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Seitenzahl: 69
1922S. Fischer / Verlag Berlin
Erste bis zwölfte Auflage Illustriert von Magnus Zeller Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung Copyright 1922 by S. Fischer, Verlag, Berlin
Schon vor Tagesgrauen erhob sich der Advokat von seinem Lager. Und im gleichen Augenblick begannen all die tausend kleinen Vögel, die in seinem Zimmer mit ihm lebten, zu zwitschern und zu trillern.
„Schon so früh wach, ihr Kleinen!“ flüsterte der Advokat. Er sprach nie laut. „Nun, guten Morgen! Pst! Pst!“
Und die tausend kleinen Vögel zwitscherten zur Antwort und verstummten gehorsam.
Der Advokat legte sich einen dicken wollenen Schal um die Schultern, denn er fror immerfort, er schlüpfte in wattierte Stiefel, zog Handschuhe an, setzte sich eine gefütterte Kappe auf den kahlen Schädel und trat ins Freie.
Es war noch Nacht, und alle Dinge sahen unwirklich und verzaubert aus. Zuweilen neigten sich die Gräser mit einem plötzlichen Ruck, ganz wie Schlafende sich neigen, die träumen, daß sie fallen, und dann spürte der Advokat einen kurzen warmen Hauch, der ebenso unvermittelt verschwand wie er kam. Am Himmel oben trieb eilig ein Gemisch von grauem und schwarzem Gewölk dahin, und im Zenit waren drei gelbe Sterne sichtbar, die in einer Richtung standen und wie ein fliegender Speer durch das Gewölk zu schießen schienen. Der Advokat betrachtete eine Weile aufmerksam den fliegenden Speer, und irgendein Gedanke rang in seinem Kopf. Dann eilte er mit kleinen, schlürfenden Schritten und so leise wie möglich über die sandbedeckten Wege des Anstaltsgartens dahin.
„Pst, stille!“ flüsterte er, wenn er an Büschen vorbeikam, in denen es sich regen wollte.
Wo die Gemüsegärten anfingen, stand ein alter Pumpbrunnen, der nicht mehr benutzt wurde, und hier begann der Advokat seine Tätigkeit. Er stellte die Gießkanne unter das Rohr und zog den Schwengel, immerfort bestrebt, keinen Lärm zu machen. Da der Brunnen wenig Wasser gab und der Advokat langsam und vorsichtig pumpte, war die Kanne erst nach halbstündiger Arbeit gefüllt. Darauf schleppte sie der kleine Advokat keuchend und hüstelnd bis zu den Blumenbeeten und fing an, die Blumen unter glückseligem Lächeln und leisen Koseworten zu begießen. „Nicht so hastig, ihr Kleinen,“ flüsterte er, „meine Kinderchen, wie ihr schluckt! Guten Morgen!“
Da aber wurde es in einem Holunderbusch lebendig. Hunderte von kleinen Vögeln streckten auf einmal die Köpfe aus dem Laub und zwitscherten dem Advokaten zu.
Er hob erschrocken die Hand. „Ruhig, still, um Gottes willen!“ sagte er. „Immer wollt ihr die ersten sein! Jeden Morgen. Pst!“ Und im Busch wurde es augenblicklich still.
Der Advokat ging lautlos von Beet zu Beet und begoß seine Blumen. Manchmal hielt er aufatmend inne und blickte zum Himmel empor, wo noch immer der goldene Speer durch das Gewölk schoß, ohne je von der Stelle zu kommen. Dann dachte er lange nach und schüttelte den Kopf. Aus dem Pavillon der Schwerkranken drang ein langgezogenes Heulen, das in regelmäßigen Intervallen in ein jammerndes Weinen überging. Der Advokat aber hörte es nicht. Er hörte nur, daß drinnen in den Büschen die Vögel die Flügel schüttelten und die Schnäbel wetzten.
Eine übernächtige Wärterin ging fröstelnd an ihm vorüber.
„Schon so früh bei der Arbeit?“ sagte sie und wandte ihm das bleiche Gesicht zu.
Der Advokat stellte die Gießkanne ab, verbeugte sich und zog die Mütze. „Man muß sich daranhalten,“ flüsterte er, „die Kleinen warten nicht.“
Hierauf begoß er die Beete, die sich am Hauptgebäude entlangzogen, andächtig und hingegeben. An den offenen Küchenfenstern, die sehr niedrig lagen, machte er halt und suchte mit den Augen die Fensterbretter ab. Er schüttelte enttäuscht und niedergeschlagen den Kopf. Ja, sie hatten es wiederum vergessen, ihm Brotkrumen für seine Vögel herauszustellen! Wer konnte sich auf diese Mägde verlassen?
