Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Kanaren verschwinden in eine düstere und unheimliche alternative Realität, wo zwei Zivilisationen um die Vorherrschaft streiten. Zwei Zivilisationen, in denen Männer bei Männern leben, wo es Jäger und Beute, Herren und Diener gibt, ein Jahrtausend altes Geheimnis und die Prophezeiung über den Untergang ihrer Wirklichkeit BAND I Der Schriftsteller Frank Ostrowski lebt allein in der Finca in den Bergen von Gran Canaria, die er und sein Mann kurz vor dessen Tod kauften. Als er drei Jahre nach dem tragischen Tod seines Ehepartners versucht, die tragischen Ereignisse aufzuschreiben, entdeckt er nicht nur, dass sein Mann ein mystisches Geheimnis hütete, sondern auch, dass eines Nachts der Polarstern vom Himmel verschwunden ist. Am nächsten Tag stürzen leere Passagierflugzeuge auf die Inseln ab und am Horizont erscheint ein den ganzen Himmel ausfüllender Planet. Spätestens jetzt wird Frank klar, dass das Geheimnis seines verstorbenen Mannes und die furchteinflößenden Ereignisse direkt miteinander zusammenhängen ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 581
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Peter Nathschläger
DIE INSELN IM WESTEN
TEIL 1
Roman
Bibliographie
Alle Bücher im Himmelstürmer Verlag:
„Mark singt“, Roman.
„Die Legende vom heiligen Dimitrij“, Roman,
„Dunkle Flüsse“, Roman,
„Es gibt keine Ufos über Montana“ ISBN 978-3-934825-50-5
„Patrick’s Landing“ ISBN 978-3-934825-66-6
„Geheime Elemente“ ISBN 978-3-940818-02-7
„Im Palast des schönsten Schmetterlings“ ISBN 978-3-86361-157-6
„Der Falke im Sturm“ ISBN 978-3-86361-290-0
„Fluchtgemälde“ ISBN print 978-3-86361-370-9
Alle Bücher auch als Ebooks erhältlich.
Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.deE-mail: [email protected], September 2016Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.Zuwiderhandlungen werden strafrechtlich verfolgtRechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.
Coverfoto: Copyright: NASA, www.nasa.gov/multimedia/guidelines/index.html
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg.
www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print: 978-3-86361-576-5ISBN epub: 978-3-86361-577-2
ISBN pdf: 978-3-86361-578-9
No somos los cazadoresNo somos los presasNo somos los esclavosNosotros somoslos dueñosde nuestras vida
Inschrift auf einem geschliffenen Vulkanstein, gefunden in der großen Guanchen-Höhle am nördlichen Hang des Roque Nublo, Gran Canaria, datiert auf 1532
Für Richard
Verschlafen siehst du zum Sternenhimmel hinauf und der warme Wind streicht über den scharfen Schatten des Roque Nublo. Der Mond steht gelb am Himmel. In diesen Nächten sieht er älter aus als Gott. Du mühst dich von der gepolsterten Liege hoch, taumelst ein wenig, weil du zu viel Rotwein getrunken hast, und gehst über die Terrasse aus Schiefersteinen, die noch warm vom Tag sind, zur Rückwand der Finca, wo der massive Tisch steht. Dort ist das MacBook, und der geflochtene Stuhl an der Rückwand des Hauses, wo du in der Dämmerung gesessen hast, um den Artikel für die nächste Ausgabe fertigzustellen. Dieser Moment gibt dir das Gefühl, zu Hause zu sein. Die Illusion, dass das fremde Land, die trockene Insel, die Kakteenhänge und scharfen Schatten in der Nacht wirklich zu deiner Heimat wurden, und dir wohl gesonnen sind.
Die Weinflasche ist fast leer und wird vom Licht des MacBooks fahl beleuchtet. Willst du noch einen Schluck trinken? Weiterschreiben oder prüfen, was du bisher verfasst hast?
Ich würde gerne in den Wagen steigen und nach Playa de Inglés hinunterfahren. Ja, es ist ein weiter Weg und es ist gefährlich, weil samstagnachts die betrunkenen Jungs aus Agaete, Las Palmas und Telde Richtung Süden brettern wie die Irren, die Musik auf voller Lautstärke, im Takt der Beats aufs Lenkrad trommeln, während ihr Beifahrer oder die Freundin auf der Rückbank den nächsten Joint dreht. Damit sie schon in bester Stimmung sind, wenn sie in Playa ankommen und die Klubs stürmen. Es ist Wochenende, das Letzte im Juni, und im Parque de Santa Catalina in Las Palmas und in den Einkaufszentren im Süden ist der Teufel los. Das Wochenende vor den Sommerferien ist für die Canarios seit ein paar Jahren eine kanarische Version des US-amerikanischen Springbreaks. Ich würde gerne den lasziven Blick eines Jungen spüren, der freundlich ist. Und vielleicht verlockend, schon deshalb, weil es so viele Jahre her ist, dass ich so angesehen wurde. Ich will schlafen gehen oder noch eine Weile draußen sitzen. Und ich will endlich aufhören, dich zu vermissen.
Du bist betrunken, und deshalb schiebst du den Blues. Kennst dich in deinem Leben nicht mehr aus, trottelst herum und tust älter, als du bist. Blicke von Jungs? Vergiss es. Hast du als Zwanzigjähriger mit Respekt und Begehren auf einen Fünfundfünfzigjährigen geblickt? Oder hast du den Finger in den Mund gesteckt und so getan, als ob du kotzen müsstest, weil dich ein Gruftie mit schweinegeilen Blicken angesehen hat? Na also! Dein Selbstmitleid ist Scheiße, und die aufgesetzte Literatenattitüde ist noch viel schissiger. In dem Zustand willst du in den Wagen steigen, zur Küste fahren und den jungen Canarios verträumte Blicke nachwerfen? Geh ins Bett, schlaf ein, träum von mir und den Küssen, die wir füreinander hatten, und sei froh, dass du so viel erlebt hast, woran du dich jetzt erinnerst. Du kannst gar nicht aufgewacht sein, denn wenn du in den Sternenhimmel blicken würdest, müsste dir auffallen, dass der Polarstern fehlt. Und das ist Schwachsinn reinsten Wassers, oder?
Schissiger? Wo zum Teufel hast du dieses verdrehte Wort her? Polarstern? Ja wo denn? Ich gehe schlafen, aber ich gehe nicht ins Schlafzimmer. Die Nacht ist lau, der Wind weht freundlich, die Geräusche der Nacht verweben sich zu einem Schlaflied, das mir die Insel singt. Danke. Ich gehe zurück zu der gepolsterten Liege, die vorne bei der kniehohen Steinmauer steht, hinter der die Schlucht steil abfällt, lege mich nieder und boxe mir das Kopfpolster zurecht. Polarstern? Ach Scheiße, morgen. Ich schließe die Augen und warte auf den Schlaf, und während ich warte, schlafe ich ein.
Am Sonntag stand er um sieben Uhr früh auf, weil die Schreie der Aras durch das Tal hallten wie die Pfiffe einer Lokomotive aus einem Roman von Ray Bradbury. Blieb eine Weile regungslos stehen und sah nach Norden, zum gegenüberliegenden Felsrücken. Der Roque lag noch tief im Schatten und atmete Kühle aus, aber dahinter spannte der junge Tag seine Muskeln und das Licht floss über den Berggrat, zog die Linie scharf nach und breitete sich aus, so wie eine Matrone ihren Rock, wenn sie sich setzt. Jetzt waren die Schiefersteinplatten kühl und das tat seinen Füßen gut, es machte ihn munter. Ging am Tisch vorbei, an dem er gestern Nacht gearbeitet hatte, bis er sich zu müde fühlte, den Artikel für die Touristenzeitung fertigzustellen, und sich auf der gepolsterten Liege ausstreckte, um ein paar Minuten die Augen zu schließen. Das Thema des Beitrags war ihm nicht angenehm, er konnte nichts Poetisches oder Literarisches herausarbeiten. Eine einfache und unappetitliche Geschichte über Immobilienmakler aus Belgien, die Billigbauten an der Ostküste Gran Canarias errichtet und verkauft hatten. Die Käufer mussten ausziehen, als die Baubehörde feststellte, dass die Reihenhäuser zu nahe an der Bruchkante der steinigen Küste gebaut worden waren. Es bestand Lebensgefahr, die Belgier hatten sich in Luft aufgelöst und die Eigentümer standen vor den Trümmern ihrer Existenz. Polizei, Einsatzfahrzeuge, Sirenen und Tränen, das ganze Aufgebot. Drei Tage nach der Zwangsräumung fegte ein Orkan über die Insel, die Wellen brandeten an die Küste und unterschwemmten das poröse, brüchige Gestein. Die vordere Reihe der Reihenhäuser rutschte mit Getöse in den Atlantik. Verletzt wurde niemand, doch der finanzielle Schaden war erheblich. Er schrieb den Artikel aus der Sicht eines elfjährigen Jungen, der das Leid seiner Eltern naiv und treffend beobachtet. Er versuchte, eine menschliche Geschichte aus dieser Verkettung von Gier und Dummheit zu machen. Als er den Artikel zu Ende geschrieben hatte, kam ihm die Stimme des Kindes altklug vor. Ein geschwätziger Klugscheißer. Er nahm die Weinflasche und ging hinein. Roscoe kam ihm schwanzwedelnd entgegen, gab ein fragendes Knurren von sich.
