Die Jahre der Gutsherrin - Fabia Waldner - kostenlos E-Book
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Die Jahre der Gutsherrin E-Book

Fabia Waldner

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Beschreibung

Im Land der tausend Seen.

Müritz, 1938: Als die junge Lehrerin Margot den Gutsbesitzersohn Karl-Friedrich von Bernow kennenlernt, ist es nicht gerade Liebe auf den ersten Blick. Doch er gibt nicht auf, und als er ihr sein Herz öffnet, sieht Margot ihn mit anderen Augen. Nur seine Mutter ist alles andere als begeistert von der Wahl ihres Sohnes. Doch bald rücken die Anfangsschwierigkeiten in den Hintergrund, denn der Krieg bricht aus und die Verantwortung für das Gut liegt nun auch in Margots Händen. Sie hält zu ihrem Mann, was allerdings in der Nacht vor ihrer Flucht im Jahr 1945 geschieht, darüber schweigt sie zeit ihres Lebens – nur Helma, das ehemalige Küchenmädchen der Bernows, kennt ihr Geheimnis ...

Auftakt der deutsch-deutschen Familiensaga – wirklichkeitsnah und emotional erzählt.

Das Buch "Die Gutsherrin" beinhaltet die beiden E-Books "Die Jahre der Gutsherrin" und "Im Namen der Gutsherrin". 

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Über das Buch

Müritz, 1938: Als die junge Lehrerin Margot den Gutsbesitzersohn Karl-Friedrich von Bernow kennenlernt, ist es nicht gerade Liebe auf den ersten Blick. Doch er gibt nicht auf, und als er ihr sein Herz öffnet, sieht Margot ihn mit anderen Augen. Nur seine Mutter ist alles andere als begeistert von der Wahl ihres Sohnes. Doch bald rücken die Anfangsschwierigkeiten in den Hintergrund, denn der Krieg bricht aus und die Verantwortung für das Gut liegt nun auch in Margots Händen. Sie hält zu ihrem Mann, was allerdings in der Nacht vor ihrer Flucht im Jahr 1945 geschieht, darüber schweigt sie zeit ihres Lebens – nur Helma, das ehemalige Küchenmädchen der Bernows, kennt ihr Geheimnis.

Auftakt der deutsch-deutschen Familiensaga – wirklichkeitsnah und emotional erzählt

Über die Autoren

Fabia Waldner steht für den deutschen Autor Michael Schulz. Im rheinischen Bonn geboren, brennt er bereits früh für Literatur, Philosophie und Musik. Zunächst entscheidet er sich für die Musik. Nach einem Studium am Mozarteum in Salzburg führt ihn sein Weg in die Welt der Oper. Doch dann entdeckt er das Schreiben für sich. Heute lebt und schreibt der Autor bei Goslar im Harz.

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Fabia Waldner

Die Jahre der Gutsherrin

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Im Land der tausend Seen

1: Bonn, April 1998

2: Neustrelitz, April 1938

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

8: Bonn, April 1998

9: Groß Bernow, Sonntag, der 21. August 1938

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

15: Montag, 21. April 1945

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

19: Bonn, 21. August 1998

Die Burg

1: Groß Bernow, 21. August 1998

2: Groß Bernow, Dienstag, der 22. April 1945

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

7: Groß Bernow, 21. August 1998

8: Groß Bernow, Spätsommer 1945

Kapitel 9

Kapitel 10

11: Groß Bernow, Ende August 1998

12: Groß Bernow, Juli 1954

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

18: Groß Bernow, September 1998

Kapitel 19

Von Herzen danksagen möchte ich:

Impressum

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Für Sonja und zur Erinnerung an Margarete Danke

Im Land der tausend Seen

1

Bonn, April 1998

Während der Fahrt auf der Adenauerallee schwiegen sie. Doch eine Spannung lag in der Luft, die nicht nur Margot spürte. Offenbar wusste auch Anja nicht, weshalb dieser Empfang heute Abend stattfinden sollte. Immer wieder warf sie Hartwig vom Beifahrersitz aus einen fragenden Seitenblick zu, ohne jedoch nur die geringste Reaktion bei ihm hervorzurufen.

Der Anlass musste außergewöhnlich sein, hätte er sonst einen solchen Aufwand betrieben? Vielleicht war er zurück auf der Manager-Bühne oder hatte wieder einen Aufsichtsratsposten ergattert. Jedenfalls war es ihm zu gönnen nach dem unrühmlichen Abschied bei der CONTAC vor einem Jahr, dachte Margot. Für sie hatte es ganz nach einem Scheitern ausgesehen. Wahrscheinlich wollte sich Hartwig jetzt rehabilitieren und das in aller Form, wie es sich für einen von Bernow gehörte. Welchen Grund sollte er sonst haben? Vor seiner alten Mutter wäre es allerdings nicht nötig gewesen, ein Geheimnis daraus zu machen. Margot hatte nie aufgehört, an ihn zu glauben, und stand wie immer hinter ihm, auch wenn er sich in letzter Zeit kaum bei ihr hatte blicken lassen. Sie seufzte.

Der Wagen, ein Mercedes mit cremefarbenen Lederpolstern, rollte kaum hörbar die Allee entlang, vorbei an der schmutzig gelben Sandsteinfassade des Museum König. Der klassizistische Bau erinnerte sie unweigerlich an den Alten aus Rhöndorf, den sie noch selbst erlebt hatte. Die Zeit eilte. Ihr Achtzigster lag bereits vier Jahre zurück.

Traurig, ja, ausgesprochen traurig fand sie es, dass sie die Familie nur selten sah, wo Margot ihre Enkel doch so liebte. Immer schützten sie vor, beschäftigt zu sein. Das lag zweifellos an Anja, ihrer Schwiegertochter. Wenn ihr der Zusammenhalt der Familie mehr am Herzen läge, dann würden Sabrina und Jani sie sicherlich öfter in der Rheinresidenz besuchen. Das musste sie auch Hartwig vorwerfen. Es genügte eben nicht, seine alte Mutter mit einem monatlichen Scheck zu bedienen. Sie war schließlich ein Mensch, den man nicht einfach abstellen konnte wie ein ausgedientes Möbel.

