarbett flehentlich, »Mista Carter …«

Carter trat ans Fußende seines Bettes, hob mit den Handballen die Bettpfanne, die auf einem Tischchen dort stand, und schob sie unter die Decke.

»Danke schön, Sir.«

»Bitte, bitte«, murmelte Carter, obwohl ihn der Schwarze gar nicht hören konnte.

Am Sonntag rasierte sich Carter besonders sorgfältig. Es gehörte zu den großen Vorteilen der Krankenstation, daß er sich täglich duschen und rasieren konnte, statt zweimal wöchentlich gemeinsam mit den anderen Häftlingen zu den Waschräumen und zum Friseur getrieben zu werden. Gegen Mittag duschte er ein zweites Mal und putzte seine schweren Schuhe. Er verwendete ebensoviel Sorgfalt auf seine Erscheinung wie damals bei seiner Hochzeit, und er überlegte, ob er Hazel das sagen sollte, entschied sich aber dagegen, weil sie es wohl nicht sehr lustig gefunden hätte. Seine ausgebeutelten Hosen bügelte er in einem Zimmer am Ende des Korridors, in dem es Bügelbrett, Bügeleisen und ein Waschbecken gab. Dann legte er das weiße Hemd an, das die Häftlinge sonntags tragen durften, wenn sie Besuch hatten. Es hatte kurze Ärmel und überlange Kragenspitzen: Krawatten waren nicht erlaubt – weil man sich daran aufhängen könnte, nahm Carter an –, aber immerhin war das Weiß eine willkommene Abwechslung gegenüber der Fleischfarbe sonst.

Er betrachtete sich im Spiegel neben der Stationstür und versuchte sich vorzustellen, wie er auf Hazel wirkte. Er hatte Ringe unter den Augen, wenn auch nicht allzu tiefe. Sein Gesicht war eindeutig schmaler geworden. Und er sah nicht mehr wie dreißig aus, eher wie fünfunddreißig. Sogar seine Lippen schienen schmaler und angespannter, der Kopf wirkte hagerer, aber das lag natürlich am Häftlingshaarschnitt. Seine blauen Augen sahen ihn an wie die eines Fremden, müde, hart und irgendwie argwöhnisch.

Dr. Cassini klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. »Da haben Sie sich ja piekfein zurechtgemacht, was, Philip?«

Carter nickte grinsend, und plötzlich schlug sein Herz vor Aufregung schneller. Eine schwindelerregende Vorfreude ergriff ihn, als ob die Zeit zurückgedreht wäre und er mit dem Taxi, einen Blumenstrauß auf dem Schoß, zu seiner Verabredung mit Hazel unten am Gramercy Park fuhr, und sie öffnete ihm, noch ehe er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, oben an der Eingangstreppe angelangt war, schon die braune Tür mit dem schweren Messingknauf.

»Wollen Sie noch eine Spritze haben?«

»Nein, das geht schon so, danke.« Seine Daumen begannen gerade wieder leicht zu schmerzen, aber er wollte jetzt, um halb eins, nicht schon wieder eine Injektion. Die letzte hatte er um zehn bekommen, und er fand, das sollte bis zehn vor zwei Uhr reichen, wenn Hazels Besuch vorbei sein würde. Um zehn nach eins allerdings war das stechende Pulsieren in seinen Daumen so heftig geworden, daß Carter versucht war, sich schnell von Pete eine Spritze geben zu lassen, und er hätte ihn auch einfach nur darum zu bitten brauchen, aber er beschloß, bei seinem Vorsatz zu bleiben, daß er keine Injektion haben wollte, kurz bevor er Hazel wiedersah. Er ließ sich von Pete die Daumen bandagieren, damit sie nicht so schockiert von dem Anblick wäre.

Mit dem Laufzettel, den Dr. Cassini und Clark, der Aufseher der Krankenstation, unterschrieben hatten, fuhr Carter im Fahrstuhl nach unten. Dreimal mußte er den Zettel zeigen, und jedesmal kam eine neue Unterschrift oder Paraphe hinzu, ehe er seinen alten Block A erreichte, an dessen anderem Ende sich der Eingang zum Besuchsraum befand. Inzwischen hatte er bereits weiche Knie.

