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Kann man nicht mal in Ruhe Ferien machen!? Kaum sind die Karlssons auf Tante Fridas Insel angekommen, muss Frida die Kinder mal wieder sich selbst überlassen. Sie muss in die Stadt, um die Sache mit den Münzen zu klären, die die Wombats auf der Insel ausgebuddelt haben. Vielleicht ist es ja ein Wikingerschatz. Nur komisch, dass kurz darauf schon die angeblichen Archäologen auftauchen, zwielichtige Gestalten, die sich nicht gerade wie Wissenschaftler benehmen. Sind das etwa Raubgräber? Gewissheit bekommen die Kinder, als die üblen Typen sie einsperren, um mit dem Schatz zu flüchten. Aber so leicht lassen sich die Karlssons nicht überrumpeln. Und Alex tüftelt einen listigen Plan aus.
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Seitenzahl: 153
Katarina Mazetti
Die Karlsson-Kinder
Wikinger und Vampire
Aus dem Schwedischen vonAnu Stohner
Großvater und Großmutter Karlsson(mütterlicherseits)
4 Töchter:
Ulla, Forscherin, verheiratet mit Allan,Mutter von Julia und Daniella, genannt Hummel
Molly, Schauspielerin, Mutter von George
Ellen, Köchin, lebt zusammen mit Claude Bouclé,Mutter von Alex
Frida, Künstlerin
Kommando Doppingö?
»Wir könnten uns ›KKK‹ nennen«, sagte Hummel verträumt.
Sie lümmelte mit den Knien an den Ohren im Sessel und ließ die Füße über die Armlehnen baumeln. Ihre roten Haare breiteten sich in unterschiedlich langen Strähnen in alle Richtungen aus. Erst kürzlich war ihr eine riesige Kaugummiblase in die Frisur geraten, und man hatte ihr hier und da etwas herausschneiden müssen.
»Ich finde, wir sollten einen Namen für unseren Klub auf Doppingö haben. Die Karlsson-Kinder und der Kater – macht KKK!«
Ihr Kater hieß wirklich nur Kater, und als er seinen Namen hörte, schaute er von seinem Platz neben dem Sessel zu Hummel auf. Dort lag er schon geraume Zeit und bewachte eine ziemlich fette Plastikratte.
»Mjauiii?«, sagte er fragend.
»KKK geht schon mal gar nicht«, sagte Hummels ältere Schwester Julia. »Es gibt nämlich schon welche, die so heißen. Aber davon hast du natürlich keine Ahnung.«
»Nein, aber das Fräulein Oberschlau, wetten?«, schnaubte Hummel.
»KKK steht für Ku-Klux-Klan«, sagte Julia. »Und jetzt müsste man natürlich wissen, was das wieder ist.«
»Kuh weiß ich, nur Kluxklan nicht«, murmelte Hummel.
Julia lächelte erst, aber dann wurde sie ernst.
»Der Ku-Klux-Klan ist ein Geheimbund in Amerika, in dem sind Leute, die schwarze Menschen hassen, weil sie glauben, dass sie als Weiße was Besseres und allen anderen Menschen überlegen sind.«
Hummel lachte, aber dann runzelte sie die Stirn.
»Spinnen die? Dann wäre ja mein schrecklicher Mathelehrer was Besseres als Michael Jackson oder Will Smith, nur weil er weiß ist«, sagte Hummel. »Du weißt schon, der, der sich immer am Kopf kratzt und dann die Schuppen auf unsere Mathebücher regnen lässt. Manchmal bohrt er auch in der Nase und beguckt sich das Rotzklümpchen, das er rausgepopelt hat. Einmal hat er’s sogar an die Tafel geschmiert und gedacht, wir merken es nicht. Und der soll was Besseres sein als Rihanna! Nur weil er weiß ist? Oder besser gesagt käsegrau?«
»Mmmm«, machte Julia, die gerade den Ku-Klux-Klan googelte. »Da steht, die nennen sich christlich, und andererseits verbrennen sie immer Kreuze …«
»Verbrennen? Wieso das denn? Ich dachte für Christen sind Kreuze was Heiliges«, sagte Hummel. »Ich sag’s ja, die spinnen!« Sie überlegte kurz, dann fuhr sie fort: »Okay, KKK geht nicht. Wie wär’s dann mit ›Vier Freunde‹ … oder ›Kommando Doppingö‹ …?«
Doppingö hieß die Insel, auf der die Tante der Mädchen, Frida, wohnte. Julia und ihre Schwester Daniella, genannt Hummel, liebten es, die Schulferien auf Doppingö zu verbringen, vor allem, weil sie dort meistens auch ihre beiden Cousins George und Alex trafen. Tante Frida gehörte die ganze Insel, und sie hatten dort schon eine Menge spannende Sachen erlebt. Bald war es wieder so weit. Frida hatte ihnen schon geschrieben und sie für die Sommerferien eingeladen.
