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Die Schwestern Clara und Lilly freuen sich auf ihren Urlaub am Gardasee, doch als sie mit ihren Eltern in der alten Burg Castel Mondragon ankommen, wird schnell klar: Dies werden keine gewöhnlichen Ferien! Durch ein Missgeschick entlarvt Lilly die geheimnisvolle Freyda als Hexe - und das ist erst der Anfang. Die beiden Schwestern erfahren, dass die alte Legende über die Hexen und ihre furchterregenden Drachen, die einst auf der Burg lebten, tatsächlich wahr ist. Doch Freyda steckt in großen Schwierigkeiten! Ohne zu zögern, beschließen Clara und Lilly, ihrer neuen Hexenfreundin zu helfen. So begeben sie sich gemeinsam auf eine abenteuerliche Reise in Freydas geheime Welt voller Hexen, dunkler Magie, mythischer Drachen und zauberhafter Wesen. Doch die Gefahren sind größer, als sie je erwartet hätten. Können Clara und Lilly Freyda rechtzeitig helfen? Und vor allem - werden sie es schaffen, sicher in ihre eigene Welt zurückzukehren, oder wird die Magie sie für immer gefangen halten?
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Dieses Buch widme ich meinen beiden zauberhaften Töchtern, Laura und Leonie, die mich zu dieser Geschichte inspiriert haben und vor allem mich dabei ermutigten, es fertig zu schreiben.
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SOCIAL MEDIA
PROLOG
DIE ANKUNFT
DAS EICHHÖRNCHEN MIT DEN FUNKELNDGRÜNEN AUGEN
RETTUNG IN LETZTER SEKUNDE
DAS FREMDE MÄDCHEN
LILLYS GEHEIME FREUNDIN
ICH BIN FREYDA
DAS GEHEIMNIS DER HEXEN VON MONDRAGON
ZU HAUSE BEI ZITRONELLA
HEXENNA CHHILFE
GROTTENSCHLECHTE HEXEN - SCHÜLERIN
EIN VERHEXTER PLAN
HEXENKELLER
HEXENKUNST UND ZAUBER - TRANK
VORBEREITUNGEN
HEIMLICH FEE!
HEXENKUNST UND ZAUBER - TRANK
DER GEHEIMGANG
HEXENKUNST UND ZAUBER - TRANK
HEXENLAND
HEXENSCHULE
HEXENUNTERRICHT
TIEF IM FELSEN
HEXENKRAFT
EIN BERGDORF NAMENS »EISENSCHLUND«
ENRICOS ZAUBERWAGEN
ÜBERNACHTUNG IN DER FELSENSCHULE
BUDDLHEX
DIE PRÜFUNGEN KÖNNEN BEGINNEN
LAMPENFIEBER UND WILDSCHWEINJAGD
ZAUBERTRANK UND KRÖTENDRAMA
RETTUNG IN LETZTER SEKUNDE
ERKLÄRUNGSNOT
ERSTE DRACHENFLUGSTUNDE
BESCHREIBUNG DER TIERE
LATEIN
ITALIENISCH
DANKSAGUNG
Italien, Venezien, am Ostufer des Gardasees im Jahre 1491
Eine dunkle Wolkendecke erhob sich direkt über der Burg Castel Mondragon. Bedrohlich und finster, wie ein gigantisches, alles verschlingendes Ungeheuer, baute sie sich unaufhaltsam auf. Sein Vater und alle anderen aus dem Dorf behielten also Recht.
»Die unheimlichen Kreaturen werden heute Nacht in ihrer Burg wieder ihr Unwesen treiben.«
Der Wind begann zu heulen, und ein unruhiges Krächzen erfüllte die Luft, als plötzlich eine Schar von Vögeln aus den Bäumen aufstieg, als hätten sie eine bevorstehende Gefahr ebenfalls gespürt. Sogar die Ratten verließen ihre Verstecke und ergriffen die Flucht.
»Nicht nur die Dorfbewohner und sein Vater, sondern auch die Tiere hatten längst Wind davon bekommen«, schoss es ihm durch den Kopf.
Dies waren deutliche Anzeichen dafür.
Der Wind kündigte den unheilvollen Spuk an und blies mit leisem, unheimlichen Gewisper durch das kleine Dorf, was einem die Nackenhaare aufstellen ließ. Als würden geisterhafte Stimmen in geheimnisvollen Sprachen zueinander flüstern.
Zusammen mit seinen fünf jüngeren Geschwistern und seinen Eltern lebte der elfjährige Junge in dem winzigen Dorf namens »Mondragon di sotto«, welches nur aus einer Handvoll kleiner, schnuckeliger Steinhäuser bestand. Der Name bedeutet nichts anderes als »Mondragon unten« und stammt daher, dass der Ort unterhalb des Hügels am Fuße der Burg Mondragon liegt. Aber nun war die einstige Idylle des Dorfes verschwunden, denn die Bewohner zogen sich bereits ängstlich in ihre Häuser zurück. Frühzeitig verriegelten sie, aus tiefer Furcht vor dem bevorstehenden Spuk, ihre Türen und vernagelten ihre Fenster.
Heimlich hatte er im Vorfeld seinen Schlafplatz ausgestopft und sich rechtzeitig davongeschlichen. Eigentlich hätte er Mitten in der Nacht gar nicht allein hier draußen sein dürfen und erst recht nicht, wenn ein Gewitter über Mondragon aufzog. Diese Blitze waren nämlich alles andere als gewöhnlich, und nur jemand der verrückt war, oder gar komplett den Verstand verloren hatte, würde sich ihnen freiwillig aussetzen. Oder eben jemand wie er, der tollkühn und unerschrocken genug war, sich der übernatürlichen Gefahr zu stellen. Es war nicht einfach, die Furcht in den Schatten zu drängen, aber es war machbar. Angst war schließlich nur ein unangenehmer Begleiter, den er durch seine unbändige Neugierde überwinden konnte, meinte er. Schließlich, wenn er es nicht wagte, würde es sonst niemand tun, und das wäre noch schlimmer als die ständige Ungewissheit und die überwältigende Todesangst, die Mensch und Tier jedes Mal an diesem Ort bei einem bevorstehenden Gewitter überkam. Es war an der Zeit, endlich das Geheimnis zu lüften und dem bizarren Geschehen auf den Grund zu gehen.
Heute Nacht sollte es geschehen. Die Bedingungen schienen für sein heimliches Vorhaben optimal zu sein. Ein kalter Schauder lief dem Buben über den Rücken, dennoch ließ ihn nichts zurückweichen. Schließlich war er schon elf, also fast erwachsen, fand er. Dem Castel Mondragon auch nur näher zu kommen, geschweige denn sich heimlich in die Burg zu schleichen, hätte er sich niemals getraut. Das war vollkommen undenkbar – ein Wagnis, das er nie in Betracht zog. Natürlich war er nicht lebensmüde, sondern nur ausgesprochen mutig und wissbegierig.
Der Junge befand sich bereits auf dem schmalen Pfad, der ihn nach Lazise führte, ein kleines Städtchen, welches sich zwei Kilometer unterhalb seines Dorfes direkt am Gardasee befand.
Noch einen letzten Blick warf er zum Hügel hinauf. Dort oben auf der Hügelkuppe thronte die Burg, das Castel, welche düster in den dunklen, wolkenbehangenen Himmel ragte. Das Furchteinflößendste und Eigenartigste an der Burg Mondragon waren zweifellos die ungewöhnlichen Gewitter, die ausschließlich über ihr und dem kleinen Dorf »Mondragon di sotto« tobten. Nur über der Burg und dem Dorf erklomm das Gewitter seinen schauerlichen Höhepunkt, begleitet von einem unheimlichen Geheul und Gekreische, die die Sinne erzittern ließen. Der Himmel wurde von farbenfrohen Blitzen und tückischen Funken erhellt, und die Bewohner des Dorfes wussten nur zu gut, dass dies kein gewöhnliches Gewitter war. Ihre Ängste manifestierten sich in einem einstimmigen Glauben, der sie zu Tode erschreckte:
»Das kann nur das Werk von Hexen, Drachen oder anderen furchterregenden Dämonen sein!«
Und in dieser düsteren Schreckensnacht war es wieder so weit. Gewaltige Blitze, als wären sie von anderen Mächten erschaffen, schnellten über die Burg wie gefährlich grellleuchtende Geschosse bunt umher, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnergetöse, die ihn jedes Mal zusammenzucken ließen. Aufflammende Blitze erhellten bruchstückartige Teile der massiven Burggemäuer und tauchten sie wieder in zappendustere Dunkelheit. Überall sonst ringsherum war der Himmel sternenklar und friedlich.
Mit festem Entschluss wandte der Junge dem Dorf »Mondragon di sotto« den Rücken zu und eilte zielstrebig nach Lazise, bevor er auch nur einen Moment Zweifel aufkommen ließ oder gar die Angst die Oberhand gewinnen würde. Barfuß und lediglich mit Hemd und Hose bekleidet, erreichte er die imposante Stadtmauer. Rasch passierte er das mächtige Stadttor. Hier reihten sich die steinernen Gebäude mit den niedrigen, breiten Holztüren, Mauer an Mauer aneinander. Schnell lief er an ihnen vorbei, über die breite mit groben Steinen gepflasterte Gasse und überquerte schließlich die menschenleere Piazza Vittorio Emanuele in Richtung Hafen. Alles war ruhig und still. So mucksmäuschenstill, dass er nur das gedämpfte Klatschen seiner nackten Fußsohlen auf den glatten Pflastersteinen wahrnahm, als er den imposanten Platz überquerte, der wie ein riesiges Schachbrettmuster gelegt war. Von dort aus konnte er bereits den Zweimaster ausmachen, dessen Masten sich als lange Schatten im hellen Mondscheinlicht des Sees widerspiegelten.
