Die lange Reise der Artemis - Kristina Günak - E-Book

Die lange Reise der Artemis E-Book

Kristina Günak

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Beschreibung

Im Jahr 2123 befindet sich Milla Greenwich, eine der letzten echten Ärztinnen der Erde, in einer verzweifelten Lage. Auf der Flucht mit dem Ziel, das Leben ihres schwer verletzten Bruders zu retten, gerät sie ins Visier der mächtigen Galaktischen Union. In einer Welt, in der Vertrauen ein Luxus ist, den sich wenige leisten können, wird Milla zur Gejagten in einem tödlichen Katz-und-Maus-Spiel. In ihrer dunkelsten Stunde stößt sie auf die Artemis, ein unscheinbares Raumschiff, das ihr unerwartet Zuflucht bietet. Doch die Artemis birgt ihre eigenen Geheimnisse – ihr Kapitän, ein genetisch modifizierter Supersoldat, ist selbst auf der Flucht und trägt ein Geheimnis in sich, das das Schicksal der Galaxie verändern könnte. Gemeinsam mit diesem unerwarteten Verbündeten begibt sich Milla auf eine gefährliche Reise durch den Weltraum. Jeder Moment zählt, und die Grenzen zwischen Jäger und Gejagtem verschwimmen. Was als Rettungsmission für ihren Bruder beginnt, verwandelt sich bald in einen Kampf ums Überleben, bei dem nicht nur das Leben ihres Bruders, sondern das Gleichgewicht der gesamten Galaxie auf dem Spiel steht.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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DIE LANGE REISE DER ARTEMIS

KRISTINA GÜNAK

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Danke!

Über die Autorin

Ein Blick hinter die Kulissen – Sei dabei!

Kristina Günak schreibt auch als Kristina Valentin

Die Vampirserie

Impressum

KAPITELEINS

Ich war tot! Und im Himmel! Ich fühlte mich leicht und völlig losgelöst von allem. Ich hatte immer gedacht, sterben wäre schlimm, aber dieses Gefühl hier war eigentlich nicht schlecht. Es hielt allerdings nur so lange an, bis ich es endlich schaffte, die Augen zu öffnen, dann rammte mir das grellweiße Licht direkt bis unter die Schädeldecke. Schmerz explodierte in meinem Kopf, und ich kniff die Augen wieder fest zusammen. Irgendwo ertönte ein schriller Alarmton.

Man hatte uns in nervenaufreibenden Übungen darauf konditioniert, bei diesem schrillen Geräusch sofort die in jeder Kabine angebrachten Sitzplätze mit den festen Gurten aufzusuchen. Wenn wir dann noch Zeit hätten, sollten wir unbedingt den starren Nackenschutz anlegen, der uns im Falle einer Kollision vor dem Genickbruch bewahrte. Wobei ich damals schon gedacht hatte, dass ich im Falle einer Kollision viel lieber einen doch meist schlagartig eintretenden Tod durch Genickbruch sterben würde, als das zu erleben, was nach der Havarie eines Raumschiffes ansonsten zur Option stand.

Ich hatte es leider weder geschafft, die Sicherheitsgurte noch den Nackenschutz anzulegen. Stattdessen lag ich jetzt auf dem Stahlboden, und mir tat alles weh. Immerhin lebte ich. Erneut öffnete ich die Augen, wenn auch vorsichtiger. Diesmal war ich gefasst auf die Helligkeit. Dann versuchte ich, einen tiefen Atemzug zu nehmen. Die Luft schmeckte nach Ozon und Staub, und ich musste keuchend husten.

Ich war tatsächlich im Himmel. Tausende Kilometer von der Erde entfernt. Und es war nicht schön. Es würde auch ungefähr noch tausend Tage so weitergehen, wenn nicht jetzt schon unser letztes Stündlein geschlagen hatte. Wovon ich aufgrund der aktuellen Sachlage ausgehen musste.

Die Barrakuda gab ein dumpfes Grollen von sich, legte sich erneut auf die Seite, und ich konnte nur durch einen beherzten Griff an die Stahlstreben der Untersuchungsliege verhindern, dass ich einmal quer durch meine Praxiskabine geschleudert wurde. Das Schiff blieb für den Moment in dieser ungesunden Schräglage, und ich rutschte langsam über den Boden.

»Ich möchte nach Hause«, flüsterte ich, schaffte es aber im nächsten Augenblick immerhin, mich mit den Füßen an der gegenüberliegenden Wand abzustützen.

»Arzt auf die Brücke!«, ertönte die sanfte weibliche Computerstimme aus den Lautsprechern, die sich versteckt in jeder Nische des Schiffes befanden. Die Lautsprecher hießen in der Raumfahrt anders – ich hatte das Wort wieder vergessen –, da die Dinger aber laut mit der Besatzung und den Passagieren sprachen, blieb ich bei diesem schönen irdischen Wort.

»Allzeit bereit!«, antwortete ich in die Leere meiner Praxiskabine, während ich weiterhin die Stahlstreben umklammerte. Man würde nicht nur auf der Brücke einen Arzt benötigen, nachdem wir gerade wie in einem Mixer durchgeschüttelt worden waren, bloß wie sollte ich dahin kommen, wo man mich brauchte? Fliegen?