Musik. Vivaldi, »Der Sommer« aus den Vier Jahreszeiten. Hartwig wusste, dass er zu ihren Lieblingskomponisten gehörte. Er lächelte kurz in den Rückspiegel. Wieder dieser Glanz in seinen Augen. Keine zwei Wochen war es her, dass er bei ihr erschienen war. Sie hatte das Klopfen an der Tür gar nicht gehört. Plötzlich stand er im Zimmer, strahlend, wie sie ihn selten erlebt hatte. »Was hast du? Was ist los?«

»Keine Sorge, du wirst es rechtzeitig erfahren. Nur eins will ich jetzt schon verraten: Es wird einen Empfang im Dreesen geben, zu dem ich dich hiermit in aller Form einlade.«

Wirklich eine Überraschung. Die Wahl des Traditionshotels und dann der Aufwand. »Heraus mit der Sprache!«, hatte sie noch einmal versucht, mehr zu erfahren. Obwohl ihm die Selbstzufriedenheit aus allen Knopflöchern platzte, verriet er kein Wort. Zuerst vermutete sie, dass es sich um die Feier seiner Silberhochzeit handelte, aber dann hatte sie nachgerechnet und festgestellt, dass er mit Anja erst dreiundzwanzig Jahre verheiratet war.

»Warum so laut?«, beschwerte sich Anja, und Hartwig drehte die Musik etwas leiser. Typisch Anja, immer passte ihr irgendetwas nicht, und stets versuchte sie, ihren Willen durchzusetzen. Margot hatte die Musik keineswegs für zu laut befunden, immerhin handelte es sich um Kunst; wenn man Pop-Musik laut hören konnte, warum nicht auch klassische Musik?

Vielleicht hatte Anja auch genug vom Rätselraten. Hartwig ließ sich nach wie vor nicht aus der Reserve locken, offenbar hob die Spannung seine Laune. Ein Kindskopf war er immer schon gewesen und ein sturer dazu, dachte Margot.

In dem Augenblick bog der Wagen in Richtung Rheinufer ab. Am Himmel über dem alten Hotel Dreesen vollzog sich eine melancholische Dämmerung, und die alten, noch blattlosen Pappeln warfen lange Schatten, als sie vor dem hell erleuchteten Hoteleingang vorfuhren. Man hielt ihr den Schlag auf, ganz wie in alten Zeiten, und bereits nach wenigen Schritten im Foyer las Margot neben der geöffneten Tür zum Gobelinsaal: Geschlossene Gesellschaft, Familie von Bernow.

Ein glitzernder Kronleuchter, edel gemusterte Tapete, historische Stiche an den Wänden, poliertes Mahagoni-Gestühl, die Tafel mit Damast und Silber eingedeckt. Stil, den Margot zu schätzen wusste. Man hatte sie links neben ihren Sohn platziert, der – wie es sich für das Oberhaupt der Familie gehörte – am Kopf der Tafel saß. Zu ihrer Rechten saß Jan, ihr Enkel, der im letzten Augenblick auftauchte. Wenn sie Hartwig und Jan so betrachtete, erfüllte es sie mit Stolz. Sie war sich sicher, dass Jani eine ebenso erfolgreiche Karriere bevorstand wie seinem Vater. Er war zwar erst 18, aber kürzlich hatte er ein respektables Abitur hingelegt. Dafür hatte Margot ihm einen Hunderter spendiert, den Leistungswillen des Nachwuchses musste man schließlich unterstützen.

»Wenn es denn sein muss«, hatte Margot auf Hartwigs Bitte hin, unbedingt an diesem Empfang teilzunehmen, erwidert. Natürlich hatte sie sich über die Einladung gefreut, wollte nur ihre Rührung verbergen, dass er immer noch Wert darauf legte, sie an seinen Erfolgen teilhaben zu lassen. Er war so geraten, wie man sich einen Sohn wünschen konnte, auch wenn er in seiner Ehe nicht den besten Griff getan hatte. Mit Anja war sie von Anfang an nicht warm geworden. Nichts ließ sie sich sagen, wobei Margot es doch nur gut meinte. Vor allem in Sachen Erziehung. Ihre Meinung, dass man junge Menschen früh in die richtigen Bahnen lenken müsse und ihnen nicht zu viel Freiheiten lassen dürfe, traf auf viel Widerspruch bei ihrer Schwiegertochter. Sie halte das für Methoden von gestern, hatte Anja ihr ohne jedes Taktgefühl ins Gesicht gesagt.

Ein silberheller Klang, und das Raunen im Saal verebbte. Hartwig erhob sich von seinem Platz.

»Liebe Familie, liebe Freunde«, begann er in selbstbewusstem Ton. Es ging ihm also wieder gut. Nachdem er vor einigen Wochen geäußert hatte, dass das Leben auch andere Facetten habe, als um jeden Preis zweistellige Renditen zu erzielen, hatte sich Margot ernsthaft Sorgen gemacht.

»Manchmal stellt einen das Leben zur richtigen Zeit vor lohnende Aufgaben. Man könnte das als Glück bezeichnen«, fuhr Hartwig fort. »Dazu gehört allerdings der Mut zuzugreifen. Man muss Ja sagen können. In diesem Fall gab es für mich nicht den geringsten Zweifel.«

Sein Blick traf liebevoll Anja, die rechts neben ihm saß, wechselte dann zu Sabrina, seiner Tochter, Jan und jetzt zu ihr, seiner Mutter. Er sah ihr tief und lange in die Augen, als seine Stimme plötzlich bebte. »Es ist mir eine unsagbare Freude, euch heute Abend mitteilen zu können, dass es mir gelungen ist, ein Stück Geschichte zu retten. Eine Vergangenheit, aus der ich Zukunft machen will.«

Was das wohl heißen mochte?, dachte Margot.

»Hört, hört!«, warf einer der Gäste gut gelaunt ein.

