Die Jerichorose - Susanne Wirtz - E-Book

Die Jerichorose E-Book

Susanne Wirtz

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Beschreibung

Daniel ist Anfang vierzig und meistens Single. Beziehungen beendet er, wenn sie ihm zu nahe werden, beruflich bleibt er unter seinen Möglichkeiten. Eines Tages erreicht ihn ein Brief aus Israel. Eine unbekannte Tante teilt ihm den Tod seines Vaters Uri mit. Mit ihm verbindet Daniel nur eine verschwommene Erinnerung und die geschenkte Glaskugel mit der Jerichorose. Widerstrebend entschließt er sich, die Einladung in den Kibbutz anzunehmen. Die Begegnung mit seinen Verwandten fördert Verstörendes zutage, weckt aber auch Daniels Entdeckergeist. Allein begibt er sich auf eine Reise durch sein Vaterland.

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Da sprach er: Nicht Jakob soll hinfort dein Name heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gerungen und obsiegt.

(1 Mose 32,29)

Prolog

1971

Vorsichtig legt Rita das dünne Laken über den schlafenden Kinderkörper. Der Nachmittag im Streichelzoo des Kibbutz hat den Kleinen so erschöpft, dass er noch während des Abendessens auf seinem Hochstuhl eingeschlafen ist und auch nicht wach wurde, als seine Mutter ihm das Nachthemdchen überstreifte.

Uri steckt seinen Kopf durch die Schlafzimmertür, auf seinem Unterarm balanciert er zwei Hemden. Schon gestern hat er begonnen, Kleidungsstücke in die Koffer zu legen, obwohl sie erst in knapp einer Woche abreisen würden.

»Siehst du, wie zufrieden er ist?« Rita zieht das Laken über ihrem Sohn glatt und schaut auf ihren Mann, der ans Kinderbettchen tritt.

»Was soll das heißen?«, fragt Uri misstrauisch und streichelt seinem Sohn die roten Pausbacken.

»Er fühlt sich wohl hier, wir könnten ihn eine Weile bei deinen Eltern lassen. Simcha und Zipora lieben ihn …«

»Aber wir sind seine Eltern«, herrscht Uri sie an. Der Kleine zuckt zusammen.

» … die ihm im Moment nicht viel bieten können. Stell dir vor, der Chef hat mir angeboten, bei ihm eine Bürolehre zu machen! Ich hätte einen richtigen Beruf!«

»Lehre, Beruf!«, äfft er Rita nach. »Fang nicht wieder damit an! Bald finde ich eine bessere Arbeit und kann für uns alle sorgen. Ich habe einen Freund mit einer Spedition, er zahlt anständig und will mich einstellen.« Uri schluckt. Hermann hat ihm schon einige Male leere Versprechungen gemacht, sein Wort zählt nichts.

»In Ordnung. Du suchst dir eine neue Firma, ich lerne einen vernünftigen Beruf und dann holen wir ihn wieder nach Hause.«

Uri legt seinen Finger auf den Mund. Rita senkt die Stimme.

»Wir könnten uns eine richtige Wohnung leisten mit Balkon und Müllschlucker!«

Sie wechseln in das winzige Wohnzimmer des Gästeapartments. Uri schenkt Arak ein und zündet sich eine Zigarette an.

»Unser Sohn wäre im Kinderhaus gut aufgehoben. Deine Schwester sagt, die Pflegerinnen dort machen eine lange Ausbildung. Sie verstehen mehr von Kindern als wir!« Rita denkt an ihre Mutter – vielleicht wäre es besser gewesen, auch sie hätte die Erziehung ihrer Kinder in erfahrenere Hände gegeben.

»Ja, meine Schwester glaubt an den ganzen Kram von Gemeinschaft und heiler Welt. Sie kriegt gar nicht genug davon«, höhnt Uri.

Rita treten Tränen in die Augen. Uris wechselnde Arbeitsstellen und das knappe Geld sind nur ein Grund, warum sie eine Lehre machen will. Immer ist sie für andere da gewesen; erst für den Bruder, später für Oma, die sie bis zum Tod gepflegt hat. Und jetzt: Vater, Mutter, Kind. Eine Seite in ihr wünscht es sich so. Aber die andere möchte das Leben genießen und Spaß haben.