»Arzt auf die Brücke!«, erklang wieder diese liebliche Stimme, die ihrem Erregungszustand nach maximal gerade eine Tasse Tee zu sich nahm, während sie auf einen plätschernden Bergbach blickte. Langsam richtete sich das Schiff wieder auf Normalniveau aus. Trotzdem hielt ich die Stahlstrebe fest umklammert, denn mit der künstlichen Schwerkraft stimmte irgendetwas nicht. Ich fühlte mich weiter sonderbar leicht und losgelöst.

»Ja, doch!«, antwortete ich, wartete einen Herzschlag lang ab, was da noch kommen möge, und rappelte mich, als es ruhig blieb, hoch auf die Knie. Ein schwieriges Unterfangen, denn meine Knie wollten nicht so recht Bodenkontakt halten.

Es war meine zweite Woche auf der Barrakuda. Ich hatte seitdem nur gefilterte Luft geatmet, furchtbaren Fraß zu mir genommen, kaum geschlafen und zweimal meinen neuen Assistenten getreten. Der war kein Mensch, sondern eine künstliche Intelligenz. Eine KI, der man zum Glück kein menschliches Antlitz verpasst hatte, wie man es auf der Erde in den 2050ern versucht hatte, was ja gehörig in die Hose gegangen war. Wenn sie aussahen und sich benahmen wie Menschen, wurde es schwierig.

Diese hier sah halt aus wie ein Roboter. Und sie war so dumm wie ein Roboter. Außerdem hatte sie zu den unpassendsten Gelegenheiten Gedichte von Rilke zitiert, was mich unfassbar genervt hatte, sodass ich ihr das erst mal verboten hatte. Ob ihr das jemand einprogrammiert hatte – als kleinen Gruß irgendwelcher irren Computer-Techs – oder ob sie es sich selbst beigebracht hatte, hatte ich bis jetzt nicht herausfinden können.

Es hätte mir zu denken geben müssen, dass das Schiff, auf dem ich mich befand, einen derartig kämpferischen Namen trug. Barrakudas waren keine netten Fische. Ich hätte vielleicht auf der DP Goldfisch anheuern sollen. Die flog allerdings nicht bis nach Padas im Sternsystem Gordos, und das war mein Ziel. Zumindest hatte ich das der Auswanderungskommission gegenüber behauptet, die entschieden hatte, dass ich mich lebenslang zu dieser Mission verpflichten durfte.

Nur würden meine Mitreisenden Padas genauso wenig erreichen wie ich, wenn ich es nicht schaffte, irgendwie zur Brücke zu kommen. Denn derjenige, der uns nach Padas bringen würde, brauchte offenbar meine Hilfe.

»Arzt auf die Brücke!«, erscholl der nächste Hilferuf, und ich kam endgültig auf die Beine, denn die Schwerkraft war endlich wieder so, wie sie sein sollte. Ich packte meine Notfallausrüstung, die gefühlte zweihundert Kilo wog, wuchtete sie mir auf den Rücken und betätigte den kleinen Taster neben der Tür zu meinen Praxisräumen.

Die meisten Türen öffneten sich automatisch oder doch zumindest über eine Sprachsteuerung, aber in meiner Praxis lagerten die wirklich wichtigen Dinge, die für die nächsten tausend Tage das Überleben sicherten. Deswegen war das hier sozusagen Fort Knox, wie man in der altertümlichen Sprache gesagt hätte.

Vorsichtig betrat ich den langen Flur und blickte nach links und rechts, aber er war absolut leer. Der schrille Alarmton erfüllte alles, und hier blinkte in nervtötender Beständigkeit noch ein rotes Notfalllicht. Für die größten Idioten unter uns, die bisher nicht begriffen hatten, dass es ein echtes Problem gab. Energischen Schrittes marschierte ich in Richtung der Lifte, um zur Brücke zu gelangen.

Die Barrakuda hatte endlich ihren Schwerkraftstabilisator wieder im Griff, denn ich konnte ohne wilde Verrenkungen und ohne mich festklammern zu müssen, laufen. In den Notfallübungen für die etwas rückständigen Erdenbürger, die mit der Raumfahrt so rein gar nichts am Hut gehabt hatten, hatten wir gelernt, dass ein Ausfall dieser Stabilisatoren außerordentlich schlecht war. Nun wusste ich auch, wie sich das anfühlte.

Ich traf auf meinem Weg niemanden. Entweder waren alle tot oder einfach schneller darin gewesen, sich ordnungsgemäß zu sichern.

Die Barrakuda war nach offiziellen Maßstäben ein kleines Schiff. Sechsundfünfzig Passagiere, einunddreißig Crewmitglieder. Davon alle menschlich – bis auf einen –, was als Basis ziemlich gut war. Mit Menschen konnte ich umgehen. Dem Rest ging ich aus dem Weg, wobei der Rest leider, bezogen auf das All, in der absoluten Überzahl war. Deswegen war ich dankbar gewesen, dass die Barrakuda keine gemischte Crew angeheuert hatte, wie es heutzutage durchaus üblich war.