Das Schiff war der stolze Besitz seines Vaters und das größte Fährmannsboot hier im Hafen von Lazise. Der prächtige Lastenkahn mit den ziegelroten Segeln übernahm den Warentransport und überquerte den Gardasee von Lazise nach Salò am Westufer des Gardasees, sowie umgekehrt. Oft durfte er ihn auf seinen Überfahrten begleiten und wenn er ihm mit rechter Hand zur Seite ging, verdiente er sich den ein oder anderen Taler. Im Hafen lagen noch andere, kleinere Fährmannsboote und auch Fischerboote vertäut, die sanft im Wasser schaukelten.
Seit ewiger Zeit hatte sein Vater immer wieder seltsame Geschehnisse feststellen müssen. Nach jeder Spuknacht, die über Burg Mondragon herfiel, befand sich sein Segelboot nicht an seinem gewohnten Anlegeplatz. Die Geräte und Werkzeuge lagen unordentlich durcheinander, als wäre ein Orkan darüber gefegt. Jetzt wird er dem Geheimnis auf den Grund gehen.
»Da gibt es bestimmt einen Zusammenhang«, dachte er – davon war der Junge felsenfest überzeugt.
Obwohl der Elfjährige die ganze Strecke gerannt war, gönnte er sich nur einen kurzen Moment zum Durchatmen. Dann kletterte er so flink wie ein Affe auf den Kahn seines Vaters und versteckte sich in der Kajüte. Kaum hatte er die Luke bis auf einen kleinen Spalt zugezogen, schlugen die Glocken von San Nicolò zur Mitternachtsstunde. Unaufhaltsam kroch die schleichende Angst zusammen mit einem leichten Frösteln in seinen Körper. Er war machtlos dagegen. Die einstige Zuversicht sein Angstgefühl kontrollieren zu können, wurde in diesem Augenblick zu Brei geschlagen. Plötzlich war er sich seines Vorhabens nicht mehr sicher.
»Blöde Idee«, murmelte der Fährmannssohn und biss sich dabei leicht auf die Unterlippe.
Kaum hat der Bub das ausgesprochen, hörte er schon eigenartiges Poltern. Die Neugier war dennoch größer. Er schluckte schwer als könne er somit die Angst vertreiben. Trotzdem steckte er vorsichtig mit angehaltenem Atem seinen dunklen Lockenkopf aus der Kajüte. Was er jetzt sah, konnte er mit seinen eigenen Augen nicht glauben. Eine düstere Gestalt, kein Kopf größer als er, mit wallendem rabenschwarzem Gewand und spitzgebogenen Hut schwebte, sitzend auf einem alten Besen über den Schiffsplanken. Sie war schmächtig und so zierlich wie ein Mädchen. Verdutzt rieb er sich mit den Fäusten die Augen, um den Spuk zu vertreiben. Nein, tatsächlich. Er beobachtete, wie die schwarze Kreatur, so dünn wie eine Bohnenstange, mit ihren fliegenden Besen sich in der Luft drehte und langsam zur Landung ansetzte. Ihr langes silberweißes Haar fiel ihr glatt über den Rücken und schimmerte schwach im fahlen Licht des Mondes. Die Krempe des übergroßen Hutes warf einen runden Schatten auf ihr totenblasses Gesicht, welches größtenteils verdeckt wurde. Dann sah er wie sie mit ihren spitzen Schuhen, klackernd auf den hölzernen Schiffsdielen aufkam.
»Klack! Klack!«, tönte es auf dem hölzernen Boden.
»Ist es wahrhaftig eine Hexe?«
Lautlos zog er die Luke wieder bis auf einen winzigen Spalt zu und spähte hindurch. Eigentlich hatte er sich Hexen viel hässlicher vorgestellt – uralt mit zerzausten Haaren, glühenden Augen, hervorstehendem Kinn und einer großen haarigen Warze auf ihrer langen, krummen Hakennase. Auch der Hexenbuckel fehlte. Diese Gestalt hier wirkte auf ihn eher gespenstisch und geisterhaft, aber ihre Unheimlichkeit jedoch minderte das keineswegs. Etwas zutiefst Furchteinflößendes strahlte von ihr aus, was er nicht in Worte fassen konnte.
»Bimm, bamm, bimm, bamm! Zwölf Uhr hat’s geschlagen!«, hörte er nun eine sehr helle, fast schon liebliche Kinderstimme singen.
Die angeschlagenen Töne klangen äußerst unheimlich und verursachten ihm sofort eine Gänsehaut. Die Klänge waren grauenhaft hoch und ließen ihm sämtliche Nackenhaare zu Berge stehen. Sie schienen sich bis ins Knochenmark zu bohren. Sein Puls schnellte in die Höhe und sein Herz begann wie verrückt zu schlagen. Nun stand die dämonische Gestalt direkt vor ihm, doch ihr Rücken war ihm zugewandt. Seine Augen weiteten sich und eine Mischung aus Spannung und Angst machte sich breit. Obwohl, wenn er ehrlich war, überwog mehr die Angst. Urplötzlich wie aus dem Nichts, trat ein dickeres Gewölk vor den Mond. Die geisterhafte Gestalt summte nun vor sich hin. Kalter Angstschweiß bildete sich auf der Stirn des Jungen. Inzwischen raste sein Puls und sein Herz drohte nun in seiner Brust zu zerspringen. Er rollte sich wie ein Igel zusammen. Schon hörte er die gruselige Kreatur mit einer plötzlich kratzigen Stimme kommandieren, die so gar nicht zu ihrer zierlichen Erscheinung passte.
»Steuerbord voraus, nur einerlei!«, aber das Boot setzte sich nicht in Bewegung.
Da wusste das unheimliche Geschöpf sofort Bescheid, ein blinder Passagier war an Bord.
»Wer immer hier ist, muss jetzt mit mir kommen!«, kreischte sie hasserfüllt.
»1, 2, 3, 4, Eckstein, alles muss versteckt sein. Hinter mir und vor mir gilt es nicht und an beiden Seiten nicht! 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 – ich komme!«, sang die finstere Kreatur furchteinflößend und hatte nichts mehr mit der unheimlichen Kinderstimme von vorhin gemein.
Diese hörte sich weitaus viel schrecklicher an. Plötzlich drehte sie sich ruckartig zu ihm um. Ihre Bewegung hatte etwas durch und durch Unnatürliches und Unmenschliches zugleich an sich.
Die Luke schlug wie aus Zauberhand mit einem kräftigen Ruck auf und eine grauenhafte Hexenkreatur starrte ihn mit funkelnden grünen Augen einer Bestie fuchsteufelswild an. Das blasse Gesicht veränderte sich schlagartig zu einer hässlichen Fratze und große spitze Reißzähne, wie die von einem gefährlichen Raubtier, kamen zum Vorschein. Aber am unheimlichsten waren diese furchterregenden blitzenden, giftgrünen Augen. Funkelnd und stechend schienen sie ihn mit ihren Blicken wie Dolche zu durchbohren.
Jetzt war er sich sicher!
»Das ist eine Hexe!«
Sie sah viel fürchterlicher aus als in seinen Vorstellungen.
»Steuerbord voraus, zu zweit!«, grollte erneut ihre furchteinflößende Kratzstimme.
Kaum hatte sie das befohlen, löste sich von selbst das Tauwerk und die Segel wurden wie von Hexerei gehisst. Der Lastenkahn bewegte sich und glitt leise aus dem kleinen Hafenbecken, steuerte aber nicht wie gewohnt in Richtung Salò, sondern nahm selbständig aus magischer Hexenkraft Kurs auf den Felsen von Manerba.
Der Junge presste seine Hände fest auf seinen Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken, aber es war sowieso schon egal. Die Hexe wusste von ihm. Mit einem Mal überkam ihn eine schiere Angst, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte, und sie ließ ihn beinahe vor Schwindel vergehen. Nun war der Junge endgültig der Ohnmacht nahe. Plötzlich wurde alles schwarz vor seinen Augen, und er verlor das Bewusstsein.
Die Hexe wandte sich wieder von ihm ab und nahm ihr übliches Gesicht an, dass eines durchaus hübschen, etwa 14-jährigen Mädchens mit einer etwas zu groß geratenen Nase. Auf dem Deck stand die Hexe und zog einen kleinen Glasflakon unter ihrem Umhang hervor. Mit erhobenem Haupt richtete sie ihren Blick in den nun gänzlich düsteren, wolkenbehangenen Himmel empor. Ihre mageren Finger umklammerten das Fläschchen mit dem kristallklaren Inhalt so fest, dass ihre weißen Handknöchel herausstachen, als wäre es von einem unvorstellbaren Wert für sie. Ihr schwarzes Kleid und die langen, glatten Haare wehten im Wind. Die Hutspitze bog sich leicht hin und her. Erste Regentropfen platschten hinab. Der Zweimaster segelte geschwind vorbei an der Skaligerburg von Lazise. Die Zinnen des massiven Hauptturms warfen ihre schwarzen Schatten auf das saphirblaue Wasser, aber von alldem bekam der Junge nichts mehr mit. Es war für ihn eine Reise ohne Wiederkehr.
