Die Hüter der Träume - Julia Elysia - E-Book
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Die Hüter der Träume E-Book

Julia Elysia

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Beschreibung

Als Sanja zum Lehrling des Sandmannes ernannt wird, kann sie ihr Glück kaum fassen. Doch bald entdeckt sie Geheimnisse, die die ganze Welt in Dunkelheit stürzen könnten. Wren, der Lehrling von Jack Frost, kämpft mit den Schatten seiner Herkunft. Aber als eine große Gefahr droht, hat er die Chance, sich zu beweisen. Khareem ist Mitglied eines alten Nomadenstamms in Nordafrika, der Dschinn jagt. Doch bald merkt er, dass alles, woran er geglaubt hat, auf Lügen beruht. Adria, eine stolze Nereide, steht ihrem Volk loyal gegenüber. Als die Welt jedoch in Gefahr gerät, steht sie vor einer schwierigen Entscheidung: Gilt ihre Loyalität ihrer Familie oder ihren neuen Freunden? Als die Dimensionen aufeinanderprallen und eine uralte Macht zurückkehrt, müssen die vier jungen Lehrlinge und ihre Meister zusammenarbeiten, um die Welt vor der drohenden Dunkelheit zu retten. Werden sie ihre eigenen Vorurteile und Geheimnisse überwinden können, um eine gemeinsame Zukunft zu sichern?

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Seitenzahl: 266

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über die Autorin

Julia Elysia, geboren im Jahr 2000, hat einen Bachelorabschluss in Germanistik und Geschichte und spezialisiert sich nun im Master auf Germanistik Literaturwissenschaft. Mit zehn Jahren fing sie mit dem Schreiben an und veröffentlichte 2015 ihr erstes Buch auf der E-Book-Plattform ‚Wattpad‘. Dort schrieb sie viele Jahre lang vielteilige Geschichten sowie Fan-Fictions, hauptsächlich in dem Genre Fantasy, die bis heute von mehreren tausend Nutzern gelesen werden.

WREADERS E-BOOK

Band 260

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Vollständige E-Book-Ausgabe

Copyright © 2025 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena WeinertBestellung und Vertrieb: epubli, Neopubli GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Saskia Ziegenbalg, Jasmin Kreilmann

Lektorat: Linda Brix, Angelika Gmeiner

Korrektorat: Cara Kolb | Lektorat Seitensturm

Satz: Elci J. Sagittarius

www.wreaders.de

Für Saskia,

die sich seit unserer Kindheit alle meine Geschichten und Ideen anhören musste, aber nie eines meiner Bücher (zu Ende) gelesen hat.

Prolog

Assuan, Ägypten, Wüsten-Dimension

September

Die Luft roch nach schweren Gewürzen, markanten Ölen und Parfümen, vermischt mit dem Geruch von salzigem Fisch und süßem Wein. Amirah wandelte seit Ewigkeiten auf dieser Erde und dennoch war es jedes Mal, als würde sie eine neue Welt betreten, wenn sie einen der Märkte Assuans besuchte. Heute jedoch ließen das bunte Treiben, die Gerüche und Klänge ihr Herz nicht höherschlagen. Sie hatte einen Hinweis auf den Verbleib ihres Freundes Adil gefunden. Wachsam suchten ihre hellbraunen Augen die Umgebung ab. Nach dem Kontaktmann. Er hatte gemeint, dass er sie kontaktieren würde, wenn er es für sicher erachtete, doch Amirah vertraute lieber ihren eigenen Instinkten. Fehlanzeige. Keiner dieser Leute schien sich merkwürdig zu verhalten – bis auf sie. Immerhin stand sie seit zehn Minuten am Feigenstand, während sie eine einzelne Frucht zwischen ihren Fingern drehte, ohne eine davon zu kaufen. Die Verkäuferin hatte ihr schon den einen oder anderen bösen Blick zugeworfen, war allerdings von Touristinnen und Touristen mehrmals abgelenkt worden. Dass die Frau Amirah von diesen unterscheiden konnte, lag daran, dass sie wie eine Einheimische aussah – auch wenn sie bereits länger als der älteste Mensch auf dieser Welt lebte.

Jemand zupfte Amirah an ihrem Ärmel. Langsam wandte sie sich um und blickte in die großen Augen eines Jungen, der ihr gerade einmal bis zur Hüfte reichte.

»Der großzügige Mann möchte, dass du das hier bekommst«, sprach er auf Arabisch und reichte Amirah eine kleine Schriftrolle und ein Säckchen. Mit zittrigen Fingern öffnete sie die Rolle, und bei der ersten Zeile wusste sie, um was es sich dabei handelte – einen Beschwörungs- und Verbannungszauber, der Dschinns rief, um sie in eine Wunderlampe einsperren zu können. Als Amirah den Beutel öffnete, befand sich darin feiner Sand. Wüstensand. Wenn sie selbst einen Suchzauber sprechen würde, könnte sie Adil vermutlich endlich finden.

Sie hob ihren Blick und sah in die Augen des Jungen. Sie wusste, dass er ihr keine weiteren Informationen geben würde. Er wartete lediglich auf seine Bezahlung. Im Austausch gab sie ihm ein Säckchen voller Münzen, die aus einer Zeit stammten, die sie höchstpersönlich miterlebt hatte. Erst dann verschwand der Junge zwischen den Menschenmassen. Bevor Amirah ebenfalls ging, reichte sie der grimmig blickenden Standverkäuferin einen Geldschein für die Umstände.