Drei Abzweigungen weiter stand ich vor der Tür zur Brücke. Ein ehrfurchtgebietender Ort. Hier hatte man als Normalsterblicher nichts zu suchen. Ich wedelte mit der Hand in Richtung Überwachungskamera und klopfte schließlich vorsichtig an die Stahltür.

»Hallo?«, rief ich energischer, als mir zumute war. Nichts tat sich. »Arzt vor der Brücke!«, brüllte ich dann, und mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür.

Die Stille war beängstigend. Wenigstens kreischte hier nicht die Alarmsirene, aber die Führungscrew wusste wohl auch ohne akustische Untermalung, dass wir ein Problem hatten. Mein größtes Problem war allerdings, mir überhaupt eine Übersicht zu verschaffen, sehr ungünstig für jemanden, der im Notfall das Richtige zur richtigen Zeit tun musste.

Die Brücke war riesig. Sie erstreckte sich im Halbkreis vor mir und schien auf den ersten Blick nur aus Displays, blinkenden Digitalanzeigen und der Aussicht ins All zu bestehen, denn alles war auf die riesige Frontscheibe der Barrakuda ausgerichtet. Vor der jetzt jedoch nicht die Sterne zu sehen waren, sondern ein fremdes, lackschwarzes Raumschiff, das aus irgendeinem Grund sonderbar glitzerte. Und bedrohlich aussah. Selbst wenn ich bis jetzt noch nie im Weltall gewesen war, das erkannte ich schlagartig.

Captain Berg stand hinter seinem Sitz und hatte die Hände auf die Lehne gelegt. Er umklammerte sie so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Mir schenkte er keine weitere Beachtung. In der aktuellen Sachlage war ich Priorität null.

Die restliche Crew saß angeschnallt in ihren Sitzen, es herrschte ein gespanntes Schweigen im Raum. Keiner nahm von mir Notiz, wie ich dort stand, während mir mit meiner schweren Notfallausrüstung auf dem Rücken fast das Kreuz durchbrach. Alle starrten auf die große Frontscheibe und das, was sie offenbarte.

Es schien mir albern, die üblichen Konventionen einzuhalten und darum zu bitten, die Brücke betreten zu dürfen, deswegen ließ ich es bleiben und trat einfach ein, während ich den Blick schweifen ließ.

Ein zweiter Offizier, gut erkennbar an dem Abzeichen auf seiner Brust, sah mich kurz an und deutete nach links. »Johnson«, flüsterte er leise, und ich folgte der Richtung, in die er gezeigt hatte.

Ein Crewmitglied lag regungslos vor der mit Technik vollgepackten Wand auf dem Boden. Jemand hockte neben ihm und hielt seinen Kopf auf dem Schoß. Der Geruch von Blut überlagerte für einen Moment die sterile, gefilterte Atemluft.

Der gekrümmt liegende Mann war tot. Er hatte sich das Genick gebrochen, was ich am furchtbaren Winkel zwischen seinem Kopf und dem Nacken deutlich erkennen konnte. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter.

Von irgendwoher erscholl ein blechernes Klirren und riss mich zurück in die Realität. Ich trat eilig zwei Schritte vor und kniete mich neben den Toten. Das Blut, das ich roch, stammte von einer leichten Schramme auf seiner Stirn.

Der junge Mann, der neben ihm saß und den Kopf des Toten fast zärtlich auf seinem Schoß hielt, blickte mir mit schreckensgeweiteten Augen entgegen. »Ich habe seinen Kopf stabilisiert«, flüsterte er. Das Abzeichen an seiner schwarzen Uniform wies ihn als Techniker aus.

Ich nickte ihm zu und streckte die Hände aus, um ihm seine Last abzunehmen. Hier war von Anfang an nichts mehr zu stabilisieren gewesen. Ein stumpfes Trauma hatte sämtliche Nervenstränge mit einem Schlag durchtrennt, und damit war Ende im Gelände.

»Ich kümmere mich um ihn«, flüsterte ich.

Der junge Mann kam schlagartig auf die Beine und eilte zurück zu seinen Steuerungseinheiten. Wenn man für den Patienten nichts mehr tun konnte, musste man es für alle anderen tun. Dass der Techniker das Offensichtliche ausgeblendet und geglaubt hatte, ihm noch helfen zu können, zeigte mir, wie hoch der Stresslevel hier auf der Brücke gerade war. Und so hockte ich mich neben den Toten, der furchterregend jung wirkte, und breitete eine Schwerkraftdecke über ihm aus.

Im nächsten Moment fing Captain Berg an zu fluchen, und jemand sagte: »Sie scannen uns erneut. Wir müssen handeln.«

Einer der ersten Offiziere tauchte aus dem Nichts auf und packte mich an der Schulter. »Setzen Sie sich auf Johnsons Platz und schnallen Sie sich an!« Mit festem Griff manövrierte er mich auf den Ledersessel, und schlagartig umfing mich das im Notfall automatisch reagierende stabile Gurthaltesystem.