„Futter?”
„Du hast die Nacht drin geschlafen, was? Dir taugt der Wind zu dieser Jahreszeit nicht, ich weiß, Roscoe.” Als er seinen Namen hörte, drehte der Rüde die Rute vor Freude zu einem Kreis und trabte dem Mann nach. Er ging in die Küche, goss den Wein in die Spüle, drehte das Wasser auf und reinigte das Becken. Dann schlurfte er auf die andere Seite der Küche zur Anrichte, wo die Kaffeemaschine stand. Gab eine Kapsel in die Vorrichtung, prüfte den Wasserstand und nickte. Während der Kaffee in die Tasse lief, sah er aus dem großen Küchenfenster hinaus auf die karge Landschaft. Er riss sich los von dem Anblick, den er so liebte, und gab Fleisch in die Hundeschüssel. Danach nahm er die Tasse Kaffee und ging durch die Diele zum Haupteingang seiner alten Finca, öffnete die Tür und lächelte. Carmelo war schon da gewesen und hatte drei Liter Milch, das Brot und die Tageszeitung gebracht, und wie immer eine frische Blume dazugelegt. Roscoe schlängelte sich an den Beinen des Mannes vorbei und schnupperte an der Blume, bellte einmal, wedelte mit dem Schwanz und lief durch den Flur, der quer durchs Haus ging, auf die Rückseite und legte sich wie jeden Morgen, weit ausgestreckt in den schmalen Streifen Licht, der über den Bergrücken auf die Terrasse fiel. Der Mann nahm die Zeitung und die Milch und ging ins Haus zurück. Humpelte am Tisch vorbei und tippte mit dem Finger auf den Bildschirm des MacBooks: „Dich krieg ich auch noch hin. Zuerst der Kaffee, die Zeitung, dann der Artikel. So hat der Tag Struktur.”
Roscoe bellte einmal scharf, dann legte er die Schnauze wieder auf die Pfoten und blinzelte träge in den aufgehenden Tag.
Nachdem er den Kaffee getrunken und lustlos Korrekturen vorgenommen hatte, ging er zurück ins Haus. Im Bad vorm Spiegel dankte er wie jeden Morgen Gott, dass er nicht das Gesicht eines Warmen hatte, der versuchte, seine Femininität hinter einem Zierbart zu verstecken. Vierschrötig und männlich sah er aus. Der wuchernde Bart war hellgrau und die Gesichtsfarbe tiefbraun. Er hatte stechend klare, blaue Augen. Nach dem Tod seines Ehemanns vor drei Jahren war er seinem literarischen Vorbild immer ähnlicher geworden. Ein großer, stämmiger Mann war er schon immer gewesen. Einer, der das Essen und Trinken liebte, mit den Fischern von Puerto de las Nieves hinausfuhr, und ein Mann der Gemeinde, der mithalf, das Fest des Schutzheiligen der Fischer im August auszurichten und schon mal mit Hand anlegte, wenn es etwas in seiner kleinen Stadt zu tun gab. Ein stolzer, massiver Kerl mit dem Herz eines Kindes und der empfindsamen Seele einer Frau.
Nachdem er die Zähne geputzt und das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, zog er ein Leinenhemd an, dazu eine ockerfarbene Bermudahose und dunkelbraune Mokassins. Draußen, in einem Ordner des MacBooks, schlummerte ein halb fertiger Roman. Sein Spiegelbild sah ihn an und er versuchte, sich zu erinnern, an welcher Szene er zuletzt gearbeitet hatte. Weißt du was? Ich schreibe ein wenig weiter, ich versuche es zumindest und trinke dazu ein Glas Cuba Libré. Setzte mich an den Tisch und schreibe, und wenn ich nicht weiter weiß, schaue ich zum Vorgebirge des Roque auf der anderen Seite der Schlucht und taste mit meinem Blick die scharfe Linie des Bergrückens ab, bis ich weiterschreiben kann. Ich gehe da raus und gebe mein Bestes, so wie der Kumpel von Thomas Hudson auf Bimini im Buch Inseln im Strom.
Es war kurz vor Mittag. In der Küche bereitete er sich ein großes Glas mit honigfarbenem Arehucas-Rum und Coca Cola, gab Eiswürfel aus dem Eisspender dazu und zerrieb auf dem Holzbrett der Arbeitsfläche eine Handvoll Minzblätter. Danach nahm er das Glas und ging hinaus und kontrollierte, ob die vordere Haustür offen war, damit der Wind durchs Haus wehen konnte. Nachdem er den Holzkeil unter der Tür fixiert hatte, richtete er sich mit einem dramatischen Seufzen auf. Wartete, ob Richards Stimme ihn ausschimpfen würde, weil er schon vor Mittag trank. Doch hier waren nur Stille und Wind. Auf der Rückseite der Finca war eine große Terrasse aus Schiefersteinplatten. Links war ein kleiner Pool, den er von den Söhnen seiner Nachbarn pflegen ließ. Ein Holzrost umrahmte das Becken, und die Unterwasserscheinwerfer verbreiteten nachts kühles, tänzelndes Licht. Rechts auf der Terrasse standen eine Sitzgarnitur mit drei gepolsterten Korbstühlen, eine Bank und ein großer Esstisch. Direkt an der Hauswand eine alte, massive Holzbank mit ein paar Sitzpolstern hinter einem ebenso massiven, roh gezimmerten Holztisch. Das war seine Schreibecke, dort verfasste er Artikel für die kanarischen Zeitungen, schrieb Essays und Gastkommentare, Glossen und Kolumnen. Von Zeit zu Zeit arbeitete er an seinem Roman.
Kurz, nachdem er eingezogen war, hatte er an der Hauswand eine Markise montieren lassen, die mit einem Elektromotor aus und eingefahren werden konnte. Mit der Faust hieb er auf den Schalter und ließ das Stoffdach halb ausfahren, damit ihn das Tageslicht nicht beim Schreiben blendete. Dann hatte er das Schreibprogramm offen, klickte das Projekt an und las die letzten drei Absätze, um wieder in das Thema, in die Zeit, in die Sprache zu finden. Das Buch hatte er begonnen, als Richard noch lebte. Ungefähr zu der Zeit, als sie den Entschluss gefasst hatten, die Finca in den Bergen von Gran Canaria zu kaufen.
Diesmal brauchte er länger, um die Erinnerungen zurück ins Dunkel zu drängen und mit dem Schreiben zu beginnen. Er schaffte sechshundert Worte und trank währenddessen drei Gläser Cuba Libré.
Zwischendurch twitterte er über sein Profil: Es geht voran. Ich arbeite wieder am Buch! #Ostrowskischreibt #gc-projekt
Am späten Nachmittag nahm er ein Bad im Pool und genoss die Hitze und das Gewicht der Sonne auf seinen Schultern und auf der Kopfhaut.
Es wäre schön, einen Jungen hier im Pool zu haben. Einen anschmiegsamen Canario, der obszön, aber anständig zu mir ist, der nicht stiehlt und doch so grinst wie einer, der nimmt, was nicht ihm gehört. Küsse von jungen Lippen, eine schnelle Zunge, ein flinkes, helles Lächeln in einem dunklen Gesicht, fragende, neugierige Blicke. Ich sehne mich so sehr nach einem anderen Atem neben mir, nach einem Herzschlag, nach einer Hand, die auf meiner Brust liegt. Meine Hand da, wo die Haarlinie ins Schamhaar fließt, sein träger, fetter Schwanz auf meinem Handrücken.
Als er aus dem Pool stieg, jaulte Roscoe unter dem Tisch, streckte sich und kroch zum Napf mit Wasser. Der Mann trocknete sich ab, zog Shorts an und setzte sich wieder hinter den Tisch. Der Wind roch nach Marzipan. Jetzt lächelte er und sagte mit einem Nicken voller Erinnerungen: „Du hast den Geruch geliebt.”
Das habe ich. Deswegen wollte ich auch das Haus unbedingt haben. Wegen des Geruchs, wegen des Windes, der nächtlichen Geräusche und wegen der verrückten Leute von Tejeda, die uns schon nach dem zweiten Urlaub hier aufgenommen hatten, als seien wir schon immer da gewesen. Und ich wollte das Haus, weil wir erst hier wieder zusammengefunden hatten. Weil wir Zeit und Raum hatten, uns beim Leben zu beobachten und aufs Neue zu entdecken, was wir aneinander hatten. Für mich war das Haus der Meilenstein zu unserem Ruhestand. Das Symbol dafür, dass wir zusammenbleiben können, bis wir alt, ja, uralt sind. Du & ich im Pool, zwei alte schwule Männer, die es geschafft haben, einen gemeinsamen Weg zu finden. Die Jungs, die du dir jetzt wünscht, die du suchst, wenn du nach Playa del Inglés oder Las Palmas fährst, ich sehe die Verbindung. Du siehst sie auch, aber du gibst es nicht zu. Du suchst mich. So wie ich vor dreißig Jahren war. Es tut mir leid, dass ich vor dir gegangen bin, Frank. Ich wünschte, wir hätten eines fernen Tages gemeinsam einschlafen können, alt und welk und bereit zu ...