Angst, aber auch Hoffnung erfüllte sie. Würde sie Adil nun endlich finden?

Amirah kehrte zu ihrer Unterkunft zurück. Ein spärlich eingerichteter Raum mit lediglich einem Bett, einer Kommode und einem Waschbecken. Sie hatte ihn für drei Tage gebucht, doch sobald sie herausfand, wohin sie als nächstes reisen würde, müsste sie vermutlich schon früher aufbrechen.



Auch wenn sie selbst fähig war, einen Suchzauber zu sprechen, so war es Amirah sicherer, eine Fachkundige aufzusuchen. Sie ging zu Madame Bedisa, die seit vielen Jahren gewisse Zauberkünste praktizierte. Darunter gehörten auch Suchzauber zu ihrer Spezialität.

Als Amirah den Laden der Frau betrat, hatte sie sofort das Gefühl, an der dünnen Luft darin zu ersticken. Der Raum war warm und der Sauerstoff verbraucht. Es roch nach Myrrhe und Weihrauch, Gummiharze, die die bösen Geister fernhalten sollten. Angeblich. Amirah hatte bisher wenige Dämonen getroffen und jene, denen sie begegnet war, waren niedrigere Wesen gewesen, kaum furchteinflößend, eher ihrem Kreis der Dinge folgend. Die Dschinni suchte stets nach dem Gleichgewicht der Welt, in allem Leben, welches es gab, und auch im Tod, den sie bisher noch nicht erlebt hatte. Dschinn waren unsterblich, solange, bis jemand sie mit einem Silberdolch tötete.

Amirah wich den von der Decke hängenden getrockneten Zutaten und Kräutern aus, von denen sich einige in ihrem dunkelbraunen Haar verfingen, und bahnte sich einen Weg zur Theke. Bedisa war nicht da. Die Dschinni betätigte die Tischglocke, und kurz nachdem der schrille Ton angeschlagen war, wurde der dicke Vorhang zur Seite gehoben und eine rundliche kleine Frau erschien vor ihr.

»Amirah, mein Herz und meine Seele!«, begrüßte diese sie, die unter Touristen nur als Wahrsagerin galt. Doch für Personen vom Fach war sie mehr als das – sie war eine Hexe, eine Kräuterhexe, um genau zu sein. Auch wenn der Beruf unter den Menschen meist scherzhaft verwendet wurde, so gab es diese Hexen wirklich. Sie nutzten Kräuter und natürliche Elemente, um damit Zauber auszuführen, und Amirah erhoffte sich, dass ihr Gegenüber ihr, wie auch schon früher, helfen konnte.

»Hallo, Bedisa«, begrüßte die Dschinni sie. Sie senkte den Blick, um der Hexe in die Augen sehen zu können. Auch wenn Amirah sich freute, Bedisa wiederzusehen, waren die Umstände keine, in denen sie ihr sorglos und freudig gegenübertreten konnte. Generell erinnerte sie sich an keinen Moment, in dem sie die Verkäuferin aufgesucht hatte und nicht voller Unmut gewesen war.

»Du brauchst wohl wieder meine Hilfe«, merkte Bedisa an, und ihre Augen funkelten verschwörerisch, ehe sich ein zufriedenes Grinsen auf ihre Lippen stahl. »Nun gut, was gibt es, mein Kind?«

Als Antwort legte Amirah den Sand und die Schriftrolle, die der Junge ihr gegeben hatte, auf den Tresen. »Ich brauche einen Suchzauber.«

Überrascht hob Bedisa eine Augenbraue. »Suchst du immer noch nach Adil?«

Amirah nickte nur.

»Oh, mein Herz«, meinte die Frau und griff augenblicklich nach den beiden Dingen. »Natürlich helfe ich dir. Komm!«

Bedisa verschwand wieder hinter dem Vorhang und Amirah folgte ihr. Ein kleiner, enger Raum kam dahinter zum Vorschein, in den gerade so ein Tisch und zwei Stühle passten. Symbole waren in das abgenutzte Holz geritzt, Zeichen, die aus einer längst vergangenen Zeit stammten und fast so alt wie Amirah selbst waren.

»Setz dich!«, wies Bedisa an, und während die Dschinni der Aufforderung nachkam, kehrte die Hexe in den Hauptraum zurück, um eine metallische Schüssel und einige Zutaten zusammen zu suchen. Sie legte alles auf den Tisch und daneben eine alte Karte, die an den Rändern schon deutlich abgenutzt war. Ohne ein Wort zu sagen, schüttete sie den Sand in die Schale und fügte diesem weitere Zutaten hinzu. Amirah versuchte auszumachen, um was es sich dabei handelte, doch waren die Buchstaben auf den Phiolen ausgeblichen und kaum lesbar.

Bedisa nahm die Schriftrolle, dann ließ sich die Hexe auf ihrem Stuhl nieder und schloss die Augen. Ihre runzligen Hände hielt sie schräg über die Schüssel und leise murmelte sie Worte in einer Sprache, die Amirah vor Jahrhunderten abgelegt hatte. Altarabisch.