»Haben Sie ihn noch einmal gerufen?« Ich hatte Captain Berg als extrem gelassenen und kompetenten Menschen kennengelernt, jetzt vibrierte seine Stimme vor Anspannung.

Zwei Wochen im All und meine Wahrscheinlichkeit zu sterben lag bei ungefähr achtundneunzig Prozent. Tolle Sache. Ich umklammerte die Armlehnen des Sitzes und stemmte die Füße in den Boden.

Der Offizier neben mir fuhr beständig mit dem Zeigefinger über die angezeigten Daten, die vor ihm in der Luft zu schweben schienen. »Er reagiert nicht«, antwortete er dem Captain.

»Dann hol ihn jemand aus seinem verdammten Quartier!«, erwiderte Captain Berg und klang jetzt ungehalten. Der Jemand war eine junge Frau, die wie mit dem Pfeil abgeschossen aus der Tür der Brücke stürzte.

Ich beugte mich leicht nach rechts zu dem schwer beschäftigten Offizier. »Würden Sie mich bitte in Kenntnis setzen, was los ist? Wenn ich sterbe, wüsste ich das vorher gerne«, sagte ich freundlich und erntete einen irritierten Seitenblick.

Er musste meine Anfrage kurz durchdenken, dann rang er sich allerdings durch, mich zu informieren. »Wir befinden uns aktuell im Siradenkorridor. Der ist sehr abgelegen, die Galaktische Union ist nicht zuständig. Eigentlich ist hier niemand zuständig, weil nirgendwo in der Nähe ein Planet existiert, der irgendjemandem einen Grund geben könnte, sich in dieser Einöde aufzuhalten. Und dann kamen die.« Er nickte zur großen Frontscheibe, vor der das schwarze Raumschiff im Nichts hing wie eine übergroße Spinne von der Decke. »Weder können wir sie zuordnen, noch kennen wir ihre Spezies. Dementsprechend können wir nicht mit ihnen kommunizieren. Sie gehören keiner uns bekannten Art an.«

»Wäre Abhauen nicht eine tolle Option?«, fragte ich, und der Mann neben mir antwortete knapp: »Das haben wir versucht. Daraufhin haben sie uns gestoppt. Mit bekanntem Ergebnis. Wir haben einen unserer fähigsten Techniker verloren. Er ist bei diesem Manöver einmal quer durch die Brücke geflogen.« Sein Kopf ruckte in Johnsons Richtung.

»Und nun?« Ich war wirklich sehr begierig auf seine nächsten Worte. Nichts weniger als mein Leben hing davon ab. Das wusste der Mann neben mir, denn er zögerte seine Antwort ein klein wenig hinaus. »Nun hoffen wir, dass der RIX weiß, womit wir es zu tun haben und wie man damit umgeht.« Ganz unverhofft streckte er mir plötzlich seine Hand entgegen, die ich aus einem Reflex heraus ergriff. »Alexander Baldwin, Marsianer, erster Offizier.«

»Milla Greenwich, Erdenbürgerin, Ärztin an Bord«, erwiderte ich seine förmliche Bekanntmachung und betrachtete ihn einen kurzen Moment genauer. Ich kannte nicht viele Menschen, die auf dem Mars geboren waren. Bisher keinen, um genau zu sein. Aber er sah einfach nur aus wie ein Mensch.

Ich hätte sehr gerne noch ein wenig geplaudert, bevor mein Körper entweder pulverisiert oder durch einen Riss in der Außenhaut ins All geschleudert werden würde, aber im nächsten Moment ging die Tür zur Brücke wieder auf, und die junge Frau stürzte herein. Im Schlepptau hatte sie einen Mann.

Also mein Gehirn wollte ihn als Mann klassifizieren, doch mein armes Gehirn war ja auch wenig geübt im Umgang mit fremden Spezies, deswegen korrigierte ich es: Was der Frau auf die Brücke folgte, war kein Mann.

Ich hatte seine medizinischen Daten von der BDO, der höchsten militärischen Macht innerhalb unseres eigenen Sonnensystems, in verschlüsselter Form erhalten. Er war so etwas wie ein Heiligtum – wertvoll, eine wichtige Investition in die Zukunft der Menschheit, ohne die es die Vergangenheit nicht gegeben hätte.

Mein Instinkt empfahl mir umgehend die Flucht.

KAPITELZWEI

Wir hatten auf der Erde von ihnen gehört. RIX. Wofür das stand, wusste ich nicht. Sie hatten eine teilweise menschliche DNA, aber der Rest schien aus Implantaten und genetischer Optimierung zu bestehen. Sie waren definitiv keine Menschen. Aber sie hatten das Überleben der Menschheit in den letzten zweihundertfünfzig Jahren gesichert, weil ihre Modifikation sie hatte besser sein lassen als einen Großteil unserer Feinde. Und davon hatten wir Erdenbürger in den Galaxien einige.

Dieser RIX stand jetzt neben dem Captain und blickte durch die Frontscheibe. Im direkten Vergleich zu einem Menschen stach seine Andersartigkeit hervor wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit. Wie alle seiner Art trug er offenbar ein Exoskelett in die Außenhaut seines Rückens implantiert. Es spannte sich weit hoch bis zum Atlasknochen direkt unter seinem Schädel und wurde im Nacken durch den Ausschnitt seines Shirts sichtbar. Etwas hatte ihn geschaffen, und er war für mein menschliches Auge, das an Fehler gewöhnt war, irritierend ebenmäßig.