Der große, bärtige Mann stand im Sonnenschein, ballte die Fäuste und unterdrückte stöhnend seine Gefühle.
Roscoe fuhr hoch und bellte erschreckt. Es hallte von der Schlucht zurück. Frank flüsterte: „Ich kann nicht aufhören, dich zu lieben.”
Ich weiß. Ich weiß.
Nachdem er im Haus gewesen war und sich im Bad kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet hatte, fühlte er sich frischer und besser. Die Dämmerung trat auf wie eine Diva und Frank Ostrowski stand im Salon. Fühlte sich unternehmungslustig. „Roscoe! Fährst du mit? Nach Puerto de las Nieves, zu Alexis. Wir haben noch ein Spiel offen und der alte Sack will mich einfach nicht gewinnen lassen!”
Die Jagdhundmischung mit dem braunweißen Fell, den Kulleraugen und den Schlappohren, dessen Gang von hinten aussah wie der einer kapriziösen Tunte, staubte von der Terrasse herein, bellte ein „Ja” und hechelte sein Herrchen erwartungsvoll an. „Na, dann komm. Mir ist heute nicht nach Arbeiten. Ich trinke den alten Sack untern Tisch und dann hau ich ihm die Dame vom Brett.”
Es war kaum Verkehr und er musste nur zwei Mal ausweichen: Einem Kleinbus mit Touristen, die zum Roque Nublo fuhren und von da weiter, zu den Stauseen. Der Bus dieselte jeden Sonntagvormittag von Playa del Inglés rauf, der Fahrer und die Reiseleiterin schubsten die Gäste in ein Restaurant, wo man kanarische Spezialitäten bekam, und später auf das Plateau, von dem aus man die Wetterscheide sehen konnte, wo sich die Wolken im Norden stauten und über dem Süden klarer Himmel war. Das zweite Mal musste er einem Kleinwagen ausweichen, der sich mit heulendem Motor die Serpentinen hochquälte. Auf die Begegnung hätte Frank lieber verzichtet, denn im kleinen Auto saß Roberto Peréz. Der zwanzigjährige Canario, den Frank bis vor sechs Wochen fast zwei Jahre lang als Hausbesorger angestellt hatte. Der außergewöhnlich schöne junge Kerl hupte, grinste ihn breit an und Frank rief sich in Erinnerung, warum er ihm gekündigt hatte. Es ist eine unglückliche Geschichte, eine kleine, dumme Angelegenheit, die sich auf der ganzen Welt immer und immer wieder zuträgt, wenn ein junger Mann mit der vom Alter ausgewaschenen Leidenschaft und Sehnsucht nach Liebe eines Mannes spielt wie eine Katze mit der Beute, bevor sie sie tötet. Die Seitenspiegel ihrer Autos berührten sich fast, die Fenster waren offen und Roberto schrie: „Señor Ostrowski! Frank! Alles gut in der Finca? Und wie gehts Roscoe? Alles gut?” Er hatte ein enges weißes Tanktop an, damit man seine gebräunten, sehnigen Oberarme sehen konnte. Und seine harten kleinen Brustwarzen. Er war bezaubernd eitel. Hatte Strasssteine in den Ohren und die Haare hoch gegelt zu einem schiefen Irokesen. Im linken Nasenflügel trug er einen Stecker. Der war neu.
Als er seinen Namen hörte, bellte Roscoe und schob seinen Kopf zum Fenster raus.
„Hallo Roscoe!”, schrie Roberto begeistert, und für einen Moment tat es Frank Ostrowski leid, dass er ihn kündigen musste. Aber Diebstahl war nun mal Diebstahl, und da half es auch nichts, das Roberto versucht hatte, ihm das zappzarapp von einhundert Euro als ungeschicktes Malheur zu verkaufen, das eine Anzahlung sein könnte auf einen Nachmittag der engverknoteten, schwitzenden Leiber ... Roscoe wedelte mit dem Schwanz und jaulte. Er liebte Roberto, weil er etwas an sich hatte, das alle Hunde und Katzen auf Gran Canaria hörig machte. Für die Katzen war er Sheba oder Ka, für die Hunde wahrscheinlich der große weiße Leitwolf hinter dem vollen Mond. Du hast ihn ja schon vom ersten Tag an, als er oben bei der Finca aus dem Auto stieg, angesehen, als ob du dich von ihm schlachten lassen wolltest, mit diesem waidwunden Blick, den du früher als Junger bei den Alten so verabscheut hast. Kein Wunder, dass du dich hasst. Roberto Peréz war ihm von einem Expat aus Deutschland empfohlen worden. „Sieht knackig aus wie frisch aus dem Ofen, hat ein geiles Lächeln und bringt alles zum Laufen. Und ich meine wirklich alles. Verstehst du? Der kann was!”
Roberto erwies sich in als Glücksgriff. Er konnte alles richten, alles organisieren und bei allem, was er tat, vermittelte er den Eindruck, er hätte sich unsterblich in Frank Ostrowski verliebt. Er schmachtete ihn an und entzog sich kokett, wenn Frank reagierte. Machte er etwas am Herd, dann achtete er immer darauf, dass ihm die Unterhose unter der tief sitzenden Armeehose noch tiefer runterrutschte, sodass Frank, der ja zufällig vorbeikommen könnte, und auch immer zufällig vorbei kam, seine Arschspalte zu sehen bekam – das sogenannte Maurerdekolleté. Sie fuhren im Schritttempo aneinander vorbei und Frank dachte, ein leises Bedauern in Robertos Lächeln gesehen zu haben. Der Junge rief: „Ich ruf sie an, Papa!”
Da war es wieder, das kubanisch verwendete Papa, mit dem man den reifen, besonders männlichen Mann meint, das ihm so schmeichelte. Der Hemingway von Gran Canaria, scheiß eins drauf!
Er konzentrierte sich auf die immer engeren Serpentinen und blendete die keifende Stimme seines toten Mannes aus. Die Schattenstimme des Mannes, dessen Fehlen ihn zum Witwer machte. Frank Ostrowski erreichte den Ortsrand von Agaete und fuhr zum Hauptplatz, wo er den Wagen unter den Lorbeerbäumen parkte. Kinder spielten Fußball auf dem beinahe dunklen Platz vor der Kirche. Dort stieg er aus, wartete, bis Roscoe mit einem Sprung von der Rückbank aus dem Wagen kam, schlug die Wagentür zu, ohne abzusperren, und schlenderte quer über den kleinen Platz zur wenig befahrenen Straße, die nach Puerto de la Nieves führte. Mit Roscoe aus Agaete raus und nach unten, nach Puerto zu gehen, war für ihn wie Urlaub. Es war still, nur der Wind in den Büschen und Sträuchern, die fernen, heiseren Rufe der Teenager, die sich unten in der Bucht auf den Steinen sonnten. Auf halben Weg zum Hafen bog er rechts in eine schmale Straße und gingen zu der dörflichen, neuen Siedlung, an den Gartenzäunen entlang zum weiß verputzten Haus, in dem Alexis Christobal Trujilo lebte. Der Polizeichef von Agaete und sein bester Freund. Roscoe sprang voraus, bellte, und die Kinder grüßten ihn, als ob er einer von ihnen wäre. „Hola Roscoe, que tál? Todo bien?” Er lief zu ihnen, ließ sich an den Ohren ziehen und warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, wo sein Herrchen blieb. Na komm schon, du Sack!
Sie saßen einander gegenüber, die Ellbogen auf den massiven Holztisch gestützt, und spürten den Wind, der vom Atlantik herauf wehte, in den Haaren. Links auf dem Tisch, halb unter dem Fenster, standen die Flasche Rotwein und die massiven Gläser, aus denen sie tranken. Roscoe hatte Alexis schwanzwedelnd und mit einem vergnügten Seufzer begrüßt und sich dann auf die Terrasse zurückgezogen, wo er die Schnauze auf die Pfoten gebettet hatte und mit müdem Blick zusah, wie die Nachtfalter das Verandalicht umkreisten. Obwohl der Polizeichef von Agaete bummelig war, um nicht dick zu sagen, strahlte er agile Bewegungslust aus. Er war auf sehr eigenwillige Weise attraktiv. Und er war witzig. Was Frank darüber hinaus noch mehr begeisterte, war, dass Alexis Christobal Trujilo so geheimnisvoll war, dass er ihn zu einer Figur für den Roman inspirierte, an dem er gerade schrieb. Statt Schach spielten sie Mühle, aber das taten sie nur nebenher. In Wirklichkeit tauschten sie beiläufig Neuigkeiten aus. Meistens ratschten sie über das Fehlverhalten der schwulen Zuwanderer aus Belgien, Deutschland und Österreich, über die kleinen Ganoven in Las Palmas, die Bande von halbwüchsigen Strichern, die wie Nomaden über die Insel zogen, mit den Fähren nach Lanzarote oder Teneriffa reisten, dort herumhurten und zurückkehrten, wenn der Tourismus sie gekaut und ausgespuckt hatte.
„Inseln im Strom”, sagte der Polizeichef wie zu sich selbst, adressierte es aber eindeutig an Frank.