Eine Flamme schoss aus der Schüssel empor. Sie traf Bedisas Hände nicht, und doch pochte Amirahs Herz stärker als in jeder Schlacht, in der sie je gekämpft hatte. Sie hatten nur einen Versuch, einen einzigen, um Adil zu finden. Sie presste die Lippen zusammen. Ihn zu finden, musste nicht bedeuten, dass er wohlauf sein würde.

Bedisa sprach immer noch den Zauber. Die Flamme wurde blau und dann stechend rot. Die Kräuterhexe öffnete die Augen und nahm die brennende Schüssel in die Hand, ehe sie den Inhalt auf die Karte kippte. Gewöhnliche Flammen hätten sich durch das alte Pergament und durch den Tisch gefressen, doch diese hier kroch über die Karte, ohne sie zu verbrennen. Sie suchte den Ort, von dem der Sand stammte und wo womöglich Adil zu finden war. Erst dann fraß sie sich in das Papier, während das Feuer selbst immer kleiner wurde, ehe sie nicht mehr als einen schwarzen Fleck zurückließ.

»Dorthin führt dich deine Reise«, sagte Bedisa, während sie die Schüssel beiseitestellte und auf den Fleck deutete, der sich inmitten einer Wüste befand, »doch wird sie anders verlaufen, als du es dir erhofft hast.« Die Kräuterhexe hob den Kopf und sah Amirah direkt in die Augen. »Trüb ist dein Blick und dein Herz wird von Trauer begleitet. Doch lass mich dir eines sagen – das, was du suchst, wirst du nicht finden, was nicht bedeutet, dass es verloren ist. Der erste Schein trügt, der zweite noch viel mehr, doch beim dritten wirst du klarer sehen. Deine Aufgabe ist es nicht, deinen Freund zu finden, viel mehr noch wirst du Teil einer Gemeinschaft werden, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Welt vor etwas schrecklich Bösem zu bewahren.«

Ein beklommenes Gefühl machte sich in Amirahs Brust breit. Ihr Herz pochte so heftig wie ein Schlägel auf dem Fell einer Pauke.

»Du solltest nun gehen, mein Kind. Die Zeit wird knapp. Bald wird es zu spät sein und du wirst der Welt beim Untergehen zusehen.«

Auch wenn sich alles in Amirah sträubte – Bedisa hatte ihre wahrsagenden Worte gesprochen. Nichts, was sie sagte, würde diese verändern können. Die Dschinni erhob sich und begab sich auf eine Suche, die sie niemals hatte beginnen wollen.



Am nächsten Tag fand Amirah den Ort, den Bedisas Karte ihr gewiesen hatte, doch war er nicht so, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Das Kamel unter ihr schnaubte unruhig und Amirah konnte es ihm nicht verübeln; das, was sich vor ihnen erstreckte, war nicht die gewöhnliche sandige und trockene Landschaft einer Wüste. Es war ein Meer aus Eis und Schnee, welches nicht in der heißen Sonne dahinschmolz. Amirah glaubte erst, dass es sich um ein seltsames Naturspektakel handelte, doch obgleich sie immer noch im Sand stand, griffen die kalten Finger des Eises unter ihre Kleidung und stachen in ihre Haut. Sie konnte die Kälte auf ihrem Gesicht spüren. Bei jedem Atemzug bildeten sich Wölkchen in der Luft. Sie war eine Ägypterin, ihr Blut war so heiß wie das Land selbst, weswegen sich die frostige Kälte wie Nadelstiche auf ihrer Haut anfühlten.

Die Dschinni betrachtete das Paradoxon mit solch einer Unruhe in ihrem Innern, dass sie für einen Moment sogar ihren Freund Adil und die Suche nach ihm vergaß. Bedisas Weissagung war richtig gewesen – etwas schrecklich Böses bahnte sich seinen Weg durch diese Welt, und was immer auch dahintersteckte – Amirah würde ihm auf die Spur kommen. Kostete es, was es wollte.

Kapitel 1sanja

Akademie der Träume, Traum-Dimension

September

Sanja Maere erinnerte sich genau daran, wie es gewesen war, die Hallen der Traum-Schule zum ersten Mal zu betreten. Zuvor hatte sie geglaubt, dass Sand den Boden bedecken würde. Feiner, weißer Sand wie vom hellsten Strand der Welt, mit einem silbernen Schimmer. Doch als sie erstmals einen Fuß in die Hallen gesetzt hatte, war es ganz anders als in ihrer Vorstellung:

Die Schule war ein altes Schloss, kaum umgebaut und aus einer Zeit, in der die Rüstungen, die in einigen Gängen standen, noch von Rittern getragen worden waren. An den Wänden hingen die Gemälde aller vergangenen Sandfrauen und -männer, die hier ebenfalls zur Schule gegangen waren. Die Anwärterinnen und Anwärter wurden nicht einfach ausgesucht – ein jeder musste zuvor die Eignungsprüfung bestehen und das konnten sie nur, wenn sie die Fähigkeiten der Traumwesen-Dynastie besaßen. Sanjas Familie hatte diese Gabe seit Generationen. Ihre Chroniken verwiesen sogar auf Verwandte aus dem antiken Griechenland. Die Bürde, die auf Sanjas Schultern lastete, war erdrückend. Insbesondere ihr Vater hatte hohe Erwartungen an sie. Viele Eltern wollten, dass ihre Kinder einmal die höchsten und besten Positionen im Rat der Träume bekleideten – bestenfalls sollten sie der neue Sandmann oder die neue Sandfrau werden, aber bei Sanja, so empfand sie es, war es weitaus schlimmer als bei den anderen. Während die meisten Schüler auf geheime Partys gingen oder ihre Hausaufgaben mal mehr oder weniger nachlässig machten, verbrachte Sanja die meiste Zeit neben dem Unterricht in der Bibliothek oder in ihrem Zimmer, um zu lernen. Der Frust saß tief, gleichzeitig aber hatten die Ansprüche ihres Vaters so stark auf sie abgefärbt, dass sie sich mittlerweile selbst den Druck machte und nachts nicht friedlich schlafen konnte, ehe sie nicht ausreichend gelernt hatte.

Ihre Familie hatte schon immer den Traum gehabt, dass eines Tages ein Sandmann oder eine Sandfrau aus ihren Reihen kommen würde, doch bisher hatte es niemand geschafft, vom Rat auserwählt zu werden. Trotz dessen bekleideten Sanjas Familienmitglieder nicht unbedingt niedrige Posten. Sanja drehte eine ihrer roten Strähnen um ihren Finger. Sie ließ den Kopf sinken. Für eine Siebzehnjährige war der Druck, der auf ihren Schultern lastete, zu hoch.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie zu spät zu ihrem Traumweber-Kurs kam. Das helle Gestein der Schlosswände flog an ihr vorbei, als sie eilig den Korridor herunterlief. Die meisten ihrer Mitschüler waren bereits da, als sie den Raum betrat und sich auf ihren Platz niederließ. Die Stimmen waren so laut, dass sie kaum einen Fetzen der Gespräche verstehen konnte. Erleichtert stellte sie fest, dass Professor Morphis noch nicht da war.

Sie zuckte zusammen, als sich jemand in ihr Sichtfeld schob. »Hey, Sanja, hast du schon die Prüfungstermine gesehen?«, fragte Abram sie.

»Ja, hab’ ich«, erwiderte das Mädchen knapp. Sie vermied es, ihn anzusehen, und konzentrierte sich darauf, ihre Unterrichtsbücher auszupacken.

»Wir sind in der ersten Gruppe bei der Prüfung für Sandbeschwörung und -beherrschung.« Er sah sie prüfend an. »Glaubst du, dass wir gegeneinander antreten müssen?«

»Das hoffe ich nicht für dich«, mischte sich Sanjas beste Freundin Elora ein, ehe sie selbst antworten konnte. »Deine Ausführung ist miserabel, Abram. Sanja würde dich innerhalb weniger Sekunden erblinden lassen.«

Abram stieg die Röte ins Gesicht – nicht aus Scham, sondern aus Wut. Ehe er etwas erwidern konnte, betrat Professor Morphis den Raum. Die Lehrerin lief stolzen und zielstrebigen Schrittes nach vorn zu ihrem Pult, bevor sie ihre Bücher dort ablegte. Augenblicklich wurde es ruhig. Jeder ging auf seinen Platz und dann klingelte es zum Unterricht. Professor Morphis war nie vor der Zeit da und doch stets pünktlich.

»Guten Morgen, Klasse!«, begrüßte sie die Anwesenden, ehe es diszipliniert und monoton zurückschallte. »Direktorin Nótt bat mich darum, dringliche Neuigkeiten mit Ihnen zu teilen. Cimon Sandman wird uns mit seiner Anwesenheit beehren, und das bereits in wenigen Monaten. Die wahren Gründe für seinen Besuch sind noch geheim, allerdings wurde mir die Information zugetragen, dass er unter Ihnen jemanden mit den stärksten und ausgeprägtesten Fähigkeiten unseres Faches sucht. Die bevorstehenden Prüfungen werden dementsprechend vorgezogen. Sie werden sich, wie die Jahre zuvor auch, bewähren und zeigen, dass unsere Lehrstunden nicht umsonst waren. Unsere Schule hat stets die besten und fähigsten Sandfrauen und -männer hervorgebracht, und das wollen wir unserem aktuellen Sandmann auch genau so präsentieren. Wer mit der besten Note abschließt, wird Mr. Sandmans Lehrling.«

Ein Raunen ging durch die Klasse. Sandmans Lehrling zu werden war nicht nur eine große Ehre, sondern auch die Möglichkeit, in einigen Jahren sein Amt als Nachfolger antreten zu können. Augenblicklich wuchs in Sanja das Verlangen, diese Gelegenheit zu nutzen und das Bestmögliche aus ihren Fähigkeiten herauszuholen. Vielleicht war es auch insgeheim der Wunsch ihrer Familie, der sich in ihrem Innern zu Wort meldete – sie wusste, dass diese von dieser Chance höchst angetan wäre. Aber auch Sanja sah diese Gelegenheit als Sprungbrett. Ihre Finger kribbelten vor Aufregung und ihr Herz machte einen Hüpfer.

Professor Morphis ließ den Schülern keine Zeit, sich weiter über ihre Chance zu freuen, denn sofort wechselte sie das Thema zu den Hausaufgaben. Sanja hatte Probleme, konzentriert zu bleiben, denn ihre Gedanken schweiften unaufhörlich zu all den Möglichkeiten, die sich ihr und ihrer Familie eröffnen würden, sollte sie Sandmans Lehrling werden.