»Wo verdammt noch mal waren Sie?« Captain Bergs Stimme bebte vor Ärger, doch statt einer Antwort fragte der RIX ungerührt zurück: »Worauf warten wir?«

»Wir können nicht mit ihnen kommunizieren. Wir wissen nicht, was sie von uns wollen«, antwortete der Captain.

»Nichts. Sie wollen nichts. Nur uns umbringen. Das sind Nazani.«

»Sie sind im Kommunikationsmodus«, erwiderte der Captain, und es schien jetzt, als wäre er kurz davor, seine Selbstbeherrschung zu verlieren. »Wir greifen niemanden an, der sich im Kommunikationsmodus befindet!«

»Haben Sie schon mal eine Katze gesehen?« Der RIX stellte die Frage, ohne auf eine Antwort zu warten. »Gibt es nur auf der Erde. Bevor die ihre Beute tötet, ist sie auch im Kommunikationsmodus. Sie spielt ihre Beute tot. Nichts anderes haben die Nazani vor.«

»Wir haben Zivilisten an Bord!«

»Ja. Und wenn wir noch länger warten, sind die alle tot«, sagte der RIX knapp. »Barrakuda. Logbucheintrag. Übernahme der Brücke durch RIX. Füge die richtige Zeit ein. Ich weiß nicht, welcher Tag heute ist«, sagte der RIX mit sonorer Stimme.

Captain Berg schien im selben Moment nahezu zu explodieren. Doch bevor er auch nur ein Wort hervorbrachte, hatte der RIX ihn in den nächstbesten Sitz gedrückt und sich selbst auf dem Captainssessel niedergelassen.

»Barrakuda bestätigt«, meldete sich das Bordsystem des Schiffes zu Wort. »Übernahme der Brücke durch RIX.«

»Gefechtsmodus«, murmelte der RIX, und was dann passierte, schaffte es, mir die Haare zu Berge stehen zu lassen. Sämtliche Kommandoeinheiten färbten sich rot, ein tiefes Brummen erfüllte schlagartig das Schiff, und die entspannte Lautsprecherfrau klang plötzlich nicht mehr so entspannt, als sie für alle verkündete: »Die Barrakuda befindet sich im Gefechtsmodus. Begeben Sie sich unverzüglich zur nächsten Sicherungseinheit.«

»Sie handeln nicht nach den Richtlinien der GU«, brüllte der Captain, den die Barrakuda offenbar an seinen Offizierssessel gefesselt hatte.

Der RIX atmete tief durch, dann sagte er: »Dann tun wir das. Handeln wir nach den Richtlinien. Kommunikationssystem aktivieren. Information an die Nazani: Wir greifen euch jetzt an. Ihr habt zehn Sekunden, um zu verschwinden.«

Ohne dass die Barrakuda einen Auftrag dazu brauchte, sprang direkt auf der Frontscheibe ein großer Countdown an.

»Verdammte Scheiße«, brummte Alexander Baldwin neben mir und krallte sich in den Armlehnen fest. Ich tat es ihm gleich und hielt auch noch die Luft an.

»Sie haben ihre Waffensysteme aktiviert«, sagte die Frau, die den RIX auf die Brücke geschleppt hatte. Ich vermutete, sie wollte noch etwas Kluges hinzufügen, etwas, was ich nicht verstanden hätte, weil mir dieser ganze Raumschiffjargon furchtbar fremd war, aber die Barrakuda plärrte mit einem scheppernden »Countdown beendet« dazwischen, und das Schiff sackte mit einem derart zischenden Geräusch nach unten durch, dass mir mein Herz förmlich an die Schneidezähne stieß. Vor uns explodierte etwas. Es war grellweiß und schien sich lodernd an den Rändern auszudehnen. Geblendet kniff ich die Augen zusammen, während mein Herz langsam an seine Position zurücksank. Da draußen waren grade Wesen gestorben. Einfach so. Mir wurde leicht übel.

Als ich die Lider wieder öffnete, leuchteten alle Bedieneinheiten in einem satten Grün. Der RIX stiefelte an mir vorbei. An der Tür hielt er inne und drehte sich halb um. Mir fiel die absolut fehlende Emotion in seinem befremdlich ebenmäßigen Gesicht auf. »Captain. Sollte Ihnen das nächste Mal etwas Sonderbares vor den Bug fliegen, schießen Sie gleich.«

»Ihr Job ist es, uns sicher durch diese Passage zu geleiten. Nicht, alles zu vernichten, was wir treffen«, antwortete Captain Berg kalt, und doch sah ich tief unter seiner Kompetenz einen Riss. Eine Unsicherheit, die er allerdings im nächsten Moment gekonnt unter der jahrelangen Berufserfahrung versteckte.