»Wir sind doch sowieso kein Klub, Hummel«, sagte Julia. »Wir sind Cousinen und Cousins. Wozu brauchen wir da noch einen besonderen Namen? Ist Karlsson nicht gut genug?«
»Aber ganz bestimmt!«, sagte Hummel und nickte. »Ich trage diesen Namen mit Stolz und Ehre!« Sie las gerade ein Buch über Ritter, in dem so gesprochen wurde. »Obwohl ich mir wünschte, der gute Alex spräche ihn nicht wie ›Kalsong‹ aus. Aber er kann natürlich nichts dafür.«
Sie schubste den Kater vom Sessel, der sich schnurrend über ihren runden Bauch gelegt hatte.
»Nein, Kater, es wird mir zu warm, wenn du da liegst mit deinem dicken Fell!«
Der Cousin der Mädchen, Alex, kam aus Frankreich und hatte, obwohl er gut Schwedisch sprach, einen leichten französischen Akzent. Seine Eltern waren Köche, und er selbst träumte davon, einmal ein berühmter Fernsehkoch zu werden. Die Ferien auf Doppingö benutzte er gern zum Üben, indem er seinen Cousinen und seinem Cousin gutes französisches Essen kochte. Reiten konnte er auch gut. Und Hummel betete ihn an.
»Ach, Aaaaaalex!«, seufzte sie gedankenverloren. »Bald darf ich dich wiedersehen! Und deinen fantastischen Apfelkuchen essen!«
»Warum verdrehst du die Augen?«, fragte Julia, die Hummels Seufzer zum Glück nicht verstanden hatte.
Hummel wurde rot.
»Ach … ich musste nur dran denken, wie herrlich es sein wird, wieder mal ein paar Wochen auf Doppingö zu verbringen«, sagte sie.
»Mmmmm …«, machte Julia. »Doch, manchmal hat es auch was Gutes, wenn die Eltern im Sommer auf Forschungsreise gehen.«
»Eines Tages forschen sie sich noch zu Tode«, sagte Hummel und strampelte mit den Beinen, die ihr anscheinend einzuschlafen drohten. »Aber du hast recht: Im Sommer sollen sie so viel forschen, wie sie wollen.«
»Tante Molly ist übrigens auch wieder mit ihrer Theatergruppe unterwegs«, sagte Julia. »George hat erzählt, als er noch klein war, musste er immer mit, und manchmal haben sie ihn einfach irgendwo vergessen. Er meinte, bei Theaterleuten sei so was normal. Und manchmal durfte er sogar mitspielen, als Kind oder Hund zum Beispiel. Und einmal war er eine Ratte mit riesengroßen Vorderzähnen aus Plastik.«
Hummel kicherte.
»Da hätt ich ihn echt gern gesehen«, sagte sie. »Hast du übrigens gewusst, dass Alex’ Eltern ihn diesen Sommer auch mitschleppen wollten? Bisher fanden sie immer, dass er noch zu jung ist, um mit auf die Kreuzfahrtschiffe zu kommen, auf denen sie immer kochen. Aber dieses Jahr hieß es plötzlich, er ist alt genug.«
»Ehrlich? Wie blöd!«, sagte Julia. »Doppingö ist immer schön, aber ohne sein leckeres Essen …«
»Ich hab nicht gesagt, dass er mit seinen Eltern mitkommt«, sagte Hummel grinsend. »Nur dass seine Eltern wollten, dass er mitkommt. – Er macht aber doch lieber mit uns Ferien.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Julia erstaunt.
