Die große Sehnsucht - René Sydow - E-Book

Die große Sehnsucht E-Book

René Sydow

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Beschreibung

Eine Hommage auf die Freundschaft und die 90er-Jahre

Eine Kleinstadt am Bodensee, 1996. Im kältesten Winter seit Langem stehen drei Freunde aus dem Abiturjahrgang am Bootssteg und schauen auf den See. Rabe möchte Film studieren und ist mit Herz und Kopf mehr bei seinen Drehbuchentwürfen als bei der Schule. Thomas, genannt Fete, lässt keine Party aus und hat einen Ruf als Herzensbrecher. Auch Michi weiß genau, was er will: sich am Mathelehrer rächen, der ihn vor der Klasse bloßgestellt hat. So viele Träume, so viele Sehnsüchte - und Tage, die keiner der Abiturienten so schnell vergessen wird ...

Ein heiter-melancholischer Roman über eine unvergessliche Zeit, die ersten Schritte ins Leben und die große Sehnsucht, die jedem Lebensalter aufs Neue innewohnt

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Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

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Über dieses Buch

Eine Kleinstadt am Bodensee, 1996. Im kältesten Winter seit Langem stehen drei Freunde aus dem Abiturjahrgang am Bootssteg und schauen auf den See. Rabe möchte Film studieren und ist mit Herz und Kopf mehr bei seinen Drehbuchentwürfen als bei der Schule. Thomas, genannt Fete, lässt keine Party aus und hat einen Ruf als Herzensbrecher. Auch Michi weiß genau, was er will: sich am Mathelehrer rächen, der ihn vor der Klasse bloßgestellt hat. So viele Träume, so viele Sehsüchten – und Tage, die keiner der Abiturienten so schnell vergessen wirdn …

Ein heiter-melancholischer Roman über eine unvergessliche Zeit, die ersten Schritte ins Leben und die große Sehnsucht, die jedem Lebensalter aufs Neue innewohnt.

Über den Autor

René Sydow, geb. 1980, arbeitet seit vielen Jahren als Schauspieler und Regisseur, u. a. für das Staatstheater Stuttgart, das Theater Dortmund, das Renitenztheater Stuttgart und die Magdeburger Zwickmühle. Im Poetry Slam erreichte er den dritten Platz bei den Deutschsprachigen Meisterschaften und wurde NRW-Meister. Als Autor und Regisseur drehte er zahlreiche international prämierte Kurz- und drei Langspielfilme. Seine preisgekrönten Kabarettprogramme brachten ihm den Ruf ein, einer »der Großen des politischen Kabaretts« zu sein. Sydow spielt jährlich ca. 160 Vorstellungen in Theatern im gesamten deutschsprachigen Raum und ist mit seinen Kolumnen, Drehbüchern und Theaterstücken auch in Fernsehen und Radio präsent, u. a. bei WDR5 und BR2. Er lebt im Ruhrgebiet.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

Umschlagmotiv: © tomertu/shutterstock | © Kateryna/AdobeStock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6127-7

luebbe.de

lesejury.de

… and I was standing at the window,waiting for my life to begin.

Two Bit Monster, Girl, Skating on Ice

1

Hinter Nina waren alle her. Alle, die auf dieselbe Schule gingen wie sie, und alle, die in derselben Kleinstadt lebten. Alle, die zwischen sechzehn und zwanzig waren, begehrten sie. Alle, die jünger waren, schauten zu ihrer Schönheit auf; alle, die älter waren, sagten ihr eine erfolgreiche Zukunft voraus. Wer so schön sei, würde seinen Weg in der Welt machen, hieß es.

Vor allem ihre männlichen Klassenkameraden waren hinter ihr her. Obwohl »hinter ihr her sein« der falsche Ausdruck war, erweckte er doch den Anschein, als hätte einer ihrer Verehrer sie einholen können. In Wahrheit suchten sie vergeblich ihre Nähe – nicht wie Liebhaber die Nähe zum Objekt ihrer Faszination suchen, sondern wie Monde, die zwar einen großen Abstand zu ihren Planeten halten, sich aber dennoch immer um ihn drehen.

Einer dieser Monde war Raphael, den alle Rabe nannten, weil er seit Beginn seiner Pubertät nur noch schwarze Kleidung trug: schwarze Jeans und schwarze T-Shirts, schwarze Pullover und schwarze Schuhe. Selbst seine Winterjacke, die in diesem November des Jahres 1996, dem kältesten November seit Jahrzehnten, sogar in Innenräumen nötig zu sein schien, war schwarz. Dass Rabes beste Freunde – Thomas, den alle Fete nannten, und Michi, der einfach Michi hieß – nicht müde wurden, immer wieder darauf hinzuweisen, wie gut man die feine weiße Punktierung auf jener Jacke erkennen konnte, was sie für Rabes Verhältnisse äußerst elegant, aber eben auch zu einer nicht vollkommen schwarzen Jacke machte, störte ihn nicht. Rabe reagierte mittlerweile nicht einmal mehr auf diesen Hinweis.

Seine Distanz zu Nina – planetarisch gesprochen – erschien Rabe mehr als perfekt. Seit Jahren saß er während des Unterrichts neben Irina in der letzten Reihe. Er wechselte kein Wort mit ihr, was sie auch nicht von ihm erwartete, war sie ohnehin mehr damit beschäftigt, strebsam zu sein und sich nicht von der Arbeit ablenken zu lassen. Sie wollte das Gymnasium mit 1,0 abschließen und Medizin studieren. Keiner zweifelte am Gelingen dieses Vorhabens.

Im Verhältnis zu Nina, die zwei Reihen weiter vorn saß, war Rabes Position weit genug versetzt, um ihn in ihrem toten Winkel verschwinden zu lassen und ihm gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, ihr Profil jederzeit fast zur Gänze beobachten zu können und, wenn sie sich vorbeugte, sogar dann und wann die Wölbung ihrer Brüste unter ihrem Pullover zu erahnen. So saß Rabe oft Stunde um Stunde, unabhängig von Lehrer oder Fach, und verlor sich in der zentimetergenauen Vermessung von Ninas langem blonden Haar, ihren nach oben gebogenen Wimpern und dem winzigen Leberfleck unterhalb ihrer Lippen, den Rabe von seiner Position aus bewundern konnte, wann immer Nina wieder einmal vor Langeweile einen Schmollmund zog oder die Backen aufblies.

»Raphael, ich habe dich etwas gefragt. Wie wäre es mit einer Antwort?«, unterbrach Lehrer Kurtz einen Gedankengang über die Fabelhaftigkeit zufälliger ästhetischer Meisterwerke wie Leberflecken am richtigen Ort.