Sie gibt nicht auf. »Er wird sich schnell eingewöhnen und Ivrit lernen. Hier hat er Kinder um sich, genug Platz zum Spielen und Tiere. Ein Paradies! Hast du gesehen, wie viel Spaß er heute im Streichelzoo hatte?«

Uri gibt sich geschlagen, sonst würde sie ihm vorhalten, was er lieber verdrängt. Vor zwei Jahren, nach der Kündigung bei Siepen-Bau, hatte er sich betrunken. Erst nach Mitternacht wankte er ins Schlafzimmer der Mansardenwohnung, hoffte, dass Rita schlief. Aber sie war wach und verlangte Erklärungen – das Letzte, wonach ihm zumute war. Wenn er nach dem deprimierenden Tag schon nicht schlafen durfte, wollte er wenigstens etwas Vergnügen. Er schlug Rita die Pariser, die sie noch versuchte aus der Nachttischschublade zu ziehen, aus der Hand. Wohl hundert Mal hat er sich bei ihr dafür entschuldigt.

»Ich liebe mein Kind«, bringt er hilflos hervor.

»Ich doch auch!« Sie streichelt Uris Gesicht. In seine braunen, von langen Wimpern gesäumten Augen, seinen Mund, das kotelettengerahmte Gesicht und das gewellte Haar hatte sie sich verliebt. In den sanften, verletzlichen Uri, der sie mit Kinokarten überraschte und ihr das viel zu teure Kleid kaufte. Der, wenn sie Oma vermisste, Stiefmütterchen besorgte und Rita auf dem Motorroller zum Friedhof fuhr.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Am langen Arm

Por una Cabeza

Nordsee

Ebbe und Flut

Vater Mutter Kind

Bücher

Jerichorose I

Wiedersehen

Esther

Rita

Chamsin

Warteschleife

Michal

Der Kibbutz

Am Strand

Haus der Ewigkeit

Uri

Goethe und Herzl

Haifa

Bu’eina Nujeidat

Der Bademantel

Ausgucke

Albträumen

Verbrannte Flügel

Tom Sawyer

Shoshana

Chaim

Tiberias und das lauernde Tier

Der Goi

Esau und Jakob

Jerichorose II

Das Lachvirus

Blumenkinder in der Wüste

Das Haus Itais

Das Schaukelpferd

Die Schatztruhe

Simcha

Heimaten und Kindheitsessen

Zugvögel

Am östlichen Hasenohr

Unter Wasser

Makhtesh Ramon

Über Wasser

Eliezer

Filmrisse

Wohin du gehst

Der Sabra

Versöhnungstag

Böhmische Knödel

Der achtzackige Stern

Abschied

Auf Adlers Flügeln

Am langen Arm

2012

Kaum waren kurz nach Mitternacht die letzten Tangotakte verklungen, folgte unausweichlich, was Daniel den ganzen Abend befürchtet hatte. Annette sah ihn unsicher an und fasste sich ein Herz. »Lass uns zu dir fahren!«

»Ich hatte eine lange Woche«, hörte er sich stammeln und hasste sich dafür, noch bevor die Worte ausgesprochen waren. Hasste die enttäuschten Augen in ihrem Gesicht, das sich nun von ihm abwandte. Sie wechselte in Windeseile die Schuhe. Trotz der kühlen Nacht warf sie sich den Mantel nur über die Schultern und verließ den Tangosalon.

»Nicht so eilig!« Daniel versuchte, seiner Stimme einen humorvollen Klang zu verleihen, als er Annette auf dem Parkplatz einholte. »Du könntest morgen zum Frühstück kommen.«

Sie nickte, zu stolz, um ihre Freude über die Einladung zu zeigen, vielleicht freute sie sich auch gar nicht über das hingeworfene Trostpflaster. Er drückte ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

»Bis morgen früh!« Annette klang schon munterer, zog die Autotür zu und hupte sogar, als der Kies beim Anfahren unter den Reifen knirschte. Er schaute den Rücklichtern ihres Wagens nach, der in der Dunkelheit verschwand.