Ein Stück weiter vorn sah Carter Hankys unförmige Gestalt auf der linken Seite des Korridors dahinschlurfen, wahrscheinlich auf dem Weg zu der Zelle, die sie bis vor kurzem noch geteilt hatten. Carter verlangsamte seinen Schritt, um Hanky nicht zu überholen oder von ihm entdeckt zu werden. Als er sich den Gitterstäben näherte, versuchte er vergeblich, unter den Besuchern im Warteraum Hazel zu erspähen. Der Warteraum oder die Vorhalle war mit schmalen Bänken möbliert, in der Mitte ein schmaler Gang, wie in einer Kirche. Hinten beim Ausgang standen ein Kaffeeautomat und einer mit Kaugummi und Süßigkeiten. Zwischen Zellenblock und Vorhalle lag ein rund sechs mal sechs Meter großer Raum, der auf zwei Seiten durch Mauern und auf den anderen beiden Seiten durch Gitter vom Boden bis zur Decke abgetrennt war. Dieser Raum wurde der ›Käfig‹ genannt. Im Käfig waren immer zwei Aufseher, die beiden Türen wurden nie gleichzeitig geöffnet, und kein Besucher durfte den Käfig betreten, solange ein Häftling drinnen war, selbst wenn dieser nur einem Aufseher den Postsack aushändigte. Rechts im Käfig, vom Zellenblock aus gesehen, war eine verschlossene Tür, durch die die Besucher zum Besuchsraum eine Etage tiefer hinabsteigen konnten. Häftlinge, die Besuch bekamen, gelangten durch eine Tür im Korridor, gleich neben dem Käfig, da hinunter.

Carter entdeckte Hazel, als er etwa sechs Meter vom Käfig entfernt war. Sie ging zu dem Stehpult auf der rechten Seite des Warteraums und zeigte dem Beamten ihren Ausweis. Carter klopfte das Herz bis zum Hals, und er wandte sich langsam ab, damit der Aufseher, der gleich rechts von ihm an der Wand lehnte, ja nicht auf die Idee käme, er starre hier fremde Leute an.

»Santoz?« rief der Aufseher beim Eingang für die Häftlinge.

»Hier!« Einer der Männer marschierte los.

»Colligan?«

Mürrische, ausdruckslose und irgendwie neidische Gesichter beobachteten, wie Männer in weißen Hemden sich aus der trägen Masse im Korridor lösten, richtig lebendig wurden und mit ihren Laufzetteln in Richtung des Besuchsraums davoneilten.

»Carter?«

Der Aufseher nahm seinen Laufzettel entgegen, kritzelte etwas darauf und winkte ihn durch. Carter stieg die schwach erhellte Treppe hinunter. Sie führte in einen langen Raum, in dem mittendurch eine gläserne Trennwand verlief, mit einem Sims in Tischhöhe und unbequemen Stühlen zu beiden Seiten. Die Stühle waren fast alle besetzt. Der Besuchereingang lag am anderen Ende des Raumes, jenseits der Glaswand. In jeder Ecke stand ein bewaffneter Aufseher. Carter behielt beim Gehen die Besuchertür im Auge und wartete auf Hazel.

Dann kam sie herein, und er ging los, ohne den Blick von ihr zu lassen, in Richtung eines freien Stuhls auf ihrer Seite der Trennwand, deutete darauf und zog dann einen leeren Stuhl für sich selbst heran. Hazel trug ihren blauen Tweedmantel, dazu ein buntes Halstuch. Carter erschien sie als ein spektakulärer Farbfleck, strahlend und wunderschön, wie Blumen oder Vogelgefieder. Auf ihren roten Lippen lag ein Lächeln, aber ihr Blick war beunruhigt. Sie sah auf seine Hände.

Carter schob die Unterlippe vor und zuckte grinsend die Achseln. »Tut gar nicht mehr weh … Du siehst wunderschön aus.« Wegen der Glasscheibe mußte er laut und deutlich sprechen.

»Was ist damit nun eigentlich los? Hat der Arzt etwas Neues darüber gesagt?« fragte Hazel.