Der RIX trat einen Schritt zurück auf die Brücke. Ich war mir sicher, dass auch er die Unsicherheit wahrgenommen hatte. »Sie fliegen durch die Enron-Galaxie, Sie kennen die Jupiterroute und die Orte, an denen Menschen sich aufhalten, um Handel zu betreiben. Wir sind hier aber im Siradenkorridor. Es ist sinnvoll, allem zu misstrauen, was einem hier begegnet. Hat man Ihnen das in Ihrem Auswanderseminar nicht beigebracht?« Seine letzten Worte waren definitiv sarkastisch gemeint. Und immer noch schien sein Gesicht total regungslos.

Captain Berg hingegen war überhaupt nicht regungslos. Abscheu lag in seinen Zügen, dann sagte er leise: »Runter von meiner Brücke. Wir haben einen Toten zu betrauern.«

Der Captain erklärte der Barrakuda mit knappen Worten, dass er das Kommando wieder übernehmen würde, und wies die restliche Crew an, verschiedenste Dinge zu tun. Kurs auf irgendwas zu nehmen, Einstellungen zu überprüfen, Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte.

Alexander Baldwin beugte sich zu mir herüber und berührte mich leicht am Arm. »Sie können sich wieder abschnallen. Was machen wir jetzt mit Johnson?«

Ich bekam die Schnalle nicht direkt auf, und erst jetzt bemerkte ich, wie sehr meine Hände zitterten. Erst nach ein paarmal Probieren ließ das schwarze Carbon sich öffnen. So schnell starb es sich also im All. Während auf der Brücke alle ihre Arbeit wieder aufnahmen, fast als wäre nichts geschehen, raste mein Herz immer noch. »Wir haben auf der Krankenstation eine Konservierungskapsel«, sagte ich schließlich zögerlich und warf dem Toten einen Blick zu. »Wir müssen herausfinden, wie er bestattet werden wollte. Im All oder auf unserem Zielplaneten.«

Alexander erhob sich, nachdem er noch ein paar Dinge auf seinem Kommunikator, dem AD, eingegeben hatte. Dabei drehte er sich weg von mir, und im ersten Moment wunderte ich mich, bis ich begriff, dass er um Fassung rang. »Innerhalb der zweiten Woche den ersten Todesfall zu vermelden, ist nicht gut für die Statistik«, brummte er und sah mich jetzt doch an. Er schluckte einmal trocken. »Sein Ziel war es, irgendwann im hohen Alter unter einem Baum bestattet zu werden. Sollte er auf der Reise sterben, wollte er kein Ballast sein und pulverisiert werden.« Er räusperte sich.

Ein weiteres Mitglied der Crew trat zu uns, schien aber abwarten zu wollen, bis wir zu Ende geredet hatten. Ich blickte dennoch zu ihm auf. Ein großer schwarzer Mann mittleren Alters, und auch ihm stand die Betroffenheit ins Gesicht geschrieben. »Baxter besorgt uns eine Trage, und wir bringen Johnson auf die Krankenstation, bis wir eine Allbestattung organisiert haben. Auf dieser Passage dürfen wir keine organischen Rückstände hinterlassen, wir müssen also eh warten, bis wir in der nächsten Galaxie sind.«

Ruckartig stand ich ebenfalls auf. »Dann kümmern Sie beide sich darum. Ich muss zur Krankenstation. So, wie das Schiff durchgeschüttelt wurde, dürften wir einige Verletzte zu versorgen haben. Bitte machen Sie eine Durchsage, dass jeder, der Hilfe benötigt, entweder dort hinkommen oder über die Schiffskommunikation Hilfe anfordern soll.« Ich eilte, so schnell es meine wackeligen Knie hergaben, in Richtung meines Arbeitsplatzes. Zweimal wurde ich abgefangen, da aber keine offenen Brüche erkennbar waren oder das Blut in alle Richtungen spritzte, wies ich die Passagiere an, mir zu folgen. Wenn ich etwas konnte, war es, Prioritäten setzen. Und Priorität eins hatte definitiv das kleine weinende Mädchen auf dem Arm seines wie Espenlaub zitternden Vaters.

»Sie müssen sie da reinlegen!« Der völlig erledigte Vater, dessen Namen ich immer noch nicht verstanden hatte, weil er irgendwo aus dem tiefen Südwesten von Cuasien kommen musste und dementsprechend mit einem schleppenden Akzent sprach, deutete immer wieder auf die Check. Das war der liebevolle Kosename für die System-Check-Unit, kurz SCU. Sie war nach dem letzten Update fast ein medizinisches Wunder, denn sie konnte nicht nur Probleme erkennen, sondern auch viele Probleme selbstständig beheben. Aber kleine, vierjährige, zu Tode verängstigte Kinder steckte man da besser nicht hinein, es sei denn, sie schwebten in Lebensgefahr. Aber das war nicht der Fall. Lessi, wenigstens ihren Namen hatte ich verstanden, schrie wie am Spieß, aber ich freute mich über eine so rege Lebensbekundung. Wer brüllte, starb nicht. Zumindest nicht umgehend.

»Wir machen das erst mal wie in den guten alten Zeiten«, beruhigte ich den Vater und leuchtete mit dem Licht meines ADs abwechselnd in Lessis Augen. Ihre Pupillen reagierten so, wie sie sollten, und nachdem ich dem Kind ein paarmal auf die Nase gepustet hatte, hörte es endlich auf zu brüllen.