„Ja?”
„Hemingways Roman. Du hast ihn mir vor ein paar Wochen zum Lesen gegeben und ich habe ihn schon zweimal durch. Und immer wenn ich den verrückten Otto Feinberg sehe, muss ich an den Roman denken.”
„Wieso?”
„In der mittleren der drei Novellen, die auf Kuba spielt, lässt sich Thomas Hudson von seinem Boy im Auto in die Stadt bringen und trifft dann dort in der Floridita auf ein paar Leute. Da gehts ums Saufen, ums einsame Leben und ums Ficken. Für Hudson geht es darum, den Tod seiner Söhne zu verarbeiten, aber es geht auch um das Lebensgefühl der US-Bürger auf Kuba in den Vierzigern. Und irgendwie hat es dieser Scheißkerl Otto geschafft, sich hier ein Leben einzurichten, das an diesen Roman, an das Lebensgefühl, das Hemingway beschreibt, erinnert. Du ziehst. Trink noch was. Ich bin ein Glas voraus!”
Frank schenkte sich ein und nickte bedächtig, zog einen Stein und antwortete: „Jetzt, wo du es sagst. Jede Nacht fett wie die russische Erde, jede Nacht irgendeinen Streit mit einem der Lokalbesitzer im Yumbo, jede Nacht irgendeinen windigen Stricher auf dem Schoß, der vor lauter Kokserei ganz verhuscht ist. Otto ist in Ordnung, wenn er nüchtern ist. Aber je besoffener er wird, desto jünger werden die Stricher und seine Antworten und Reden großkotziger und widerlicher. Im September habe ich ihn am Strand gesehen: hackedicht bis obenhin, inmitten einer kichernden Horde halbwüchsiger Jungs. Mich würde es ebenso sehr aufregen, wenns Mädchen wären. Aber es sind Jungs.”
„Und die sind zehnmal raffinierter als die Ottilie in all ihrer versoffenen Glorie. Die Kids nehmen ihn aus wie eine Weihnachtsgans und er glaubt noch immer, er sei der Pascha von Gran Canaria, der Trottel.”
„Genau”, sagte Frank, „genau. Der original Obertrottel.”
Sie lachten, schoben das Spiel beiseite und lehnten sich zurück. In der Stille klang das Knarren der unbequemen Holzstühle laut, und sie verschränkten beide die Hände hinterm Kopf, sahen zum offenen Fenster raus. Draußen schrie eine rollige Katze das Mondlicht an. Oder eine Mauer, hinter der ein Kater wartete. Von Trujilos Haus in der Paseo Opispo Pildain sah man über die Bucht von Puerto de las Nieves bis zum Hafen, wo die großen Fähren und Kreuzfahrtschiffe anlegten und im Mondlicht erhaben weiß strahlten. Weiter links war die Steinbucht, wo an der Wasserlinie ein rauer Betonweg entlang führte. Frank mochte diesen Weg, wenn es stürmte, und die Wellen hochbrandeten und sich an den riesigen Steinquadern brachen. Die besten Ideen für Artikel, Kurzgeschichten und Romane hatte er immer dort, direkt am Meer, im Sturm, im Gedonner des Ozeans. „Ruhige See heute.”
„Ja”, sagte Alexis und wiegte den Kopf. „Lass uns eine Flasche nehmen. Gehen wir zur Promenade.”
„Gefällt mir, die Idee”, gab Frank zurück, streckte sich und stand auf. Er nahm die Gläser und Alexis eine Flasche spanischen Rotwein.
Roscoe hob zwar kurz den Blick, als die beiden Männer an ihm vorbei marschierten, aber das war auch alles. Er gab ein zufriedenes, Knurren und Seufzen von sich und schlief weiter. „Bewach das Haus!”, sagte Frank sanft, und sie lachten leise. Gemächlich gingen sie über die Calle El Muelle zum Hafen hinunter, an den vertäuten Fischerbooten vorbei zur steinernen Promenade, am Cafe El dedo de dios vorbei, schauten hinüber zur Bucht, in dessen aufgewühltem Wasser das Spiegelbild des Mondes zersplitterte, und sprachen nichts. Dort nahmen sie auf einer der Steinbänke mit dem Ort im Rücken Platz und sahen auf das unendliche Bild der nächtlichen Brandung. Alexis schenkte großzügig ein, sie lauschten eine Weile dem Rascheln der Palmen im Wind und dem dröhnenden Gesang des Ozeans. „Dreht das Wetter?”
Alexis schüttelte den Kopf.
„Das ist gut. Ich krieg immer Kopfweh, wenns dreht. Dann schmeckt mir nicht einmal mehr der Rum.”
Sie tranken und seufzten wohlig. Links, in etwa dreihundert Meter Entfernung, fuhr eine kleine Kolonne Autos von Puerto de las Nieves Richtung Agaete. Die vier Kleinwägen rollten über die Umfahrung an der Ausfahrt Agaete vorbei und zum Verteilerkreis.
„Die fahren nach Las Palmas. Beim Parque Santa Catalina gibts ein paar neue Lokale und eine neue Diskothek im Einkaufszentrum”, sagte Alexis und zündete sich eine Zigarette an.
„Hab ich mitgekriegt. Die Lokalbesitzer im Yumbo-Center oder im Cita sagen zwar immer mit dieser ekeligen Geringschätzung, dass sie die Natives nicht brauchen und eh nur von den Touristen leben. Dabei vergessen sie aber, dass viele Touristen eben wegen der Canarios kommen. Ich meine, wer fliegt nach Gran Canaria, wenn er mit einem Engländer vögeln will? Die Canarios sorgten ein paar Jahre für Stimmung im Yumbo oder in der Cita, und jetzt fahren sie alle wieder rüber nach Las Palmas, das spricht sich unter den Touristen rum, die wegen der kanarischen Jungs hierher fliegen, und die bleiben dann auch weg. Und die dummen Schnösel, denen die Bars gehören, verstehen einfach nicht, warum immer weniger Leute kommen, schreien Zeter und Mordio und suchen um Förderungen an, die es natürlich nicht gibt.”
Alexis nickte. „Die Wirtschaftslage trägt auch dazu bei. Schwule Canarios, die sich am Wochenende vergnügen wollen - passt ja. Dass die jetzt aber immer häufiger auf den Strich gehen, so wie Anfang der Neunziger, das ist mühsam, verstehst du? Die Kollegen müssen die immer auseinanderklauben, wenn sie sich mal wieder mit Touristen verheddert haben und besoffen in den Sand der Playa de las Canteras reihern. Mir kanns völlig egal sein, denn ich schiebe hier wirklich eine ruhige Kugel. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich hier nur geparkt, um bei irgendeiner wirklich großen Sache dabei zu sein, wenn sie sich mal entrollt.”
„Eine große Sache, hm?”
„Eine große Sache und Gott leck mich am Arsch, wenn ich wüsste, was. Momentan haben wir nur das wirtschaftliche Problem und seine Folgen: Canarios, die sich prostituieren, damit anfangen, Drogen zu nehmen, weil sie über die Touristen leicht an das Zeug kommen ... und dann das Problem der Regierung, die den Spagat zwischen Wirklichkeit und Urlaubskatalog nicht mehr schließen kann. Und das alles konzentriert sich immer mehr auf Las Palmas. Der Süden geht auf andere Art vor die Hunde.”
Frank nahm einen großen Schluck und rülpste: „Klar. Die Touristen, die kein Problem damit haben, einem Jungen Geld zu geben, zieht's alle nach Las Palmas. Und um für Familien attraktiv zu werden, müsste man Millionen, ach leck mich am Arsch, man müsste Milliarden Euros in den ganzen Süden investieren.”
„Am Busbahnhof beim Theater ist strichmäßig der Teufel los. Und das mag die Stadtverwaltung gar nicht, die erst vor fünf Jahren angefangen hatten, den Fokus der Touristik auf nobel zu drehen. Überall Drogensüchtige, leere Nadeln, Bierdosen und Flaschen, Kotze und Pisse und mittendrin feine Damen und Herren, die nach dem Theater pikiert über vollbesoffene Freier und Nutten steigen, um in die Busse klettern zu können.”
Alexis packte die Flasche und stand auf. „Lass uns zum Haus zurückgehen. Ich fühle mich heute ein bisschen schwammig.”
Als sie vor dem Haus des Polizeichefs standen, sagte Frank leise: „Ich sehe ihn jetzt wieder öfters. Sogar öfters als in den Wochen nach seinem Tod.”
„Wie gehst du damit um? Brauchst du einen Arzt? Ich kenne da einen in Mogan, der ist ...”
„Nein, nein, ich brauche keinen Arzt. Ich komme schon klar. Weißt du: Er spricht zu mir, so als ob er nie gestorben wäre, als ob der ganze Flugzeugabsturz nur ein böser Streich meiner Erinnerung ist.”
„Au Mann, das ist hart.”
„Es geht. Ich komme durch. Manchmal ist seine Stimme direkt hinter mir und ich will verdammt sein, wenn sein Atem nicht manchmal sogar die Härchen auf meinen Ohren berührt. Dann drehe ich mich um und sehe ihn für den Bruchteil einer Sekunde. Ich sehe den Mann, der er war, bevor er in das Flugzeug stieg und nicht mehr das, was er war, als sie ihn auf dem Rollfeld bargen ...”