»Nein, nichts.« Carter schluckte und sah zur Wanduhr. Er saß ganz vorn auf der harten Stuhlkante. Ehe er sich’s versah, würden die zwanzig Minuten um sein, und er vergeudete bereits wertvolle Sekunden mit Schweigen – aber immerhin sah er Hazel vor sich. »Was macht Timmie?«

»Timmie geht es gut. Alles prima.« Hazel fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Du hast abgenommen.«

»Nicht viel.«

»Mr. Magran sagte, er will dich heute auch besuchen.«

Ihre Stimme erinnerte ihn an klares, kühles Wasser. Seit sechs Wochen hatte er keine Frauenstimme mehr gehört. »Es ist herrlich, dich wiederzusehen.« Carter fühlte sich von der Stimme des Häftlings links von ihm gestört, der mit einem Mann in einem dunklen Anzug zu Hazels Rechten sprach, vielleicht seinem Anwalt. Der Häftling sprach laut und in gereiztem Tonfall: »Weiß ich nicht! Keine Ahnung. Wieso reiten Sie denn dauernd darauf rum?« Carter hörte diese Stimme viel lauter als Hazels.

»Hast du schon einen Befund von deinem Arzt bekommen?« fragte sie.

In seinen Daumen pochte es stärker. Auf der Stirn stand ihm kalter Schweiß. »Er … er will sie noch einmal röntgen. Einstweilen kann er noch gar nichts sagen. Nichts Genaues jedenfalls.«

»Dann ist es also schlimmer, als du mir geschrieben hast, was?«

»Ich weiß es einfach nicht, Schatz. Es sind die Gelenke …« Nenn mir die Namen der Aufseher, die das getan haben, hatte Hazel in einem ihrer Briefe verlangt. So etwas ist heutzutage vollkommen unrechtmäßig. »Unrechtmäßig« – ein merkwürdiges Wort angesichts mancher der Dinge, die er im Gefängnis erlebt hatte. Was war denn mit dem alten Mann in Zellenblock A mit dem kaputten Gebiß, der sich unmöglich ein neues leisten und jetzt nur noch Suppe essen konnte? War das vielleicht eine rechtmäßige Art, Häftlinge zu behandeln? Carter spürte einen Kloß im Hals, als müßte er gleich in Tränen ausbrechen. Ich möchte ihr nur den Kopf in den Schoß legen, dachte er und straffte die Schultern. »Ich besorge den Befund von Cassini so bald wie möglich.«

»David wird eine Menge damit anfangen können«, sagte Hazel ernsthaft.

»David? Ich dachte, Magran will ihn haben.«

»David hat gesagt, er geht damit persönlich zum Gouverneur. David ist doch auch Anwalt, du weißt doch. Er wird es schneller erledigen als Magran. Sofort.«

»Wer vertritt mich eigentlich, Magran oder Sullivan?« warf Carter ein. Seine Hände ruhten auf der Tischplatte wie Boxerfäuste. In den Daumen pulsierte es so heftig, als müßte das Blut jeden Augenblick aus den Verbänden spritzen. »Wie ich höre, triffst du dich ziemlich oft mit Sullivan«, sagte er. Seine Bemerkung kränkte sie sichtlich.

»Ich habe es dir jedesmal gesagt, wenn ich ihn getroffen habe, Phil. Ohne ihn wäre ich völlig aufgeschmissen. Die Nachbarn rufen zwar öfters an und kommen vorbei, aber was können die schon tun? David versteht wenigstens etwas von den Gesetzen.«

»Ach, weißt du … die können wir ruhig vergessen.«

»Wen?«

»Die Gesetze. Wo sind sie denn? Was nützen sie mir?«

Hazel seufzte. »Ach, Schatz. Du bist müde und hast Schmerzen.« Sie wühlte hektisch in der Handtasche nach ihren Zigaretten und wollte Carter gerade eine anbieten, als ihr die Trennscheibe einfiel, die bis zur Decke hinaufreichte. »Hast du keine Zigaretten?«