»Pass auf, meine Süße. Wir beide müssen uns jetzt ein bisschen beeilen, weil ganz viele Menschen meine Hilfe brauchen. Meinst du, das bekommen wir zusammen hin?«

Lessi schluchzte noch einmal auf, dann zog sie die Nase hoch und nickte. Ich machte ein paar klinische Untersuchungen mit ihr, um ihren neurologischen Status zu überprüfen, aber dem Kind ging es gut. »Behalten Sie sie im Auge. Wenn sie sich irgendwie ungewohnt verhält, über Kopfschmerzen oder Übelkeit klagt, kommen Sie wieder.« Mit diesen Worten schob ich den Vater energisch aus meinem Behandlungszimmer, vor dem Rilke ein wenig Ordnung hergestellt hatte. Er konnte nämlich noch viel besser priorisieren als ich, und hier gab es einiges zu tun, denn es hatten sich fast ein Dutzend Menschen eingefunden.

»Ein Verletzter in Behandlungsraum eins, sofortige Begutachtung durch Sie notwendig.« Rilke auf den Fersen sprintete ich in Behandlungsraum eins. Der Mann lag schon in der Check, die wie irre Mess- und Labordaten auf die großen Displays schickte. Ich verschaffte mir einen Überblick über die Daten. Bis jetzt erkannte ich eine innere Blutung. Vielleicht ein Milzriss. Mindestens eine Rippe hatte die Spitze der Lunge durchbohrt, die zu kollabieren drohte.

»Rilke, übernimm draußen die leichten Fälle und versuch herauszubekommen, wie es der Schwangeren in Quartier zwölf geht«, befahl ich meiner KI, und eilfertig verschwand sie lautlos aus dem Behandlungszimmer. Die SCU hatte ihre Untersuchung mittlerweile abgeschlossen und kam zu der gleichen Diagnose wie ich. Milzriss. Massive innere Blutungen. Sofortiger Eingriff und Entfernung der Milz.

»Narkose einleiten und OP ausführen«, befahl ich der Check, die daraufhin bemerkte: »SCU benötigt für OP durchgehende ärztliche Aufsicht.«Theoretisch richtig, praktisch gerade nicht durchführbar. Nicht, solange ich nicht wusste, wer noch alles meine Hilfe benötigte.

»Befehl überschreiben«, sagte ich.

»Autorisieren Sie sich«, antwortete die Maschine.

Ich hielt mein linkes Handgelenk mit dem Identitätsimplantat über den Scanner. Mit einem leisen Surren las die SCU meine Zugriffsdaten und reagierte mit einem grünen Blinken.

»Befehl überschrieben«, sagte das Gerät. »Beginne Einleitung Narkose.«

Ich zwang mich, wenigstens diesen Schritt abzuwarten und die SCU dabei zu beobachten. Die Einleitung der Narkose war eine der kritischsten Phasen im All. Nicht immer reagierten menschliche Körper unter Einfluss von sich ständig verändernder Schwerkraft und Strahlung, wie sie es eigentlich sollten. Aber hier lief alles glatt. Ich beschloss, der SCU zu vertrauen.

Maschinen konnten besser operieren. Sie waren zu präzisesten Schnitten fähig, zu denen menschliche Operateure körperlich gar nicht in der Lage waren. Aber das war teuer, und nur sehr wenige Menschen konnten sich diese Hightech-Medizin überhaupt noch leisten. Es war furchtbar gewesen, auf der Erde Menschen abweisen zu müssen, weil sie nicht genug Geld für die SCU-Behandlung gehabt hatten. Abgesehen davon waren die Operateure in den Kolonien meistens eh nur Menschen. Schlecht ausgebildete Menschen noch dazu, denn kaum ein Arzt lernte die klassischen Operationstechniken überhaupt noch und konnte mit dem Skalpell umgehen. Hier gleich drei SCUs an Bord zu haben, war ein unfassbarer Luxus und mochte für den einen oder anderen Passagier das Zünglein an der Waage gewesen sein, sich dieser Mission anzuschließen.

Ich ließ die Check ihren Job machen und lief zurück auf den großzügigen Flur, wo Rilke mir bewiesen hatte, dass er, außer zu unpassenden Momenten Rilke-Zitate auszuspucken, doch noch einiges mehr in seinem kleinen Schaltkreis hatte.

Er hatte sehr gut vorsortiert und kümmerte sich gerade um eine Schnittwunde, die er mit dem Healthgate, dem selbstständig arbeitenden Nahtgerät, bearbeitete. So konnte ich mich den zwei Gehirnerschütterungen widmen, dem gebrochenen Zeigefinger, dem verstauchten Knöchel und der gebrochenen Nase. Hier brauchte ich nur die Durchleuchtungsbilder der SCU, der Rest war Handarbeit. Und ich liebte Handarbeit.