Italien, Venezien, Burg Mondragon im Jahre 2024
»S ooo, puhh, geschafft!«, stieß Herr Lausinger erschöpft aus.
Ein paar Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, was nach der anstrengenden Fahrt und in der Mittagshitze auch kein Wunder war. Nach jeder Menge Staus und zahlreichen Stopp und Go’s, gefühlten hundert Baustellen, einem Tankstopp und einer Pinkelpause in Innsbruck, erreichte die Familie Lausinger sichtlich erleichtert, nach fast sechsstündiger Autofahrt ihr ersehntes Feriendomizil in der Region Lazise in Italien am wunderschönen Gardasee.
»Ich frage mich nur immer wieder … Wo ist denn der Haken an der ganzen Sache? Du weißt doch, diese Immobilie ist weitaus mehr wert, als der Verkäufer von uns verlangte«, sagte Leonore zu ihrem Mann.
Hinter den dunklen Gläsern ihrer Sonnenbrille blickte sie ihn von der Seite abwartend an.
»Ja, Mausibär, da hast du Recht, das habe ich mich auch schon sehr oft gefragt.«
Klaus hob die Augenbrauen, als er seiner Frau antwortete. Ihm selbst ging es genauso wie ihr, auch er konnte sein Glück mit der Schnäppchenwohnung nicht fassen.
»Aber ich denke, wir sollten uns einfach freuen und glücklich sein. Falls der Haken zum Vorschein kommt, werden wir auch hierfür eine Lösung finden«, fuhr er ruhig fort.
Die Beiden blickten sich lächelnd an und drückten sich sanft mit voller Zuversicht die Hände. Familie Lausinger, bestehend aus Mama Leonore, Papa Klaus, der fast zwölfjährigen Clara und der achtjährigen Lilly, sind eine normale Familie aus München, die nicht gewöhnlicher sein konnten. Bis auf eine außergewöhnliche Tatsache unterschied sie sich kaum von anderen Familien: Seit dem vergangenen Winter ist die Familie Lausinger stolze Besitzerin einer Ferienwohnung in einer alten Burg am Gardasee. Sie haben es sich als Ausgleich zum harten Berufsleben und als gelegentlichen Rückzugsort aus dem Stadtleben geleistet. Denn Vater Klaus war ein erfolgreicher Anwalt mit eigener Kanzlei, spezialisiert auf Mietrecht, was in der Stadt München sehr gefragt war. Er war groß und kräftig, mit einem dicken Bäuchlein, das sich unter seinem Hemd wölbte – nicht zu viel, aber gerade genug, um zu zeigen, dass er gutes Essen schätzte. Leonore Lausinger hingegen war klein, schlank und sehr sportlich, schließlich arbeitete sie als Fitnesstrainerin und verbrachte den ganzen Tag im Studio. Sie hüpfte so leichtfüßig umher, dass sie locker mit einem Känguru mithalten konnte. Auch hierfür boomte die Nachfrage in München.
Mit ihrer frisch erworbenen Burgwohnung, besaßen sie nun alles, was sie wollten, und waren eine glückliche Familie. Das Castel selbst bestand aus vier großen, gehobeneren Eigentumswohnungen. Was sie allerdings nicht ahnen konnten, war, dass sie in der luxuriösen Ferienanlage, die anscheinend nur von Millionären bewohnt wurde, die einzigen echten Menschen unter den Burgbewohnern waren. Da war auch schon der verborgene Haken an der ganzen Sache, von dem die deutsche Familie nichts wusste. Nie im Leben wären sie auf die Idee gekommen, dass es hier verhext zugehen könnte.
»Jetzt muss nur noch das Tor aufgehen«, witzelte Frau Lausinger, die auf dem Beifahrersitz saß.
»Ja, wenn Papa es richtig ins Auto ein-pro-gram-marieeert hat, dann geht es auf!«, kreischte Lilly aufgeregt, die jüngere Tochter der Lausingers, von der Rückbank.
Ihr Mund quoll voller Salzbrezeln über, die sie bereits fleißig nicht nur auf ihren Sitzbereich verteilt hatte.
»Das heißt einprogrammiert und natürlich kann das der kluge Papa«, berichtigte Klaus Lausinger fröhlich seinem Töchterchen.
»Ja, weiß ich doch. Nur mit vollem Mund spricht man schlecht«, kam prompt die Erklärung dafür.
»Mit vollem Mund, sprich man eigentlich gar nicht«, konnte Clara sich nicht verkneifen zu sagen.
Lilly verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und sah ihrer Schwester trotzig entgegen.
»Klaus, hast du auch den Schlüssel mit dabei?«, erkundigte sich Frau Leonore Lausinger mit heruntergezogener Sonnenbrille und Lehrerblick bei ihrem Mann.
»Obwohl diese Frage schon reichlich spät von ihr gestellt wurde«, dachte sich die ältere Tochter der Lausingers.
»Jaaaa, natürlich Mausibär«, kam mit einem »Was denkst du denn von mir«-Blick zurück.
Zumindest nur einen Druckknopf entfernt, dann konnten die großen, langersehnten Pfingstferien mit zwei Wochen Italienurlaub beginnen. Der anthrazitfarbene Wagen mit Münchener Kennzeichen stoppte mit den vier Insassen vor dem mächtigen, schmiedeeisernen Einfahrtstor. Auf dem Tor stand mit Großbuchstaben geschrieben:
CASTEL MONDRAGON
und darunter prangerte ein gefährlich aussehender, schwarzer Drache mit einem smaragdgrünen, edelsteinverzierten Auge, welches in der Sonne wild funkelte.
»Ja, es ist eine echte Burg aus dem 13. Jahrhundert! Das ist doch unglaublich! Zumindest, das, was davon noch übrigblieb, denn das Castel wurde irgendwann kurz vor dem 18. Jahrhundert von einem gewaltigen Blitzeinschlag getroffen und brannte fast bis auf die Grundmauern nieder. Nur Teile des Wohnkomplex und zwei Türme blieben weitgehendst bestehen. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Burg mit den Steinen der Ruine teilweise in den Ursprungszustand versetzt. Später im Jahre 1960 wurde es von einem millionenschweren Erben zu vier großen, separaten Wohnungen umgebaut und der riesige Gemeinschaftspool kam hinzu. Es gibt sogar eine Legende darüber. Es handelt sich um die Hexen von Mondragon, die dort ihr Unwesen, zusammen mit ihren furchterregenden Drachen getrieben haben sollen. Ist das nicht aufregend?«, erklärte Frau Lausinger und wackelte beim Sprechen ehrfürchtig mit dem Kopf.
Auch sie fand die Legende, die in dieser Burganlage steckte, einfach unglaublich. Ihre Begeisterung dafür war nicht in Worte zu fassen und dem Rest der Familie schien es ähnlich zu gehen.
»Castel heißt übersetzt Burg und Mondragon bedeutet Berg des Drachen oder im Volksmund ist er auch als Hexenberg bekannt«, fügte Clara stolz hinzu.
»Stimmt«, antwortete Lilly neunmalklug als hätte sie alles schon im Vorfeld gewusst.
Clara las bereits darüber. Schließlich wollte sie schon wissen, wo sie ihre Ferien von nun an verbringt. Die Hexen von Mondragon waren allerdings nicht die einzigen bösen Gestalten, die sich am Gardasee umhertrieben. Rund um Salò, welches sich am westlichen Ufer des Sees befindet, hauste ebenfalls ein Hexenvolk, die zusammen mit den Hexen von Mondragon und anderen Hexenvölkern gemeinsam mit ihren Drachen ihr Unwesen trieben. Bis sich die Hexenvölker untereinander zerstritten und ein fürchterlicher Krieg zwischen ihnen entfacht haben. Dieser Hexenkrieg führte schließlich zur endgültigen Zerstörung der Burg Mondragon. In einer verheerenden Gewitternacht brannte sie nach einem heftigen Hexenkampf durch gewaltige Blitzeinschläge fast bis auf die Grundmauern nieder. Das erzählt jedenfalls die Legende.
»Es war nicht nur ein fürchterliches Gewitter, sondern der Hexenkrieg hatte kurz vor dem 18. Jahrhundert die Burg fast komplett zerstört«, murmelte Clara leise.