Er suchte ein paar kleine Kieselsteine am Wege und warf sie, einen nach dem andern, mit leisem Kichern in die schwarze Küche hinein: Sollten sie es nur lernen, aufmerksamer zu sein! Oh, er würde es ihnen schon beibringen, die Brotkrumen regelmäßig aufs Fensterbrett zu stellen. Es gab ja genug Kiesel auf den Wegen. Und wenn sie sich noch so oft beschwerten!
Die Gießkanne war leer, und der Advokat machte im Morgengrauen den Weg zum Pumpbrunnen zurück.
Der Advokat war seit dem Tode seiner Frau ein Freund der Blumen und Vögel geworden. Als sie starb, in der Agonie, sagte sie: „Man muß die Blumen begießen. Die Vögel müssen ihr Futter haben.“ Das waren ihre letzten Worte, und der Advokat hörte sie Tag und Nacht in seinen Ohren wiederklingen. Er hörte sie aus jedem Windhauch, aus dem Gespräch zweier Menschen heraus, ja sogar aus der Stille vernahm er sie. Im Zimmer seiner Frau stand ein schwarzer schwerer Wäscheschrank (an den er sich merkwürdigerweise noch heute erinnerte), und auch dieser schwarze breite Schrank wiederholte ihm die letzten Worte seiner Frau, obschon er keinen Laut von sich gab. Der Advokat lebte still und einsam weiter und begoß die Blumen in den Vorfenstern und gab den Vögeln in den Bauern Futter und Wasser. Die Blumen gingen ein, und die Vögel starben, einer nach dem andern. Der Advokat aber bemerkte es nicht. Ihm schien es vielmehr, als ob die Vögel munter in ihren Bauern hüpften und zwitscherten. Sie brüteten, und es wurden ihrer immer mehr. Und der Advokat hatte seine kindliche Freude daran. Endlich waren es Hunderte, die ihm von früh bis spät in die Ohren zwitscherten, Tausende. Sie lebten in den Wänden, an der Decke, überall. Und der Advokat konnte nicht verstehen, daß die andern sie weder sahen noch hörten.
Als die Sonne aufging, hatte der Advokat schon ein gutes Stück seiner Tagesarbeit hinter sich und kehrte in den Pavillon zurück, der wie ein Landhaus im grünen Garten lag.
Unter der Türe, leicht gegen den Pfosten gelehnt, stand lächelnd Michael Petroff, ehemals Offizier in der russischen Armee, und begrüßte ihn mit einem heiteren, hellen: „Guten Morgen, mein Freund!“
Der Advokat in seinem wollenen Schal, der Halsbinde, den wattierten Stiefeln, verneigte sich und zog die Kappe.
„Guten Morgen, Herr Kapitän!“
Sie verbeugten sich einigemal, denn sie hatten die größte Hochachtung voreinander, dann erst reichten sie sich die Hand.
„Haben Sie gut geschlafen, Herr Advokat?“ fragte Michael Petroff und beugte sich etwas herab, wobei er liebenswürdig lächelte.
„Geschlafen? Ja, ich danke.“
„Auch ich verbrachte die Nacht vorzüglich!“ fuhr Michael Petroff fort und ließ ein helles, fröhliches Lachen hören. „Vorzüglich, in der Tat. Ich träumte —“, setzte er hinzu und blickte lächelnd, das rechte Auge halb zusammengekniffen, in den Garten hinaus. „Ja! — Und nun treten Sie ein in mein Bureau, mein Freund. Es gibt Neuigkeiten. Bitte!“ Er legte die Hand auf die Schulter des kleinen Advokaten und ließ ihm mit einer kleinen Verbeugung den Vortritt.
Kapitän Michael Petroff war ein schlanker, großer Mann, mit stahlblauen, heiteren Augen und einem kleinen blonden Schnurrbart, der wie sein blondes, seidenweiches gescheiteltes Haar zu erbleichen begann. Er war peinlich sauber gekleidet und sorgfältig rasiert. Sein Kinn war rund und schön geformt, etwas zu zart, sein Mund von außerordentlich schöner und weicher Zeichnung, wie der Mund eines Knaben.
„Bitte!“ sagte Michael Petroff und lud den Advokaten mit einer Handbewegung ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
„Ich störe. Störe ich nicht?“ flüsterte der Advokat und blieb stehen.
„Nein! Sie, wie sollten Sie —?“ Und Michael Petroff drängte den Advokaten auf das Sofa. Der kleine Advokat nahm scheu und mit einem dankbaren Blick Platz. „Sie haben ja so viele Arbeit — ich weiß —“, sagte er und deutete mit dem Kopf auf den Schreibtisch, der überladen war mit Akten, Zeitungen und Manuskripten.