»Wenn die Immobilienabwicklungen im Osten etwas Gutes gebracht haben, dann das: Ich habe unseren alten Familienbesitz wiedergefunden, und man hat ihn mir zum Kauf angeboten. Das alte heruntergekommene Gut stand plötzlich vor mir. Rette mich, mach etwas aus mir!, forderte es mich auf. Und ich wusste: Das ist die Chance deines Lebens. Die kannst du dir nicht entgehen lassen.«

Margot schluckte. Hatte sie richtig gehört? Das sollte doch nicht etwa heißen …?

»Gut Groß Bernow an der schönen Müritz ist wieder Teil unserer Familie. Ich werde es zusammen mit Anja aufbauen, und ihr seid alle willkommen, uns dort oben an den tausend Seen zu besuchen.« Mit Tränen in den Augen wandte er sich jetzt an sie. »Es erfüllt mich mit besonderem Stolz, liebe Mutti, dass ich zurückgeben kann, was man dir damals gestohlen hat. Darauf lohnt es sich anzustoßen!«

Während Margot noch immer wie erstarrt dasaß, bemerkte sie, dass auch Anja dreinblickte, als glaube sie nicht, was sie da hörte. Sabrina und Jan hingegen schienen die Neuigkeiten gleichmütig entgegenzunehmen, nur die Gäste jubelten begeistert los. Hartwig suchte immer wieder ihren Blick, doch Margot mied es, ihm in die Augen zu sehen. Er hatte ja nicht die geringste Ahnung!

Nur noch Schemen verband sie mit Groß Bernow. Als Hartwig noch ein kleiner Junge war, hatte sie entschieden, über die Geschehnisse, die sich dort vor über einem halben Jahrhundert ereignet hatten, zu schweigen. Ihr Sohn sollte unbelastet in die Zukunft schauen können. Von goldenen Zeiten hatte sie ihm erzählt und seinen Vater als einen fähigen und gerechten Gutsherrn auf einen Heldensockel gestellt. Es sollte Hartwig anspornen, er sollte Karriere machen, um den Namen der Familie wieder reinzuwaschen. Doch durch diesen unglückseligen Kauf würde nun ans Licht kommen, wie die Bernows ihre Ehre verloren hatten …

Der Kronleuchter goss sein gleißendes Licht über Margot aus. Hastig trank sie einen Schluck Weißwein, aber der Alkohol verstärkte den Schwindel in ihrem Kopf nur. Die Zeit lief unaufhaltsam rückwärts, und an dem Tag, an dem alles begonnen hatte, setzte ihre Erinnerung ein.

2

Neustrelitz, April 1938

»Sie haben das Zeug zum Filmsternchen, liebes Fräulein Schenk«, sagte Lavinia Lindorf und hob am Ende etwas die Stimme, um zu einer ihrer gefürchteten Pointen anzusetzen. »Im Gegensatz zu mir. Die Fischgräte muss erst erfunden werden, die mich in die Form einer Greta Garbo presst.«

Wer hätte geahnt, dass sie diesmal auch vor sich selbst nicht haltmachen würde? Aber die Situation war doppelt so gefährlich, als wenn sie über jemanden anderes herzöge, denn darüber zu lachen, wäre verhängnisvoll gewesen. Margot tauschte lediglich einen vielsagenden Blick mit der Schneiderin, die neben ihr stand. Die Gnädige hatte ja den Nagel auf den Kopf getroffen, sie ähnelte eher einer Doppelgängerin der seligen Queen Victoria als der ranken Garbo.

Wenn sich Lavinia Lindorf in dieser wankelmütigen Laune befand, entschuldigte sich Margot meistens bei nächster Gelegenheit und verzog sich auf ihr Zimmer. Doch heute war sie dazu verdonnert, wie eine Statue auf einem Fußschemel im kleinen Salon auszuhalten, damit die Gnädige und die Schneiderin mit den traurigen Augen an ihr picken konnten wie zwei Hennen an einem Salatkopf.

»Sehr schön! Nur die Schultern wirken ein bisschen schmal. Das müssen wir noch ändern, Inge. Schließlich soll es etwas hermachen, oder?«

Die Schneiderin nickte ergeben und bauschte etwas die angesprochenen Stellen, bis ihre Auftraggeberin zufrieden war.

Margot hatte versucht, das ehrenhafte Angebot abzulehnen, die Lindorfs in diesem Jahr auf den Gutsherrenball zu begleiten. Sie fand sich dort fehl am Platz, sie war doch nur die Hauslehrerin. Aber Lavinia Lindorf hatte es sich in den Kopf gesetzt, und wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, konnte niemand etwas dagegen ausrichten. Nicht einmal ihr Mann, August Lindorf, Herr über drei imposante Güter, Lohn- und Brotgeber unzähliger Arbeiter und Arbeiterinnen und Besitzer einer Horch-Limousine, würde es wagen, etwas gegen die Wünsche seiner Frau einzuwenden, solange sie dabei nicht den Himmel über Neustrelitz einriss.

»Natürlich sind solche Bälle ziemlich langweilig«, hatte sie auf Margots Zurückhaltung erwidert. »Die Männer reden nur über Geld und Politik. Aber Sie sollten sich rechtzeitig daran gewöhnen. Solange es Männer gibt, wird sich wohl kaum etwas ändern. Immerhin wird auch getanzt, und man erfährt den neuesten Klatsch. Ich habe das Gefühl, dass Sie hier allmählich versauern, meine Liebe. Sie müssen mal andere Gesichter sehen.«

Um den Eindruck zu vermeiden, sie würde das Angebot nicht zu schätzen wissen, hatte Margot schließlich zugesagt. Außerdem spürte sie bereits seit Längerem, dass Lavinia Lindorf eine Verbündete suchte, jemanden, der nicht auf den Kopf gefallen war, vor allem gut zuhören konnte und keine Konkurrenz für sie darstellte. Der Haushalt der Gutsherrin hatte immer nur aus Männern bestanden, wovon zwei übrig geblieben waren: August, ihr Gatte, der wochentags zwischen seinen Gütern hin und her pendelte, um nach dem Rechten zu sehen, und Walter, ihr Walterchen, der achtjährige Nachkömmling, den sie noch mit fast vierzig bekommen hatte, als sie, nach eigenen Worten, längst nicht mehr ans Kinderkriegen dachte. Die beiden älteren Söhne studierten mittlerweile in Berlin und ließen sich nur selten blicken. Wem sollte sie also ihr Herz ausschütten? Margot wollte dieses Vertrauen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Endlich ließen die beiden Frauen von ihr ab. Für heute schien die Gnädige zufrieden zu sein. Als Margot sich in ihrem Prinzesskleid noch einmal um die eigene Achse drehte und in den Spiegel sah, konnte sie dem anerkennenden Blick von Lavinia Lindorf nur zustimmen: Es machte ganz schön was her.