Das schwere Eisentor setzte sich in Bewegung und schob sich geräuschlos zur Seite, als würde es schweben. Zum Vorschein kam eine lange Auffahrt den Hügel empor, die beidseitig umsäumt von hohen, uralten Laubbäumen war. Die schattige Zufahrt glich einem Blättertunnel. Die mächtigen Bäume beider Seiten standen so hoch und dicht beieinander, dass sich die knorrigen Zweige gegenseitig berührten. Nur noch vereinzelte Sonnenstrahlen fanden den Weg, sich durch die in verschiedenen Grüntönen, schillernde Blätterwand zu drängen. Hinter dem langen und dichten Blättertunnel konnte man nur noch die Hügelkuppe und die Burg selbst erahnen. Auf der rechten Seite war der Beginn eines kleinen, steil ansteigenden Wäldchens von uraltem Baumbestand zu sehen. Auf der linken Seite hinter der ersten Baumreihe, fiel der Hügel schon wieder steil ab und dort ging es auch deutlich tief den mit uralten Bäumen bewachsenen Abhang hinunter. Das riesige Gebiet, welches die Fläche von etwa drei Fußballfeldern entsprach, war umzäunt mit einem hohen, eisernen Zaun auf dessen Eisenstäben bedrohliche Spitzen thronten, um unerwünschte Eindringlinge abzuhalten.
Langsam lenkte der Wagen mit Herrn Lausinger am Steuer, die lange Auffahrt durch den märchenhaften Blättertunnel hinauf und parkte schließlich auf dem Hof neben einem eleganten schneeweißen Oldtimer-Cabrio-Roadster, einer deutschen Luxusautomarke mit glänzendem Chrom, roten Ledersitzen und italienischen Kennzeichen.
»Oh, der schicke Oldtimer gehört dieser Contessa Ludovica. Der Wagen ist bestimmt 60 Jahre alt. Ein unbezahlbares Schmuckstück von zeitloser Schönheit«, schwärmte Papa Klaus.
Die drei weiblichen Begleiterinnen verdrehten amüsiert die Augen, als sie das typisch männliche Verhalten bei Autos bemerkten, das ihnen nur allzu vertraut war.
»Also, wir sind nicht allein hier. Seid daher nicht zu laut und benehmt euch«, fügte er hinzu und stellte dies mit einem unmissverständlichen Blick klar.
Ein Stück hoch des Hügels, oberhalb des Parkplatzes warf eine mächtige, bestimmt 200 Jahre alte Eiche ihre dunklen Schatten über das Parkplatzdach, welches sich über mehrere Autoparkplätze erstreckte. Es schien so, als wären sie momentan zusammen mit der Contessa Ludovica die einzigen Bewohner hier. Alles wirkte menschenleer und außer dem Zirpen der Singzikaden, die sich bereits freudig auf den Sommer einstimmten, und dem fröhlichen Vogelgezwitscher war nichts zu vernehmen. Es war windstill. Die Familie bemerkte allerdings nicht, dass sie schon längst von etwas Unbekannten in Augenschein genommen wurden. In der prächtigen Krone, gut versteckt hinter den Zweigen, lugten zwischen grünen Blättern, zwei kleine funkelndgrüne Äuglein hervor und beobachteten neugierig die Neuankömmlinge.
»Wie wäre es wohl ein Menschenkind zu sein?«, diese Frage stellte sich das unbekannte Wesen, seitdem sie Menschen zum ersten Mal begegnet war.
Sie war fasziniert von diesen Geschöpfen, die sie bereits mehr als eine Ewigkeit kannte.
Verträumt saß es hier oben gut versteckt in einer anderen Gestalt und schwelgte vor sich hin. Tief versunken in ihrer Traumwelt dachte es sich aufregende Geschichten aus, mit ihm selbst, als menschlichen Hauptdarsteller und der Familie, die sie gerade beobachtete. Es kannte sie bereits, die Menschenfamilie Lausinger. Schließlich waren sie auch von den anderen, den Burgbewohnern, auserkoren worden, als diejenigen einzigen Menschen auf Burg Mondragon zu sein. Nicht ohne Hexerei zwar und dem verlockendem günstigen Kaufangebot, dem Herr und Frau Lausinger nicht widerstehen konnten, kauften sie nichtsahnend die freie Burgwohnung mit Seeblick im Erdgeschoß.
Es war außerordentlich wichtig, dass zumindest eine Wohnung von echten Menschen genutzt wurde, um weiterhin ihre wahre Identität verbergen zu können. Da fiel die Wahl auf diese entzückende, echte Menschenfamilie. So gingen die geheimnisvollen Burgbewohner nun seit Generationen vor. Somit gelang es ihnen, den Schein auf Mondragon nach einer menschlichen Ferienanlage in einer Burg am wunderschönen Gardasee aufrecht zu erhalten. Die Familie Lausinger mit ihren beiden Kindern passte nahezu perfekt hierher, denn da sie aus München waren, nutzten sie die Wohnung tatsächlich nur als Ferienimmobilie. Sie kamen also nicht zu oft, aber auch nicht zu selten nach Mondragon. Welche Wahrheiten sich tatsächlich vor einigen, vielen hundert Jahren ereignet hatten, verwandelten sich im Laufe der Zeit in Legenden und alten Sagen. Niemand glaubte heute mehr den alten Spukgeschichten, wer und vor allem was vor langer Zeit auf der Burg sein Unwesen getrieben hatte.
Vor den Lausingers gehörte die Burgwohnung knapp 15 Jahre lang einem italienischen Geschäftsmann aus Verona, der diese mit seiner Familie als Ferienwohnung nutzte. Als schließlich seine Kinder erwachsen wurden und seine Frau sich auch noch schlagartig von ihm trennte, zog er letzten Endes still und heimlich in seine Ferienwohnung auf Burg Mondragon ein. Fatalerweise benutzte der nichtsahnende Mann sie als festen Wohnsitz, womit wohl oder übel die seltsamen Burgbewohnern nicht gerechnet hatten. Nach kurzer Zeit passierte dann das Unglück. Ein klitzekleiner Vorfall genügte, so dass der alte Besitzer Signore Rossi mit wehenden Fahnen Reißaus nahm. Letztendlich wollte dieser nur noch schnellstens die Wohnung loswerden. Menschen waren eben sehr schreckhaft und gerieten leicht schon bei der klitzekleinsten Hexereienpanne in Panik. Dabei war nicht einmal etwas explodiert oder gar in Flammen aufgegangen. Sie erholten sich auch nie wieder ganz davon. Ansonsten gab es noch einige Kreaturen, denen es richtigen Mordsspaß machte, Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen.
Die Burgwohnung wurde frei und musste schleunigst neu vergeben werden. Peinlich berührt dachte es an das ungewollte Geschehen. Eigentlich war es nur ein blöder Unfall, an dem es selbst zwar daran ganz und gar nicht unschuldig war, aber es selbst sollte eigentlich nicht hier sein. Eigentlich hätte es seiner Pflicht nachgehen müssen. Der Magen des kleinen Wesens zog sich bei dem Gedanken schmerzlich zusammen. Das schlechte Gewissen machte sich bemerkbar. Übelkeit kroch bis zum Hals empor und hinterließ einen säuerlichen Geschmack in der Speiseröhre. Urplötzlich wurde das Tierchen jäh aus seinen Gedanken gerissen. Es schluckte den sauren Kloss hinunter und kroch tiefer in den Blätterwald hinein, so dass es schon selbst fast nichts mehr sehen konnte.
Voller Vorfreude und nichts von dem kleinen Beobachter ahnend, sprangen die zwei Schwestern Clara und Lilly aus dem Auto und liefen das restliche Stückchen den Hügel empor.
»Langsam, langsam« und »nicht so schnell« und »tragt auch etwas hoch«, riefen die Eltern noch im Chor hinterher, aber die Mädchen hörten es nicht.
Die Aufregung war zu groß. Übermütig hüpften die beiden Schwestern zum Terrasseneingang die weißen Marmorstufen hinauf. Clara schloss eifrig das schmiedeeiserne Gartentürchen auf, welches zu ihrer Terrasse und in ihre Erdgeschosswohnung führte. Vor dem Freisitz stand eine riesige Zypresse von mindestens zehn Metern. Clara hielt inne, eine Hand schützend vor ihre Stirn gehoben, um ihre Augen vor der blendenden Sonne zu schützen, während ihr Blick zur Burg emporwanderte. Die beiden Wohntürme mit imposantem Mauerwerk standen versetzt voneinander. Die Halbmondfenster mit den drachenblutroten Fensterrahmen, spiegelten sich im Sonnenlicht. Mittig führte eine gewaltige Treppe aus weißem Marmor hinauf, die die beiden mittelalterlichen Gebäude verband. Am Fuß der imposanten Marmortreppe erhoben sich auf massiven Marmorsäulen zwei mächtige weiße Drachenstatuen mit angewinkelten Flügeln, jeden Moment zum Angriff bereit, die den Aufgang bewachten und mit argwöhnischen Blicken auf die Besucher hinabsahen. Clara wurde nicht ganz wohl bei dem Anblick und hoffte inständig, diese Kreaturen aus Stein würden niemals lebendig werden. Obwohl das völliger Quatsch war. Im linken, und auch höheren Turmgebäude lag die Erdgeschoßwohnung mit der großzügigen Terrasse der Lausingers. Insgesamt verfügte der linke Wohnturm über vier Stockwerke.
»Wie hoch das ist«, dachte Lilly.
Der rechte Wohnturm hatte drei Stockwerke mit einer großen Panoramaterrasse, die mit einen mannshohen Zinnenkranz eingefasst war.
»Von dort oben hat man bestimmt eine großartige Aussicht«, munkelte Clara.