„Komm her, ich muss dich jetzt umarmen, sonst fange ich an zu flennen.”
„Richard war die größte Liebe meines Lebens.”
„Ich weiß. Komm. Knuddeln.”
Im weißen Mondlicht, das so hell war, dass sie Schatten warfen, standen zwei Männer vor einem weißen Haus, dessen Fensterbänke voller Blumen waren, und umarmten sich still. So blieben sie einen Moment, bis sie am Atem des anderen spürten, dass es Zeit wurde, sich voneinander zu lösen.
Es war weit nach Mitternacht, und sie schlenderten nebeneinander auf der leeren, dunklen Straße hinauf zum Kirchenplatz von Agaete, als sie sich verabschiedeten und Alexis nur der Ordnung halber fragte, ob Frank wirklich mit dem Auto hinauffahren wolle. „Lass die Karre stehen und nimm ein Taxi. Du scheißt eh Geld.”
„Haha. Nichts da. Ich fahre.”
„Na gut, du Partisane. Aber nimm von hier aus die 231 und dann die 217. Da ist jetzt genau null Verkehr und ich weiß zufälligerweise, dass die Kollegen heute auf der GC-210 herumstehen und nasenbohren. Denen ist so langweilig, dass sie sogar jemand wie dich aufhalten würden. Fahr vorsichtig. Nicht dass mir Klagen kommen, du würdest junge Bergbauern über den Haufen fahren.”
Sie lachten, umarmten sich noch einmal und dann stieg Frank in seinen Mercedes CLA, ließ alle Fenster runter und fuhr los. Alexis winkte ihm nach, bis er um die Kurve verschwand und sein Rücklicht ein paar im Wind flappende Palmblätter beleuchtete. Die Böen wurden stärker. Er ging langsam zurück zu seinem Haus, ins Wohnzimmer, und schloss dort die hölzernen Fensterläden. Die Feuchtigkeit kroch vom Atlantik über die Bucht von Puerto de las Nieves und roch nach toten Fischen. Das war selten – und es war unangenehm. Alexis setzte sich auf die Couch und wartete auf die Müdigkeit. Als ihm die Augen schwer wurden, ging er ins Schlafzimmer und furzte. Verzog das Gesicht, wedelte mit der Hand vor der Nase und kippte das Fenster, um den Gestank rauszulassen, und legte sich nackt aufs gemachte Bett. Er schloss die Augen und dachte an Frank Ostrowski, der in dieser mondhellen Nacht über die schmalen Straßen in die Berge hinauffuhr zu seinem Haus, das einen Steinwurf außerhalb der Ortschaft Tejeda lag. Als er die Augen schloss, wurde ihm mit einem Schlag klar, warum er sich in der Bucht unten, als sie Wein getrunken hatten, so schwammig und porös gefühlt hatte. Während sie über alles und nichts redeten (Frank nannte das: Die Lage der Welt besprechen), äugte Alexis immer wieder hinauf in den milchig verhangenen Sternenhimmel. Irgendetwas war anders und er konnte nicht sagen, was. Er wusste nur, dass es ihn nachdrücklich irritierte. Und jetzt, schnapp, mit einem Schlag, rückte sich das Bild zurecht. Vielleicht lag es nur an dem dünnen Netz aus feuchter Luft, das am Himmel hing. Aber daran glaubte er nicht, als er in den Schlaf hinüber glitt. Der Himmel hinter dem Nebelschleier war wie immer gewesen. Mit einem Unterschied. Der Polarstern war nicht da. Verschollen im fernen Sternenmeer.
Wäre an diesem Abend die Polizei auf der GC-231 oder auf der 217 unterwegs gewesen, hätten sie Frank Ostrowski schon allein deshalb kassiert, weil er so vorsichtig fuhr, dass allein an seinem Fahrstil das schlechte Gewissen zu erkennen war. Er hatte die Fenster heruntergelassen, die sanft schaltende Automatik des Mercedes machte ihn träge. Unter dem Armpolster der Mittelkonsole war ein USB-Stick angeschlossen. Er hörte leise Santana. Diese Musik hatte Richard gehasst wie die Pest. Zu ruhig, zu langweilig, Friedhofsmusik - Mach was Anderes rein. Frank nahm im Schritttempo die engen Kurven, die sich an der Bergseite entlang schlängelten. Links neben dem neuen Asphaltband ging es steil bis zu hundertfünfzig Meter in die Tiefe, rechts ragten Kakteen und Felsen hoch in die Luft, die zunehmend trüber wurde. Weil er zuerst dachte, dass sein Blick vom Saufen vernebelt war, steuerte er eine Ausweichbucht an, stellte den Wagen ab und stieg aus. Es war nebelig, eine kühle, unangenehme Feuchtigkeit. Saurer, steiniger Geruch, der mit dem Nebel von unten nach oben zog. Oder, wie Frank schätzte, der sich über den Roque Nublo herabwälzte, nachdem er auf der Westseite der Insel von der Atlantikströmung hinauf gewuchtet worden war. Er war sich nur nicht sicher, ob der Nebel, in dem er nun stand, ein Ausläufer der üblichen Wolkendecke war, die im Norden der Insel über Las Palmas und La Isleta lag, oder ob das ein echter, und daher eher seltener, Hochnebel war. Egal, dachte er und sagte zu sich „Scheiß der Hund drauf. Nicht du, Roscoe, du nicht. Wer ins Auto kackt, fliegt in die Schlucht.”
Roscoe jaulte und gähnte. „Gut, alter Junge”, sagte Frank etwas zittrig, „fahren wir weiter, schön vorsichtig, schön leise. Wir kennen die Strecke, du und ich, und wenn ich zu weit nach rechts komme, bellst du einfach, ok?”
Roscoe schnappte nach einer Fliege, die er wohl im Schlaf sah, und Frank nahm das als Zeichen seines Einverständnisses. „Also los.”
Der Nebel wurde dichter und er überlegte, dass dies doch die Wolkendecke des Nordens sein konnte, die am Roque Nublo auflief wie Wellen an der Hafenmauer, und überfloss. Das störte ihn auch nicht weiter, aber dieser Nebel stank. Sauer, nach nassen Steinen. So als ob etwas feucht geworden war, dass noch nie zuvor mit Wasser in Berührung gekommen war. Unter dem mineralischen Geruch war auch ein Hauch Eukalyptus, fand Frank. Roscoe hatte es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht und sich zu einem ruhig atmenden Knäuel zusammengedreht. Frank streichelte ihn, ließ die Hand liegen und spürte sein Atmen und Herzschlagen. Kurz ließ er zu, dass ihm die Gefühle in den Augen brannten, doch dann riss er sich zusammen und konzentrierte sich auf das dunkle Band vor sich. Roscoe drehte den Kopf und leckte ihm über die Hand, was wohl seine Art war zu zeigen, dass ihm die Zärtlichkeit sehr behagte.
Am Montag kurz nach sieben Uhr früh stand Frank einigermaßen verkatert bei der Anrichte und sah zum Fenster hinaus, während er darauf wartete, dass die Kaffeemaschine aufheizte. Als alle Lichter der Bedientasten gleichmäßig leuchteten, stellte er seine Tasse unter den Auslass und drückte sich einen Espresso mit aufgeschäumter Milch herunter. Ein unangenehmes, eisernes Licht kroch in den Morgen. Er schabte mit den Händen über den Bartschatten, während die Kaffeemaschine blubberte und fauchte. Das Licht draußen war eine Anti-Dämmerung, es war wie ein Eindringling. Roscoe stand hinter ihm, die Läufe steif und der Schwanz klemmte zwischen den Hinterläufen. Er knurrte fragend. „Was ist, alter Junge? Der Nebel ist fürn Arsch, aber er ist nicht ... Hast du etwa Schiss, du Promenadenmischung?”
Roscoe wiederholte sein Knurren, blinzelte Frank an und wandte den Blick ab. Schiss? Nein, aber das Zeug da draußen stinkt wie Sau, Papa!
„Wenn ich den Kaffee getrunken habe, gehen wir ein bisschen raus. Stinkender Nebel hin oder her, du musst pissen und scheißen und der Blitz soll dich treffen, wenn du glaubst, du kannst hier drin dein Geschäft verrichten, Roscoe!”