»Er hat mir gestern eine Mail geschickt«, sagte Hummel stolz. »Er kommt genau gleichzeitig mit uns an – glaub ich wenigstens. Er hat auf Schwedisch geschrieben, aber irgendwie so, als würde er es französisch buchstabieren.«
»Ach, schön!«, sagte Julia. »Dann werd ich nur die Wombats ein bisschen vermissen. Irgendwie fand ich’s doch lustig mit den struppigen Kerlchen.«
»Struppige Kerlchen – das war ganz schön anstrengend mit denen!«, sagte Hummel. »Das hast du bloß vergessen.«1
»Ich bin gespannt, wie es mit Fridas neuen Plänen klappt«, sagte Julia nachdenklich. »Was wollte sie noch mal werden? Aromatherapeutin? Oder Arboristin? Ich meine, dass es eins von beiden war. Erinnerst du dich? Sie wollte doch diese alphabetische Liste mit Berufen machen und ist nur bis A gekommen.«
»Tante Frida wechselt die Berufe öfter als ich meine Jeans«, sagte Hummel.
»Was allerdings mehr über dich aussagt als über sie«, sagte Julia trocken. »Wie lange hast du die hier eigentlich schon an? Oder warte, man kann’s ja auch an den Essensresten abzählen – eine Woche, würde ich sagen. Wie machst du das eigentlich, isst du mit den Knien?«
Hummel lachte unbekümmert.
»Na und? Kleider werden vom Tragen nur schöner«, sagte sie. »Aber weißt du wirklich nicht mehr, wofür Frida sich am Ende entschieden hat? Sie hat’s uns doch gesagt.«
»Und was war’s? Jetzt sag schon!«
»Ich sag nur, dass sie wahrscheinlich schon jede Menge Spaten angeschafft hat«, sagte Hummel.
»Ja, klar! Da war doch diese alte Silbermünze, die eins von den Wombatmännchen ausgebuddelt hatte. Sie wollte Archäologin werden und auf der Insel nach Altertümern graben. Nach alten Schätzen und so was.«
»Und wir sollen ihr bestimmt beim Graben helfen«, sagte Hummel vergnügt. »Weißt du was: Wenn’s um vergrabene Schätze geht, bin ich sogar freiwillig dabei!«
Der dicke Kater, der gerade noch regungslos auf dem Rücken gelegen hatte, schüttelte sich plötzlich und kam geschmeidig auf die Beine. Er sprang wieder auf Hummels Sessel und drückte sich gegen ihre Beine.
»Ja, natürlich darfst du dabei sein, Katerchen«, sagte Hummel. »Vielleicht finden wir sogar die eine oder andere Wühlmaus für dich. Die schmecken besser als Plastikratten, behaupte ich mal.«
»Miaaaoooooouuu!«, sagte der Kater dazu und leckte sich schon mal die Pfoten.
Wer möchte denn eine Laterne spielen?
»Und du bist dir ganz sicher, dass du nicht mit uns aufs Schiff willst?«, fragte Ellen Karlsson ihren Sohn Alex. »Wir haben uns schon so darauf gefreut. Und du könntest eine Menge neue Gerichte lernen. Vor allem bei den Nachtischen wollen wir groß auffahren, eine dreifarbige Crème Bavaroise zum Beispiel, mit Vanille und zwei Sorten Schokolade!«
Alex’ Familie war ausnahmsweise einmal vollständig im Wohnzimmer von Großmutter Bouclé in dem kleinen französischen Küstenstädtchen versammelt: Vater Bouclé, groß und dick, mit roten Narben und Brandmalen an den Händen, wie es sich für einen Koch gehörte. Mutter Ellen, flink wie ein Wiesel und die langen Haare immer zu einem großen Knoten gebunden, damit sie unter die Kochmütze passten. Und die schmale Großmutter Bouclé, weißhaarig und leicht hexenhaft, die, wie eigentlich immer, an einem Pullover strickte.