Die imposante Marmortreppe führte zu einem großen Durchgang durch beide Turmgebäude hindurch, um in den Burggarten zu gelangen. Ein Falke zog seine Kreise um einen der beiden Türme. Die Sonne stand hoch am Himmel und tauchte die Burg in gleißendes Licht. Der Duft von Jasmin hing schwer in der Luft, während kleine Vögel ihre Flügel im warmen Wind bewegten. Keine einzige Wolke trübte den klaren Himmel, und die Sonne brannte senkrecht herunter. Ein Käuzchen rief aus der Nähe.
»Ja, so stellt man sich den Urlaub vor«, schmunzelte Frau Lausinger vor sich hin.
Sie schloss dabei die Augen und lauschte.
Die Zikaden zirpten ihr Sommerlied. Sie waren laut zu hören aber nicht nur die, auch die beiden Schwestern machten ordentlich Krach und störten die Mittagsruhe.
»Ich bin jetzt ein Burgfräulein!«, quietschte Lilly fröhlich.
»Nein, eher das nervige Burggespenst!«, lästerte die große Schwester.
»Nein, bin ich nicht! Du bist gemein!«, kreischte Lilly zurück.
»Hört auf zu streiten! Packt lieber mit an!«, schimpfte die Mutter.
Die beiden Schwestern kannten die Burg und deren Anlage ein wenig, da sie bereits fünf Tage in den Osterferien zum ersten Mal dort Urlaub machen durften, aber alles konnten sie bei weitem nicht entdeckt haben, da sie mit dem Umzug beschäftigt waren. Bis auf die Nachbarin über ihnen, die dort mit ihrer Hündin Atika, einem großem, schneeweißen, Golden Retriever lebte, hatten sie bisher niemanden kennen gelernt. Es gab noch eine Menge für die beiden Geschwister zu entdecken.
»Hoffentlich gibt es auch andere gleichaltrige Kinder hier?«, wünschten sich beide.
Nach einer geschlagenen Stunde hatte es Familie Lausinger geschafft alle Kisten und Lebensmittel auszupacken. Auch die Betten waren frisch bezogen. Nun konnte der Urlaub wahrlich beginnen. In Rekordzeit schlüpften die zwei Mädchen in ihre Bikinis, schnappten sich ihre Badetücher und waren gerade auf den Sprung in Richtung Pool, da pfiff Leonore, bewaffnet mit jeweils einer Tube Sonnencreme 50-plus in den Händen, sie schon zurück.
»Halt! Stopp! Hiergeblieben, ihr jungen Burgfräulein! Erst noch einschmieren mit Sonnencreme, zehn Minuten einwirken lassen und dann darf erst gebadet werden!«
»Och, du nervst, Mama!«, folgte prompt das Klagelied ihrer Töchter, aber es half nichts.
Daran war kein Vorbeikommen.
So schnell konnte die Jüngere gar nicht gucken, waren schon ihre blonden Zöpfe hoch geknipst und Ihre Mama begann sie einzuschmieren. Angewidert verzog sie ihre Nase. Als die Prozedur vorüber war und beide eingecremt waren, ging es ab Richtung Pool.
»Los, mir nach!«, schrie Lilly und schmiss dabei ihr Badetuch über ihre Schulter.
Dicht dahinter folgte ihr Clara, die im Laufen ihre langen, dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz knotete. Sie jagten vorbei an den beiden mächtigen Drachenstatuen und folgten den schmalen Weg, der mit weißen Marmorplatten ausgelegt war, entlang. Am Ende des Weges führte eine schmale, kurze Marmortreppe eine weitere Anhöhe hinauf. Dort oben auf der Hügelkuppe angekommen, erstreckte sich vor ihnen ein riesiger Pool, der fast schon so groß war wie das Schwimmbecken ihres Lieblingsfreibades in München, nur die Wasserrutsche fehlte. Von hier aus offenbarte sich auch ein fantastischer Ausblick über die Dächer der kleinen Stadt Lazise und zu ihrer Linken streckte der größte von sechs Türmen der Skaligierburg Lazises seine gewaltigen Schwalbenschwanzzinnen in den azurblauen Himmel. Im Hintergrund erstreckt sich ein atemberaubender Panoramablick über den glitzernden Gardasee, der von einer gewaltigen Bergkette in lichtblauen und dunkelgrünen Tönen umrahmt war. Doch dem herrlichen Ausblick schenkten die beiden Schwestern keine Aufmerksamkeit.
»WOW, der Pool ist ja rieeesig! So groß hatte ich den gar nicht mehr in Erinnerung!«, schwärmte die Größere.
Die Wasseroberfläche glitzerte im Sonnenlicht wie abertausende von Diamanten und lud förmlich zum Baden ein. Clara warf ihr buntes Badetuch auf eine weiße Liege neben einer weiteren Drachenstatue, die mindestens genauso groß war, wie die anderen beiden am Fuß der großen Marmortreppe.
»Mit gruseligen Drachenstatuen haben sie hier nicht gespart«, kam es Clara in den Sinn, als sie ihn argwöhnisch betrachtete.
Der schneeweiße Steindrache hatte Flügel, die ausgebreitet waren, als ob er jeden Moment abheben wollte. Kurz war sie versucht ihr Handtuch einfach über einer seiner Flügel zu hängen, traute sich irrwitziger Weise dann doch nicht. Sein stolzer Blick richtete sich auf das glitzernde Wasser. Clara fühlte einen Hauch von Ehrfurcht, als sie zu der majestätischen Statue aufblickte.
»Werd mir ja nicht lebendig, Freundchen«, wisperte sie leise.
Für einen Sekundenbruchteil beschlich sie das Gefühl, der Drache aus Stein beobachtet sie gerade in diesem Augenblick. Doch dann schüttelte sie schnell den absurden Gedanken ab.
»Als ob das steinerne Monstrum lebendig wäre ... So ein Unsinn!«
Sie hatte sie doch nicht mehr alle. Ihr Kopf brauchte schleunigst eine Abkühlung. Schnell schlüpfte sie aus ihren Flipflops, nahm Anlauf und hechtete mit einem eleganten Satz kopfüber in das kühle Nass.
»Yippiiee«, schrie sie freudig dabei aus, als sie auftauchte.
Da ließ Lilly sich nicht lange bitten. Ihre pinken Flipflops flogen durch die Luft, sie schmiss ihr Badetuch auf den grauen Granitboden, nahm Anlauf und es folgte eine gelungene Wasserbombe.
»Platsch!«
Das Wasser spritzte nach allen Seiten, als sie mit dem Po voraus im Wasser landete.
»Arschbombe gemacht!«, pustete Lilly darauf los, nachdem ihr Kopf wieder an der Wasseroberfläche erschien.
Als beide Mädchen im Wasser waren und wie die Weltmeister tauchten, nutzte das kleine Wesen die Gelegenheit und kam aus ihrem Versteck hinter dem Steindrachen hervor. Blitzschnell eilte es quer über das Schwimmbadpflaster und sprang in das nächstgelegene Gebüsch, um ihre heimliche Beobachtung weiter fortzusetzen.
Kurz darauf kamen auch Frau und Herr Lausinger zum Schwimmbad. Papa Lausinger sprang mit einer gewaltigen Arschbombe ins Schwimmbecken, so dass gleich ein richtiger Wellengang entstand und die beiden Mädchen einen kräftigen Wasserschwaps abbekamen.
»Wumms!«
Das Wasser klatschte unruhig an den Beckenrand.
»Hey, Papa, lass noch Wasser im Pool!«, scherzte Clara.
Herr Lausinger war mit seinen 1,85 Meter und fast 100 Kilogramm an Körpergewicht kein Leichtgewicht. Da spritzt es schon ordentlich. Frau Lausinger hingegen benutzte die Pooltreppe und ließ sich langsam ins Wasser gleiten. Die blonden, mittellangen Haare hatte sie mit einer großen Haarklammer hochgesteckt. Ihre Töchter ähnelten vom Aussehen ihrer Mutter, denn beide hatten das gleiche schöne Lächeln, aber von der Größe her, kamen sie nach ihrem Vater, denn beide gehörten eher zu den größeren Kindern ihres Alters. Clara hatte prächtige, dunkelblonde lange Haare, die ihr bis zur Hüfte reichten. Lillys Haare waren feiner und heller. Ihre blonden Haare fielen ihr leicht über die Schultern. Anstatt auch einen Sprung zu wagen, glitt Leonore elegant ins kühle Nass und zog gemütlich ihre Bahnen. Sie liebte es zu schwimmen und hatte eine unendliche Ausdauer. Frau Lausinger genoss jeden Zug und fühlte sich puddelwohl im Wasser.
Plötzlich vernahm sie ein leises und nicht enden wollendes Rascheln der Blätter in einem Baum. Sie reckte den Hals weiter aus dem Wasser und sah es jetzt auch. Ein roter, buschiger Schwanz kam zum Vorschein. Sie wusste, dass in der gesamten Burganlage Eichhörnchen wohnten. Täglich hatten sie welche hüpfen, springen und toben sehen. Schmunzelnd, in Gedanken an die niedlichen Nagetiere, schwamm sie in die Richtung, um es besser sehen zu können. In diesem Bereich war das Wasser nur einen Meter tief und sie richtete sich langsam zum Stehen auf.