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, schien Rabe die richtige Antwort zu sein, bei Kurtz sowieso.

»Das ist schön, aber ich hätte auch gern ein Ergebnis für diese Rechnung!«

»Ähm … zehn.«

»Da fehlen mindestens zwei Variablen.«

»Oh ja, klar. ’tschuldigung. Ich hab wohl geträumt.«

»Was sonst nie vorkommt, was?«

»Doch, aber ich werde irgendwie ständig gestört.«

»Ich bitte um Verzeihung. Wenn es dir lieber ist, kannst du vor der Tür weiterträumen.«

»Schon gut, ich passe jetzt auf. Entschuldigung noch mal«, log Rabe und stahl sich, mit vorgetäuschtem Blick auf die geometrischen Formeln an der Tafel, sofort wieder gedanklich aus dem Unterricht.

In seinen Tagträumen spielte fast immer Nina die Hauptrolle. Und da Rabe fest vorhatte, nach der Schule Film zu studieren und in Hollywood als Drehbuchautor unsterblich zu werden, waren seine Träume, selbst die in den 45-minütigen Unterrichtseinheiten, mehr als nur die üblichen Fantasien von Küssen und Fummeln, von Nacktheit oder wenigstens Händchenhalten. Rabe rekapitulierte zumeist zunächst den Filmklassiker, den er am Abend zuvor gesehen hatte, und setzte Nina dann an die Stelle der Schauspielerin, deren Rolle er am interessantesten gefunden hatte. Und da er mindestens einen Film pro Tag sah, ging ihm auch der Stoff für seine Filme im Kopf nicht aus.

Selbstverständlich veränderte, verbesserte er Szenen und Handlungen so, dass sie auf ihn und Nina passten. So wurde sie zwar in der Kopfkino-Rekapitulation eines Film noir zur obligatorischen Femme fatale, aber sowohl sie als auch Rabe erlebten das Ende des Films lebend und fielen sich zum Schluss küssend in die Arme. In letzter Zeit beschäftigte sich Rabe vor allem mit den Filmen der legendären Schwarzen Serie, die er nachts in den dritten Programmen auf VHS aufzeichnete, am nächsten Tag ansah und anschließend seinem Archiv hinzufügte. Inspiration für die neu entbrannte Leidenschaft für Kriminalfilme der Dreißiger- und Vierzigerjahre war für Rabe – ansonsten eher berühmt-berüchtigt für sein enzyklopädisches Wissen über den Horrorregisseur John Carpenter – der dunkelgrüne Cashmere-Mantel, den Nina diesen Winter neu angeschafft hatte und der ihr die Eleganz verlieh, die eine echte Femme fatale benötigte. Neben ihr wirkten alle anderen Schüler der Jahrgangsstufe dreizehn in ihren noch aus den Vorjahren herübergeretteten oder aus allein praktischen Gründen, nämlich Wärme und geringer Preis, angeschafften Winterjacken in Gelb, Blau oder eben Schwarz wie Kinder.

Dass er nach Hollywood gehen und dort als Drehbuchautor arbeiten würde, war für Rabe übrigens keine Teenagerspinnerei, die er von seinem dreizehnten Lebensjahr an bis jetzt, kurz vor dem Abitur, mitgeschleppt hatte, sondern ein ernsthaftes Unterfangen. Er hatte hierfür sogar schon eine Art Lebensplan erdacht: Film in Deutschland studieren, zwei oder drei bemerkenswerte Streifen drehen, und das wegen der Widrigkeiten der stilistisch konservativen deutschen Filmwirtschaft mit einem geringen Budget. Hierüber, weil Amerikaner sparsame europäische Regisseure liebten, und über die Teilnahme an internationalen Festivals einen Handschlag mit einem Produzenten aus Hollywood erreichen, um dann endlich die Filme zu machen, die ihm vorschwebten, für die aber in Deutschland niemand Sinn oder das Budget hatte. Sollte er schließlich im Bereich des Horrorfilms landen, hätte er die Möglichkeit, unter dem Pseudonym Ralph Raven aufzutreten, sodass seine Eltern nicht gleich über seine Werke erschraken. (Nicht berücksichtigt war dabei, wie wenig Rabes Eltern Filmemacher unter Pseudonym mochten, was dran lag, dass Rabes Vater einen älteren Bruder hatte, den Rabe nur unter dem Namen »Johnny« kannte und der seit den Achtzigerjahren sein Geld mit dem Drehen schmuddeliger Sexfilme für den Videomarkt verdiente. Für Rabes Eltern glücklicherweise weit weg. Irgendwo in der Nähe von Wuppertal.)

Rabes schrittweiser Plan hatte inzwischen zumindest vage Gestalt angenommen. Sein Film befand sich quasi im Vorspann, hatte Rabe doch vergangene Woche schon einmal die Bewerbungsunterlagen für die Münchner Filmhochschule beantragt. Von hier aus erschien ihm die restliche Wegstrecke zu seinem ersten Hollywoodfilm mit Nina in der Hauptrolle überschaubar.

»Gut, wie wäre es denn mit dir, Thomas? So schwer kann das doch nicht sein. Selbst für dich nicht.«

Kurtz’ Stimme prallte an dem angesprochenen Schüler ab wie der Basketball vom Gesicht des Fünftklässlers, der am Tag zuvor wegen der unglücklichen Kollision von Gummi und Kopf mit Notarzt vom Schulgelände gefahren worden war.

Thomas wünschte sich in diesem Moment, in dem der Mathelehrer ihn wieder einmal vorführen wollte, ebenfalls einen Basketball herbei. In Ermangelung desselben antwortete er: »Ich glaube, ich habe das noch nicht ganz verstanden. Vielleicht könnten Sie es mir noch mal erklären?«

Anders als sein Freund Rabe saß Thomas im Klassenraum vor Nina – ein Platz, den sich kaum einer der Jungs freiwillig ausgesucht hätte. Thomas allerdings hatte es nicht nötig, den Planeten Nina als Trabant zu umkreisen; er wurde selbst von Mädchen umschwärmt, als habe er ein eigenes Sonnensystem um sich herum. Thomas, den alle Fete nannten, weil er auf jeder Party aufzutauchen pflegte, selbst auf jenen, zu denen er nicht eingeladen war, galt als begabtester Unterhalter des Jahrgangs. Ob mit oder ohne Alkohol – er zog jede Konversation auf seine Seite und versprühte Charme und Charisma, wo immer er sich blicken ließ. Auch wenn er schwieg, verfielen die Mädchen ihm umgehend, denn er war nicht nur groß und sportlich, sondern hatte auch blonde Locken über seinem strahlenden, kantigen Gesicht, durch die seine Tanzpartnerinnen gern mit den Fingern fuhren, wenn er sie beim Stehblues zu Bryan Adams oder Bon Jovi fest in den langen Armen hielt.