Eigentlich wollte Daniel für Annettes Besuch etwas Ordnung schaffen, aber zuhause gewann seine liebgewordene Routine Oberhand. Einmal hatte er ihr davon erzählt. Sie nannte es Heimkehrritual und wuschelte ihm dabei liebevoll durch die Haare. Heimkehr: Das Tortellini-Gericht in der Mikrowelle aufwärmen. Während es seine Runden dreht, pinkeln. Ein Glas Pinot Grigio einschenken und die Spielkonsole starten.

Die vielen Menschen auf der Milonga und der Smalltalk mit den anderen Tänzern hatten ihn erschöpft. Auch Annette war anstrengend. Sie zog ihn, kaum waren sie angekommen, auf die Tanzfläche, aber Daniel musste sich erst an den vollen Saal gewöhnen. Sie wollte die meiste Zeit eng tanzen, dabei ließen sich die Figuren auseinander besser lernen, wie Esteban, der Tangolehrer, immer wieder betonte.

Ihre Wünsche und Ideen für das Wochenende, den nächsten Urlaub oder das nächste Sonstirgendwas waren Daniel zu viel, auch wenn er ihre Lebendigkeit und ihren entwaffnenden Humor schätzte.

Der flimmernde Bildschirm beruhigte ihn sofort. Gierig nahm er die ersten Schlucke Wein, verschlang die Tortellini und versank in der Science-Fiction-Welt von Mass Effect 3. Er hatte sich das Spiel zum 42. Geburtstag selbst geschenkt. Mit dem ersten Vogelzwitschern schleppte er sich erschöpft ins Bett.

Daniel hörte Annettes Klingeln erst im letzten Moment. Sie schwenkte eine Brötchentüte. »Rat mal, was ich mitgebracht habe!«

Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Rosinenweckchen?«

»Schokocroissants. Die magst du doch so gerne.«

Zusammen deckten sie den Tisch, der Frühstücksplatz, Schreibtisch und Bügelbrett in einem war. Obwohl Annette bereits öfter bei ihm übernachtet hatte, entdeckte sie jedes Mal neue Einzelheiten in seiner Wohnung, die mit bunt durcheinandergewürfelten Möbeln zugestellt war.

»Bist du das?«

Sie deutete auf die Schwarz-Weiß-Bilder an der Wand. Ein Foto zeigt einen dunkelhaarigen Jungen auf einem Schaukelpferd, mehr angetippt als gehalten von einem dürren Frauenarm, dessen Besitzerin nicht zu sehen ist.

»Ja.«

»Wie alt bist du da?«

Daniel zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Zwei Jahre vielleicht.«

»Und wem gehört der Arm?«

»Wahrscheinlich meiner Mutter.«

»Ich muss gerade an ein Babyfoto von meinem Vater denken«, plapperte Annette munter. »Er saß auf einem Stuhl. Über der Lehne hing eine Decke, damit niemand sah, dass er von hinten gestützt wurde. Alle sollten glauben, dass er schon sitzen kann.«

Annette schmökerte in alten Zeiten wie andere in einem spannenden Buch. Daniel kannte kaum Geschichten aus seiner Kindheit und wusste wenig über seine Mutter, die sich gerne beim Vornamen nennen ließ. Rita.

Er erinnerte sich nur an einen Besuch in Rheinsehlen, eine Barackensiedlung, in der nach dem Krieg Vertriebene aus dem Osten untergebracht worden waren. Mutter war ganz aufgekratzt und nahm ihn an der Hand. Daniel widersetzte sich nicht, obwohl er sich eigentlich schon zu groß dafür fühlte.

»In so einer Holzhütte bin ich aufgewachsen«, erzählte Rita, als sie die ehemaligen Lagerwege entlanggingen. Nach der Flucht aus dem Sudetenland hatte sie mit ihrer Mutter, dem älteren Bruder Theo und Oma Berta in zwei winzigen Zimmern gehaust. Der Bruder war nach einer Diphtherie-Infektion geistig behindert und durfte nie unbeaufsichtigt sein.

1950 wurde das Flüchtlingslager aufgelöst und sie bekamen am Stadtrand von Lüneburg eine Wohnung zugewiesen. Ihr Vater kehrte erst Jahre später abgemagert und gebrochen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück.