Mit der Tasse Kaffee in der einen Hand und dem Laptop in der anderen schlurfte Frank zur rückwärtigen Tür, die zur Terrasse hinausführte, und hatte für einen Atemzug lange ein Gefühl von ernsthaftem Unbehagen: Dass da draußen irgendetwas war, das hereinwollte, das mit dem Nebel unter der Tür durchkriechen konnte, oder darauf wartete, bis man die Tür öffnete, um es hereinzulassen. Weil es Warten gewohnt ist. Weil es ihm nichts ausmacht, zu warten und sich in stinkenden Nebel zu hüllen wie in ein ungewaschenes Kleid. Mit dem Laptop unter den Arm geklemmt, drehte er den Knauf und hieß sich einen alten Narren, sich so vor Nebel zu fürchten. Schob die Tür auf und trat ins Freie. Der Dunst war dicht und griff weit in den Himmel, denn Frank konnte die Sonne nur als traumwirre Erscheinung wahrnehmen. Es war hell, aber nichts warf einen Schatten, weil das Licht von überall her kam. Das iBook legte Frank auf dem Tisch ab, den Kaffee stellte er daneben. Es hatte fast ein halbes Jahr gedauert, bis er von der Internetfirma das WLAN-Modem bekam, mit dem er zu Hause ein Funknetz einrichten konnte. Das war auch sein erstes Projekt gewesen, nachdem er von Richards Lebensversicherung das Haus ausbezahlt hatte; schon Wochen, bevor er eine Spedition beauftragte, den Rest seines Lebens in Wien in Kisten zu packen und hierher zu verfrachten. Das iBook war vor zweieinhalb Jahren, als er hierher übersiedelte, sein erster, persönlicher Einrichtungsgegenstand gewesen. Es gab im Schlafzimmer ein altes Bett, das ihm von der Frau, der das nächste Haus gehörte, frisch überzogen worden war, als er sein Eintreffen angekündigt hatte. Alle wussten, dass sein Ehepartner verstorben war. Die Leute hier waren diskret und hilfsbereit. Sie brachten Blumen, Geschenkkörbe und spendeten Schulterklopfen, Zeit und Lächeln. Aber auch Milch, Käse und Brot, frischen Fisch und Kartoffel. Es mag sein, dass Richard vor allem den Mandelgeruch hier oben geliebt hatte. Ganz gewiss aber hatte er auch die leicht grantelnde, aber meist fröhliche Erdigkeit der Menschen gemocht, die in den Bergen abseits der Touristenrouten lebten.
Roscoe kläffte. Das klang empört. Frank schreckte aus seinen Gedanken hoch und rief: „Oh Jessas Maria und Josef, Roscoe, entschuldige, ich hab mich wohl mal wieder in meinen Gedanken verheddert. Das passiert mir immer öfter. Muss wohl an den grauen Haaren liegen. Ich putz mir noch schnell die Zähne und dann rennen wir los, ja?”
Der Jagdhundmischling schnaufte und es klang so, als wollte er sagen: Jaja, versuch nur, dich rauszureden, Papa. Ich weiß es und du weißt es. Du hast auf mich vergessen, weil du an Richard gedacht hast. Ich denke auch immer an ihn und an seinen Geruch, weiß du? Er fehlt mir auch. Aber deswegen vergesse ich nicht darauf, dir die Hand zu lecken, wenn du mich streichelst. Also gehen wir oder soll ich auf den Küchenboden scheißen?
Er nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und ging damit ins Bad, um sich nach dem Putzen mit dem eiskalten Wasser den Mund auszuspülen. Das tat er seit seiner Kindheit und er war davon überzeugt, dass ihm diese mehr als erfrischende Methode sehr viele Zahnarztbesuche erspart hatte. Frank kam aus dem Bad, ging ins kleine Vorzimmer und holte Halsband, Beißkorb und Leine.
Ein paar Minuten später gingen Mann und Hund am Straßenrand bergab zum Ort. Roscoe kannte den Weg blind und auch Franks Gewohnheiten. Zuerst besuchten sie die Bodega auf einen Espresso und ein kleines Glas Rum, dann quer über den Platz unter den müde hängenden Palmblätter zum Hundeplatz im Park, wo Roscoe sein Geschäft verrichten konnte, und dann zur Bäckerei Dulceria Nublo, aus der es vom Sommer bis in den späten Herbst nach Marzipan roch, wo Frank die Kaffeekapseln abholte, die er über das Internet bestellte und hier anliefern ließ. Die Fahrer der Linienbusse nahmen die Lieferung von Las Palmas mit, wenn sie hier durchkamen. Frank war es gelungen, sich ein kleines Netzwerk einzurichten, und er gestand sich ein, dass er das Richard zu verdanken war, denn der hatte mit seiner offenen und liebenswürdigen, aber auch robusten und geradlinigen Art die ersten Kontakte geknüpft. Kaffeekapseln, Milch zum Aufschäumen, Hundefutter, Fleisch, Käse, Brot, Briefe, alles wohlsortiert und verpackt im Geschäft in Tejeda. Beim Schriftverkehr handelte es sich meistens um Leserbriefe von entrüsteten Touristen, die sich in einer von Franks spöttischen Glossen wiederzuerkennen glaubten und verarscht vorkamen. Drei oder vier solche Briefe in der Woche, in denen Männer und Frauen wütend verkündeten, er sei schuld, wenn sie Gran Canaria nie wieder besuchten, und dass er die Insel in den wirtschaftlichen Ruin trieb, indem er Touristen wie sie verjagte, die sich zurecht empörten. Natürlich empörten sich alle immer voll und ganz zu Recht. Auf drei oder vier, dieser meist handschriftlichen Briefe, gab es mehrere hunderte Likes auf Facebook oder Re-Tweets seiner Tweets. Die einen fühlten sich ertappt, die anderen johlten. Wenn Frank nicht mehr sicher war, ob er den Bogen überspannte oder nicht, fuhr er mit dem CLA nach Mas Palomas zu der Einkaufspassage beim Leuchtturm am Strand, hielt es dort ein paar Stunden in der Strandapotheke durch, fuhr zurück und schrieb einen weiteren Artikel, in dem er Gift, Galle und Lava spuckte. Bemerkenswert fanden seine Redakteure immer wieder, dass sich nie jene Touristen über Franks Artikel beschweren, die er als die paar Ordentlichen bezeichnete.
Roscoe zerrte an der Leine, weil er zum Hundeplatz wollte, um gepflegt einen abzuseilen, und sie kamen am Gemeindeamt vorbei. Auf der Holzbank links neben dem Eingang saßen Margareta und Lizbet und hatten eine Flasche Arehucas dabei. Margareta schenkte zuerst sich und dann Lizbet ein. Die beiden neunzigjährigen Frauen kicherten zahnlos mädchenhaft, prosteten einander zu und tranken. Vermutlich auf all die Liebe, die sie hatten. Gespielt empört knurrte Frank: „Meine Damen. Um diese Zeit. Das ist ein Skandal.”
Lizbet sagte: „Ach leck mich, Jungchen. Wie soll man denn sonst den Stress hier ertragen?” Sie salutierten und Frank ließ sich breit grinsend von Roscoe weiterzerren. Der Nebel hatte sich gelichtet, aber die Luft blieb unangenehm dunstig und trüb, roch weiterhin nach nassem Stein und fauligem Eukalyptus. Jetzt konnte man von Tejeda bis hinauf zum Gipfel des Roque Nublo sehen, aber es war ein betrüblicher, grauer Anblick und Frank überlegte, woran ihn der Geruch heute Morgen erinnert hatte als der Nebel so dicht war. Das Aroma selbst, fand er, war gar nicht so unangenehm, wenn es nicht so intensiv gewesen wäre, und dann fiel es ihm ein. Vor fast zwanzig Jahren waren Richard und er für einen Urlaub in Tunesien gewesen. Und zwar in Mahdia. Im Hotel El Mehdi. Vierzehn Tage Sonnenschein - war zumindest der Plan, aber dann gab es doch zwei bewölkte Tage und am dritten regnete es im Morgengrauen. Der Balkon ihres Zimmers im Erdgeschoss ging seitlich raus. Rechts sahen sie den Strand (und eines frühen Morgens zwei junge Männer, die sich im Schutz eines Wellblechdachs, unter dem Strandwerkzeuge abgestellt waren, gegenseitig einen abwichsten. Es war eine von Richards Weisheiten: als Schwuler hat man den Blick dafür, das Verborgene im Verborgenen zu entdecken. Unter dem Balkon war rote Erde. Das war der Geruch, die gleiche Ausdünstung. Wie die rote Erde, die es einfach nicht gewohnt war, regennass zu werden, vom Wolkenbruch getränkt wurde. Es stank nach saurer, steiniger Erde oder Landschaft, für die Feuchtigkeit widernatürlich war.
Roscoe stubste ihn an.
„Fertig, alter Junge? Reinlich, gewaschen und ausgeschissen? Das Haar onduliert? Na gut, dann gehen wir mal wieder.”