Er hätte viele Neider und Feinde haben können, der hübsche Fete mit den vielen Eroberungen, doch er hatte auch den Ruf, verlässlich und hilfsbereit zu sein, ein guter Kumpel, der bei Radtouren, Fußballspielen oder Gesprächsrunden gleichermaßen geschätzt wurde. Die meisten glaubten ihm, dass er lieber mit seinen Freunden abhängen wollte, als schon wieder in eine Liebschaft zu stolpern. Gelegentlich war er genervt davon, beim Zusammensein mit Mädchen auf romantische Untertöne achtgeben zu müssen. Ironie oder Sarkasmus passten wenig zu zarten Verführungstönen, und Fete liebte es, böse Kommentare einfließen zu lassen, eine gewitzte Betrachtung über Lehrer oder Mitschüler zu machen, ohne darüber nachzudenken, ob sein Gegenüber es als Angriff sah.

Fete war schnell im Kopf. Deshalb mochte er Rabe, der ebenfalls einen schrägeren Blick auf die Welt hatte und trotz seines eher ruhigen Gemüts von Zeit zu Zeit einen boshaften Witz vom Stapel ließ. Zugegeben, von außen betrachtet waren der hoch aufgeschossene, kräftige und mit einer markanten, fast stolz nach vorn gestülpten Nase ausgestattete Fete und der in seiner immer etwas zu großen schwarzen Kleidung versinkende blasse Rabe ein seltsames Paar – fast, als hätte ein Regisseur einen bewussten Kontrast gesetzt oder Rabe es sich für eines seiner Drehbücher ausgedacht. Wenn es aber darum ging, sich mit Worten ein Tennismatch auf Grand-Slam-Niveau zu liefern, funktionierten die beiden wie dereinst Björn Borg und John McEnroe: Ball auf Ball, bis einer der beiden den Satz mit einer Pointe für sich entschied.

Fete eilte sogar der Ruf voraus, er habe bei einer Party Nina einmal so betrunken erlebt, dass sie ihm im Schlafzimmer der Gastgebereltern die Brüste gezeigt habe. Den meisten Jungs erschien der Gedanke, Nina einmal nackt zu sehen, erstrebenswerter als das Bestehen des Abiturs. Fete hingegen schwor hartnäckig, sie weder nackt gesehen zu haben noch mit ihr im Bett gewesen zu sein. Er bestritt sogar, sie an jenem Abend geküsst zu haben, was die gesamte Schülerschaft für eine Lüge hielt, hatte man schließlich noch keine Party erlebt, auf der Fete nicht mit einem Mädchen herumgeknutscht hätte. Nach Fetes Meinung zeigten die Gerüchte nur, wie dumm die meisten seiner Mitschüler waren, denn bislang war nur Rabe aufgefallen, dass Fete nie eine von der eigenen Schule geküsst hatte. Immer nur Mädchen von anderen. Mädchen, die man höchstens vom Sehen kannte, bei denen man aber nicht zuordnen konnte, wer sie waren und wer sie auf die jeweilige Feier mitgebracht hatte. Auch, weil er dieses System sofort durchschaut hatte, mochte Fete Rabe. Er schien ihn zu verstehen. Da fiel die lange Zeit, die die beiden einander ohnehin schon kannten, kaum noch ins Gewicht.

»Gut, dann wollen wir mal schauen, wie es mit den Sattelpunkten aussieht. Das hatten wir ja letzte Stunde. Vielleicht erinnert sich wenigstens daran jemand.«

»Auf jeden Fall. Ich habe echt schlecht geschlafen deshalb.«

Kurtz blickte nur kurz zu Michi, von dem der Einwurf gekommen war, dafür länger zu Rabe, der ein wenig zu laut über den Kommentar gelacht hatte.

»Oh, Raphael ist zumindest bei Witzen im Klassenraum anwesend, wie schön! Na, wenn du schon mal da bist, dann wisch doch mal die Tafel, damit wir gleich die nächste Aufgabe dranzeichnen können! Die anderen schlagen Seite zweiunddreißig auf! Irina liest vor.«

Rabe tunkte den Schwamm tief in den Wassereimer, dessen Flüssigkeit längst die Farbe eines Sumpfes angenommen hatte. Während Irina die Aufgabe vorlas, lächelte er Michi zu. Er konnte sich kaum verkneifen, noch einmal laut loszuprusten. Sie waren seit frühester Kindheit miteinander befreundet. Man könnte auch sagen, ihre Freundschaft wurde von den Eltern erzwungen, denn diese hatten Michi und Rabe ständig zu denselben Orten geschleppt: dieselbe Krabbelgruppe, derselbe Schwimmkurs, derselbe Spielplatz und letztlich auch derselbe Kindergarten. Die beiden Einzelkinder Michi und Rabe hatten dadurch bis zur Einschulung bereits mehr Zeit miteinander verbracht als manche Geschwister. Und weil Fetes Eltern und Michis Mutter Nachbarn waren, hatten sie oft zu dritt im Garten gespielt. Manchmal sogar zu viert, wenn Fetes zwei Jahre jüngere Schwester Marnie sich in die Spiele der Jungs eingemischt hatte. Lange hatten die Jungs versucht, Marnie zu ignorieren. In den letzten Jahren aber hatte Michi – und nur ihn – das Gefühl beschlichen, Marnie habe sich stark verändert, zum Positiven. Die Unterschiede von der Vier- zur Sechzehnjährigen waren nicht von der Hand zu weisen: Marnie, ein ehemals lautes Mädchen mit Latzhosen und kurzen blonden Fransen, war mittlerweile ein hübsches lautes Mädchen mit Jeans und kaum pinselstarkem Pferdeschwanz. Ihre Haarfarbe änderte sich monatlich, von Schwarz bis zum momentanen Blond mit grünen Strähnen. Deutlicher wahrnehmbar als Marnies Äußerlichkeiten war für Michi jedoch eine gewisse Unruhe, die er jedes Mal verspürte, sobald sie sich ihm näherte. Er konnte nicht sagen, was ihn so nervös werden ließ, wenn sie gleichzeitig mit ihm aus dem Haus trat und denselben Weg zum Bushäuschen ging; er merkte nur, dass dieses Gefühl stärker wurde.