»Er saß tagelang schweigend am Fenster und ich musste mich nach den Hausaufgaben um Theo kümmern und kochen, während Mutter und Oma arbeiten gingen.«

Annettes Blick schweifte weiter über die Fotos. »Und wo ist das aufgenommen?«

Ein Kleinkind watet an der Hand einer älteren Frau durchs Wasser.

»Am Mittelmeer. In Israel.«

»Du warst in Israel? Davon hast du gar nichts erzählt!«

Musste er denn? Annettes Neugier höhlte ihn aus und die Entdeckerlust in ihren Augen ließ ihn schaudern.

»Mein Vater ist Israeli, wir waren dort in Urlaub.«

Sie zögerte. »Hast du auch Fotos von deinem Sohn? Wie heißt er noch gleich?«

»Jetzt nicht!«, blaffte Daniel sie an.

Por una Cabeza

Nach dem Wochenende brauchte Daniel seine Ruhe, um sich zentimeterweise den Boden zurückzuerobern, den Annette unter seinen Füßen weggezogen hatte. Sie musste sich gedulden, ehe er ihre SMS beantwortete (aus ihm unverständlichen Gründen hing sie an ihrem alten Handy und konnte keine WhatsApps verschicken) oder ans Telefon ging.

Warum beließen sie es nicht beim Tango? Der Tanz schrieb körperliche Nähe vor, begrenzte sie jedoch zugleich. Wenn sie sich zu Carlos Gardels Por una Cabeza im Kreis der anderen Paare bewegten und die Stimme des Tangosängers auf der alten Schallplatte knisterte, träumte sich Daniel in eine heiße Sommernacht auf einer Plaza in Buenos Aires. Das schummrige Licht warf sich wie ein schützender Schleier über sie. Er musste Annette nicht anschauen, nichts sagen und nichts erklären. Nur führen und sich den tausend kleinen Stromstößen überlassen, die seinen Körper in warmen Wellen durchfluteten. Er konnte sich ja jederzeit zurückziehen, wenn er drohte, hinweggespült zu werden. Es war doch bloß ein Tanz.

Er traf Annette bei der Milonga in der Severinstorburg, wo sie zusammen mit zwei anderen Frauen aus dem Tango-Kurs an einem Tischchen saß. Daniel entschied sich für die Flucht nach vorn – sie würde ihn ohnehin bemerken. Obendrein spielten sie Vals. Vielleicht könnte er Boden gutmachen. Annette liebte diese beschwingte Variante des Tangos, die Elemente des Wiener Walzers enthielt.

»Wollen wir tanzen?«, fragte er betont lässig.

Sie nickte, aber er spürte schon bei den ersten Takten ihren Widerstand.

»Was ist los?«

»Ich habe x-mal versucht, dich zu erreichen. Warum hast du nicht zurückgerufen?«

»Wenn dir das alles nicht passt, dann lass es«, fuhr er sie barscher an als beabsichtigt. Aber sie bedrängte ihn, ließ ihm keine Wahl. »Du möchtest mehr Romantik – das kann ich nicht bieten. Dich öfter treffen? Das krieg ich nicht hin!«

Daniels Herz schlug bis zum Hals. Er ließ sie stehen und flüchtete nach draußen, wo er sich bei den verblassenden Tangoklängen langsam beruhigte. Er schlenderte zum Chlodwigplatz und holte sich an einem der türkischen Imbisse einen Döner, den er auf dem Weg zum Auto hinunterschlang. In der Sicherheit seines Golfs sank sein Kopf erschöpft auf das Lenkrad.

Nordsee

Vier Wochen nach dem überstürzten Aufbruch vermisste er Annette und rief sie an. Sie machte ihm keine Vorwürfe, was ihn ermutigte, ein gemeinsames Wochenende vorzuschlagen. Annette wollte an die Nordsee, für zwei Tage aber wäre die Fahrt zu weit. Fünf Tage also. Sie nahmen ihren KIA, den sie Weißer Schwan getauft hatten. Sie weigerte sich, vollzutanken – das Benzin würde locker bis Cuxhaven reichen.

