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Sommer, Sonne, Knäckebrot Ferien bei Tante Frida auf ihrer kleinen Insel. Das kann heiter werden! Vor allem, weil sich die vier Karlssons vorher noch gar nicht kannten und die Tante mit Kindern null Erfahrung hat. Als sie dringend aufs Festland muss und die Kinder alleine lässt, passieren plötzlich seltsame Dinge. Spukt es etwa auf der Insel?
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Seitenzahl: 173
Katarina Mazetti
Die Karlsson-Kinder
Spukgestalten und Spione
Aus dem Schwedischen von Anu Stohner
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Stammbaum der Karlsson-Kinder
Großvater und Großmutter Karlsson (mütterlicherseits)
4 Töchter:
Ulla, Forscherin, verheiratet mit Allan, Mutter von Julia und Daniella, genannt Hummel
Molly, Schauspielerin, Mutter von George
Ellen, Köchin, lebt zusammen mit Claude Bouclé, Mutter von Alex
Frida, Künstlerin
»Es sind doch nur ein paar ganz kurze Wochen!«, sagte Ulla Karlsson beschwichtigend zu ihrer Tochter Julia. »Oder vielleicht ein ganz kurzer Monat. Oder zwei!«
»Zwei ganz kurze Monate!« Julia war so aufgebracht, dass ihre Stimme sich überschlug und sie wie ein wütender Hamster klang. »Und wie kurz sind ganz kurze Monate genau? Mama, wir können nicht zwei Monate bei Tante Frida wohnen! Wir kennen sie ja kaum! Und die paar Mal, die wir sie getroffen haben, war sie echt krass! Wir kriegten nichts zu essen, und sie hat die ganze Zeit in diesem Turm gehockt und Schnüre um irgendwelche Blechteile gewickelt. Die ist doch nicht ganz bei Trost! Und bei so jemandem willst du uns die ganzen Sommerferien parken, nur weil ihr unbedingt nach Indien fahren wollt!«
Julia Karlsson war zwölf Jahre alt und schon fast so groß wie eine Erwachsene. Es gefiel ihr, wenn die Leute sie auf fünfzehn schätzten, und sie ließ sich sonst eher nicht anmerken, dass sie sich über etwas tierisch aufregte. Normalerweise warf sie nur leicht den Kopf zurück und sah ihren Gesprächspartner mit betonter Herablassung an. In der Schule funktionierte das gut, denn sie war sogar größer als die meisten Jungs in ihrer Klasse.
Bei Mama funktionierte es nicht. Auch jetzt erwiderte sie mit ihren runden blauen Augen gelassen Julias Blick.
»Denkst du, wir machen dort Badeferien?«, fragte sie. »Papa und ich machen eine Forschungsreise und müssen zu einer wichtigen Konferenz. Zu einer sehr wichtigen sogar! Und Frida ist nicht krass, sie ist Künstlerin. Die Leute bezahlen Unsummen für ihre Skulpturen aus Blech und Schnur!«
»Mag sein, aber dann gibt sie das Geld leider nicht für Essen aus!«, sagte Julia. »Weißt du noch, wie wir letztes Mal bei ihr auf der Insel waren? Da hatte sie überhaupt nichts Essbares zu Hause. Weil sie angeblich vergessen hatte einzukaufen! Sie hat uns alte Nudeln serviert und Käse-Flips drübergestreut!«
»Nichts zu essen? Wer hat vergessen einzukaufen?«
Julias jüngere Schwester Daniella kam mit Brotkrümeln in den Mundwinkeln und einem Kakaoschnurrbart aus der Küche. Vor dem Sofa, auf dem die beiden anderen saßen, blieb sie stehen. Sie war neun Jahre alt und wurde Hummel genannt, weil sie so klein und dick war und ununterbrochen surrte. Wenn sie gerade nicht kaute, redete sie, und Spuren von Essbarem an ihr oder ihren Kleidern waren ganz normal.
»Wisch dir den Mund ab!«, sagte Julia. »Wir reden gerade darüber, was das für ein schwerer Sommer für dich wird, wenn sie uns in den Ferien zu Tante Frida schicken! Nichts zu essen, und auf der ganzen bescheuerten Insel gibt’s nicht mal ein Eisbüdchen!«
Hummel sah zu Tode erschrocken aus.