»Du bist von der Sache ziemlich angefixt, oder?«, flüsterte Elora ihr zu.

Sanja grinste ertappt. »Vielleicht … etwas … ja.«

»Du bist gut. Sehr gut sogar. Doch Jacob war die letzten Jahre immer vor dir auf der Bestenliste.« Elora warf einen Blick an Sanja vorbei nach vorn in die erste Reihe, wo Jacob saß. »Wenn du ihn schlägst, hast du eine Chance, doch –«

»Er hatte immer eine viel höhere Punktzahl als ich, ich weiß«, unterbrach Sanja sie.

Elora nickte.

»Miss Maere und Miss Varon, vielleicht könnten Sie der Klasse ein Traumwebernetz vorführen, wenn Sie meinen, nicht den Ausführungen der Hausarbeit von Mr. Dubois lauschen zu müssen.« Abram grinste Sanja und Elora frech zu, als Professor Morphis seinen Namen erwähnte.

»Das würde ich gern, Professor Morphis«, antwortete Sanja, die sich weder durch Morphis’ Versuch, sie bloßzustellen, noch durch Abrams dämliches Grinsen verunsichern ließ.

»Dann – bitte.« Professor Morphis vollführte eine Handbewegung, die Sanja bedeutete, nach vorn ans Pult zu treten. Noch nie hatte sie ein Traumwebernetz erschaffen. Diesen Kurs konnten sie erst seit der elften Klasse belegen.

»Wer kann mir etwas übers Traumweben erzählen?«, fragte Professor Morphis in die Runde.

Vorsichtig meldete sich Elora und die Lehrerin nickte ihr zu.

»Das Traumweben ist die schwerste aller Künste eines Traumwesens«, begann die Schülerin. »Gesponnene Träume werden durch unsere Emotionen beeinflusst. Die stärksten Träume können auch nur von den stärksten Traumwesen erschaffen werden. Doch auch die weniger starken unter uns können jene spinnen, sofern sie wissen, wie diese Kunst anzuwenden ist. Ein negativer Gedanke oder eine negative Emotion reicht jedoch aus, um einen Albtraum zu erzeugen. Und ein Albtraum –«

»Ist ein böses Übel, welches nur Verderben bringt«, beendete Professor Morphis mit seltsam düsterer Stimme. »Kein Albtraum, der jemals freigesetzt wurde, hat etwas Gutes vollbracht. Demnach ist es äußerst verboten, einen zu erschaffen.« Die Lehrerin wandte sich Sanja zu und fixierte sie mit einem eindringlichen Blick. »Sanja, ich möchte, dass du dich auf deine schönsten Erinnerungen fokussierst. Stell sie dir bildlich vor. Projiziere jegliche positive Emotion darauf. Freude, Glück, Geborgenheit. Fokussiere dich und rufe sie hervor. Spinne einen Traum auf der Grundlage deiner Erinnerung. Für den Anfang ist das die einfachste Art, einen Traum zu erschaffen.«

In den ersten Stunden in diesem Kurs hatten sie die notwendigen Handbewegungen für diese Kunst erlernt, also tat Sanja genau das, was sie bereits kannte – sie hielt die Handflächen mit einigen Zentimetern Abstand zueinander und spreizte die Finger, wodurch es so aussah, als würden sie eine unsichtbare Kugel festhalten.

»Stellen Sie sich vor, es würden goldene Fäden aus Ihren Fingern sprießen und sich zu einem Netz formen. Nichts ist konstant, auch Träume sind es nicht. Alles ist in Bewegung, so auch Ihre Fäden. Konzentrieren Sie sich, Miss Maere. Fokussieren Sie Ihre Magie.«

Sanja hatte in den letzten Jahren gelernt, wie man Sand beschwor und beherrschte. Diese geistigen Techniken wandte sie nun auch auf diesen Zauber an, allerdings mit dem Unterschied, dass sie an ihren besten Emotionen festhielt und ihre schönsten Erinnerungen immer wieder vor ihrem inneren Auge aufrief. All jene Kraft kanalisierte und lenkte sie auf das Kribbeln in ihren Fingerspitzen, wo sich die Magie allmählich zu sammeln begann. Da sah sie auf einmal ein goldenes Wabern. Dünne Fäden verließen ihre Finger, wanderten aufeinander zu und umschlossen sich, formten allmählich ein Netz aus goldener Magie.

»Gut so, Sanja«, hörte das Mädchen Professor Morphis sagen. »Bleiben Sie fokussiert!«

Und das wäre sie auch, wäre in diesem Moment ihr Blick nicht auf Abram gefallen, der die ganze Zeit provozierende Grimasse schnitt. Sanjas Netz brach in genau diesem Moment zusammen, was wahrscheinlich besser war, denn im schlimmsten Fall hätte ihre aufflammende Wut das Traumweben beeinflusst.

»Verzeihung, Professor Morphis. Das war doch schwerer, als ich erwartet hatte«, entschuldigte Sanja sich und versuchte, Abram nicht vor der gesamten Klasse wütend anzufunkeln.