Ab Osnabrück rutschte Daniel unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her. Andauernd schweifte sein Blick in Richtung Tankanzeige. Er versuchte es mit Ablenkung, sortierte die vorbeifahrenden Autos nach Farben und Kennzeichen und führte schließlich auf den Zeitungsrändern Strichlisten. Achtmal HB, darunter drei graue, viermal HH, CUX … es half nichts. Unausweichlich landete er bei der Tankuhr: wenig mehr als halbvoll. Warum hatte er sich auf die Sache eingelassen? Fünf Tage Zweisamkeit … das war fast eine Woche! Zumindest hätte er darauf bestehen müssen, mit seinem Golf zu fahren, da hätte er die Tankpausen selbst bestimmt und sich sicher gefühlt. Daniels Füße begannen zu kribbeln und es legte sich ein Gewicht auf seine Brust.

»Was ist los?«, fragte Annette.

»Kannst du bitte anhalten?«

Während der Kaffeepause stellte er sich vor sie, legte seine Hände auf ihre Schultern und schaute ihr fest in die Augen.

»Ich weiß, dass der Sprit bis Cuxhaven reicht, aber ich fühle mich nicht wohl mit halbleerem Tank.«

Annette schmolz augenblicklich dahin. Sie legte den Kopf zur Seite und küsste ihn zärtlich auf die Augen.

Ihre Stimme bebte. »Du glaubst gar nicht, was es mir bedeutet, dass du mir das sagst.«

Daniel sah sie fragend an.

»Die Art und Weise – statt dich aufzuregen, vertraust du dich mir an, verstehst du?«

Er verstand nicht. Ihre Reaktion war überzogen und theatralisch. Er hatte ihr doch keine Liebeserklärung gemacht!

»O.k.«, scherzte sie, als sie wieder im Wagen saßen, »wir halten bei der nächsten Tankstelle. Aber nur, wenn du mir im Shop einen Schokoriegel kaufst.«

»Geht klar.« Wenn es ihm gelänge, in bestimmten Situationen ruhig zu bleiben, konnte es mit ihnen vielleicht funktionieren.

Kaum hatten sie vor der Airbnb-Wohnung geparkt, begann es wie aus Eimern zu schütten. Sie warteten auf das Ende des Regens, der Wind trug jedoch immer neue und dunklere Wolken vom Meer heran.

Annette räusperte sich. »Es bringt nichts, weiter im Auto zu hocken. Ich gucke nach der Schlüsselbox und dann trägst du schnell die Sachen rein.«

»Ich bin nicht dein Bimbo, kommandier mich gefälligst nicht rum!« Daniel fingerte nach seinem Handy und checkte hektisch die Wetter-App.

»Überleg mal, was du da sagst!«

»Überleg mal, was du da sagst«, äffte er sie nach. »Ich habe keine Lust, mich nassregnen zu lassen!«

»Musst du auch nicht, ich halte den Schirm!«

Die Wohnung wirkte größer als auf den Bildern im Internet und die Terrakotta-Töne verbreiteten zusammen mit der warmen Beleuchtung eine anheimelnde Atmosphäre. Im Kühlschrank entdeckten sie zwei Piccolos – ein Willkommensgruß des Vermieters – und stießen auf den Urlaub an.

Der Sekt tat seine Wirkung. »Wir packen jetzt die Taschen aus, danach ist der Regen sicher vorbei. An der Küste hält sich schlechtes Wetter nie lange.«

»Hoffentlich hast du Recht!« Annette machte sich daran, Gewürze und selbstgekochte Marmeladen in die Küchenregale zu räumen. Anschließend prüfte sie die Ausstattung der Schränke. »Pfannen, Töpfe in allen Größen, Eierschneider, Toaster und sogar ein Raclette-Grill!«

Sie schien entschlossen, in der Ferienwohnung ihre hausfrauliche Ader auszutoben, wozu sich ausreichend Gelegenheit bot, da die Wetterbesserung auf sich warten ließ. Sie nutzten die Regenpausen zum Einkaufen und kochten ausgiebige Mahlzeiten, die Annette plante. Daniel störte es nicht, dass er für die Helfertätigkeiten zuständig war, schließlich hatten sich seine Küchenaktivitäten bisher darauf beschränkt, Tiefkühlgerichte in die Mikrowelle zu schieben und Raviolidosen zu öffnen. Nach dem Abwasch kuschelten sie auf der Couch und schauten Naturdokus oder Krimis. Morgens saßen sie stundenlang am Frühstückstisch und lasen sich aus der Zeitung vor.