»Danke, Raphael! Danke, Irina! Jetzt kann Thomas die Funktion an der Tafel skizzieren!«

Fete stieß ein Stöhnen aus, erhob sich aber nicht.

»Na, was ist? Auch noch schlecht in Sport? Hopp, an die Tafel!«

Rabe reichte Fete ein Stück Kreide. Sie brauchten nicht mehr als einen Blick, um sich des Schimpfwortes gewiss zu sein, welches sie beide Kurtz in diesem Augenblick zudachten. Rabe und Fete brauchten selten mehr als einen Blick, um einander zu verstehen.

Fete war ein Jahr älter als Michi und Rabe, weswegen sich ihre Wege nach dem Kindergarten ein wenig verloren hatten, da Fete vor den anderen eingeschult wurde. Er lernte mit den neuen Klassenkameraden neue Freunde kennen, verbrachte seine Zeit lieber mit den »Großen« als mit seinen Sandkastenfreunden. An Geburtstagen und bei der jährlichen Einweihung des Planschbeckens in Michis Garten war er zwar auch jetzt noch dabei, ganz zurück hatte er zu seinen alten Gefährten aber erst gefunden, als er in Klasse acht wegen Mathe und Englisch sitzenblieb. Plötzlich saß er bei seinen jüngeren Freunden im Klassenzimmer. Rabe gab Fete Nachhilfe in Englisch, und Fete brachte im Gegenzug den anderen das Rauchen bei. Bald hatten sie wieder mehr gemeinsame Erlebnisse und damit auch mehr, über das sie sich in Michis Garten austauschen konnten.

Jetzt, in der Oberstufe brauchte Fete Rabes Nachhilfeunterricht nicht mehr, da er sich auf Französisch konzentriert und Englisch abwählt hatte. Nicht, dass ihm Französisch leichter gefallen wäre, aber er hatte einmal gehört, die schönsten Frauen würden in Paris leben, und sollte er einmal dort hinkommen, wollte er vorbereitet sein.

In Mathematik sah es allerdings immer noch düster aus, zumal der Lehrer, dem Fete die Ehrenrunde zu verdanken hatte, pünktlich zur Oberstufe wieder auf seinem Stundenplan aufgetaucht war: Johannes Kurtz. Kurtz war vor ein paar Jahren frisch vom Studium an die Schule gekommen, gerade als Fete das erste Mal in die achte Klasse versetzt wurde, hielt sich selbst für einen begnadeten Pädagogen, Schüler hingegen grundsätzlich für dumm und Fete ganz besonders. Deswegen schien er auch in der Bewertung der Klassenarbeiten noch etwas ungerechter zu zensieren als ohnehin. Und das in Mathematik!

Was die Sache nicht leichter machte: Kurtz hielt sich für einen äußerst witzigen und schlagfertigen Menschen und wurde nicht müde, dieses von ihm angenommene Talent bei jeder Schulveranstaltung vorzuführen, indem er entweder die Veranstaltung moderierte oder als Showact einen Ausschnitt aus irgendeinem Programm eines beliebigen und fast ebenso unlustigen Fernsehkomikers vortrug. Von denen schien es ganz plötzlich unzählige zu geben, und nicht wenige von ihnen versuchten seit ein paar Jahren in Sendungen wie dem Quatsch Comedy Club die Rabes Meinung nach überflüssige Kunstform der amerikanischen Stand-up-Comedy ins Deutsche zu übertragen.

Kurtz selbst war der Ansicht, er könne, wenn er nur wollte, mit dem richtigen Management eine ebenso erfolgreiche Karriere wie die ins TV gespülten Spaßmacher ankurbeln. Dass es nicht dazu kam, begründete er damit, dass er an seinen Idealen festhielt, um die nächste Generation zu erziehen. Tatsächlich genoss er es wohl eher, auf Schulfesten von willfährig grinsenden Eltern für seine lauen Witze gefeiert zu werden. So war in kurzer Zeit ein ungewöhnlicher Generationenkonflikt entstanden: Während die Elternschaft der Ansicht war, Johannes Kurtz müsse zu den beliebtesten Lehrern der Schule gehören, allein schon aufgrund seines Humors und seiner kumpelhaften Attitüde auch den Schülern gegenüber, betrachtete ihn nahezu die gesamte Schülerschaft hasserfüllt als becordjackten und bebrillten Witzbold, dessen Pointen bestenfalls spießig, häufiger dummdreist waren.

Und natürlich hatte Kurtz wieder einmal Fete zum Spießrutenlauf an die Tafel geholt. Und da dieser auch nach Monaten kein Interesse daran hatte, den Sattelpunkt einer Kurve korrekt zu berechnen, und noch weniger daran, dem Lehrer einen Gefallen zu tun, indem er sich von ihm vor der gesamten Klasse verbessern ließ, schwieg Fete einfach und zuckte selbst bei Kurtz’ ungewohnt freundlichen Hilfeleistungen mit den Schultern.

»Ich muss also annehmen, Thomas, dass du weiterhin keine großen Ambitionen hast, das Abitur zu bestehen?« Mit einem Nicken wies Kurtz Fete an, sich wieder zu setzen. »Nun, es gibt ja auch noch ein paar hübsche Berufe, bei denen man auch ohne klarkommt. Du solltest deinen Job in der Videothek vielleicht nicht gleich nach der Schule hinschmeißen!«

Fete legte die Kreide zurück an ihren Platz. »Ist doch in Ordnung, Thomas, es muss auch nicht jeder studieren.«

»Es soll auch Leute geben, die eine größere Karriere gemacht haben, als als Mathelehrer zu enden, auch wenn sie von Geometrie keine Ahnung hatten. Wie hieß dieser Typ noch mal? Ach ja, Einstein, glaube ich.«

Kurtz sah von der Tafel weg in die Tiefe des Klassenraumes und musterte die knapp dreißig Schüler, von denen einige den Kopf zu Michi wandten, während andere bewusst Stifte und Lineale in die Hand nahmen, um auf ihre Arbeitsblätter zu schauen und so zu tun, als wären die Sätze nicht gefallen. Nahezu alle im Raum lächelten mehr oder weniger deutlich in sich hinein. Nur Rabe versuchte, sich dieses Mal zurückzuhalten.