»Keine Sorge, Sanja. Kaum eine Schülerin oder ein Schüler bekommt das Traumweben beim ersten Mal hin. Sie können sich setzen. Für den Rest der Stunde üben wir das Weben ohne konkrete Erinnerung. Wir nennen diese erschaffenen Netze auch ›leere Träume‹. Dabei geht es nur darum, die Kunst des Traumwebens zu erlernen und zu vertiefen.«

Sanja ließ sich wieder auf ihrem Platz nieder und funkelte Abram nun doch von hinten an. Dieser wandte sich ihr zu und schenkte ihr einen belustigten Blick. Die Wut des Mädchens stieg. Es war die Scham des Versagens, die sie heraufbeschwor.

Wie Sanja diesen aufgeblasenen Idioten hasste …

»Er ist es nicht wert«, flüsterte Elora ihr zu, als hätte sie ihre aufbrausenden Gedanken gehört.

Ja, das wusste Sanja, und nur mit Mühe konnte sie sich von Abram losreißen. Sie konzentrierte sich auf Professor Morphis’ Anweisungen und nahm sich fest vor, das nächste Traumnetz auf jeden Fall bis zum Ende weben zu können.

Kapitel 2wren

Akademie des Winters, Winter-Dimension

September

Mit einer Zigarette zwischen den Lippen standen Wren und seine Freunde hinter der Schule. Eirwyn erzählte gerade von seinem Zwischenfall mit Mrs. Zima, einer Professorin für die eisigen Künste. Er war ihr anscheinend nach Sperrstunde letzte Nacht auf dem Gang begegnet, als er zu seiner gelegentlichen Sexaffäre in den Mädchentrakt wollte. Zima war bekannt dafür, dass sie strenge Arbeiten erteilte, und so eisig, wie ihr Fach es war, so war sie es auch selbst.

»Ich hab’ mich mit ihr angelegt und versucht, ihr irgendeine Geschichte zu erzählen«, fuhr Eirwyn fort. »Dass ich nachts wegen meines Blutdrucks meine Beine vertreten muss, um wieder in Schwung zu kommen.«

»Das musst du wohl, aber auf andere Weise«, feixte Quilo und klopfte Eirwyn anerkennend auf die Schulter.

»Ja. Allerdings hat mir die alte Zima das nicht abgekauft, und nun hat sie mich zu zwei Wochen Schulhofdienst verdonnert.«

»Zwei Wochen?«, wiederholte Wren grinsend und schnipste die Asche von seiner Zigarette. »Mann, da hast du’s dir ja richtig mit ihr verscherzt.«

»Sie wird mich durch die Prüfungen fliegen lassen. Das war’s mit meinem Abschluss.« Eirwyn ließ den Stummel seiner Kippe zu Boden fallen. Ein leises Zischen erklang, als der Schnee die Glut löschte. »Glaubst du, wir können die Prüfungen aus ihrem Büro stehlen? Wie damals in der siebten Klasse?«

»Du weißt schon, dass wir damals auch von Zima erwischt wurden, ja?«, erinnerte Quilo ihn.

»Wir sind älter, wir sind geschickter, aber –«

»Schlauer seid ihr noch lange nicht«, erklang auf einmal eine Stimme hinter Wren und augenblicklich erstarrten Eirwyns und Quilos Mienen. Auch Wren war zusammengefahren. Nachdem Quilo sich wieder gesammelt hatte, versteckte er hastig den Rest seiner Kippe hinter sich. Langsam drehte Wren sich um und blickte in ein bleiches Gesicht und eisblaue Augen.

»Als ich hier noch zur Schule ging, haben ich und meine Freunde ebenfalls versucht, Klausuren zu stehlen. Sie hat uns erwischt und mit einem Rauswurf gedroht. Wir mussten jede erdenkliche Strafarbeit übernehmen und haben eine weitaus schwerere Klausur als unsere Mitschüler bekommen. Es war es nicht wert, nur damit ihr Bescheid wisst.«

Beinahe schon demütig ließen Quilo und Eirwyn den Kopf sinken, was Wren fast dazu gebracht hätte, genervt die Augen zu verdrehen.

»Mr. Frost«, sagte Quilo ehrfürchtig.

»Quilo, richtig?«, fragte der Mann und Wrens Kumpel nickte. »Und du musst Eirwyn sein.« Auch dieser nickte zustimmend. »Ich muss leider euren Freund Wren für einige Zeit entführen, aber ihr bekommt ihn rechtzeitig wieder, um weiter gemeinsam Schabernack zu treiben. Denkt jedoch immer daran, dass nur gewisse Späße Freude bringen, andere sorgen bloß für Ärger und Probleme. Das habe ich allerdings viel zu spät in Erfahrung gebracht.«

Bevor die Jungen antworten konnten, bedeutete Jack Frost Wren, ihm zu folgen. Immer noch mit der Zigarette in der Hand lief der Junge neben seinem Meister her. Ihm war vor einem Jahr die Ehre zuteilgeworden, Jack Frosts persönlicher Lehrling zu werden. Das bedeutete jedoch nicht, dass Wren den perfekten Musterschüler abgab. Er war schon immer ein Draufgänger gewesen, und Jack tolerierte dies mehr als die Lehrkräfte dieser Schule. Womöglich lag dies daran, dass der junge Mr. Frost ebenso rebellische Schultage hinter sich hatte.