»Kein Eis …«
»Und Tante Frida wird dich Schnüre um Blechteile wickeln lassen, die ganzen Sommerferien, und das bei der Mörderhitze auf Doppingö! Alles, was du dort zu essen bekommst, sind Käse-Flips, und zu trinken gibt’s Wasser aus dem Brunnen!«
Hummel zu ärgern war immer ein kleiner Trost und hob Julias Laune wenigstens ein bisschen.
»Hör jetzt auf!«, sagte Mama. »Was schlägst du denn sonst vor? Sollen wir euch in einem Schließfach am Flughafen lassen? Oder euch in eine Hundepension stecken?«
»Hummel könntet ihr als Handgepäck mitnehmen«, sagte Julia grimmig. »Und ich kann bei einer Freundin wohnen.«
»Ich würde gern in einer Hundepension wohnen!«, sagte Hummel.
Sie war ganz vernarrt in alles, was mehr als zwei Beine hatte, und kam ständig mit Streichholzschachteln voller Krabbeltierchen nach Hause, denen sie irgendwelche Kunststücke beizubringen versuchte. Einmal bildete sie sich ein, sie hätte einer Spinne beigebracht, an einem Faden hochzuklettern. Aber dann setzte sie sich aus Versehen auf das Tierchen drauf, und es kletterte leider nicht mehr.
»Wegen des Essens müsst ihr euch übrigens keine Sorgen machen«, fuhr Mama fort. »Soll ich euch ein Geheimnis verraten?«
Die beiden Mädchen seufzten. Wenn sie mit dieser Mama-will-nur-euer-Bestes-Stimme sprach, bedeutete das nur, dass sie einen überrumpeln wollte, weil sie natürlich am besten wusste, was das Beste für einen war.
»Ihr kriegt dort Gesellschaft! Es sollte eigentlich eine Überraschung sein, aber ich erzähl’s euch jetzt schon: Eure Cousins kommen auch nach Doppingö!«
»Cousins?«, sagte Julia misstrauisch. »Wir treffen doch sonst nie Cousins! Du behauptest doch immer, deine Schwestern Molly und Ellen wären so anders, dass es ein Glück ist, dass ihr so weit auseinander wohnt! – Was haben wir überhaupt für Cousins?«
Aber sie wartete nicht auf Mamas Antwort, sondern fing selbst an, sie an den Fingern abzuzählen. »Ihr seid vier Schwestern. Du und Frida und Molly und Ellen, die in Frankreich lebt. Frida hat keine Kinder, wenn sie sich nicht plötzlich doch noch vermehrt hat. – Redest du zum Beispiel von Tante Mollys Sohn, den wir vor ein paar Jahren in Umeå besucht haben? Dem Trottel, der kein Wort geredet hat und immer nur rot wurde und mit den Ohren wackeln konnte?«
»George, genau! Damals war er wohl noch etwas schüchtern. Jedenfalls geht Molly mit ihrem Theater auf Tournee, darum wird er den Sommer über auch bei Frida auf der Insel sein. – Ihr seid doch fast gleich alt, das wird bestimmt nett!«
»Meine Freundinnen fahren in Reiter- oder Segelcamps, und ich darf mit den Ohren wackeln lernen!«, sagte Julia bitter.
»Ich will es lernen!«, sagte Hummel. »Ich sag ihm, dass er mir zeigen soll, wie es geht. Super, dann kann ich den ganzen Sommer mit den Ohren wackeln!«
»Und wisst ihr was noch?«, fuhr Mama fort. »Ihr kriegt sogar einen eigenen kleinen Koch!«
»Einen Koch? Und wieso einen kleinen?«
»Nun ja, euer Cousin Alex kommt auch, und er ist doch der Sohn von zwei Köchen …«
»Können zwei Köche wirklich Kinder miteinander kriegen?«, fragte Hummel.
»Ich hab mich falsch ausgedrückt«, sagte Mama. »Ellen ist Köchin, und auf einem der Schiffe, auf denen sie gekocht hat, hat sie einen Franzosen getroffen, der auch Koch war, Claude. Die beiden zusammen haben dann den kleinen Alex bekommen!«
»Der mit einer Kochmütze auf die Welt gekommen ist, oder wie?«, sagte Julia.