Kurtz war lange genug Lehrer, um zu wissen, wessen Stimme ihm den Auftritt kaputt gemacht hatte. »Oha, Humpty Dumpty eilt zur Ehrenrettung herbei! Ich bin beeindruckt, Michi. Sei froh, dass du die Aufgaben begriffen hast. Vielleicht gelingt es dir dann wenigstens, Mathelehrer zu werden. Oder hast du Lust, später auch Videobänder zurückzuspulen?«

»Ganz ehrlich? Vor die Wahl gestellt, glaube ich, als Videothekar hätte ich wenigstens Freunde.«

»Raus!« Kurtz bemühte sich sichtlich um einen noch freundlichen Tonfall.

»Warum?«

»Raus!« Beim zweiten Mal klang der Befehl nicht mehr so kontrolliert. Während Michi vor die Tür ging, beugte Kurtz sich über das Klassenbuch. Seine Überlegenheit versuchte er dadurch zu beweisen, dass er Michis Unverschämtheit eintrug und gleichzeitig den Unterricht weiterführte. »Und nun? Möchte noch jemand eine Kostprobe als Komiker geben, oder schafft es einer von euch, die richtige Lösung an die Tafel zu zeichnen?«

2

Unterhalb des Schulgeländes führte ein vier Meter langer und drei Meter breiter Steg auf das Wasser des Bodensees hinaus. Den Schildern zufolge stand er ausschließlich der landesweit bekannten Rudermannschaft der Schule zur Verfügung, damit diese über ihn ihre Achter ins Wasser hieven konnte – ein Privileg, das Rabe, Fete und Michi so nicht gelten lassen wollten. Überhaupt genoss die Mannschaft ihrer Meinung nach viel zu viele Privilegien, und das nur, weil sie den Stolz der ganzen Lehrerschaft darstellte, die sich nach gewonnenen Wettkämpfen gern auf Fotos mit »ihren« Schülern präsentierte.

Vor ein paar Jahren war das Seegrundstück mit einem großen Clubhaus bebaut worden, das nun malerisch unter den riesigen Bäumen lag, die das Areal umgaben und den Eingang zum Grundstück markierten. Das imposante Bootshaus diente nicht nur als Aufbewahrungshalle für die teuren Boote, auch als Partyort war es beliebt, wenn auch nur bei den Mitgliedern des Ruderclubs. Anderen Schülern war der Zutritt selbstverständlich untersagt. Der Versuch, auch das Grundstück und den Steg komplett abzuriegeln, war allerdings am Protest der restlichen Schülerschaft gescheitert. Schließlich war es der beliebteste Rückzugsort der Raucher, die in den großen Pausen für eine fünfminütige Zigarette heruntereilten, und im Sommer der beste Platz, um nach der Schule schwimmen zu gehen oder im Gras zu liegen, um zu lernen oder über die Jungs der Rudermannschaft zu lästern, die mit vor Stolz geschwellten Oberkörpern ihre Boote an den Müßiggängern vorbeitrugen. So mancher Ruderer spannte beim Tragen der Boote seine Oberarmmuskeln ein wenig mehr an, als nötig gewesen wäre, um die im Gras sitzenden Mädchen zu beeindrucken und die Jungs neidisch zu machen.

Weil Rabe sich nur bei anstehenden Feiern selbst welche kaufte und Fete nur noch diese letzte in der Schachtel hatte, teilten sich die beiden eine Zigarette.

»Alles schon gefroren.« Fete ließ seinen Turnschuh über eine vereiste Pfütze gleiten. Geregnet hatte es in den letzten Novemberwochen mehrfach, und seit gestern waren die Temperaturen allerorten schlagartig nach unten gerutscht.

»Ab morgen soll es sogar schneien«, meinte Rabe und zog tief an der Zigarette. Er hatte an diesem Morgen ein paar Minuten lang aus dem Fenster geschaut, bevor er sich für die Schule angezogen hatte, da er den ersten Raureif des Jahres, dieses metallene Glitzern im Mondlicht eines frühen Wintermorgens, für noch schöner hielt als den ersten Schnee. Außerdem fand er, Raureif gehöre zu den schönsten Wörtern der deutschen Sprache. Fete hingegen sprach seit dem Oktober nur noch davon, wie sehnsüchtig er den nächsten Sommer erwartete.

Mit lauten, eiligen Schritten näherte sich Michi. Viel Zeit blieb ihnen nicht, bis der Bus nach Hause abfuhr, und sie nahmen ohnehin immer erst den dritten nach Schulschluss. »Hrmpf!« Mehr als ein plötzliches und nach Urlauten klingendes Raunen konnten Rabe und Fete nicht vernehmen, da Michi auf der gefrorenen Pfütze ausrutschte und sich allein deswegen auf den Beinen halten konnte, weil er, trotz seiner paar Kilo zu viel, wendig und erstaunlich sportlich war.

»Dieser Penner!«, grummelte er kaum deutlicher.

»Wer?«

»Humpty Dumpty! Ich werde durchsetzen, dass Kurtz beim Abistreich zwölf Eier schlucken muss, und ich sorge dafür, dass bei allen das Haltbarkeitsdatum seit Monaten abgelaufen ist. Ich muss mir das aufschreiben: alte Eier sammeln!«

»Wie wäre es mit seinen eigenen?«, meinte Fete.

»Keine Herausforderung. Viel zu klein«, wehrte Rabe ab.

Tatsächlich war der Vergleich mit dem Ei auf der Mauer, den Kurtz angestellt hatte, nicht nur unverschämt, sondern auch nicht besonders passend. Michi verteilte seine Kilos in alle Richtungen. Er war nicht rund, eher breit und wendig wie der WWF-Wrestler Big Boss Man, dessen Kämpfe er regelmäßig im Privatfernsehen verfolgt hatte, manchmal auch mit Fete und Rabe zusammen. Die hatten zwar beide keinerlei Interesse an Ringkämpfen von comicartigen Kolossen, fanden es aber aufregend, in den Werbepausen durch das Satellitenfernsehen ihres Freundes zu zappen. Denn Michis Mutter war die Einzige im gesamten Freundeskreis, die Privatfernsehen angeschafft hatte und ihrem Sohn zu jeder Tages- und Nachtzeit die Fernbedienung überließ.

Michi war nicht nur körperlich, sondern auch im Kopf außerordentlich beweglich, allerdings anders als der geistreiche Fete oder der stets um die Ecke denkende Rabe, oft in einem verletzenden Sinne. Als großer, kräftiger Junge mit Brille schon seit der Grundschule mit der optischen Grundausstattung eines Außenseiters ausstaffiert, witterte er in fast jedem Kommentar zu seiner Person einen Angriff und konterte entsprechend. So war er zwar vielleicht nicht der beliebteste Mitschüler, aber zumindest ein gefürchteter. Auch bei den Lehrern. Als Freunde bezeichnete er nur Fete und Rabe.