*

Samstag, der 23. April, der Tag, an dem der Gutsherrenball stattfinden sollte, war gekommen. Auf dem Weg nach Groß Bernow saß Margot aufgeregt neben Lavinia Lindorf in den roten Lederpolstern der Horch-Limousine. Schon in der Nacht zuvor hatten sie unruhige Träume befallen, in denen ein Ballsaal vorkam so groß wie das Olympiastadion von Berlin. Unter aller Augen tanzte sie in der Mitte des Parketts in den Armen eines gestrengen Gutsherrn, der noch im Deutsch-Französischen Krieg gedient hatte und dessen Bart bis zu ihren Schuhen reichte. Doch da machten ihre Beine plötzlich, was sie wollten, mal brachen sie nach links, mal nach rechts aus, wie die eines eigensinnigen Fohlens. Die Augen des alten Gutsherrn funkelten sie zornig an, und ihr Herz schlug bis zum Hals.

»Sehen Sie aus dem Fenster, meine Liebe. Manchmal kann einem dieses Fleckchen Erde geradezu gefallen«, sagte Lavinia Lindorf. Die Landschaft sah wirklich schön aus. Die sinkende Sonne blinkte über dem Wasser der Seen, die immer wieder zwischen den Bäumen hindurchschimmerten. An die tausend sollten es sein.

»Andererseits kann es einen reichlich anöden, dieses Leben auf dem Lande, besonders wenn man als Frau einige Hirnwindungen mehr hat, als die Männerwelt einem zugestehen möchte. Ich will damit nicht sagen, dass ich … Hoppla, was ist denn jetzt los?«

Das Horch-Mobil fing plötzlich an zu schnaufen, der Motor stotterte und der Wagen verlor rapide an Geschwindigkeit, bis er schließlich liegen blieb und keinen Ton mehr von sich gab.

»Merde«, fluchte Lavinia Lindorf, was die Lage zweifellos auf den Punkt brachte.

Margot wäre nie eingefallen, auch nur die kleinste Bemerkung zu machen, denn August Lindorf persönlich fuhr den Wagen. Er gab sich gerne modern und verzichtete von Zeit zu Zeit auf den Chauffeur. Ausgerechnet heute saß er am Steuer, und weit und breit nur Felder, Wiesen und Wasser.

Etwa eine halbe Stunde lief August Lindorf händeringend auf und ab, bis glücklicherweise ein Landmann mit Pferdegespann vorbeikam, der die Stahlkarosse mitsamt Inhalt abschleppte und ins Dorf brachte. Mit starker Verspätung erreichten sie Groß Bernow in einer Kutsche, die noch aus der Kaiserzeit stammte. Passend, wie Lavinia Lindorf fand, denn in dieser Gegend herrsche immer noch finsterstes Mittelalter.

Als die Kutsche in die Dorfstraße von Groß Bernow einfuhr, war es fast dunkel. Aus den kleinen Fenstern der einstöckigen Arbeiterhäuser links und rechts des Wegs drang das friedliche Licht des Feierabends. Plötzlich schlugen die Hufe der Pferde auf Pflastersteine, und an den Seiten erhoben sich die Silhouetten alter Bäume mit weiten ineinandergreifenden Kronen. Auf die Allee folgte eine kurze Strecke mit knirschendem Schotter, bis der Kutscher einen weiten Bogen fuhr und mit einem lauten »Ho!« den Wagen unter dem Vordach zum Stehen brachte. Ein Diener öffnete das Abteil, und Lavinia Lindorf entstieg ihm als Erste mit einem tiefen Seufzer, denn sie hasste Unpünktlichkeit.

Von außen machte das Haus den Eindruck eines historischen Adelssitzes, obwohl es noch keine hundert Jahre alt war. Auch von innen wirkte es prachtvoll, insbesondere das offene Treppenhaus mit den breiten Marmorstufen und die verspielten Stuckaturen an den Decken. Dagegen fehlte es den schmucklosen Bauten der Lindorf’schen Güter eindeutig an Charakter, was Margot den Gnädigen gegenüber natürlich nie erwähnt hätte.

Ein Herr Ende fünfzig trat ihnen entgegen, am Arm führte er eine imposante Frau mit unbewegtem Blick, ganz in dunkle Spitze gehüllt. Es konnte sich nur um die Bernows handeln, denn August Lindorf war sehr um Form bemüht.

»Lieber Hermann, liebe Therese«, begann er. Darauf folgte eine ebenso lange wie umständliche Entschuldigung für die Verspätung, die von den beiden Bernows mit einem Kopfnicken angenommen wurde.

»Wir haben bereits gegessen«, erwiderte Therese von Bernow schließlich, »aber ich werde die Küche noch einmal anweisen.«

Hermann von Bernow bot ihnen an, sich frisch zu machen, ebenso natürlich eine Übernachtung, wenn nötig. Er wolle einen gewissen Leutnant von Trewall und dessen Freund, der einiges von Autos verstehe, bitten zurückzufahren, um den Horch wieder flottzukriegen und nach Groß Bernow zu bringen. Lavinia Lindorf stellte Margot als enge Freundin vor, die ihr den Gefallen tue, ihrem Walterchen mehr beizubringen als das Schreiben von Viehfutterlisten und die richtige Antwort auf die Frage, wie viele Kilos einen Zentner ergeben.