»Er kann bestimmt wahnsinnig gut kochen. – Und jetzt hör auf, Julia!«, sagte Mama. »Es ist sowieso schon alles abgemacht. Ellen hat mich angerufen, dass sie und Claude auf einer längeren Kreuzfahrt kochen. Alex bleibt sonst immer bei seiner französischen Oma, aber Ellen war der Meinung, dass er endlich auch seine schwedischen Verwandten kennenlernen soll. – Ihr fahrt am Dienstag.«
»Und kann er Schwedisch, der kleine Koch? Wie klein ist er überhaupt? Reicht er schon bis zu den Herdplatten?«
»Bestimmt. Er muss jetzt, warte, so sieben, acht Jahre alt sein!«, sagte Mama. »Ich hab ganz vergessen zu fragen. Meine Güte, wie die Zeit vergeht! Mir kommt es vor, als wäre es gestern gewesen, dass Ellen ihn bekommen hat!«
»Ein Siebenjähriger! Ich soll meine Sommerferien damit verplempern, auf Hummel und einen Siebenjährigen aufzupassen? Während Tante Frida Schnur um Blechteile wickelt und der stumme George mit den Ohren wackelt! Danke, Mama, danke!«
»Auf mich brauchst du nicht aufzupassen!«, sagte Hummel wütend.
»Mit sieben ist man schon ein großer Junge. Er spricht Schwedisch, und er kann kochen, sagt Ellen!«
Julia rümpfte die Nase.
»Was wahrscheinlich heißt, dass er sich sein eigenes Breichen rühren kann. Ich sag dir was: Ich bin am Ende diejenige, an der dort alles hängen bleibt!«
»Neeeein!«, quiekte Hummel. »Du kannst doch sowieso nur Würstchen mit Tütenkartoffelbrei! Da werd ich ja dünn wie ein Strich!«
Hummel war ziemlich stolz darauf, dass sie so schön rund war. Manchmal streichelte sie sich genüsslich ihren Bauch und verkündete: »Es gibt schon eine ganze Menge von mir!« Und wenn jemand sie hänselte, dass sie zu dick sei, sagte sie nur: »Was machst du dir denn Sorgen? Ich muss doch die Kilos mit mir rumschleppen!«
Plötzlich fiel Hummel noch etwas ein, was sie beunruhigte.
»Und was ist mit unserem Kater? Den dürfen wir doch wenigstens mitnehmen?«
Es handelte sich um einen großen, faulen, kastrierten Kater in allen möglichen Farben: Schwarz, Rotbraun, Grau und Weiß. Hummel hatte ihn an einem Herbsttag als mageres, verfrorenes Katzenjunges gefunden und mit nach Hause gebracht. Da hatte er reichlich zu essen bekommen und war bald sieben Kilo schwerer. Hummel schaffte es kaum noch, ihn hochzuheben. Und er liebte es, sich anzuschleichen, einen Satz zu machen und schwer immer auf genau demjenigen zu landen, der am wenigsten damit rechnete.
Der Vater der Mädchen war erst gar nicht begeistert gewesen. Vor allem mochte er es nicht, dass der Kater ständig auf dem schön warmen Drucker im Arbeitszimmer lag. Dort lag er tagsüber nämlich und döste, und wenn jemand etwas ausdruckte, wachte er auf und hieb mit den Tatzen nach den Blättern, als wären es Ratten.
»Gleich morgen früh liefere ich ihn beim Fundbüro ab!«, hatte Papa wochenlang gedroht und beleidigt auf seine von Katzenkrallen durchlöcherten Forschungsberichte geschaut.
Aber bald war die ganze Familie in den Kater verliebt. Er war fröhlich und schlau, und wenn er mit ihnen redete, klang er fast wie ein Mensch: »Mjauuuuu! Njaiiiii!«
Komischerweise waren sie nur nie dazu gekommen, ihm einen richtigen Namen zu geben.
»Ach ja! Den Kater dürft ihr mitnehmen«, sagte Mama. »Und wo es schon am Dienstag losgehen soll, fangen wir am besten gleich mit dem Packen an. Vielleicht müssen wir auch ein paar neue Sommersachen kaufen. Meine Güte, Julia, deine Jeans werden schon wieder zu kurz!«
Julia sah nachdenklich an sich hinunter. Die Jeans endeten flatternd bei den Waden, ihr gestreifter Pullover war kurz davor, die Seitennähte zu sprengen, und die Sandalen waren so klein, dass die Zehen überstanden. Jetzt galt es, die Gelegenheit zu nutzen. Wenn sie schon bestochen werden sollte, dann auch richtig!
»Neue Jeans, zwei neue Pullis und neue Sandalen!«, sagte sie schnell. »Und einen Bikini!«
»Und ein langes Kleid und Spitzenunterwäsche!«, flötete Hummel und spreizte die kleinen Finger ab. »Vielleicht noch einen schicken Hut dazu?«
Hummel fand, dass Julia ihr viel zu schnell davonwuchs. Wenn es so weiterging, war sie bald doppelt so groß wie ihre kleine Schwester.