»Mag Marnie Männer in Uniform?«

Rabe und Fete prusteten augenblicklich los. Fete, weil Michi selten Marnies Namen in den Mund nahm, Fete aber dennoch genau wusste, wie sehr Michi an ihr interessiert war (vermutlich wusste er es mehr als Michi selbst). Rabe, weil er Uniformen eher karnevalesk als schneidig fand.

»Ich werde zur Marine gehen nächstes Jahr.«

Das Lachen verstummte. Rabe drückte seine Zigarette auf dem gefrorenen Gras aus. »Ist das ein Witz?«

»Nein. Ich hab mich schon vor einem Jahr beworben, damit ich auf jeden Fall einen Platz kriege. An der Nordsee. Wilhelmshaven. Gestern kam die Zusage, also … wenn ich die Musterung bestehe.«

»Wilhelmshaven. Das ist verdammt weit weg«, sagte Fete und meinte damit nicht nur die Entfernung des Stützpunktes vom Bodensee, die ihm umso größer vorkam, als er zwar gedanklich bis Paris, tatsächlich aber nie weiter als Stuttgart gekommen war. Er sprach damit auch aus, wie fern ihm der Gedanke war, sich jetzt schon darum zu kümmern, was er nach dem Abitur im nächsten Jahr machen sollte. 1997 – das war fast so weit weg wie das Jahr 2000. Oder wie Wilhelmshaven.

»Ich weiß.« Michi zuckte mit den Schultern. »Und ich glaube, ich werde den See vermissen. Nicht nur euch, auch das Wasser. Das ruhige Wasser. Das Meer ist schon was anderes.«

»Und danach?«, fragte Rabe. »Danach kommst du aber zurück, oder?«

»Ich will mich auf drei Jahre verpflichten. Man kann da den Führerschein machen, sogar fürs Studium gibt es Vorteile, wenn man beim Bund war.«

»Du willst echt abhauen von hier?«

»Fete, wir werden alle von hier abhauen. Und die wenigsten werden zurückkommen.«

Rabe dachte an die Aufnahmeunterlagen für die Filmhochschule München, die er erwartete, und an seine Hollywood-Karriere. All dies war bisher immer ferne Zukunft gewesen. Aber Michi hatte recht: Wenn sie aus ihrer Heimat weggehen würden, weg vom See, würde es mit Sicherheit Jahre dauern, bis sie wieder zurückfänden. Falls überhaupt.

»Vielleicht steht Nina auf Soldaten. Das wäre doch ein Grund, hierher zurückzukommen, oder?«, führte Fete an.

Michi lachte, bis Rabe ergänzte: »Man kann ja bestimmt auch viel hier am Bodensee machen, wenn man bei der Marine war. Den Ausflugsdampfer lenken, zum Beispiel.«

»Ha, ha.«

»Sie sah fantastisch aus heute«, wechselte Rabe das Thema.

»Oh ja!«, entfuhr es Michi und Fete unisono, und alle drei lachten laut, zu laut offenbar, denn sie schreckten eine im Schilf versteckte Ente auf, die über ihre Köpfe hinwegflog und beinahe gegen den goldenen Wetterhahn auf Johannes Kurtz’ Haus geprallt wäre. Knapp davor bog sie wieder in Richtung See ab. Offensichtlich machte auch sie um den Mathelehrer – oder zumindest um sein Haus – einen großen Bogen.

Dass Kurtz’ Haus, vom See aus betrachtet, direkt auf der rechten Seite der Schule stand, machte die Sache nicht besser. Es war eines der Häuser, die die Schule neuen Angestellten zur Verfügung stellte, bis sie etwas Eigenes gefunden hatten. Kurtz wohnte jetzt schon einige Zeit darin und hatte den goldenen Wetterhahn auf dem Dach des eigentlich wenig imposanten Häuschens mit viel Tamtam selbst angebracht. Die Straße, die zwischen der Schule und seinem Haus lag, hatte sogar zeitweise gesperrt werden müssen, damit der Laster mit der Hebebühne vor dem Haus parken konnte. Hierüber verdrehten die Jugendlichen ebenso die Augen, wie wenn Kurtz sie mal wieder von den wenigen Parkplätzen in der Straße vertrieb.

»Ich weiß nicht, ob ich mir schon Gedanken wegen meines Abis machen muss«, sagte Fete. »Wenn Kurtz mich weiter so auf dem Kieker hat, flieg ich eh durch die Prüfung. Der Typ mit seinem bekackten Hahn! Glänzt genauso eitel vor sich hin wie er selbst.«

»Man müsste den Vogel zum Abistreich abmontieren und dann versteigern«, sagte Michi.

»Abmontieren? Runterschießen müsste man den!«

Michi, immer Feuer und Flamme, wenn es ums Schießen ging, war sofort begeistert: »Voll die gute Idee! Es soll doch schneien ab morgen. Einfach Schnee sammeln, mit etwas Wasser zu Eisbällen machen und dann so lange gegen das blöde Ding ballern, bis es vom Dach kippt.«

Rabe schüttelte den Kopf: »Dafür werden ein paar Eisbälle kaum ausreichen. Das Ding haben sie damals mit dicken Bolzen festgemacht.«

Sein Einwand verhallte ungehört. Michi watete schon am Ufer entlang und brach ein Stück vom Eis ab, das sich in der letzten Nacht auf dem Wasser gebildet hatte. Mit fünfmarkstückgroßen Brocken davon bewarf er seine Freunde: »Immer drauf! Bäm! Bäm! Bäm!«

»Alter, das tut weh!«, rief Fete, aufs Neue erstaunt, wie treffsicher Michi auch auf ein paar Meter Entfernung war.