»Jetzt! Da!«
Sie sah das Eichhörnchen ganz deutlich vor sich, wie es den großen Stamm eines Baumes hochkletterte und gekonnt zum nächsten Ast sprang. Sie wollte schon zu den anderen dreien rufen, um sie auch auf das Tierchen aufmerksam zu machen.
»Aber nein! Das konnte doch nicht sein?«
Sie erschrak fürchterlich und zuckte unmerklich zusammen. Das kastanienrote Eichhörnchen blickte nun in ihre Richtung, als hätte sie ihre Gedanken gelesen und es hatte funkelndgrüne Knopfaugen, die hell leuchtend ihr entgegenblitzten. So schnell wie der kleine Nager gekommen war, verschwand dieser nun wieder. Leonore ließ sich baff zurück ins Wasser fallen und war sichtlich verwirrt.
»Wie konnte so etwas sein?«, fragte sie sich verwundert.
»Eichhörnchen mit grellfunkelnden grünen Augen gibt es nicht! Hm, es war bestimmt nur hervorgerufen durch das grelle Sonnenlicht, welches durch die grünen Blätter schien und eine optische Täuschung dabei verursacht hatte. Schließlich war das kleine Eichhörnchen einige Meter von mir entfernt«, tat sie es damit ab.
Heute wird sie wohl früher zu Bett gehen, beschloss Leonore Lausinger.
A m nächsten Morgen hatte Leonore Lausinger das Eichhörnchen mit den grünen Funkelaugen schon wieder vergessen. Fröhlich bereitete sie, gut gelaunt und im sommerlichen Blumenkleid das Frühstück vor, welches aus »Cappuccio e brioche« bestand.
»Cappuccio e brioche, so frühstücken die Italiener und auch wir, wenn wir in Italien sind«, teilte Herr Lausinger fröhlich seinen Kindern mit, die noch in ihren Pyjamas steckten.
»Das italienische Frühstück besteht aus ofenfrischen Hörnchen und einem Cappuccino«, erklärte er weiter.
»Aber ihr Kinder bekommt natürlich eine heiße Schokolade, anstelle des Cappuccinos, oder magst du lieber warmen Milchschaum, Lilly?«, erkundigte sich ihre Mutter.
»Danke, ich nehme eine Tasse heiße Schokolade.«
Gemeinsam deckten sie den Gartentisch auf ihrer Burgterrasse und frühstückten wie die Italiener. Das Wetter war perfekt für ein Frühstück im Freien. Sommerliche Temperaturen und strahlender Sonnenschein luden dazu ein. Die blutrot und weiß gestreifte Markise war bereits ausgefahren und spendete angenehmen Schatten.
»Mmm, das schmeckt wirklich sehr lecker«, lobte Clara mit vollem Munde.
»Übrigens Mädels, ich fahre gleich nach dem Frühstück nach Lazise, ein paar Einkäufe erledigen«, teilte Herr Lausinger mit.
»Wollt ihr mitfahren?«, fragte er kurzum.
»Ich komme mit«, meldete sich Clara.
»Prima, dann mach dich nach dem Frühstück gleich fertig und wir können starten, bevor es zu heiß wird. Später gehen wir dann alle baden, denn es soll ab Mittag über 28 Grad haben.«
»Ich bleibe bei Mama, denn ich möchte gleich Essen sammeln für meine Eichhörnchen«, verkündete die Jüngste der Lausingers.
Lilly trug ebenfalls noch ihren Pyjama.
»In den Ferien konnte man durchaus länger seinen Schlafanzug anbehalten«, fand sie.
»Ich glaube, ich brauche vorher zur Stärkung noch ein zweites Hörnchen«, verkündete Clara, nachdem sie den Rest ihres Croissants hinunterschluckte.
»Natürlich, es ist genügend da.«
Leonore begnügte sich stattdessen nur mit einem halben Croissant und dazu trank sie einen Cappuccino, ganz wie die Italiener.
Herr Lausinger hingegen schmeckte es so lecker, dass er gleich zwei Hörnchen aß, und Leonores Rest verschlang er zum Schluss auch noch.
»Jetzt habe ich wieder viel zu viel gegessen, aber es schmeckt einfach so gut«, stellte Papa Klaus fest und tätschelte seinen wohlgenährten Bauch.
»So, aber jetzt genug. Komm, Lilly-Schatz! Ab zum Zähneputzen und dann zieh dich mal an. Schließlich haben wir heute noch viel vor«, rief er vergnügt.
Lilly ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie sprang auf und eilte ins Badezimmer.
»Ich mache mich dann auch mal fertig, Mama«, sagte Clara.
»Ja, klar, geh nur, ich räume das Geschirr ab.«
Wenige Minuten später verabschiedeten sich die beiden bei Leonore und Lilly mit einem »Ciao« und Handküsschen. Schnellen Schrittes ging Klaus mit seiner älteren Tochter zum Auto, welches auf dem Hof seitlich vor der mächtigen Eiche stand, stiegen ein und fuhren los.
Wieder einmal bemerkten sie nicht, dass sie mit kleinen, funkelndgrünen Augen aufmerksam beobachtet wurden, die erneut zwischen den Blättern hoch oben in der Baumkrone der alten Eiche hervorlugten. Da saß es nun, das fremde Wesen in Gestalt eines roten Eichhörnchens mit den grünen Funkelaugen, getrieben von einer unsäglichen Neugier und einem unerträglichen Heißhunger. Der Hunger war groß und mächtig, sogar noch ein Ticken größer als die Neugierde auf die neuen Menschen selbst, dass es ihre Pflicht, das Lernen auf die finale Abschlussprüfung wieder vernachlässigte. Eigentlich war es höchste Eisenbahn, denn es rasselte bereits zweimal durch. Jetzt gab es nur noch einen allerletzten Versuch, der dem kleinen Wesen zustand. Wenn es den vergeigte und die Prüfung versiebte, dann war alles verloren. Aber daran wollte und konnte es jetzt nicht denken. Das Tierchen guckte dem Wagen der Lausingers hinterher, bis sie das Fahrzeug von ihrem Spähplatz in den Kronen nicht mehr sehen konnte. Dann eilte es flink den Baum hinunter, lief schnurstracks den Hügel zur Burg empor und verschwand in der riesigen, dunkelgrünen Zypresse, die vor der großen Terrasse der neuen Menschenfamilie stand.
»Nur ganz kurz. Ganz gaaanz kurz", flüsterte es sich selbst zu.
»Vielleicht kann ich ein kleines Leckerli stibitzen, ohne dass jemand es bemerkt. Mit einem leeren Magen lässt es sich erst recht nicht büffeln", schoss es dem Eichhörnchen mit den funkelndgrünen Augen durch den Kopf.
Denn es machte sich ihr kleines Bäuchlein bereits laut knurrend bemerkbar. Ja, sie hatte Riesenhunger, und zwar riesengroßen Hunger auf dieses außergewöhnliche Zeug, was die Menschen aßen. Das Gefühl, wenn der köstliche Geschmack von dem Essen der Menschen ihre Geschmacksknospen dabei berührte, war einfach göttlich. Sie wusste nur zu gut, dass man nichts einfach so nehmen darf, aber ihre Gier auf dieses äußerst schmackhafte Menschenessen war ständig übermächtig groß und unkontrollierbar. Wie so oft, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, eigentlich immer, konnte sie ihrem Drang danach nicht widerstehen und stibitzte den ein oder anderen leckeren Happen.
L eonore Lausinger machte es sich währenddessen auf ihrer Burgterrasse in ihrem schicken neuen Gartenstuhl bequem. Sie genoss die Ruhe und das herrliche Panorama, welches zu ihren Füssen lag. Der weiße Glockenturm, der Kirche San Nicolò ragte über die Dächer von Lazise auf. Dahinter erstreckte sich der azurblaue Gardasee, funkelnd wie ein Meer aus tausenden Diamanten und war eingerahmt von majestätischen Berggipfeln, die aussahen, als wären sie einem Märchen entsprungen – wie die schroffen Rücken schlafender Drachen, die sich in den Himmel erhoben. Die Vögel zwitscherten von den Bäumen, die Sonne strahlte angenehm warm, dennoch war bereits zu spüren, dass der Tag noch sehr viel heißer werden würde. In der großen Zypresse vor ihr auf der Terrasse raschelte es leise.
»Vielleicht wieder dieses Killereichhörnchen mit den grünen Funkelaugen«, dachte sie amüsiert und ein leises Glucksen entwich ihr.
Leonore griff zu ihrem E-Book-Reader und wollte gerade eben die Seite ihres begonnenen Romans aufrufen, als die Stimme von Lilly ertönte. Zwei Sekunden später trat sie auch schon aus dem Türbogen auf die Terrasse.
»Mama, ich gehe auf den Hof Essen sammeln für die Eichhörnchen und vielleicht finde ich auch einen großen Stein zum Bemalen.«
Fertig angezogen stand sie vor ihr, in kurzen Jeans und ihrem Lieblings-T-Shirt, auf dem ein kleiner süßer Hund abgedruckt war. Lilly liebte Hunde über alles. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als einen eigenen Hund zu haben. Leider erfüllten ihre Eltern ihr diesen Wunsch nicht.