Das Essen wurde in einem kleinen Nebensalon serviert, der mit seinen gedrechselten Nussbaummöbeln den Charme der Jahrhundertwende ausstrahlte.

»Dass es diese muffigen Salons immer noch gibt«, kommentierte Lavinia Lindorf, deren Laune offenkundig gelitten hatte. »An manchen Orten bleibt die Zeit einfach stehen.«

August Lindorf aß den Fasan stumm in sich hinein. Auch Margot konzentrierte sich auf ihren Teller. Zuerst die peinliche Verspätung und jetzt das einsame Mahl. Ob es noch Hoffnung gab für diesen Abend?

Altmodische Walzerklänge, gespielt von einem Klaviertrio, drangen durch den Spalt der nur angelehnten Tür, ein junger Diener erschien. »Wenn die Herrschaften fertig sind, soll ich Sie in den großen Salon führen.«

Margot erinnerte sich an ihren Traum, wahrscheinlich wartete der Veteran mit dem langen Bart bereits auf sie. Als die Lindorfs und sie wenig später den Saal betraten, schien er sich zu bewahrheiten. Auf dem Parkett drehten artig einige Paare der älteren Generation ihre Runden, ganz, wie Margot es befürchtet hatte. Aber auch einige ansehnliche Männergestalten im Hintergrund schwenkten nun ihre Blicke zu ihr herüber.

Am unteren Ende des Raumes thronten die alten Bernows wie ein altes Königspaar auf Stühlen mit hohen geschnitzten Lehnen und verfolgten gönnerhaft das Geschehen. An ihrer Seite ein etwa dreißigjähriger, hochgewachsener Mann mit der Ausstrahlung einer Standuhr.

Er sei der Sohn der Bernows, das einzige Kind, unverheiratet und der Erbe des Gutes und der riesigen Ländereien, flüsterte ihr Lavinia Lindorf zu. Da die Lindorfs ihn noch nicht begrüßt hatten, holten sie es umgehend nach. August Lindorf klopfte dem jungen Bernow freundschaftlich auf die Schulter, während der nur ein verhaltenes »Herzlich willkommen« herausbrachte.

»Darf ich Ihnen Fräulein Schenk vorstellen, eine gute Freundin von mir«, erhob jetzt Lavinia Lindorf ihre Stimme, während Margot spürte, wie sie errötete.

»Karl-Friedrich von Bernow«, erwiderte er korrekt und reichte Margot seine große Rechte, die sich kalt anfühlte und etwas feucht. Margot sah ihm nicht in die Augen, spürte aber seinen Blick, der noch immer auf ihr ruhte, als sich Lavinia Lindorf auch bei ihm für die Verspätung entschuldigte, um mit den Worten zu enden: »Fortschritt hin, Automobil her, das Schlimme an den Erfindungen der Menschen ist, dass sie sich am Ende alle gegen sie selbst wenden, finden Sie nicht?«

Frau von Bernow, die eigentlich nicht angesprochen war, sah sich genötigt, ihrem Sohn die Antwort abzunehmen. »Zumindest«, sagte sie, wohl im Hinblick auf die Verspätung und nicht ohne Vorwurf in der Stimme, »wäre es töricht, sich blind darauf zu verlassen.«

Es gab noch freie Stühle am Rand der Tanzfläche, wohin der junge Bernow sie begleitete. Mittlerweile spielte man Tangos und Foxtrotts.

»Ich würde mich freuen, Sie gegebenenfalls zum Tanz bitten zu dürfen«, sagte Karl-Friedrich von Bernow plötzlich zu Margot, nachdem er sich noch einmal zu ihr umgedreht hatte. Er war bereits auf dem Weg zurück zu seinem Platz bei den Eltern gewesen.

»Gern«, stammelte sie etwas überrumpelt, war sich aber nicht sicher, ob sie es auch meinte. Denn zusammen mit der unterkühlten Ausstrahlung schien der junge Bernow auch den Humor seiner Mutter geerbt zu haben.

Der Erste, der sie tatsächlich zum Tanz aufforderte, war August Lindorf, aber bereits nach kurzer Zeit war ihre Bilanz verheerend. Mindestens drei Mal war sie ihrem Lohn- und Brotgeber auf die Füße getreten. Er mokierte sich nicht darüber. »Besser, Sie tun es bei mir als später bei einer der alten Mumien«, flüsterte er ihr beim vierten Mal zu, und sie mussten beide lachen.

Auf August Lindorf folgten ein halbes Dutzend reichlich anstrengender Tänzer der alten Schule. Margot schlug sich jedoch besser, als sie befürchtet hatte. Die meisten wollten ohnehin nur herausfinden, was sie mit den Lindorfs verband, und sie musste erfinderisch sein, um ihre Herkunft als Tochter eines mittellosen Gemischtwarenhändlers aus Rostock und ihre jetzige Stellung als Hauslehrerin zu verschleiern.

Ein Diener ging durch den Saal und reichte auf einem runden Tablett Schnäpse und Liköre. Als sich die meisten Herren mit ihrem Glas in den anschließenden Salon zurückzogen, um zu rauchen, konnte auch Margot eine Pause einlegen. Inzwischen war Leutnant von Trewall zurück und setzte sich zu ihnen. Allerdings hatte er keine guten Nachrichten. Es läge ein Motorschaden vor, teilte er August Lindorf mit, und der Wagen könne nicht vor Montag in der Werkstatt sein. Sie würden also auf Groß Bernow übernachten müssen.

Endlich ein Mann, an den es lohnte, einen Blick zu verschwenden, dachte Margot, als der Leutnant sich zu ihnen gesellte. Und endlich ein Mann ihrer Generation, der Unternehmungsgeist und Energie versprühte, von seinem blendenden Aussehen ganz abgesehen. In diesem Moment war sie froh, dass sie sich von Lavinia Lindorf hatte überreden lassen, auf den Ball zu gehen. Und Trewall schien sich auch für sie zu interessieren.