Kurz darauf kam der Kater gähnend aus dem Arbeitszimmer. Und plötzlich machte er einen Riesensatz und landete schwer auf Julias Knien. Julia stöhnte.
»Mjauuuuu!«, sagte der Kater. »Njaiiiii!«
Es bedeutete so etwas Ähnliches wie: »Gibt’s hier bald was zu fressen?«
Das kann ja ein lustiger Sommer werden, dachte Julia.
Und das wurde es wirklich!
»Frida holt euch in Östhamn von der Bushaltestelle ab«, hatte Mama gesagt. Aber als Julia und Hummel mit ihrem Gepäck aus dem Bus stiegen, war weit und breit keine Frida zu sehen. Also schleppten sie ihre Taschen und Rucksäcke und den Tragekäfig mit dem Kater in die kleine Wartehalle und setzten sich auf eine Bank.
Hummel ging auf Entdeckungstour und kam mit einer großen Tafel Schokolade zurück, die sie sofort in sich hineinzustopfen begann. Es war ein brütend heißer Nachmittag, aber Julia traute sich nicht, die Wartehalle zu verlassen. Sie durften Frida nicht verpassen, denn der Weg zu dem kleinen Hafen, von dem aus man nach Doppingö übersetzte, war weit.
»Guck, das komische Mädchen da drüben!«, krähte Hummel und zeigte auf eine schmale Gestalt mit einem blonden Pferdeschwanz, die mit dem Rücken zu ihnen saß. »Die sieht wie ein Junge aus!«
»Es ist ein Junge!«, zischte Julia.
Genau da stand der Junge mit dem Pferdeschwanz auf und kam zu ihnen her. Er schleppte ein riesiges, buckeliges Packstück aus einem Segeltuchseesack und mehreren Plastiktüten.
»Seid ihr Julia und Daniella?«, fragte er.
»Wer denn sonst?«, sagte Hummel. »Und wer bist du?«
»Dann bin ich euer Cousin George«, sagte der Junge und errötete.
Der Ohrenwackler!, dachte Julia. Aber wenigstens schien er inzwischen zu reden. Sie nickte ihm zu.
»Und warum sind deine Haare so lang?«, fragte Hummel und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Soweit sie sich erinnern konnte, war das der erste Cousin, dem sie leibhaftig begegnete.
»Weil ich beim Lucia-Fest immer die Lucia spiele«, sagte der Junge, der jetzt ein bisschen sauer klang. »Wieso, stört’s dich?«
»O nein, ich mag lange Haare! Man kann damit so schön Zöpfe flechten! Darf ich dir Zöpfe flechten? Und zeigst du mir, wie man mit den Ohren wackelt? Hast du Tiere? Wie alt bist …?«
Julia fuhr den Ellbogen aus, um Hummel zum Schweigen zu bringen.
»Was glaubst du, wo Tante Frida steckt?«, fragte sie George, der sich jetzt zu ihnen setzte. »Meinst du, sie hat uns vergessen?«
»Keine Ahnung, ich hab sie ja noch nie getroffen«, sagte George. »Ist sie so jemand? Ich meine, dass sie Leute vergisst, die sie abholen wollte?«
Dann schüttelte er den Kopf, weil Hummel sich hinter seinem Rücken am Haargummi seines Pferdeschwanzes zu schaffen machte.
»Lass das, Hummel!«, sagte Julia. »Setz dich hin und gib einfach mal Ruhe! Oder dreh eine Runde mit dem Kater.«
»Mjauuuuu!«, tat der eingesperrte Kater sein Einverständnis kund.
Hummel ließ ihn heraus, und er landete mit einem Sprung schwer neben ihnen auf der Bank.
Dann wandte sich Hummel wieder ihrem spannenden Cousin zu.
»Kriegst du auch immer Kerzenwachs von der Lucia-Krone in die Haare?«, fragte sie. »Das ist mir letztes Mal passiert, und Mama musste ganz viel wegschneiden, weil …«
George seufzte.
»Es war ein Witz, okay?«, sagte er. »Ich hab noch nie die Lucia gespielt. Ich hab lange Haare, weil Friseure teuer sind und Mama und ich nicht so viel Geld haben. Früher hat Mama mir die Haare selbst geschnitten, aber es ist nicht gerade ihre Stärke, um es mal freundlich auszudrücken. Ein paarmal hat nicht viel gefehlt, und sie hätte mir die Ohren mitfrisiert. Darum trag ich lieber einen Pferdeschwanz und mach ihn alle halbe Jahre kürzer.«
»Klasse Farbe jedenfalls, so gelb irgendwie«, sagte Hummel.