»So ein Hund braucht viel Pflege und nimmt viel Zeit in Anspruch, die wir nicht haben!«, antworteten ihr Mama und Papa ständig im Chor.
Also gab es für Lilly keinen Hund, aber wenn sie mal groß und erwachsen ist, wird sie gleich mehrere Hunde und auch Katzen und Hasen und noch viel, viel mehr Tiere besitzen. Ja, einen ganzen Zoo voller Tiere würde sie haben. Aber bis dahin kümmerte sie sich um ihre putzigen Eichhörnchen, die hier auf Burg Mondragon leben.
Sie hatte ihre glänzende Umhängetasche dabei, die sie lässig um sich geschlungen trug, denn die brauchte sie für ihr Vorhaben. Auf dem großen Taschendeckel prangerte eine große Meerjungfrau, mit wallendem, rosa Haar und mit schimmernder, bunter Fischflosse auf glitzerndem, türkisblauem Grund, welche sie letztes Jahr von Oma Rosi zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Seitdem ist die Tasche ihr ständiger Begleiter.
»Ja, Lilly-Schatz, das ist eine prima Idee, aber du gehst nicht allein zum Pool. Du weißt, du sollst da allein nicht hin, weil …?«, sagte die Mutter streng.
»Ja, weil das allein für mich gefährlich werden könnte, obwohl ich schon lääängst schwimmen kann. Kinder haben allein am Schwimmbad nicht zu suchen«, vollendete Lilly monoton und schon sichtlich genervt den Text von ihrer Mama auswendig könnend.
»Hast du dich mit Sonnencreme eingecremt?«, fragte sie zusätzlich.
Lilly schüttelte nur den Kopf.
»Also nein!«
So schnell konnte Lilly gar nicht reagieren, war ihre Mutter bereits mit dem blöden Sonnenschutzspray 50-plus bewaffnet und eine Sprühwolke prasselte auf sie nieder.
»Bäh, igitt!«, folgte die Antwort.
Es gab leider kein Entrinnen.
»So, überstanden, dann ab mit dir!«, zwitscherte Leonore und gab ihrem Schützling einen festen Kuss auf den Mund, streichelte ihr liebevoll mit beiden Händen über die Wangen und schon hüpfte Lilly fröhlich die Marmorstufen zum Gartentürchen hinab, öffnete es und stürmte die restlichen Stufen abwärts.
Hoppend und singend lief sie hinüber zum Hof. Fleißig begann sie die auf dem Boden liegenden Eicheln einzusammeln und ließ sie in ihre Meerjungfrauentasche purzeln. Eichhörnchen fressen keine Eicheln und reife Haselnüsse gibt es erst ab September. Das wusste sie, aber Lilly sammelte grundsätzlich gerne, egal ob es Eicheln, Blumen, Kastanien, Zapfen oder Steine waren. Die Eicheln und die Fruchtbecher der Eichel eignen sich prima zum Kochen für ihre Spielküche oder zum Basteln. Später, wenn sie damit fertig war, wollte sie noch Essen sammeln für die Eichhörnchen, denn diese fressen im Sommer gerne süße Feigen, Weintrauben, Sonnenblumenkerne oder ernährten sich von Samen von Zapfen und davon gab es auf Mondragon reichlich.
Das kleine Eichhörnchen mit den funkelndgrünen Augen trat vorsichtig aus ihrem Zypressenversteck, um heimlich der ahnungslosen Lilly zu folgen. Auf leisen Pfoten überquerte das Nagetier schnell den Hof und kletterte blitzschnell die gewaltige Eiche empor. Es fand Zuflucht hinter einem Ast und spähte zwischen den Eichenblättern hervor. Von hier aus konnte sie das blonde Mädchen weiter beobachten, ohne erwischt zu werden. Vertieft und sorglos sang Lilly dabei ihr aktuelles Lieblingslied.
»Baby shark, doo, doo, doo, doo, doo, doo, Baby shark doo, doo doo, doo, doo, doo, Baby shark, doo, doo, doo, doo, doo, doo, Mama shark, doo, doo, doo, doo, doo, doo …«
Sie wusste selbst, dass dieses Lied für ein Grundschulkind wie sie schon sehr albernd war, aber irgendwie ging ihr das Lied wie ein lästiger Ohrwurm nicht mehr aus dem Kopf. Aber was soll’s. Schließlich konnte sie auch niemand weiter hören und sie trällerte fröhlich und schief singend weiter.
Ihre große Schwester Clara hätte sie dabei ordentlich ausgelacht und damit aufgezogen, aber schließlich war sie nicht da und auch sonst niemand.
Nach einer Weile hatte Lilly genug Eicheln beisammen und wandte sich nun dem gegenüberliegenden Feigenbaum zu. Auf Zehenspitzen und gestrecktem Körper pflückte sie angestrengt die süßen Früchte von den Ästen.
»Menschenkind, warum sammelst du denn ständig diese blöden Feigen für mich!«, ärgerte sich das Tierchen, denn dieses hatte schon längst einen ganz anderen, leckeren Happen gerochen.
»Puuuh, das ist ganz schön anstrengend«, sprach Lilly leise zu sich.
Schweiß bildete sich bereits auf ihrer Kopfhaut. Die Hitze war nun deutlich zu spüren und der Mittag neigte sich entgegen. Da fiel ihr ein, dass sie noch ein großes Stück von der Tafel Vollmilchschokolade irgendwo in ihrer Tasche hatte.
»Nicht dass sie mir noch wegschmilzt. Das wäre echt doof«, dachte Lilly.
Kurz vor Abreise hatte Oma Rosi jeder von ihnen eine Tafel leckere Vollmilchschokolade zugesteckt.
»Von Oma Rosi bekommen wir immer etwas Süßes und wenn wir nichts Süßes bekommen hätten, dann hatte sie uns eine Tüte super gutschmeckende Bärenchips mit Ketchupgeschmack zugesteckt«, erinnerte sie sich mit einem Lächeln zurück.
Von der Schokolade hatte sie zwar bereits während der Fahrt zum Gardasee immer wieder genascht, aber es müssten mindestens noch zwei Reihen davon übrig sein. Sie schlenderte zur Eiche, setzte sich in den Schatten und lehnte sich mit dem Rücken an den dicken Baum. Eifrig begann sie in ihrer Tasche danach zu kramen.
Der Nager verfolgte das Geschehen aufgeregt und tänzelte von einem Beinchen zum anderen. Jetzt steckte es seinen Kopf durch die Blätterwand, um besser sehen zu können.
Schließlich fand Lilly nach kurzer Kramerei in den Untiefen ihrer Tasche, die restliche Schokolade.
»Ha, da ist die Schokolaaadeee!«, rief sie.
Triumphierend hielt sie die Süßigkeit in der Hand.
Das hungrige Tierchen bekam noch größere Augen und das Wasser lief ihr im Mäulchen zusammen, als es sah, wie das Menschenmädchen die Leckerei von der silbrigen Verpackung löste, die so herrlich glitzerte in der Sonne. Eine Einladung zum ersten Biss.
»Meins, meins, meins! Meine Schokolade!«, schoss es wild durch das winzige Köpflein.
Die Gier war zu groß, die Augen tellerweit aufgerissen. Jetzt hatte der kleine Baumbewohner seine Deckung hinter den schützenden Blättern aufgegeben und war gänzlich hervorgetreten. In Windeseile kletterte es auf der anderen Seite des Baumes hinab. Das Hörnchen war nur noch wenige Schritte von Lilly entfernt. Versteckt zwischen den großen Pfahlwurzeln der Eiche, war das flinke Kerlchen dennoch nicht leicht zu sehen.
Dort lauerte es.
Die grünen Funkelaugen begannen stärker zu leuchten. Abrupt setzte es zum gezielten Sprung an, flog mit ausgestrecktem Körper Richtung der sitzenden Lilly und schnappte sich aus der Luft heraus mit den vorderen Greifzehen die Schokolade, packte das große Stück mit ihrem Mäulchen und düste mit einem rasanten Affentempo über den Hof, den Hügel hinauf und weg war es.
Zurück blieb eine verdutzt dreinblickenden Lilly, die mit fassungslosen, großen Kulleraugen und offenstehenden Mund wie festgewurzelt da saß. Durch den blitzartigen Raubzug des Eichhörnchens, bemerkte sie die funkelndgrünen Augen des Tierchens nicht. Fünf Sekunden später, als Lilly realisierte, dass soeben das diebische Eichhörnchen ihr die Schokolade einfach entrissen hatte, sprang sie hoch und lief aufgeregt den Hügel empor, stolperte auf der Stufe und schürfte sich dabei auch noch ihr linkes Knie auf.
»Aua!«, schrie sie wehmütig auf.
Es brannte höllisch.
Ihre Mutter schreckte von dem Schrei ihrer Tochter hoch.
»Was ist denn passiert?«
Aufgelöst mit rotem Kopf und noch röteren Wangen humpelte Lilly ihrer Mama in die Arme. Sie stammelte etwas Unverständliches.
»gegegeklklkl… t…«
Frau Lausinger verstand nur Bahnhof.
»Du musst dich erst einmal beruhigen, Schatz. Du hast dich ja verletzt!«, rief die Mutter besorgt.