»Amüsieren Sie sich?«, sprach er sie an. Die Ironie, die in der Frage lag, war unüberhörbar, und sie antwortete nicht darauf. Als Hauslehrerin stand ihr Kritik nicht zu. Aber sie schmunzelte und senkte den Blick, um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte, wie er es meinte. Diese Art von Belustigung war einfach nichts für junge Leute von heute, doch was konnten sie schon gegen die Tradition ausrichten?

Allein dieser Mann ließ Margot das alles auf einen Schlag vergessen. Sie fühlte sich, als habe man ihr etwas verabreicht, das Herzklopfen verursachte und einem unvernünftige Gedanken in den Kopf setzte. Lavinia Lindorf hatte recht – wie grau ihre Tage als Hauslehrerin doch waren, und wie sehr hatte sie diese Abwechslung gebraucht!

»Darauf sollten wir trinken. Likör für die Dame?« Trewall fischte zwei Gläser vom Tablett des Dieners, der gerade vorbeikam, und stieß mit ihr an.

»Ach, bitte entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Bernhard von Trewall, und wie heißen Sie?«

Natürlich kannte Margot bereits seinen Namen, man hatte ihn ja von allen Seiten angesprochen. Alter Adel vermutlich. Wenn sie sich jetzt mit ihrem richtigen Namen vorstellte, würde er vermutlich im Nu das Interesse verlieren. Es blieb nur ein Ausweg: »Margot von und zu Schenk.«

»Bravo, Kindchen, nur nicht unterkriegen lassen«, mischte sich Lavinia Lindorf lachend in ihr Gespräch ein. Trewall lachte auch, ein offenes, unbeschwertes Lachen. Es schien für ihn keine Rolle zu spielen, ob Adel oder nicht. Vielleicht konnte aus dem Abend noch etwas werden.

Einen hatte Margot dabei völlig vergessen, und er stand plötzlich vor ihr: Karl-Friedrich von Bernow. »Sie hatten mir einen Tanz versprochen«, sagte er, als handelte es sich um die Erfüllung eines Staatsvertrags, und hielt Margot seinen Arm hin.

Lieber hätte sie sich weiter mit Trewall unterhalten und mit ihm ein bisschen geschäkert. Warum musste jetzt dieser Trauerkloß kommen und alles verderben? Aber wenn sie der Sohn des Hauses zum Tanz aufforderte, durfte sie es schon im Namen der Lindorfs nicht ablehnen.

Während sie sich über das Parkett bewegten, sprach der junge Bernow kein Wort, schien nur auf seine Schritte zu achten. Ihr fiel auf, dass sich seine Hände kalt anfühlten, auf seiner Stirn hingegen standen kleine Schweißperlen. Erst als die Musik wieder einen Tango spielte und sich zu den Musikern ein Sänger gesellt hatte, der mit hoher Stimme »Oh, Fräulein Grete« säuselte, fand er plötzlich zur Sprache zurück und fragte: »Heißen Sie Grete?«

»Nein, ich heiße Margot«, antwortete Margot verwundert.

»Ich kenne kein Lied, das von einer Margot handelt.«

Wie er das wohl meinte? Sie hieß nun einmal Margot, und es war ihr ziemlich egal, ob er ein Lied kannte, das von einer Margot handelte, oder nicht.

»Ich kenne auch keins von einem Karl-Friedrich.«

Darauf erwiderte er nichts, und sie tanzten schweigend weiter, bis Leutnant von Trewall den jungen Bernow abklatschte und Margot erlöste. In Trewalls Armen tanzte es sich beschwingt, auch wenn sich Margot eine andere Musik gewünscht hätte, Musik, die einen abheben ließ wie ein Flugzeug. Er habe sie noch nie auf einem der Bälle gesehen, sagte Trewall schließlich und fragte, ob sie zu Gast bei den Lindorfs sei. Margot vertraute ihm an, seit zwei Jahren bei den Lindorfs als Hauslehrerin eines ziemlich verwöhnten Bengels angestellt zu sein. Manchmal treibe Walterchen sie an den Rand ihrer Nerven, müsse aber wie eine Porzellanpuppe behandelt werden, weil er der Augapfel seiner stolzen Mutter sei.

»Kinder sind etwas Schönes«, erwiderte der Leutnant. »Oder sind Sie da anderer Meinung?«

Diesmal klang es nicht ironisch. »Natürlich nicht«, antwortete sie. »Aber manchmal muss man sich einfach mal etwas von der Seele reden.«

Der Leutnant lächelte und umfasste ihre Hüften noch enger. Bei einem langsamen Walzer an seine Schulter gelehnt dachte sie zurück an ihre Kindheit, an die romantischen Mädchenträume, in die sie sich geflüchtet hatte, wenn ihr die fünf Geschwister, ihre überforderte Mutter und der immer sorgenvolle Vater zu viel wurden. In ihren Mädchenträumen kam auch ein Leutnant vor, der sie in seinen Armen hielt – oder war es ein General?

»Wir haben gleich noch etwas vor«, flüsterte Trewall. »Vielleicht haben Sie Lust mitzumachen?«

»Wenn es nichts Verruchtes ist, warum nicht?«

»Was Sie gleich denken. Lassen Sie sich überraschen.«

Sie kicherte und bekam Schluckauf.

Inzwischen war es fast elf, die älteren Herrschaften begannen sich zu verabschieden. Auch die Lindorfs zog es in den ersten Stock des Hauses, wo Lavinia Lindorf gedachte, sich von dem turbulenten Tag zu erholen, wie sie sagte. Die jüngeren Gäste blieben im Saal zurück, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet. Margot schloss sich ihnen an, und als sich auch die alten Bernows verabschiedet hatten, gab ein junger Mann in Uniform den Musikern ein Zeichen. Die ergriffen ihre Noten, packten Geige und Cello ein und verschwanden.

»Liebe Freunde«, rief der junge Mann enthusiastisch. »Lasst uns den Anschluss Österreichs an das Großdeutsche Reich feiern. Auch wenn das bereits im März gewesen ist, hier an den tausend Seen passiert ja alles fünfzig Jahre später.«

Gelächter und Applaus. »Amüsiert euch. Ich hoffe, dass uns der Führer verzeiht, wenn wir heute Abend nicht die ›Meistersinger‹ hören. Für Getränke ist reichlich gesorgt.«

Ein Schallplattenspieler spuckte jetzt die Musik aus, die Margot sich gewünscht hatte, Musik zum Fliegen. Sektkorken knallten, Weinbrand wurde herumgereicht.