»Deine aber auch«, lachte George. »So rot irgendwie.«
Hummel besah sich ihr Spiegelbild in der gläsernen Eingangstür.
»Mmmm, ich finde, ich sehe ziemlich gut aus!«, sagte sie angetan. »Ich frage mich übrigens, welche Haarfarbe wohl der Kleine hat, ich meine, der andere Cousin von uns, der noch kommen soll. Wo ist der überhaupt? Meint ihr, er kann auf dem Flug von Frankreich verloren gegangen sein? Er ist schließlich erst sieben! Da ist man noch nicht so schlau. Ich fass es nicht, dass sie sich trauen, ihn allein fliegen zu lassen!«
Hummel fand es ganz schön lange her, dass sie selbst sieben war.
George sah besorgt aus.
»Ich wusste gar nicht, dass er so klein ist«, sagte er.
»Hat dir deine Mutter nichts von ihm erzählt?«, fragte Julia.
»Wenn meine Mutter eine neue Rolle lernt, kann sie an nichts anderes denken. Sie redet dann auch nur wie die Figuren in dem Stück, in dem sie mitspielt«, sagte George. »Als ich heute los bin, hat sie mir den Kopf gestreichelt und gesagt: ›Leb wohl, und wenn die Winde günstig wehn, lass von dir hören!‹ – Hoffentlich lässt Tante Frida bald von sich hören, ich hab einen grausamen Hunger!«
Julia nickte ein bisschen geistesabwesend. Sie hatte gerade einen kleinen dunkelhaarigen Jungen entdeckt. Er stand ein Stück von ihnen entfernt und schielte immer wieder zu ihnen her.
»Das muss er sein!«, flüsterte sie den anderen beiden zu. Dann stand sie auf und ging mit festen Schritten zu ihm hin.
»BIST … DU … ALEX?«, fragte sie laut und deutlich, damit er ihr Schwedisch auch gut verstand.
Der Junge lief erschrocken zu einer dicken blonden Frau, die auf der anderen Seite der Wartehalle saß.
»Mama, die schreit mich an!«, rief er und zeigte mit dem Finger auf Julia.
Neben der dicken blonden Frau saß ein sonnengebräunter Junge mit schräg über die Augen fallenden Haaren und lachte.
»Was findest du so lustig?«, fragte Julia wütend.
»Ich bin Alex!«, sagte er.
Es zeigte sich, dass Alex zwölf war und nicht sieben. Er trug eine übergroße Daunenjacke und hatte glänzende dunkle Haare. Seine Großmutter hatte ihn gezwungen, die Daunenjacke anzuziehen, weil es in Schweden angeblich immer schrecklich kalt war. Sie waren alle ein bisschen verdutzt, als er seinen Rucksack absetzte und sie mit Küsschen auf beide Wangen begrüßte, auch George.
George wurde puterrot und wusste erst nicht, wohin mit den Händen, dann versuchte er linkisch, Alex auf den Rücken zu klopfen. Auf keinen Fall schien er die Küsschen zurückgeben zu wollen!
»Willst du den Kater auch küssen?«, fragte Hummel und zeigte auf den dicken Kater, der inzwischen auf dem Boden saß und sich das Maul ableckte. Er hatte gerade die Reste einer Knackwurst verschlungen, die er unter der Bank gefunden hatte.
»Katzen küssen wir in Frankreich nicht!«, sagte Alex. Er sprach ganz normal Schwedisch, höchstens mit einem leichten Akzent: Sein »a« klang ein bisschen dunkel, sein »r« ein bisschen zu kratzig und das »ch« am Ende eines Wortes ein bisschen wie ein »sch«. »Küsst ihr in Schweden Katzen?«
»Njaooooo!«, sagte der Kater, und alle lachten, weil es wirklich wie eine Antwort klang.