Neben Jack zu laufen, fühlte sich an, wie in eine Eistruhe gesperrt zu sein. Seine Aura war eisig, und doch scheute Wren diese Kälte nicht. Er war immerhin ein Schüler der Akademie des Winters. Er besaß die Fähigkeiten des Schnees, des Eises und des Frostes, und dementsprechend zog er die Kälte an wie ein Magnet. Tatsächlich war es so, dass Wren eine vertraute Wärme umgab, jedes Mal, wenn er bei Jack war – kein anderer an dieser Akademie ließ den Jungen so geborgen fühlen wie sein Meister.

»Heute so schweigsam«, bemerkte Wren und zog noch einmal an seiner Kippe, ehe er sie in den Schnee fallen ließ, wo sie mit einem Zischen erlosch.

»Ich bin in Gedanken.«

»Ungewöhnlich für dich.«

Manchmal hatte Wren das Gefühl, mit einem Freund zu reden, anstatt mit einem Meister, aber wahrscheinlich lag das daran, dass Jack und er beinahe gleichaltrig aussahen. Wie alt der aktuelle Jack Frost wirklich war, wusste niemand genau. Im Gegensatz zu Väterchen Frost, der die Gestalt eines alten Opas besaß, sah Jack aus wie ein junger Teenager, obwohl das nur eine Illusion sein konnte. Solange er das Amt des Jack Frosts innehatte, würde er ewig so jung aussehen. Der einzige auffällige Unterschied zu den gewöhnlichen Schülern dieser Schule waren sein schneeweißes Haar, seine blasse Haut und seine eisigen Augen, weswegen seine Gestalt aus hunderten Metern Entfernung erkannt wurde.

»Es gibt Probleme und ich brauche deine Hilfe. Allerdings musst du äußerst diskret sein«, fuhr Jack fort. »Schaffst du das, Wren? Etwas vor deinen Freunden geheim zu halten?« Er war stehen geblieben und musterte Wren nun mit seinem eisigen, eindringlichen Blick.

»Natürlich, wenn du das von mir verlangst.«

»Ich befehle es dir. Absolute Diskretion. Ansonsten werde ich dafür sorgen, dass du unter die Vergessensmaschine kommst.« Jack ging weiter und Wren folgte ihm.

»Sollte ich weiter nachhaken?«, fragte er mit einem Schmunzeln, denn er glaubte herauszuhören, dass Jack einmal Erfahrungen mit dieser Maschine gemacht hatte.

»Wag es bloß nicht.«

Sie betraten die große Eingangshalle, dann stiegen sie die Treppen hinauf zu Jacks Büro, welches er für eigene Forschungszwecke in dieser Schule besetzen durfte. Zuvor hatte es nicht viele Jack Frosts gegeben, die sich der Forschung zugewandt hatten, und auch von diesem hier hätte Wren es nicht gedacht. Doch trotz der Schelmereien, die er manchmal veranstaltete, liebte Jack es, Zeit in seine Forschungsarbeiten zu stecken, die er nur mit den wenigsten teilte.

»Wir haben ein Problem«, sagte Jack erneut und lief an Gegenständen und Geräten vorbei, die Wren immer noch nicht benennen konnte, geschweige denn deren Funktion kannte. »In der Wüsten-Dimension wurde Eis gesichtet.«

»Eis?«, wiederholte Wren ungläubig.

»Ja. Ich denke, dass deine geografischen Kenntnisse ausreichen, um zu wissen, dass dieses dort nicht hingehört. Irgendein Winterwesen sorgt dafür, dass das Klima durcheinandergerät. Gerade versuchen einige Spezialisten die Ausbreitung zu verhindern und dafür zu sorgen, dass die Menschen nichts von diesem Zwischenfall erfahren. Am Ende schreiben sie diesen noch dem Klimawandel zu …« Jack ließ sich auf seinem Bürostuhl nieder und wies Wren an, sich ebenfalls zu setzen.

»Und was sollen wir jetzt tun?«

»Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, wer dahinterstecken könnte. Unglücklicherweise wurde der gesamte Rat des Winters zusammengerufen. Väterchen Frost wird also auch dabei sein …«

Es war kein Geheimnis, dass sich die beiden Frosts nicht leiden konnten. Der Großvater betrachtete Jack stets mit einem kritischen Auge, nahm ihn nicht ernst und hielt ihn für ein verspieltes, einfältiges Kind. Natürlich waren unter den vergangenen Jacks auch jene gewesen, die Schabernack und Chaos angerichtet hatten, doch auch wenn dieser Jack Streiche liebte, so war er doch weitaus gebildeter und fortgeschrittener als seine Vorgänger.