»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, wandte sich der schwarz Uniformierte, der gerade den flotten Spruch vom Stapel gelassen hatte, an Margot. Er schien ein Freund von Trewall zu sein. »Willst du mir die Dame nicht vorstellen, Bernhard?«

»Wenn sie älter als einundzwanzig ist, kann sie das selbst tun. Ich werde sie fragen.«

»Du wirst doch eine Dame nicht nach ihrem Alter fragen.«

Margot lachte und stellte sich vor.

»Untersturmführer Kratz, aber Sie können Günter zu mir sagen.«

Ein lockerer Ton, gute Musik und spritzige Getränke, dazu von zwei gut aussehenden Männern umworben zu werden, die sich nicht das Geringste daraus machten, dass sie ihnen beim Tanzen auf die Füße trat – nie hätte Margot das zu hoffen gewagt.

Der Morgen dämmerte bereits, als sich die Gesellschaft auflöste. Margot war ganz schwindelig vom Tanzen und dem vielen Alkohol. Trewall begleitete sie, und während sie sich Arm in Arm der Saaltür näherten, fiel Margot eine hochgewachsene Männergestalt auf, die allein in einem Ledersessel in der Nähe des Kamins saß. Es war Karl-Friedrich von Bernow, und Margot entging nicht die Enttäuschung, die in seinem Blick lag.

3

Am nächsten Morgen traute sich Margot kaum, die Augen zu öffnen. Sie erinnerte sich nicht mehr genau daran, wie die letzte Nacht zu Ende gegangen war. Zweifellos hatte sie über die Stränge geschlagen, und sie konnte nur hoffen, dass sich ihr Wunsch, der den Abend über immer sehnlicher geworden war, nicht erfüllt hatte. Ihre Hand tastete sich zaghaft zur anderen Betthälfte vor. Was, wenn sie einer behaarten Männerbrust begegnen würde?

Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie nur das straff aufgeschüttelte Kissen zu fassen bekam. Jetzt besann sie sich auch wieder, dass Trewall sie ganz artig bis zur Tür gebracht und sich dann verabschiedet hatte. Ob es ihm leichtgefallen war, sie einfach so stehen zu lassen?

Wenn sie mit einem Mann eine Dummheit begehen wollte, dann mit ihm. Er hatte Gefühle in ihr geweckt, die sie noch nie empfunden hatte. Vielleicht ging es ihm auch so und er würde sie vom Fleck weg heiraten, vielleicht war alles viel einfacher als gedacht?

Energisches Klopfen an der Zimmertür. »Wo bleiben Sie denn, Fräulein Schenk? Frühstück ist serviert!« Die Stimme von Lavinia Lindorf.

»Sofort, Gnädige Frau.«

Margot schwang sich in Windeseile aus dem Bett und zog am Fenster die schweren Samtvorhänge auseinander. Viel zu hell war der Tag, in ihrem Kopf dröhnte es wie in einem Maschinenraum. Sie legte sich ihre Jacke um und öffnete die Fensterflügel, um frische Luft hereinzulassen. In dem Moment stürmten sie auch schon auf sie ein, die Selbstvorwürfe. Wie konnte man nur so dumm sein, seine Stellung und seinen bis dahin untadeligen Ruf riskieren? Unverzeihlich, was sie sich geleistet hatte. Nie und nimmer durfte sich eine Lehrerin, eine Frau mit Verantwortung, derartig vergessen.

»Guten Morgen«, tönte eine männliche Stimme von unten. »Ich hoffe, Sie haben eine gute Nacht gehabt.« Nein, es war nicht die von Bernhard von Trewall, sondern der junge Gutsherr, Karl-Friedrich von Bernow, schaute zu ihr hoch. Um seine Beine schwänzelte ein brauner Kurzhaar, der an der Leine zog und fiepte. »Sie sollten einen Spaziergang machen, das vertreibt die Kopfschmerzen und alle quälenden Gedanken. Ich würde Sie gern begleiten.«

Sie erinnerte sich an seine Enttäuschung, als er sie Arm in Arm mit Trewall gesehen hatte. Jetzt wirkte er, als hätte es den gestrigen Abend nicht gegeben. Ausgeruht verströmte er so etwas wie Zuversicht.

»Danke der Nachfrage, Herr von Bernow«, erwiderte Margot. »Ich habe gut geschlafen und komme später gerne auf Ihr Angebot zurück. Zuerst erwartet man mich allerdings beim Frühstück.«

Damit gab er sich zufrieden, winkte ihr zu und verschwand mit dem ungeduldig winselnden Hund um die Hausecke.

Das Frühstück wurde in einem Salon serviert, der wie Margots Schlafzimmer auf der Gartenseite lag. Als sie eintrat, leuchteten ihr rote Tulpen und sonnengelbe Forsythien entgegen. Nur die Lindorfs saßen trüb und schweigend bei ihrem Kaffee. Lavinia fiel gleich über sie her.

»Da sind Sie ja endlich«, durchschnitt ihre Stimme das Frühlingsidyll. »Die meisten sind längst abgefahren. Es ist ja beinahe zehn.«

»Entschuldigen Sie, Gnädige Frau, es ist gestern etwas später geworden.« Mit gesenktem Kopf setzte sich Margot an den letzten noch unbenutzten Platz.

»Schon in Ordnung, heute ist ein anderer Tag«, kürzte August Lindorf die drohende Standpauke ab, wofür ihm Margot sehr dankbar war. Von seiner Gattin hingegen erntete er einen ungehaltenen Blick. »Liebenswürdigerweise hat uns Hermann von Bernow seinen Benz samt Chauffeur zur Verfügung gestellt«, fuhr er fort. »Also bitte seien Sie pünktlich wieder zurück, Fräulein Schenk.«

»Zurück?«, fragte Margot.