»Er versucht, ›non‹ zu sagen, so heißt ›nein‹ auf Französisch«, sagte Alex. Er schien begeistert, seine Cousinen und seinen Cousin zu sehen. »Oh, macht das Spaß, euch kennenzulernen!«, sagte er. »Zu Hause hab ich außer meinen Eltern und meiner Großmutter überhaupt keine Verwandten. Und jetzt bekomme ich gleich eine ganze Bande! Und alle heißen Karlsson, oder?«
»O ja, eine Bande!«, jubelte Hummel. »Wir sind die Karlsson-Bande! – Hast du in Frankreich auch eine?«
»Klar«, sagte Alex. »Und wir vermöbeln jeden Tag die Bande aus dem Nachbarviertel.«
»Echt?«, fragte Hummel beeindruckt. »So richtig auf die Nase, dass sie sich im Blut wälzen?«
»Wenn wir abends nach Hause gehen, liegen sie in blutenden Haufen auf der Straße herum«, sagte Alex und kniff verschwörerisch ein Auge zu. »Und Extraprügel kriegen sie, wenn sie über meinen schwedischen Nachnamen lästern.«
»Echt? Tun sie das?«, fragte Hummel.
»Seit sie Extraprügel kriegen, immer seltener«, sagte Alex. »Aber langsam wird es trotzdem anstrengend. Darum versuche ich Mama auch dazu zu bringen, dass sie Papa endlich heiratet. Dann würden wir Bouclé heißen, und es wäre Ruhe. Leider findet Mama, sie sei noch zu jung, um sich fest zu binden – dabei sind sie seit fünfzehn Jahren zusammen.«
»Meine Eltern sind auch nicht verheiratet«, sagte George. »Aber bei uns ist es nur gut so. Meinen Vater haben wir nämlich seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen. Er ist vor ein paar Jahren auf Tournee nach Deutschland gegangen, seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Das heißt, Weihnachtskarten schickt er noch, auf Deutsch. Ich nehme an, das heißt, dass er dort geblieben ist.«
Julia und Hummel sahen einander erschrocken an. Ein Vater, der einfach so verschwunden war?
»Unsere Eltern sind verheiratet!«, sagte Julia schnell. »Nur hat Mama nicht Papas Nachnamen angenommen, sondern er ihren. Er hieß Svinhuvud, und den Namen fanden sie beide doof. ›Ich will nicht Frau Schweinskopf heißen!‹, hat Mama gesagt, und damit war die Sache erledigt.«
Julia lächelte Alex an.
»Also heißen wir alle vier Karlsson«, sagte der. »Oder mit dem Kater fünf. Fünf Karlssons – ich finde das toll!«
»Fehlt nur noch eine«, seufzte George, »Tante Frida. Wenn sie nicht bald kommt, mach ich’s wie euer Kater und suche unter den Bänken nach alten Würstchen. – Ich hab einen Obermörderhunger!«
»Du kannst was von mir haben!«, sagte Alex und zog eine große knotige Salami aus seinem Rucksack. »Ich hab mir vorsichtshalber was zu essen mitgebracht. Mama behauptet, in Schweden esst ihr gern vergammelten Fisch. Stimmt das eigentlich?«
»Sie meint wahrscheinlich Surströmming, das ist Fisch, den man in Dosen vergären lässt«, sagte Julia. »Stimmt, manche Leute essen so was. Aber ich bestimmt nicht! Lieber würde ich mir den Kater grillen, bevor ich das Stinkezeug esse.«
Hummel schlang erschrocken die Arme um den Kater, und genau da ging die Tür zur Wartehalle auf, und eine kräftige Frau in Latzhosen kam herein. Sie hatte die roten Haare unordentlich unter eine große Kappe mit der Aufschrift Jonssons Eisenwaren gestopft, und ihr bunter zippeliger Pulli war offensichtlich selbst gestrickt.
Sie kam auf die Kinder zumarschiert und sah sie mit gerunzelter Stirn an.
»Alles Karlssons?«, fragte sie. »Ihr seid das doch, oder? War mir gar nicht klar, dass ihr so viele seid. Na, macht nichts – je mehr, desto lustiger! Ich bin Frida, nicht wahr.«
Dann begann sie, einen nach dem anderen zu umarmen. Alex küsste sie sogar auf beide Wangen und lächelte ihn mit einem breiten Zahnpastalächeln an.
»Mein Auto steht draußen!«, sagte sie.
»Fahren wir mit dem Auto auf die Insel?«, fragte Hummel.
»Nur runter zum Hafen, dann nehmen wir ein Boot. Aber erst müssen wir einkaufen, nicht wahr«, sagte Tante Frida.
Das »nicht wahr« war anscheinend eine Marotte von ihr.
Sie gingen im Gänsemarsch nach draußen und stopften ihr Gepäck in den Kofferraum von Tante Fridas Wagen. Es war ein dunkelblauer Kombi, und auf die Hecktür waren Tulpen gemalt.