Rabe war ebenfalls beeindruckt, allerdings weniger empfindlich gegen die Eisbrocken. Seine dicke Jacke hielt einfach viel mehr ab als Fetes dünne Lederjacke. Stil verlor hier klar gegen Funktionalität. Dennoch sagte er: »Das schaffst du nie. Das Ding ist außerdem viel zu hoch. Was sind das? Acht Meter. Oder zehn.«

»Muss man halt üben. Hauptsache, es schneit.«

3

Es heißt, dass Kinder grundsätzlich erst einmal versuchen, anders als ihre Eltern zu werden, und Rabes Familie wäre bestens geeignet gewesen, diese Theorie zu beweisen. Alle in seiner Familie sprachen eher schnell und meist ein wenig zu laut. Sein Vater Henning tat dies schon von Berufs wegen, denn er war einer der angesehensten Polizisten der Stadt, und schon deshalb verkündete er alles, was er sagte, mit fester Stimme. Rabes Mutter Elke hingegen hatte einen kleinen Laden in der Stadt und verkaufte von Kunsthandwerk bis zu Pflegeprodukten alles, wonach ihre Stammkundschaft verlangte. Andere Kunden gab es quasi nicht, und Touristen bildeten eine seltene Ausnahme und wurden von Elke erst einmal ausgiebig geprüft. Henning war deshalb der Meinung, der Laden sei eher ein Marktplatz, an dem sich Waschweiber zum Austausch von Familienneuigkeiten und anderem Klatsch trafen, als ein Geschäft. Er äußerte diesen Gedanken allerdings nur Rabe gegenüber, nie im Beisein seiner Frau. Rabe zog es auch hier vor, dazu zu schweigen, und je lauter seine Eltern ihr tägliches Schauspiel, genannt Leben, aufführten, umso mehr zog er sich in die beobachtende Stellung des Autors zurück. Nur von Zeit zu Zeit ließ er sich dazu herab, einen Impuls für die Richtung einer Konversation zu geben.

»Was ist denn los? Warum regt ihr euch so auf?«, unterbrach er jetzt den lautstarken, aber etwas konfus wirkenden Dialog seiner Eltern, die in der Küche standen und ihre Messer eher zur Unterstreichung ihrer Worte nutzten denn zum Zubereiten des Essens.

»Dein Vater …« – Elkes Lieblingsformulierung, wenn sie auf etwas keine Lust hatte – »… dein Vater hat seinen Bruder zum Nikolausessen eingeladen.«

»Ich habe ihn nicht eingeladen«, beteuerte Henning zum offensichtlich wiederholten Mal. »Er hat sich selbst eingeladen.«

»Aber du hast ihn nicht davon abgehalten.«

Die Diskussion nahm wieder Fahrt auf, und während Rabes Vater von Familienverpflichtungen sprach, konterte seine Mutter, ebenso Einzelkind wie Rabe, mit der Feststellung: »Familie kann man sich zwar nicht aussuchen, aber man muss sie auch nicht einfach hinnehmen. Aber bitte: Dein Bruder, der Pornokönig, möchte uns beehren. Dann soll er das machen. Ich freue mich schon auf die Geschenke, die er mitbringt. In seinem dicken Sack.«

»Bitte, Elke! Raphael …«

»Ich bin erwachsen, Papa. Ich habe schon verstanden, dass sie es als Witz gemeint hat.«

»Du bist erst im Februar erwachsen, noch bist du siebzehn!«

Was das über seine Fähigkeit aussagen sollte, zweideutige Bemerkungen zu erkennen, erschloss sich Rabe nicht. Er verbuchte den Hinweis seines Vaters daher unter »Berufskrankheit«. Das Ermahnen Minderjähriger gehörte in einer ruhigen Kleinstadt einfach zum Tagesgeschäft.

»Es war überhaupt nicht witzig gemeint«, verteidigte sich Elke lautstark. »Am Ende bringt er nicht nur einen Haufen Schmuddelvideos als Geschenk mit, sondern auch noch eine neue Verlobte, so wie vor fünf Jahren, als das Busenwunder von Loch Ness sich über meine Panna cotta beschwert hat.«

Anders als seine Eltern erinnerte Rabe sich gern daran, wie er der gerade einmal volljährigen Pornodarstellerin damals am ersten Weihnachtsfeiertag gegenübergesessen hatte. Sie war für den feierlichen Anlass vielleicht etwas unangemessen gekleidet gewesen, hatte ihn aber endlich verstehen lassen, welche Bedeutung und Größe das für Zwölfjährige geheimnisvolle Wort Dekolleté haben konnte. Vor allem, welche Größe.

Die Beziehung zwischen der jungen Frau und Onkel Johnny hatte zwar letztlich kaum ein Jahr gehalten, reichte aber völlig, um Rabes Eltern für die folgenden fünf Jahre zu meisterhaften Lügnern werden zu lassen, die Jahr um Jahr neue Ausflüchte erfanden, warum Onkel Johnny nicht zum Weihnachtsfest kommen konnte. Meist wurde er dahingehend vertröstet, dass Elke und Henning doch auch einmal gern nach Nordrhein-Westfalen reisen wollten und man sich bei dieser Gelegenheit auf ein Abendessen treffen könne. Damit auch ja keine falschen Versprechungen gemacht wurden, ging Rabes Mutter ans Telefon, wann immer eine Nummer mit Wuppertaler Vorwahl auf dem Display erschien. Mehr noch: Allein, um diesbezüglich vorgewarnt zu sein, hatte sie auf der Anschaffung eines Telefons mit der neuen und wesentlich teureren Displayfunktion bestanden. Elke war in ihrer hartnäckigen Abweisung skrupellos, wohl auch wegen des Vorfalls, bei dem besagte leicht bekleidete Pornodarstellerin Elkes in der ganzen Familie berühmte Panna cotta mit den Worten abqualifiziert hatte, die von Bofrost wäre bei Weitem leckerer.

»Ist Post für mich gekommen?«, versuchte Rabe, die Situation zu entschärfen.

»Nein, wieso?«

»Wegen der Bewerbung. München.«

»Ach so, nein. Das hätte ich dir doch sofort gesagt, mein Schatz.« Die Miene seiner Mutter weichte ein wenig auf. »Das hat doch alles Zeit. Du machst erst mal deinen Zivi, und dann sehen wir weiter.«

»Eins nach dem anderen.« Auch so eine berufsbedingte Haltung seines Vaters. Ohnehin hielt Henning das Filmstudium eher für eine fixe Idee als für eine ernsthafte berufliche Perspektive. »Wer weiß, vielleicht gefällt es dir im Altersheim so gut, dass du lieber in die Pflege möchtest. Ich kenne den Chef schon so lange, vielleicht ist da direkt was für dich in der Verwaltung drin. Alte gibt es immer. Das wäre doch etwas Tolles, etwas Sicheres. Wer weiß?«

Rabe wusste.

Rabe war nicht undankbar, sich keinen Platz mehr für den im nächsten Jahr beginnenden Zivildienst organisieren zu müssen. Zum Altersheim konnte er mit dem Fahrrad fahren, und er wusste, dass die Mitarbeiter und Bewohner der recht noblen Einrichtung am Rande des Stadtparks zumeist nett waren. Seine Großeltern hatten dort bis zu ihrem Tod viele Jahre lang gelebt und immer in höchsten Tönen davon geschwärmt. Dennoch wusste Rabe bereits jetzt, dass er sich nirgends so wohl fühlen würde wie in seinem Zimmer, an seinem Schreibtisch, mit seiner elektrischen Schreibmaschine, die er sich von seinem ersten selbst verdienten Geld vor zwei Jahren geleistet hatte.