»Und ich soll was dabei tun?«

»Mich begleiten«, sagte Jack und Wren riss überrascht die Augen auf. »Ich möchte, dass du, mein Lehrling, mich zu der Versammlung begleitest. Der Rat des Winters besteht aus alten Narren und ich kann deine Meinung gut gebrauchen. Und deine Unterstützung natürlich. Santa wird wahrscheinlich nicht kommen. Der hat zu tun mit seinen Vorbereitungen fürs Weihnachtsfest. Morgen geht’s los. Hier ist deine Freistellung. Leg sie bitte im Sekretariat vor.« Er reichte Wren ein Stück Papier. »Pack deine Sachen und verabschiede dich von deinen Freunden.« Sein Mentor bedeutete Wren mit einer Handbewegung zu gehen. Als der Junge gerade an der Tür war, sagte er noch: »Und, Wren? Kein Wort zu irgendwem.«

Zustimmend nickte Wren und verließ das Büro. Er hatte nicht damit gerechnet, so früh und so jung dem Rat des Winters zu begegnen, doch nun war der Zeitpunkt gekommen. Dass er Quilo und Eirwyn nicht davon erzählen konnte, gefiel ihm allerdings nicht, doch würde er sich an die Anweisung Jacks halten. Wren mochte ein Unruhestifter sein, dennoch hielt er sich an Versprechen.

Auf direktem Wege ging er zum Sekretariat. Die meisten jüngeren Schülerinnen und Schüler hatten noch Unterricht, weshalb die Flure leer waren und einen freien Blick auf den spiegelglatten Boden gewährten, der wie ein zugefrorener See aussah. Wren klopfte gegen die Tür des Sekretariats und wurde kurz darauf hereingerufen. Mrs. Clerk, die Sekretärin, saß hinter ihrem Schreibtisch und warf einen Blick durch ihre ovalen Brillengläser auf den Bildschirm.

Nach einem kurzen Moment sah sie auf. »Oh, Wren, was kann ich für dich tun?«, fragte sie den Jungen. Er öffnete den Mund, als ein leises Klingeln ertönte.

»Warte hier bitte einen Moment. Ich muss kurz etwas erledigen.« Mrs. Clerk verschwand im Direktorenzimmer und ließ Wren mit seinem Zettel und seiner Neugierde allein.

Ganz ungünstiger Move, Mrs. Clerk, dachte er sich. Er erblickte einen Stapel Akten und beugte sich über diesen. Auf der obersten stand in sauberer Druckschrift EB Wüs.-Dim. Sep. geschrieben, und nachdem sich Wren mit einem Schulterblick versichert hatte, dass die Luft rein war, öffnete er das Dossier. Fotos von einer Wüste lagen darin, doch das Auffälligste war die Eisschicht, die sich über den Sand zog. Jack hatte also nicht übertrieben. Hierbei handelte es sich wirklich um ein Problem.

Er biss sich auf die Lippe. Seine Finger kribbelten. Er kannte die Regeln – es war strengstens verboten, in die Dimensionen anderer magischer Wesen einzugreifen, und wer auch immer hierfür verantwortlich war, hatte definitiv mehr als einen simplen Streich im Sinn gehabt.

Wren schob die Fotos beiseite und erkannte, dass es sich hierbei um einen Einsatzbericht handeln musste. Es waren sogar die Koordinaten des Vorfalls verzeichnet worden. Wrens Herz klopfte schneller. Ohne nachzudenken, zückte der Junge sein Handy und machte einige Fotos von der Akte, dem Text und den Bildern. Die Klinke des Direktorenzimmers senkte sich mit einem Quietschen. Wren zuckte zusammen. Hastig legte er die Akte so hin, als wäre sie nie berührt worden und ließ sein Handy gerade im rechten Moment in seine Tasche sinken, als sich die Tür öffnete. Wren schloss kurz die Augen und atmete durch. Zum Glück musste die Klinke dringend geölt werden.

»Also, Wren«, sagte Mrs. Clerk, die wieder das Sekretariat betrat, »wie kann ich dir helfen?«

»Ich muss nur diese Freistellung abgeben«, erklärte er und übergab der Frau das Schreiben.

»So?« Fragend hob sie eine Augenbraue und warf einen flüchtigen Blick über das Dokument. »Wo soll’s denn hingehen … mit Mr. Frost?«

»Oh, das ist äußerst geheim, Mrs. Clerk. Aber vielleicht erfahren Sie ja eines Tages in der Zeitung davon.« Schelmisch zwinkerte Wren ihr zu, ehe er sich verabschiedete und das Büro verließ.

Kapitel 3khareem

Wüsten-Dimension

September

Die Sonne stand im Zenit und brannte in den Augen, obgleich Khareem nicht einmal hinaufsah. Ein Turban verdeckte sein langes dunkles Haar, welches er oft in einem lockeren Dutt trug, schützte ihn vor der hohen Sonneneinstrahlung. Dennoch hatte der Neunzehnjährige das Gefühl, stattdessen von den reflektierenden Sandkörnern geblendet zu werden. Er war einige Tage in der nächsten Stadt gewesen, um ein paar Nahrungsmittel zu besorgen und sich für seinen Stamm umzuhören. Fündig war er nicht geworden und das hatte Nasir nicht mit Freude aufgenommen. Seit Monaten hatten sie die Spur der Dschinn-Frau verloren. »Sie war der letzte Schlüssel«, sagte Hamza immer.

Der letzte Schlüssel zur Macht.

Dabei hatte er schon einen Dschinn und er hatte ihn eingesperrt; in eine Wunderlampe, wie in den Geschichten, die Khareems Mutter ihm als Kind immer erzählt hatte. Damals hatte er nicht gewusst, dass sie wahr waren. Und er hatte auch nicht gewusst, dass sein Stamm Jagd auf diese Wesen machte, um sie gefügig zu machen.