Sie schlenderten hinüber zum Laden, Roscoe bellte einmal hell und die Besitzerin grüßte sie laut. Hinten in der dunklen Ecke, unter dem an die Wand geschraubten Flachbildfernseher, saßen drei junge Männer und tranken Bier. Sie murrten einen Gruß und widmeten sich wieder ihrem Gespräch. Frank kannte sie. Natürlich kannte er sie. Er kannte das ganze, verdammte Dorf. Zwei von ihnen arbeiteten manchmal im Yumbo-Center als Animateure, der andere war arbeitslos und versuchte mit frustrierender Regelmäßigkeit, in Las Palmas am Hafen bei den Docks harte, körperliche Arbeit zu finden, die er mit seinem Anspruch an die eigene Männlichkeit in Einklang bringen konnte. Er hieß Luis und war einer der wenigen, der Frank mit offener Geringschätzung begegnete. Er ignorierte das. Solange er mit ihm nichts zu tun hatte, gabs auch keine Probleme. Andererseits fand er die vulgäre Arroganz des derb hübschen Burschen durchaus reizvoll. Wenn er nur so auf mich runterblicken würde, wenn ich ihm einen blase – dachte Frank ab und zu, und entschärfte für sich so die Spannung, die zwischen ihnen knisterte. Einer der beiden Animateure hieß Fabio. Er gab den Flick-Flack-Mann im Yumbo um elf Uhr nachts, wenn die Lokale der untersten Ebene schon gut mit meist schwulen Gästen gefüllt waren und an allen Tischen Bier und Cuba Libré standen. Der Abschluss seiner Artistennummer, bei der er stets eine zu lockere Jogginghose trug, war ein Rückwärtsflickflack, bei dem er absichtlich so hart abfederte, dass ihm die Hose über den knackigen Arsch rutschte, was ihm jedes Mal Gejohle und Extratrinkgeld einbrachte. Er konnte davon leben. Der zweite Animateur, ein unscheinbarer junger Mann, dem die Pockennarben das Gesicht entstellten, gab den weiß geschminkten Jongleur, und hatte ein paar wirklich sehenswerte Tricks drauf. Er bekam nie so viel Geld wie sein Kumpel, weil er nicht hübsch war. Zwanzigjährige, die mit edlen Zügen und knackigen Ärschen bedacht waren, brauchten nur in die richtige Richtung zu lächeln, um sich um ihr Abendbrot keine Sorgen machen zu müssen. „Ich habe Carmelo mit deinen Sachen losgeschickt. Du hast doch am Freitag telefonisch bestellt, Frank. Wirst du alt?”
Einer der Jungs kicherte und verstummte, als ihn Frank mit all seiner antrainierten Männlichkeit ansah. Es war keine ernsthafte Gemeinheit in dem Kichern, und er versuchte auch gar nicht wirklich, bedrohlich zu wirken.
„Verdammt, ich habs wirklich vergessen. Na vielleicht erwische ich ihn noch, dann kann ich ihm etwas Trinkgeld geben. Hasta luego!”
Carmelo fuhr mit seinem laut knatternden Moped ein paar Häuser außerhalb des Ortes ab und lieferte an alte Ehepaare, die zu schwach waren, den steilen Weg runter zum Laden zu gehen. Frank bestellte manchmal im Laden, damit Carmelo lieferte. Der Kaffee schmeckte einfach noch einmal so gut, wenn er die Packung mit den Nespresso-Kapseln anlieferte und sie mit seinem süßen Lächeln zuckerte.
Oben vor dem Haus sah Frank, dass er ihn verpasst hatte. Das machte nichts aus, denn er stellte die frischen Brötchen, Milch, Käse, Schinken und Olivengläser vor dem Haus in einer Kühlbox ab, die Frank später zurückbrachte, wenn er mit dem Auto unterwegs war. Aber es machte insofern doch etwas aus, weil Carmelo eine ausgesprochen verwilderte, laszive Schönheit war. Weil er auf eine Dienstschürze verzichtete, und lieber eine matt glänzende Nike-Sporthose ohne Unterwäsche trug. Wenn er ging, konnte man sehen, wie sein Ding in der Hose hin und her pendelte. Und seinem Blick war anzusehen, dass er wusste, wohin Frank jedes Mal schaute, wenn er über die Steintreppen von der Straße zur Haustür hochlief. Carmelo sah Frank manchmal mit einem Blick an der sagte: „Wenn ich dich ficke, weinst du vor Glück, Papi!”
Die geradezu widerstandslose Selbstverständlichkeit, mit der sie damals von den Ortsbewohnern angenommen wurden, als sie ihren ersten Urlaub hier verbrachten, war mit ein Grund, warum Richard nach dem dritten Urlaub in weinseliger Laune bei einem Plauderstündchen mit dem Ehepaar, dem das Haus gehörte, auszuloten versuchte, ob es möglich sei die Finca zu kaufen, ohne sich finanziell einen Bruch zu heben. Und der schöne, schnelle Mann mit den tiefen, braunen Augen und dem Körper eines griechischen Helden hatte den richtigen Riecher zur richtigen Zeit, und zwei Monate nach ihrem letzten gemeinsamen Urlaub hier war der Kauf unter Dach und Fach. Dann war Richard allein losgeflogen um die ersten Vorbereitungen zu treffen und um aufzuschreiben, was es alles zu renovieren gab, als das Flugzeug, das von Madrid-Barajas startete, dreißig Sekunden nach dem Abheben über den rechten Flügel rollte, abstürzte und auf dem Boden explodierte. Irgendetwas mit der Startkonfiguration, tut uns leid, Leute.
Hier in den Bergen Gran Canarias gab es keine Vorbehalte oder Fäuste, die in Hosentaschen geballt wurden. Für Frank stand außer Zweifel fest, dass es auch daran lag, wie sie sich von Anfang an in die Ortsgemeinschaft gefügt hatten. Vielleicht gab es gutmütigen Spott hinter der Hand. Aber nie kam es zu Aggression oder Bosheit ihnen gegenüber. Nach dem Tod von Richard hatte sich die Ortsgemeinschaft um Frank geschlossen wie um einen der ihrigen, und sie hatten ihm Trost und Unterstützung geboten, ohne je das Gefühl von Schuld zu wecken. Frank erwies sich als ruhiger und unauffälliger Expat, der herrlich zynische Artikel verfasste, die ihm schallendes Gelächter und Schultergeklopfe von den Einheimischen einbrachte. Carmelo, der vor einem Monat seinen Militärdienst auf dem Festland beendet hatte, und im Laden seines Onkels aushalf, bis er einen Job in Las Palmas fand, war mehr neckisch als gemein, und seine verhaltene Anzüglichkeit war augenzwinkernd erotisch, jedoch nie vulgär oder aufdringlich. Er beherrschte den Balanceakt zwischen Unschuld und Verlockung und benahm sich nie billig. Frank gab ihm gerne Trinkgeld, weil er ihm damit zeigen konnte, dass er seine Art zu schätzen wusste, doch heute hatte er ihn verpasst und hörte weiter oben das Röhren seines aufgebohrten Auspuffs.
„Weißt du was”, sagte er zu Roscoe, „ich habe heute Lust, mal wieder nach Playa del Inglés zu fahren. Ich saufe mit den alten Tucken in der Schlangengrube, übernachte im Miraflor Park und lecke, so Gott will, den unbehaarten Arsch eines knackigen Jungen. Vielleicht sogar den von Daniel, wer weiß? Und du bleibst hier und bewachst das Haus.”
Roscoe gab ein Schnaufen von sich: Du kannst mich mal, Papa. Du gehst einen drauf machen und ich soll hier Wache schieben? Hast du nen Knall?
Frank nahm die Kühltasche und trug sie in die Küche, räumte den Inhalt in den Kühlschrank, schloss ihn und wog ab, ob es Zeit für einen ersten Cuba Libré ist. Blödsinn, dachte er. Jetzt noch nicht. Sonst bin ich abends völlig tralala. Warte, ich schau mal, wie es um meine Viagra-Vorräte steht. Nicht, dass ich sie brauche, aber lustiger ist's damit trotzdem.
Er machte einen kurzen Abstecher ins Badezimmer, klappte die Holzbox mit den Medikamenten auf und kramte herum, bis er die Schachtel mit dem Viagraersatz Sildenafil fand. Nahm den Streifen heraus und grinste zufrieden. Noch acht Stück drin. Genug, dachte er, um sich lächelnd einen Herzinfarkt anzuzüchten.
Es wurde Abend, der Wind legte sich hinter den Ausläufern des Berges in der Dämmerung zur Ruhe, und für ein paar Minuten war es vollkommen still. Dann durchschnitt ein heiseres Lachen die Stille. Carmelo, dachte Frank und schüttelte den Kopf, als er sich den ersten Drink des Tages zubereitete. Mein Gott, dich würde ich am liebsten aussaugen und mit dem Kopf zwischen deinen Schenkeln sterben. Ach, es würde mir schon genügen, dich vor Lust stöhnen zu hören. Ich alte Schachtel, ich. Draußen warf er einen Blick auf den Monitor des MacBooks und sah, dass er von Daniel Rabenreich eine Chatnachricht über Facebook bekommen hatte. Er klickte den Messenger an und las:
- Was ist? Kommt der Prophet vom Berg heute zu uns in den Dschungel? 22:00, Schlangengrube, auf geht's, Jubel!!! Ich zieh mir sogar die schwarze Armyhose an, auf die du so abfährst *zwinker*
Frank schrieb über den Tisch gebeugt:
- Na klar. Wenn du die geile Militärhose anhast :-).
Daniel antwortete fast augenblicklich:
- Ich nehm heute s Handy mit und film die depperte Ottilie, die streitet ja dauernd ab, dass sie sich so geschissn aufführt, Wenns im Öl is ...
Frank schickte ein
- :-)
und schrieb:
- Wir hauen uns ein paar Cuba Libre rein und stänkern rum, ok?