Er blickte auf das eingespannte Papier und zählte noch einmal die Seiten, die er schon vollgetippt hatte. Schon fünfzig. Noch mal so viel, und sein erstes Drehbuch für einen Langspielfilm wäre fertig. Der größte Genrefilm, den Deutschland seit den Horror-Meisterwerken der Weimarer Republik gesehen hatte: Inmitten eines strengen Winters bricht in ganz Europa ein Virus aus. Dieses tötet seltsamerweise nur Frauen, was den Bestand der menschlichen Spezies gefährdet. Noch während die Regierungen versuchen, Frauen in abgeschirmte, sterile Lager zu bringen, versucht unser Held, seine Freundin vor ihrem drohenden Schicksal in Sicherheit zu bringen. Sie ist Molekularbiologin, dem Geheimnis des Virus auf der Spur und bemerkt, wo es in Wahrheit herkommt, nämlich aus den Laboren der Regierung, die auf diese Weise die explodierende Weltbevölkerung in den Griff bekommen möchte.

Rabe arbeitete die visuellen Effekte des Virus bis ins kleinste Detail aus und schrieb farbenfrohe Horrorszenen, in denen sich Menschen häuteten und zerflossen. Eine starke Geschichte, verbunden mit dem richtigen Gespür für eklige Szenen – so würde ihm aus dem Stand ein Achtungserfolg in der Filmwelt gelingen. Und nicht nur das: Sein großes Idol John Carpenter würde sich in der Folge um eine hoch budgetierte Neuverfilmung bemühen, dessen Drehbuch er – Rabe, oder Ralph Raven, mal sehen – und Carpenter gemeinsam schreiben würden. Eine Hollywood-Karriere könnte so einfach sein – und doch stockte Rabes Schreibfluss seit einigen Tagen.

Lag es daran, dass er noch immer auf die Unterlagen aus München wartete, die ihn seinem Traum vom Filmemachen einen Schritt näherbringen konnten? Lag es daran, dass die Wissenschaftlerin im Drehbuch zwar den Namen Nina trug, die echte Nina für diese Rolle aber bei aller Vorstellungskraft nicht glaubwürdig genug war? Lag es an der fehlenden Inspiration, weil Rabe zu viel mit seinen Freunden rumhing, statt zu schreiben? Oder fehlte doch einfach nur der Schnee vorm Fenster?

In seiner Story war ganz Europa unter einer undurchdringlichen, alles verschluckenden Schneeschicht verborgen, weil Blut auf Schnee einfach viel spektakulärer aussah. Aber es fiel Rabe schwer, sich diese Szenen vorzustellen. Die Bilder in seinem Kopf bekamen nicht genug Futter. Er sah aus dem Fenster und nickte, als er an Michis Aussage am See dachte:

»Hauptsache, es schneit.«

4

Es schneite. Und es schneite richtig. In der Nacht waren mindestens zehn Zentimeter gefallen, und Rabe starrte am Morgen noch ein wenig länger und beglückter auf die kalte Welt vor seinem Fenster als am Tag zuvor. Im Mondlicht wirkte die Straße vor dem Haus unberührt und glatt wie ein gemangeltes Laken, und die Autos sahen wie schlafende Igel aus, zumindest bis gestresste Väter und Mütter sie hektisch freiräumten, weil sie wieder einmal keine zusätzliche Zeit für das Schneefegen eingeplant hatten und die Uhr den nahenden Schul- oder Arbeitsbeginn herbeitickte. Auch Rabe wurde an diesem Tag von seiner Mutter zur Schule gefahren. Die Busgesellschaft war nicht auf einen Wintereinbruch vorbereitet gewesen und der Bus nicht gekommen – wie jedes Jahr, wenn das erste Mal Schnee fiel.

Wie jeden Donnerstag drehten sich die Pausengespräche vor allem um die Neustarts im örtlichen Kino. Eine große Pause von fünfzehn Minuten Länge reichte in der Regel dafür aus, da das Filmangebot ohnehin nur alle paar Wochen wechselte. Der Kinobetreiber wollte den Filmen dadurch die Möglichkeit geben, sich per Mundpropaganda zu entwickeln – zudem verfügte das Residenz trotz seines geheimnisvollen, edlen Namens lediglich über einen Saal und konnte deshalb höchstens zwei Filme parallel im Programm haben.

Rabe fieberte seit Langem dem neuen Carpenter-Film entgegen. Dass er ihn noch nicht gesehen hatte, obwohl er nun schon in der zweiten Woche lief, lag vor allem daran, dass keiner seiner Freunde ihn begleiten wollte.

Fete, der den Film schon in einer Sneak Preview mit einer mittlerweile wieder vergessenen Flamme vom Gymnasium der Nachbarstadt gesehen hatte, klärte Rabe auf, warum dies so war: »Warum sollte ich da noch mal reinwollen? Flucht aus L. A. ist der beschissenste Film aller Zeiten! Der Typ auf dem Surfbrett auf einer Welle, die sie im Computer gemacht haben … die ganze Optik, die Geschichte … Rabe, das ist einfach der größte Scheiß! Schau dir Twister an, der ist tausendmal besser!«

Rabe wollte nicht dogmatisch sein, aber es schmerzte ihn zu hören, wie ein Film seines Lieblingsregisseurs von allen verrissen wurde. Fete war ja leider nicht der Einzige, der zu diesem Urteil gekommen war. Sämtliche Klassenkameraden meinten, sie hätten mit Flucht aus L. A. einen der schlechtesten Filme seit Jahren gesehen, und unangenehmerweise widersprach diese Einschätzung nicht den Kritiken, die Rabe in den Filmzeitschriften gelesen hatte. Zugegeben, auch Carpenters Vorgängerfilm, ein Remake des legendären Dorf der Verdammten aus den Sechzigerjahren, war eher ein schwaches Werk, aber hier und da konnte Rabe etwas von der inszenatorischen Meisterschaft seines Idols wiederfinden.

Er musste diesen Film sehen, schon um zu wissen, was er in die Waagschale werfen konnte, um seinen Lieblingsfilmemacher zu verteidigen. Vielleicht ließe sich ja Michi zu einem Wochenendausflug überreden und würde den Film mit ihm anschauen. Rabe würde für ihn auch den Eintritt übernehmen.