»Eine Bavaroise für ein paar Hundert Leute – ist das euer Ernst?«, fragte Alex. Er war ein sommersprossiger Junge mit braunen Augen und dichten dunklen Haaren wie sein Vater und seine Großmutter. »Für so was Kompliziertes braucht ihr doch eine Nacht extra!«
Alex war schon ein fast genauso guter Koch wie seine Eltern, aber sie hatten es ihm ja auch beigebracht. Und Großmutter Bouclé natürlich.
»Na ja, wenn du mitkommen würdest …«, sagte Ellen.
»Ich hab’s gewusst!«, protestierte Alex. »Ihr braucht eine zusätzliche Arbeitskraft, darum wolltet ihr mich dabeihaben. Nein, danke! Außerdem muss ich mich um meine Verwandtschaft auf Doppingö kümmern. Wenn sie mich nicht hätten, würden sie sich wahrscheinlich wochenlang nur von Cheeseburgern und Schokocrispies ernähren.«
Ihn schauderte, wenn er nur daran dachte. Und dann fiel ihm ein, wie sehr Hummel Schokolade liebte, und er beschloss, wenn schon, dann den Cousinen und dem Cousin eine Bavaroise zu machen. Und Tante Frida natürlich. Ach, er hatte schon richtig Sehnsucht nach Doppingö!
Ellen lächelte ihn traurig an, aber er lächelte fröhlich zurück. Niemals würde er Doppingö gegen ein Kreuzfahrtschiff eintauschen.
»Na schön, wenn ich ehrlich bin, hab ich auch nichts anderes erwartet«, seufzte Ellen. »Und das hier ist ein Geschenk für dich. Das wirst du auf Doppingö gut gebrauchen können.«
Mit diesen Worten überreichte sie ihm ein fast würfelförmiges Paket, das schön in Geschenkpapier eingewickelt und mit gekräuselten Bändchen verziert war.
Alex packte es aus und war begeistert.
»Ein Fotoapparat! Und genau der, den ich schon immer haben wollte!«
»Ich weiß. Wir dachten, so kannst du Fotos von der Doppingö-Bande machen und in deinem Zimmer an die Wand hängen, damit du sie auch im Winter um dich hast.«
»Aber das erste Foto mach ich von dir, Maman. Und von Papa und von Grand-mère. Die nehm ich dann auf Doppingö mit.«
Dann nahm er seine Mutter in den Arm.
»Nicht traurig sein!«, sagte er. »Dafür bring ich dir ganz viele schwedische Beeren mit. Preiselbeeren und alles. Damit erfinden wir dann ein neues Dessert, ein Parfait Suedoise à la Ellen et Alex.«
Sein Vater stand auf und boxte seinem Sohn liebevoll auf den Oberarm.
»Schluss jetzt mit dem Gesäusel!«, sagte er. »Komm mit in die Küche, dann zeig ich dir, wie das mit der dreifarbigen Bavaroise funktioniert! Für die werden die Schweden sogar ihren verfaulten Hering stehen lassen.«
»Dass ich nicht lache!«, sagte Großmutter Bouclé und wedelte mit den kleinen faltigen Händen. »Die Bavaroise hab ich ihm schon beigebracht, da war er fünf!«
»Und du bist dir ganz sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte Georges Mutter in einem fast flehenden Ton. »Die Tournee wird bestimmt toll, und wahrscheinlich würdest du sogar eine Rolle in dem neuen Stück bekommen. Ich hab schon mit dem Regisseur geredet.«
»Bin ich nicht schon ein bisschen zu groß, um eine Ratte zu spielen?«, fragte George. »Oder ein Kind oder einen Hund?«
»Darum geht’s in dem neuen Stück doch gar nicht!«, sagte Molly. »Es ist was Fantastisches, wo tote Dinge lebendig werden und anfangen, mit den Menschen zu reden. Ich selbst spiele eine Kommode mit drei Schubladen. Es ist großartig und unglaublich intensiv. Verstehst du, drei Schubladen, und in jeder liegen irre neue Möglichkeiten für die Menschen verborgen …«
»Und was soll ich dann spielen?«, fragte George.