Sie schliefen oft miteinander. Allerdings vermied Daniel, je vertrauter sie wurden, ein Vorspiel. Er streifte ihre Brüste flüchtig und öffnete nur selten mit den Fingern ihre Lippen, was sie so liebte. Annette wünschte, dass er in ihr käme. Seinen Einwand, sie könnte schwanger werden, ließ sie ungern gelten. Entweder waren ihre Tage gerade erst vorbei, in vollem Gange oder standen unmittelbar bevor. Daniel ertappte sich bei der Befürchtung, sie würde anfangen, die Pille zu nehmen. Das verhinderte zwar eine Schwangerschaft, nahm ihm aber den Vorwand für den vorzeitigen Rückzug.

Ebbe und Flut

»Wir sind ein richtiges Paar«, stellte Daniel am dritten Morgen überrascht fest. Ohne dass es einer Absprache bedurfte, räumte er den Tisch ab, während Annette für beide die Tasche packte. Die Regenwolken waren abgezogen und der Himmel versprach einen sonnigen Spätsommertag.

»Und ein gutes Team!« Sie trat heran und umarmte ihn von hinten.

Sie mieteten einen Strandkorb und beobachteten sandburgenbauende Familien. Sie lauschten dem Kreischen der Seemöwen und dem Summen eines Segelfliegers. Bald wurde es Annette langweilig und sie machten sich auf den Weg zum Touristenbüro. Dort schnappte sie sich einige Veranstaltungsbroschüren. Zu ihrer Enttäuschung waren die Wattwanderungen für den Tag schon ausgebucht.

Die ältere Frau hinter der Theke, deren Plattdeutsch Daniel in Kombination mit der Topfschnittfrisur an Beate Uhse erinnerte, wusste Rat.

»Bei dem Wedder heute könnt ihr die Tour nach Neuwerk auch alleine mooken, wenn ihr ein paar Dinge beachtet.«

Frau Sörensen – der Name prangte auf dem Schild an ihrer wildgemusterten Bluse – griff zielsicher in eine Schublade und händigte ihnen einen Gezeitenplan aus. Annette wollte gleich aufbrechen.

»Weißt du, wie gefährlich das ist?«, zischte Daniel sie an.

»Ist es nicht, wir haben genug Zeit bis zur Insel, man soll circa zwei Stunden vor Niedrigwasser los und …« Sie hüpfte mit ungebrochener Unternehmungslust neben ihm her. »Da ist sogar noch Zeit für eine Kaffeepause!«

»Und was ist, wenn sich einer von uns den Fuß verknackst und wir es nicht rechtzeitig zurückschaffen?«

Annette lachte. »Es gibt überall Rettungsbaken!«

Das war nicht lustig. Er würde nicht jede ihrer Ideen mitmachen. »Es kann Nebel aufziehen, wir haben keinen Kompass, nichts.«

Das Lächeln war von Annettes Gesicht gewichen. Sie schaute ihn verständnislos an. »Bei dem Wetter sind ganze Heerscharen von Touristen unterwegs!«

»Tu, was du nicht lassen kannst. Ich bleibe im Strandkorb.«

»Ach bitte, komm doch mit.« Sie nahm seine Hände und tanzte einige Ochos, die sie vor einiger Zeit bei Esteban gelernt hatten.

Daniel blieb keine Wahl. »Nur ein kleines Stück!«

Mit welcher Begeisterung sie in Sonne, Sand und Wind vorausstürmte und zu ihm zurückkehrte! Wie ein Hündchen, ging es ihm durch den Kopf, aber er verbot sich den Gedanken sofort. Sie liefen eine Weile Hand in Hand und Daniel war erstaunt, dass seine Begleitung sie so glücklich machte.