»Ich habe sie vergessen. Ich will auch gar keine. Nicht so wichtig.« Dabei hätte er sehr gern eine geraucht, und er beobachtete Hazel genau, als sie sich ihre jetzt anzündete. Ihre Hände zitterten leicht. Zwischen ihren Augenbrauen stand eine nachdenkliche Furche. Ihre Stirn dagegen war glatt, faltenlos, dazu ihr heller Teint – sie erschien Carter fast unwirklich schön, wie ein Gemälde, auf Leinwand oder Glas gemalt. Ihre Wangen und Lippen waren von einem natürlichen Rosa. Sie hatte einen kleinen Mund und die weichsten Lippen, die Carter je gesehen – und geküßt hatte. Er fragte sich, ob Sullivan sie auch schon geküßt hatte oder je küssen würde.

»Wie heißen diese beiden Aufseher?« wollte Hazel wissen. »Hattest du Angst, mir ihre Namen zu schreiben?«

Carter sah automatisch nach links und rechts. »Das war keine Angst. Ich hab nur angenommen, daß die Zensur es herausstreicht. Sie heißen Moonan und Cherniver.«

»Moonan und – wie?« Ihre dunkelblauen Augen sahen ihn direkt an.

»Cherniver. C-h-e-r-n-i-v-e-r.«

»Das kann ich mir merken. Aber auf jeden Fall möchte ich, daß du mir recht bald diesen ärztlichen Befund besorgst. Die Röntgenbilder können wir nachreichen.«

»In Ordnung, Schatz.« Er zerbrach sich den Kopf, was er ihr noch erzählen konnte, irgend etwas Lustiges, eine Geschichte, die sie zum Lächeln bringen würde. Auf der Krankenstation waren einige ganz lustige Sachen passiert, aber jetzt wollte ihm nichts mehr einfallen. Carter lächelte. »Geht Sullivan heute abend wie gewöhnlich mit dir essen?«

»Wie gewöhnlich?« Ihre Stirnfalte war wieder da.

»Ich meine, weil Sonntag ist. Sonntag abends triffst du dich doch gewöhnlich mit ihm?«

»›Gewöhnlich‹ würde ich nicht sagen. Phil. Ich erzähle dir immer, wenn ich ihn treffe, und auch, worüber wir reden – sogar, was wir essen.«

Das stimmte, und Carter biß die Zähne zusammen. Das lag an Gawill mit seinen Sticheleien im letzten Brief, aber die waren garantiert übertrieben – oder Gawill hatte überhaupt alles frei erfunden.

»Du erzählst mir nie, was du zu essen bekommst«, sagte Hazel.

Da konnte Carter plötzlich auflachen. »Also, ich glaube, das möchtest du lieber nicht so genau wissen. Sachen wie Schweinebacke …« Und andere unidentifizierbare Sachen, die ihre eigenen Gefängnisnamen hatten.

»Mir kannst du es doch ruhig sagen. Wenn ich dein Leid nur irgendwie teilen könnte.«

Die Schmerzen in den Daumen machten ihn ganz schwummrig. Er sprach jetzt, um einen klaren Kopf zu behalten. »Ich will hier gar nicht an dich denken. Ich möchte auch nicht, daß du allzuviel von hier weißt, weil es so widerlich ist. Manchmal möchte ich nicht einmal dein Bild ansehen, das ich hier habe.«

Sie machte ein überraschtes, besorgtes Gesicht. »Aber Schatz …«

»Damit meine ich nicht, daß du mich nicht mehr besuchen sollst. Um Gottes willen, so meine ich es bestimmt nicht.« Der Schweiß rann ihm die Schläfen hinab.

»Noch zwei Minuten«, sagte der Aufseher, der hinter Carter auf und ab marschierte.

Carter sah gehetzt auf die Uhr. Es stimmte.

»Mr. Magran sagt, er hat wegen deiner Daumen schon an den Gefängnisdirektor geschrieben«, sagte Hazel.

»Der wird nicht antworten«, erwiderte Carter schnell.

»Wie bitte? Auf einen Brief deines Anwalts?«

»Nein, ich meine« – er bemühte sich, etwas ruhiger zu klingen –, »er wird den Empfang zwar bestätigen, aber die Geschichte mit dem Aufhängen mit keinem Wort kommentieren. Da bin ich mir sicher.«