»Eine Laterne! Oh, du würdest eine fantastische Laterne abgeben, so schmal und groß, wie du bist! Du würdest dich zu den bedauernswerten Menschen hinunterbeugen und ihnen mit klugen Worten den Weg aus dem Dunkel zeigen …«
»Und wenn ich mir für die Sommerferien was Lustigeres vorstellen kann, als eine Laterne zu spielen?«, fragte George.
Seine Mutter schien für einen Augenblick irritiert.
»Was Lustigeres? Du meinst, Ball spielen und Seil springen und im Wasser planschen? Hollahi-hollaho-holla-hopsasa, meinst du das? Ich dachte, du willst Künstler werden. Oder bist schon einer. Dann weißt du doch, dass wir nur in der Kunst bis in die Tiefen unserer Seele blicken können.«
George seufzte. Er war, was Mollys Vorträge über die Kunst und das Leben betraf, halbwegs abgehärtet, aber besser war es, sie im Keim zu ersticken.
»Stimmt schon«, sagte er deshalb. »Aber ich bin eben auch noch ein bisschen im Hollahi-hollaho-holla-hopsasa-Alter.«
Molly sah ihn misstrauisch an. Sie hatte wohl das Gefühl, dass er sie auf den Arm nahm. Aber sie gab noch nicht auf.
»Pass auf, ich zeig dir mein Bühnenkostüm!«, sagte sie.
Sie lief zu ihrem Kleiderschrank und holte eine große braune Papiertüte heraus. Darin steckte ein gepolstertes Etwas, in das sie umständlich hineinschlüpfte.
»Tataaa – eine Rokokokommode!«
George starrte sie entgeistert an. Er hatte schreckliche Mühe, nicht loszulachen. Sie sah wie ein kleines Gartenhäuschen mit Schubladen aus. Ein verschrecktes kleines Gartenhäuschen mit Schubladen.
»Was ist? Findest du, es trägt zu sehr auf?«
George klopfte ihr auf den Rücken, und es machte »poff«.
»Du bist bestimmt die tollste lebendige Rokokokommode von ganz Schweden«, sagte er, so lieb er konnte.
Er mochte seine Mama sehr, aber er log nicht gern, und streng genommen hatte er ja auch nicht gelogen. Denn sehr wahrscheinlich war sie die einzige lebende Rokokokommode im Land.
Sie strahlte ihn an und begann, sich staksig durchs Zimmer zu bewegen, ungefähr so, wie sie sich vorstellte, dass eine Rokokokommode es tun würde, wenn sie es könnte.
George seufzte und widmete sich wieder seinem Zeichenblock. Denn in dem Punkt hatte seine Mutter recht: George war tatsächlich schon ein Künstler, nur eben kein Schauspieler. Er konnte gut zeichnen, und jetzt gerade zeichnete er einen Vogel, der begeistert in dem kleinen Vogelbad auf ihrem Balkon planschte. Sie wohnten in einer bescheidenen Wohnung am Stadtrand, und Molly hatte den ganzen Balkon mit Pflanzen gefüllt. Es war so ziemlich das einzige Grün im Umkreis von einem Kilometer, und George hatte Sehnsucht nach Doppingö: nach dem Meer und den Seevögeln, dem Wald, in dem es eine versteckte Höhle gab, und der Wiese mit den Höhlen und Gängen der verrückten Wombats, die Tante Frida mal gehalten hatte …
»Ich hab’s!«, rief Molly plötzlich. »Ich hab eine Idee! Wir könnten deine Cousinen und deinen Cousin auch mit auf die Tournee nehmen. Sie könnten die Esszimmermöbel spielen, dafür haben wir auch noch niemanden. Dann seid ihr zusammen, und Ballspielen könnt ihr genauso gut in den Pausen und nach der Vorstellung!«
George seufzte beim Gedanken daran, was Julia wohl sagen würde, wenn er ihr vorschlug, dass sie mit einer Theatertruppe durchs Land ziehen und zum Beispiel einen Esstisch spielen sollte.