Er klickte auf SEND, trank, nahm das Glas und ging in das spartanisch eingerichtete Wohnzimmer, wo er in einer Schublade unter dem Fernseher eine Schachtel Zigaretten hatte. Er nahm eine, zündete sie an, blies den Rauch ins Zimmer und dachte: Gut, auf gehts in die Schlangengrube. Er sah Daniels wildes Grinsen und wünschte sich einmal mehr, er könnte dem graziösen jungen Kerl mit der Beinprothese zu einem vollendeten Orgasmus verhelfen und seine Milch schlucken. Frank prustete, schüttelte den Kopf und ging hinaus auf die Terrasse, um die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit zu mit Nichtstun totzuschlagen.
Als der Abend verglomm und der Wind aus den Bergen die Nacht brachte, nahm Frank den Autoschlüssel, sein Portemonnaie und warf einen Blick in den Spiegel, während er durch die Diele zur Tür ging. Er hatte graue Jeans an, ein lockeres Guayabera-Hemd, das er vor vielen Jahren trotz Richards Einspruch in Havanna gekauft hatte (Du willst wirklich wie dieser elende alte Sack Hemingway aussehen? Spinnst du?) und trug graue Segeltuchschuhe. Das Kleingeld für Zigaretten hatte er in der rechten Hosentasche. Nachdem er die Haustür hinter sich zugeklappt hatte, blieb er einen Moment im auflebenden Wind stehen und genoss den Geruch von trockener Erde und Mandeln und die wieselnde, schmeichelnde Wärme der Luft. Sein Auto stand unter einer wild wuchernden Pergola. Früher hatte Roberto die Triebe zurückgeschnitten, und bevor der zauberhaft eitle und diebische Canario das tat, hatte sich Richard darum gekümmert, als sie die Finca noch mieteten, und nur Sommergäste waren. Ich mach das gerne, lass mich. Ich hab im Schuppen hinten die Werkzeuge gefunden. Heute ist Scheißwetter. Ich schneide und du schreibst an deinem Ding weiter, na?
Die laute, lebendige Stimme Richards wurde vom Wind und den Jahren verweht. Frank gab sich einen Ruck und schlenderte zum Wagen. Immer wenn er das tat, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Luftströmung schob Wolkenfetzen über den Berg, die im tiefen Mondlicht ausgefranst leuchteten. Die Stimmung war festlich, und die Nacht war groß. Der Mercedes blinkte und piepste dezent, als Frank ihn mit der Fernsteuerung entriegelte. Stieg ein, ließ alle Fenster nach unten, steckte den USB-Stick mit seiner Playlist in den Anschluss, der sich in der aufklappbaren Mittelkonsole befand, und wählte für die Talfahrt U2 aus. Where the streets have no name in der Live-Version vom Slane-Castle Konzert. Das Grinsen war auf einmal da und Frank konnte nichts dagegen tun. Die Lebensfreude kitzelte ihn im Nacken, so wie Richards Hand ihn früher gekitzelt hatte. Er legte kurz den Kopf in den Nacken, um sich der Hand entgegenzulehnen, die nicht mehr da war und seufzte. Doch das abenteuerliche Funkeln in seinen Augen blieb, als er den Blinker setzte und nach rechts losfuhr. Die GC-60 direkt bis Playa del Inglés.
Weil kein Verkehr war und Frank die Strecke auswendig kannte, drifteten seine Gedanken zu Daniel Rabenreich, dem fünfundzwanzigjährigen Frührentner, der kurz nach ihm auf die Insel übersiedelt war und, obwohl er heterosexuell war, seine Nähe suchte und auch nicht davor zurückschreckte, im Yumbo-Center in der Schlangengrube mit den alten Tunten aus Deutschland und Österreich um die Wette herumzuschweinen – zumindest verbal. Frank kannte Daniel seit seinem fünfzehnten Lebensjahr, als er noch Lehrling in einem Stahlbetrieb war und jeden Montag frühmorgens mit der Linie U3 von Ottakring zum Westbahnhof fuhr, um dort umzusteigen und mit der Linie 6 zur Berufsschule zu kommen. Eines Tages hatte Frank beobachtet, wie Daniel kurz nach der Abfahrt aus der Station Ottakring in einen Streit mit zwei türkischen Jugendlichen geraten war und zweifelsfrei kurz davor stand, verprügelt zu werden. Frank schritt ein, tat so, als ob er einer seiner Lehrer wäre, und schnitt Daniel allein durch seine imposante Größe und Masse von den streitfreudigen Halbwüchsigen ab, die murrend und fluchend und mit obszönen Gesten ausstiegen. Freunde von dir? Von da an nahmen sie sich gegenseitig freundlich zur Kenntnis und nach vier oder fünf gemeinsamen Fahrten gingen sie eines Abends gemeinsam auf ein Bier und Daniel, der gerade in seiner Selbstfindung zwischen Punk, Gothic, Rocker und weichgespültem Jungnazi oszillierte, nahm eher erfreut als bestürzt zur Kenntnis, dass Frank ein schwuler Mann war, der ihn attraktiv fand. Die halbherzigen Flirtversuche von Frank blockte er ab, in dem er sagte, er sei so heterosexuell, dass er lesbisch würde, wenn er eine Frau wäre. Daniel war liebenswürdig in seiner Unausgeglichenheit, er lachte mit aufgerissenen Augen wenn er nervös war, oder nicht wusste, wie er im Moment reagieren sollte, und Frank gestand sich ein, dass er sich in Daniels Gegenwart wie ein Knabenliebhaber vorkam. Daniel hatte ein hübsches, beinahe mädchenhaftes Gesicht mit großen Rehaugen, langen Wimpern und schweren, spanischen Lidern, die ihn stets etwas entrückt wirken ließen, und er versuchte im Lauf der kommenden Jahre, diesen Eindruck zu kompensieren, in dem er sich Piercings durch die Ohren, die Augenbrauen, die Zunge und in den Mundwinkel stechen ließ. Er änderte seine pechschwarze Haartracht von streng nach hinten gezogenem Zopf zu Kurzhaarschnitt, von da zu Irokese und dann zur Stoppelglatze, weiter zum Nazischeitel und dann wieder zu einem Irokesenschnitt, den er flamingorot färbte.
Daniel war Franks Geheimnis, das er vor Richard gehütet hatte. Nicht aus Angst, Richard könnte ihm in die Quere kommen, sondern weil er sich ihm gegenüber geschämt hätte, einzugestehen, dass er Halbwüchsige attraktiv fand. Er fand ja schon sich selbst gegenüber seine eigene Sehnsucht, mit ihm intim zu werden, erschreckend.
Trotzdem hatte er Richard und Daniel miteinander bekannt gemacht und die Geschichte darauf reduziert, dass sie sich angefreundet hatten, als Frank den Jungen davor bewahrte, verprügelt zu werden. Wenn Richard zu dieser Zeit etwas überrissen hatte, dann hatte er es für sich behalten.
Vier Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hatten, besuchte Daniel Frank in der Wohnung. Richard war auf Kur in Badgastein. Sie tranken Bier und Wodka, und auf einmal saß Daniel auf Franks Schoß, presste seine Lippen auf Franks Mund und atmete und führte ihn in einen dröhnenden, erschütternden, speichelnassen, stöhnenden und vollkommenen Zungenkuss, packte Franks Hand und führte sie zu seinem Schoß. Frank griff zu.
Darüber hinaus geschah nichts weiter. Sie starrten sich an, bemaßen einander mit zärtlichen Blicken, dann glitt Daniel von Franks Schoß wie eine Rabenfeder, die vom Wind verweht wurde, nahm sein Bier und dann redeten sie weiter über UFO-Landebahnen, Kristallschädel und moslemische Terroristen.
Danach sahen sie sich seltener. Daniel übersiedelte in einen anderen Bezirk zu einer Freundin, ging zu den Pfadfindern, was Frank einigermaßen verwunderte, und trat einer Gruppe von Leuten bei, die in Wien Geocaching machten. Daniel erzählte Frank etwa ein Jahr nach dem Kuss, dass er ständig in Bewegung sein müsse. Er würde verrückt werden, wenn er nicht laufen könnte, irgendwo hinauf klettern, springen und turnen. So sah er auch aus. Von der Gestalt her war Daniel hager, geradezu hart, mit dünnen, langen und extrem harten Muskeln. Er machte seinen Zivildienst beim Roten Kreuz, dann schloss er seine Gesellenjahre mit der Meisterprüfung ab und bewarb sich bei der Österreichischen Bundesbahn.
Frank und Daniel blieben über Facebook in Kontakt und inzwischen wusste auch Richard von der platonischen Liebe der beiden. Im Februar, zwei Jahre, nachdem er bei der Bundesbahn begonnen hatte, arbeitete Daniel beim Verschub am Wiener Westbahnhof. Er veröffentlichte auf seinem Facebook Profil Fotos seltener Lokomotiven und von sich bei der Arbeit. In der Nacht zum siebzehnten Februar regnete es, dann folgte ein Temperatursturz auf minus elf Grad Celsius. Daniel war in einem Trupp, die einen Güterzug für eine Fahrt nach München zusammenstellte. Er hatte sich einen Irokesenschnitt verpasst, war am ganzen Oberkörper tätowiert und sah inzwischen auf jungmännliche Weise so attraktiv aus, dass sogar Richard anmerkte, er würde sich schon mal von dem kleinen Scheißer durchnudeln lassen.
„Der hat einen dreckigen Blick, Schatz!”, hatte er mit erstaunter Anerkennung zu Frank gesagt.