»Von Ihrem Morgenspaziergang mit dem jungen Herrn von Bernow natürlich. Sie sind aber heute wirklich etwas neben der Spur«, nutzte Lavinia Lindorf die Gelegenheit, um wenigstens einen Vorwurf loszuwerden. »Ach, übrigens, Leutnant von Trewall lässt Sie herzlich grüßen. Er konnte leider nicht warten, um sich von Ihnen persönlich zu verabschieden.«

Woher wussten die Lindorfs von dem Morgenspaziergang? Aber das bewegte Margot weniger, vielmehr beschäftigte sie die andere Nachricht. Er war einfach so gegangen, ohne das kleinste persönliche Abschiedswort? Ob er einen falschen Eindruck von ihr gewonnen hatte? Es war nicht so, wie es gestern vielleicht ausgesehen hatte. Sie suchte kein kurzes Vergnügen. Sie suchte den einen Richtigen, und wenn sie ihn gefunden hatte, wollte sie nur für ihn da sein. Das Einzige, was von dem Abend jedoch übrig geblieben zu sein schien, war das Gefühl, versagt zu haben. Sie schämte sich.

»Essen Sie was, Kindchen!«, forderte Lavinia Lindorf sie auf. »Dann geht es Ihnen gleich besser.«

Aber Margot hatte keinen Appetit. Nach ein paar Gabeln Rührei und zwei Schlucken Kaffee entschloss sie sich, den Spaziergang vorzuziehen. »Ich werde etwas frische Luft schnappen, bevor wir fahren«, sagte sie und sprang auf.

»Ja, aber …« Doch was Lavinia Lindorf erwidern wollte, hörte Margot nicht mehr, sie zog die Tür hinter sich zu und lief über den marmornen Fußboden vorbei am Treppenhaus in Richtung Ausgang.

Da traf sie auf Karl-Friedrich von Bernow, der ihr mit dem Hund entgegenkam. »Das ging aber schnell«, bemerkte er. »Ich wollte Sie doch abholen.«

Der Tag versprach, anstrengend zu werden. Zuerst Lavinia Lindorf mit ihren Vorwürfen, jetzt ein langweiliger Spaziergang mit dem jungen Bernow. »Ich führe Sie gern ein wenig auf unserem Gut herum«, bot er ihr an. »Natürlich nur, wenn es Sie interessiert.«

Sie nickte. Was blieb ihr anderes übrig?

Er reichte ihr den Arm. »Das Anwesen ist alt, auch wenn mein Großvater das Herrenhaus erst vor sechzig Jahren erbaut hat«, begann er den Rundgang, nicht ohne sich den Stolz als künftiger Besitzer anmerken zu lassen.

»Ich hätte es für älter gehalten«, gab sich Margot Mühe. »Aber ich erkenne den Stil nicht ganz …«

»Historismus, wenn Sie so wollen, oder Phantasiestil. Mein Großvater hatte eine romantische Ader, wissen Sie?« Er lachte kurz auf. Dass er Margot ein Schmunzeln entlocken konnte, machte ihm anscheinend Mut. »Ich hoffe, Ihnen haben die Blumen gefallen.«

Zuerst wusste sie nicht, was er meinte.

»Im Morgenzimmer, in dem Sie gefrühstückt haben.«

»Oh, ja, natürlich … natürlich haben sie mir gefallen.«

»Das freut mich. Ich habe sie aus der Gärtnerei bringen lassen – für Sie!«

»Für mich?« Sie sah ihm in die Augen, befremdet, vielleicht sogar erschrocken.

Dass sein Vorstoß bei ihr eine solche Verwunderung auslösen könnte, irritierte ihn anscheinend selbst. »Ich dachte, Sie haben möglicherweise etwas für Blumen übrig«, spielte er die Angelegenheit sofort herunter.

»Danke, sie haben mir wirklich sehr gut gefallen«, erwiderte Margot etwas beschämt. Warum nur war es nicht Leutnant von Trewall, der ihr Blumen zum Abschied geschenkt hatte?, dachte sie unwillkürlich, und ihre Wangen fühlten sich ganz heiß an.

Auf der Rückseite des Herrenhauses lag ein Küchengarten mit Beeten für Kräuter und Blumen, an den sich eine Obstwiese anschloss. Im Hintergrund ragte ein Backsteinkoloss empor.

»Das ist der Pferdestall, sozusagen das Herzstück von Gut Bernow. Er ist viel älter als das Herrenhaus. Mein Vater und ich züchten Reit- und Springpferde, wissen Sie, aber auch heimische Rassen.«

Seine Aufgaben auf dem Gut erfüllten ihn offenbar sehr. Was wohl in diesem Kopf außer der Pferdezucht vorging?

»Sie sahen gestern so traurig aus …«, rutschte es Margot heraus, und sie ärgerte sich gleichzeitig darüber, ihn so in Verlegenheit gebracht zu haben.

»Ach, das war nichts«, reagierte er sichtlich unangenehm berührt. »Ich war etwas müde. Außerdem hat mir die schlechte Luft im Saal zugesetzt, ich vertrage keinen Zigarettenrauch. Heute Morgen habe ich bereits lüften lassen, aber man wird den Geruch so schwer los.«

Anscheinend war er kein Freund solcher Veranstaltungen. Aber natürlich brachte seine Position diese Verpflichtungen mit sich. Margot verspürte den Drang, sich für ihr gestriges Verhalten zu rechtfertigen. »Für mich war es das erste Mal.«

»Ich hoffe, Sie konnten es genießen, ich hatte jedenfalls den Eindruck …«

Was sollte diese Anspielung? Schließlich war es nicht verboten, sich zu amüsieren. Auch eine Hauslehrerin durfte das. Es gab niemandem das Recht, daraus falsche Schlüsse zu ziehen. »Ja, das habe ich«, erwiderte sie, und es klang etwas trotzig. »Wir leben ja nicht mehr im 19. Jahrhundert.«

»Das ist wahr«, erwiderte er, worauf er den Blick wieder auf den Pferdestall richtete, vielleicht auch, um ein Schmunzeln zu verstecken.