»Ich glaube, wir sind alle noch nicht so weit, Mama«, sagte er. »Aber ihr werdet bestimmt jemanden finden. Ich bin mir sicher, es gibt jede Menge Leute in Schweden, die gern Esszimmermöbel spielen möchten.«
»Ich glaub jetzt an Vampire!«
»Das geht doch nicht!«, sagte Hummel sauer. »Wir können doch nicht hier sitzen bleiben, bis wir Wurzeln schlagen!«
Hummel und Julia saßen auf einer der Bänke in der kleinen halb gläsernen Wartehalle des Busbahnhofs von Östhamn und warteten seit geschlagenen zwei Stunden, dass Tante Frida kam und sie abholte. Tante Frida machte immer so viel auf einmal, dass sie manche Sachen verschusselte, aber dass sie sich gleich zwei Stunden verspätete, war noch nie vorgekommen. Und sie ging auch nicht an ihr Handy.
Julia hatte inzwischen sämtliche Freundinnen zu Hause angesimst, aber auch damit war sie jetzt fertig. Sie steckte ihr Handy weg und gähnte.
»Und es ist auch noch so warm!«, stöhnte sie. »Wenn wir gewusst hätten, dass sie zwei Stunden zu spät kommt, hätten wir so lange baden gehen können.«
Der Kater, der im tiefsten Schatten unter der Bank lag und leise hechelte, gab ihr mit einem beleidigten Miauen recht.
»Miäääää!«
»Vielleicht ist ihr ja was zugestoßen«, sagte Hummel. »Aber dann hätte sie uns wenigstens anrufen können.«
»Was soll ihr denn zugestoßen sein? Meinst du, sie ist von wilden Tieren angefallen worden? Oder von Seeräubern? Oder glaubst du, es sind wieder Spione auf der Insel? Das glaubst du doch immer.«
»Überhaupt nicht!«, sagte Hummel beleidigt. »Ich glaub schon lange nicht mehr an Spione. Ich glaub jetzt an Vampire! Ich dachte, sie ist vielleicht eine Treppe runtergefallen und hat sich das Bein gebrochen oder so. Oder sie hat einen Herzinfarkt gekriegt. Oder einen Schlaganfall. Alte Leute kriegen so was manchmal ganz plötzlich. Sie fallen um, und aus!«
»Frida ist zweiunddreißig, da ist man doch noch nicht alt. Sei froh, dass sie das nicht gehört hat!«, sagte Julia.
Hummel sah nicht wirklich überzeugt aus. Für sie waren alle Menschen über ungefähr zwanzig alt.
»Und was meinst du damit, dass du jetzt an Vampire glaubst? Kommt das von der Fernsehserie, die du abends heimlich guckst?«
»Ich kann sehr wohl zwischen Fernsehen und Wirklichkeit unterscheiden, falls du das meinst«, sagte Hummel altklug. »An Fernsehvampire glaub ich nicht, die schau ich mir nur an. Aber wo Rauch ist, muss auch Feuer sein, heißt es. Also muss es früher auch mal richtige Vampire gegeben haben – sonst gäb’s nämlich nicht so viele Geschichten über sie! Und in Südamerika gibt’s zum Beispiel riesengroße Fledermäuse, von denen die Indianer denken, dass sie …«
»Jetzt hör doch auf! Wahrscheinlich glaubst du auch noch an Wichtel und Trolle …«
Julias Laune verschlechterte sich zusehends. So hatte sie sich den Beginn ihrer heiß ersehnten Sommerferien nicht vorgestellt.
»Und was glaubst du selbst, Fräulein Oberschlau? Was glaubst du, wo Frida ist? Und wie lange willst du noch hier sitzen und warten?«, fragte Hummel.
Sie schwitzte und bekam schon wieder Hunger, obwohl sie schon dreimal an der kleinen Würstchenbude neben der Wartehalle gewesen war. Hummel war immer hungrig, aber das machte ihr normalerweise nichts aus. Dazu aß sie einfach viel zu gern.