Nach der zweiten Rettungsbake kehrte er um und schlief im Strandkorb ein. Als er erwachte und den Platz neben sich leer fand, erschrak er. Annette! Müsste sie nicht längst zurück sein? Ein Blick auf die Uhr beruhigte ihn – erst eine halbe Stunde war vergangen. Daniel blätterte in der Wirtschaftszeitung, konnte sich jedoch kaum konzentrieren und legte sie beiseite. Er schaute gebannt auf das feucht glänzende Watt, an dessen Ende sich die Insel Neuwerk abzeichnete. Ob Annette schon dort war? Er ging zu der nahegelegenen Bude und kaufte sich eine XXL-Portion Pommes mit Currywurst. Später suchte er den Strand ab. Vielleicht war sie an einer anderen Stelle ausgekommen und fand nicht zurück zum Strandkorb … ihrem gemeinsamen Strandkorb! Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Das Zusammenleben auf Zeit gefiel ihm. Nebeneinander einschlafen und wachwerden. Beim Frühstück Pläne für den Tag schmieden. Daniel nahm die Zeitung und las, bis Annette erschöpft, aber zufrieden neben ihm auftauchte.

Sie weckte ihn früh am nächsten Morgen. »Ich habe etwas Interessantes geträumt.«

Daniel räkelte sich, blinzelte kurz und drehte sich auf die Seite. Bevor er in wohligen Schlaf zurückdämmern konnte, drang erneut ihre Stimme an sein Ohr.

»Ein Paar saß in einer Kneipe. Es war fast dunkel, nur eine Funzel hing von der Decke. Sie redeten und manchmal … hörst du überhaupt zu?«

»Ich versuche zu schlafen!« Allerdings schätzte er die Chancen dafür schlecht ein. Daher setzte er sich auf und stopfte sich das Kopfkissen in den Rücken.

Ermutigt fuhr Annette fort. »Dann verließ der Mann den Tisch, ohne Erklärung. Die Frau hatte keine Ahnung, warum und wohin er verschwunden war. Nach einer Weile wurde sie sauer, weil er sie warten ließ. Später bekam sie ein schlechtes Gewissen: Was, wenn er Hilfe brauchte! Die Frau ging in den Keller zur Herrentoilette, die war gelb gekachelt – wie eine Krankenhausambulanz aus grauer Vorzeit. Oder eher gelber Vorzeit!« Annette lachte über ihren Sprachwitz. »Wie findest du meinen Traum?«

Er schwieg.

»Sie sah ihren Mann zusammen mit einer Krankenschwester, die eine Verletzung an seiner Hand verarztete. Als sie fertig war, kehrte er mit seiner Frau an den Kneipentisch zurück.« Annette hielt inne.

Daniels Kehle wurde trocken und es drängte ihn aufs Klo. Was bildete sich das blöde Weib bloß ein!

»Was passiert gerade mit dir?«

Wie er ihren Pädagogensprech hasste! Als wäre er ein Kind oder ihr dummer Schüler! Hitze machte sich in seinen Kopf breit und er spürte seine Stirnader anschwellen.

»Ich brauche keine Krankenschwester!«, schrie Daniel und floh aus dem warmen Bett ins Badezimmer.

Annette rief ihm hinterher: »Du kommst und gehst, genau wie das Meer. Aber du folgst keinen festen Zeiten. Du bist unberechenbar!«

»Spar dir deine Küchenpsychologie!«, blaffte er zurück und stellte die Dusche an. Kalt rann das Wasser seinen Körper hinunter.

Der restliche Urlaub verlief überraschend harmonisch. Annette hielt sich mit Deutungen seiner Person zurück und Daniel gelang es, besonnen zu reagieren, wenn er überfordert war. Sie mieteten Fahrräder und fuhren den Deich entlang elbaufwärts. Den letzten Tag verbrachten sie auf Daniels Wunsch in einer Wellness-Therme.

Kurz nach der Rückkehr von der Nordsee schrieb er ihr eine SMS. Es hatte keinen Zweck. Sie passten nicht zusammen.

Vater Mutter Kind

In den folgenden Monaten ging Daniel nur selten zu Milongas. Jedes zweite Wochenende besuchte er seinen Sohn – wenn Sandra es zuließ. Oft sagte seine Ex die Treffen mit Jan unter einem Vorwand kurzfristig ab; mal war der Kleine angeblich erkältet, mal fuhren sie eine Freundin besuchen. Allein mochte sie Jan mit Daniel nicht wissen, da sie überzeugt war, dies würde dem Kind schaden.