Lilly konnte dabei lediglich den Kopf schütteln. Sie bekam kein verständliches Wort über die Lippen. Da half nur noch eines. Frau Lausinger schob einen Stuhl heran, Lilly ließ sich darauf fallen und Leonore ging in das Badezimmer. Mit einem Pflaster und Desinfektionsmittel kam sie gleich darauf wieder, um die Wunde zu versorgen.
»Nein, nein, ist nicht so schlimm«, stammelte Lilly.
Das Brennen hatte inzwischen nachgelassen und die Wunde blutet nur leicht.
»Mama, aber furchtbar ist, dass das Eichhörnchen mein letztes, großes Stück Schokolade einfach gestohlen hat!«, beschwerte sie sich, nachdem sie zum Durchatmen kam.
»Es hat mich sogar angesprungen und mir die Schokolade aus der Hand gerissen. Dann verschwand es einfach damit! Mit meiner Schokolade! Und jetzt wird es entweder fürchterlich Bauchweh bekommen oder sterben, weil Tiere keine Schokolade essen dürfen! Und das ist noch viel, viel schlimmer!«, klagte sie weiter.
Dann kam ihr eine weitere Kenntnis. Sie legte ihre Stirn tief in Falten und rieb sich an der Nase.
»Aber was ist, wenn dieser Ort doch verzaubert ist? Und es hier vielleicht doch noch Hexen gibt?«, fragte Lilly mit verschwörerischem Blick auf ihre Mutter gerichtet.
Leonore konnte nicht glauben, was sie da zu hören bekam und starrte ihre Tochter mit einem entgeisterten Gesichtsausdruck entgegen.
»Das ist ja eine echt seltsame Geschichte. Schluss jetzt damit. Hexen gibt es nicht und auch keine verzauberten Eichhörnchen«, erwiderte Leonore, denn sie hatte jetzt sichtlich genug von dem Unsinn.
»Nein, nein, ich weiß genau, was ich gesehen habe!«, behaarte Lilly steif und fest.
»Sah ihre Tochter jetzt auch schon verrückte Eichhörnchen?«, kam ihr in den Sinn.
Frau Lausinger wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern sollte. Schließlich schien es ihrer Tochter ähnlich zu ergehen. Auch sie hatte eine seltsame Begegnung mit einem Eichhörnchen gemacht. Mama Lausinger hütete sich, ihre Gedanken laut auszusprechen, um nicht noch mehr Verwirrung zu stiften. Nach gefühlten fünf Stunden und in Wirklichkeit 15 Minuten, hatte Lilly sich beruhigt, dem verfressenen Nagetier verziehen und machte sich stattdessen nun wirklich richtige Sorgen um das Tierchen. Daher beschloss Lilly, sich heimlich auf die Suche nach dem kleinen Schokoladendieb zu machen, welches jetzt bestimmt ganz fürchterliches Bauchweh hatte. Bis zum Burggarten erlaubte es ihre Mutter. Nur der Pool war eine große Verbotszone.
Sie suchte erst bei der uralten Eiche, dann beim Feigenbaum. Mit eiligen Schritten lief sie die große, weiße Marmortreppe empor, bis sie das schokoladenbraune Terrassentürchen erreichte. Die Terrasse gehörte zur Wohnung über ihnen im ersten Stock. Dort wohnte die reiche Contessa Ludovica Baldi aus Mailand, eine echte Gräfin und eine wahrhaftige Diva. Lilly kannte sie noch vom letzten Urlaub und auch da hatte sie sie bisher noch nie normal angezogen gesehen, obwohl es erst April war. Ständig trug sie knallige Bikinis mit viel zu viel Lippenstift auf ihren Lippen. Hinzukommend noch die tonnenschwere Schminke in ihrem Gesicht.
Die Gräfin sonnte sich gerade auf ihrer Sonnenliege, ihr Make-up hatte sich bereits leicht verflüssigt und glänzte auf ihrer bronzefarbenen Haut wie Pfützenschlamm. Einzelne, lockige Haarsträhnen fielen ihr leicht über die gebräunten Schultern und der Rest des schwarzglänzenden Haares war stylisch hochgesteckt. Es wirkte so, als wäre sie frisch vom Friseur gekommen und wartete auf ihr anstehendes Fotoshooting.
Ludovica ist eine echte Gräfin, was auf Italienisch Contessa heißt. Sie ist verwitwet, Anfang 50 und hatte einen großen Sohn, der mit 19 Jahren schon richtig alt war, fand Clara, und den sie bisher noch nicht gesehen hatten. Auch heute trug die Contessa einen Bikini im knalligen pink. Die überlangen Fingernägel, spitz wie Dolche, und die dicke Schicht Lippenstift, stimmten mit der Farbe des Bikinis überein. An ihren schlanken Händen trug sie fast an jedem Finger einen goldenen, schweren Ring, die mit grünen großen oder noch größeren Klunkern eingefasst waren. Lilly war derart geblendet von den smaragdartigen Steinen, dass sie blinzeln musste. Nur an ihrem rechten Handgelenk baumelte ein Armband, welches mit vielen kleinen, grünen Steinchen in der gleichen Art auffällig glitzerten. An ihrem linken, unteren Handgelenk dagegen trug sie eine Tätowierung, einen kleinen gefährlich aussehenden Drachen mit einem grünen Glitzerauge, der zu ihrem sonst sehr eleganten Aussehen gar nicht passte. Als wäre das nicht genug Funkelbracht, baumelte um ihren leicht faltigen Hals, eine goldene Kette mit einem gigantischen, grün, funkelnden Smaragdklunker, sowie an ihren Ohren die passenden Ohrringe.
All dies erinnerte Lilly an grüne Christbaumkugeln, so auffällig wie diese im grellen Sonnenlicht funkelten.
»Das musste dann wohl so sein, wenn man einen neuen Mann sucht«, dachte Lilly.
»Buongiorno, come stai?«, fragte Lilly auf Italienisch.
Dank der ständigen Italien-Urlaube mit ihren Eltern, konnte sie viel von den italienischen Kindern aufschnappen und die Contessa Ludovica war sichtlich entzückt, als sie die Jüngste der Lausingers sah.
»Bene, bene, e tu, amore?«, kam es von Ludovica freundlich zurück, gefolgt von einem »entrare, entrare«.
Die Italienerin setzte sich in ihrem Sonnenstuhl auf und schlüpfte in ihre pinken Pantoletten.
»Aha, ich soll also reinkommen«, hieß das.
Kaum hatte Lilly das dunkelbraune Gitterstabtürchen geöffnet, erhob sich schwerfällig die schneeweiße Hündin namens Atika, die vorhin noch auf den roten Terrakottafliesenboden lag. Der Vierbeiner kam langsam schwanzwedelnd auf Lilly zu.
Atika war der verfressenste Hund aller Zeiten. Sie hatte stets Hunger, egal ob sie gerade gefressen hatte oder nicht, aber sie war ein sehr liebes Hündchen und immer, wenn sie Kinder sah oder hörte, kam sie angetorkelt und ließ sich auf den Boden plumpsen, um gestreichelt zu werden. Von dort bewegte sie sich keinen Millimeter mehr weg – da konnte die Gräfin Ludovica ziehen und schieben, wie sie wollte. Nur mit einem ordentlichen Leckerli war der schwere Golden Retriever mit dem schneeweißen Fell wieder wegzubewegen. Der Vierbeiner war sogar ein Jahr älter als Clara und war gefühlt mindestens so schwer wie ein Elefantenbaby. Die alte Hündin liebte Kinder und Lilly liebte Hunde über alles.
»Ich bin ein großer Hundefan«, erzählte sie jeder Menschenseele. Egal ob dieser es hören wollte oder nicht.
Ihre große Schwester Clara sagte dann immer zu ihr, »Du bist so peinlich! Das musst du doch nicht jedem aufs Ohr drücken!«
Weil die Hündin Atika an Arthrose litt, lief sie auch so komisch, als wäre sie betrunken. Aber heute hatte es Lilly sehr eilig und die Streicheleinheiten fielen daher bei der alten Hundedame kurz aus. Lilly verabschiedete sich mit einem »Ciao e buona giornata!«
Auf den weißen Marmorstufen im ersten Stockwerk stoppte sie kurz. Vorsichtig lugte sie die Burgmauer hinab auf ihre Terrasse. Geduckt und versteckt hinter einer Drachenstatue, konnte ihre Mutter sie niemals sehen. Aber Leonore Lausinger war schwer vertieft in ihrem EBook-Reader.
Sie hätte Lilly nicht einmal bemerkt, wenn sie direkt neben ihr gestanden wäre. Auch die anderen beiden, Papa und Clara, waren bisher noch nicht zurückgekehrt. Das hätte sie sonst mitbekommen.
»Bestimmt sind sie noch in Lazise schön Eis essen gegangen«, überlegte Lilly neidisch.
Eis war ihre absolute Lieblingsspeise. Egal welche Eissorte, sie aß alles. Hauptsache Eis und danach kam erst ihre geliebte Schokolade. Sie machte am Absatz kehrt, denn jetzt konnte sie geraden Weges durch den Torbogen huschen, der durch die Burg in den großen Garten führte, ohne von ihrer Mutter gesehen zu werden. Von dort aus erreichte sie ebenfalls die verbotene Zone, den Pool.