Viele Ärzte, ob sie nun auf der Erde oder zwischen den Sternen tätig waren, verließen sich voll und ganz auf das Diagnose- und Heilsystem. Ich nicht. Ich begutachtete jedes einzelne Laborergebnis, setzte es in Relation zu dem Menschen, der vor mir stand, und überprüfte daraufhin die Diagnose der Maschine. Oft genug übernahm ich ihre Arbeit. Ich maß den Blutdruck mit einer alten Manschette, tastete nach vergrößerten Lymphknoten und hielt manchmal auch einfach nur die Hand meiner Patienten. Angeblich, um ihnen den Puls zu fühlen, allerdings benötigte man dafür natürlich keine Berührung. Den konnte ich genauestens am AD eines jeden Einzelnen ablesen. Er zeigte schließlich sämtliche Vitaldaten an. Aber diese Berührungen halfen bei der Heilung, sie konnten Schmerzen lindern und Entzündungen zum Abklingen bringen. Da war ich mir sicher. Auch wenn die Medizin der Neuzeit diese Tatsache nahezu vergessen hatte. Das Handauflegen, diese uralte Heilmethode, brachte schließlich keinem Konzern auch nur einen Credit ein. Man konnte es schon lange nicht mehr studieren, aber ich hatte eine alte Krankenschwester gefunden, die es mir über die Jahre beigebracht hatte. Mittlerweile war es mir zu einer zweiten Natur geworden.

Heute half ich mir mit dieser Art zu arbeiten selbst. Denn der freundliche Zuspruch, den ich meinen Patienten zukommen ließ, lenkte mich davon ab, wie tief mich der Vorfall auf der Brücke erschüttert hatte. Wie deutlich er mir unsere eigene Zerbrechlichkeit vor Augen geführt hatte.

Ein Raumschiff konnte einfach so verschwinden. Niemand würde uns suchen. Als wir die Erde verlassen hatten, hatten wir Abschied genommen. Von unserem Heimatplaneten, von den Menschen, die wir dort zurückließen. Es war ein Abschied für immer. Und vielleicht hatte ich heute das erste Mal wirklich begriffen, was das bedeutete. Das Gefühl von Heimweh überkam mich so schlagartig, dass ich mich bemühen musste, das Lächeln in meinem Gesicht festzubetonieren, damit die Frau, deren Zeigefinger ich gerade schiente, weiterhin in das kompetent wirkende Gesicht ihrer Ärztin blicken konnte.

Die Wochen vor der Abreise waren vollgepackt gewesen mit organisatorischen Dingen, dem letzten gemeinsame Treffen mit Freunden, den letzten Besuchen von Orten, die mir etwas bedeuteten, und den letzten tiefen Atemzügen auf der Erde. Aber das war Vergangenheit. Ich bemühte mich, den Druck des kleinen Amuletts um meinen Hals zu spüren, das sicher auf meiner Brust ruhte. Die letzte Verbindung zu meiner Heimat. Zu meiner Familie.

KAPITELDREI

Es hatte, bis auf Johnsons furchtbaren Tod, keine schwerwiegend Verletzten gegeben. Prellungen und gebrochene Knochen waren zwar keine Bagatellen, aber es hätte schlimmer kommen können. Allerdings hatten wir eine schwangere Frau an Bord, und nachdem in den vergangenen Jahren die Unfruchtbarkeit zu einem Hauptproblem der menschlichen Spezies mutiert war, war sie so wertvoll wie Gold. Für sie und für alle weiteren Frauen, die auf der Reise oder auf Padas guter Hoffnung sein würden, gab es nicht nur mich, sondern auch die Doula. Sie war zwar offiziell nur eine medizinische Assistentin, aber mittlerweile weit mehr als eine Hebamme.

Die gesamte Zukunft der Spezies Mensch hing jetzt an den wenigen Frauen, die noch empfangen und gebären konnten. Und die Fähigkeit dazu wurde immer seltener. Man vermutete Umwelteinflüsse. Hormone im Wasser und sogar die erhöhte Strahlung durch den Erdkern wurden dafür schon verantwortlich gemacht, doch genau wusste die Wissenschaft nicht, warum Frauen kaum noch empfingen. Deswegen gab es seit ungefähr vierzig Jahren diese spezielle Ausbildung. Die Doulas begleiteten Frauen schon vor der Befruchtung und berieten sie auch Jahre nach der Geburt des Kindes noch in Fragen der Gesundheit, Ernährung und Erziehung. Und sie standen allen zur Verfügung, also nicht nur den gut situierten, womit wohl der Einsatz der Doulas eine der wenigen positiven Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten gewesen war. Mich hatte das gefreut, denn in meinen Augen gehörte die Geburtshilfe nicht in rein medizinische und damit oft männliche Hände. Geburtshilfe war eine weibliche Kunst.

»Alles so, wie es sein soll«, sagte Kiala, unsere Doula an Bord, und nahm ihr Ohr von dem altertümlichen Hörrohr, mit dem sie Magdalenas Bauch abgehört hatte. Magdalena war in der 31. Schwangerschaftswoche. Sie hatte Kialas Untersuchungen mit sorgenvoll zusammengezogenen Augenbrauen beobachtet.

»Es wird noch viele dieser Zwischenfälle geben«, sagte Kiala und blickte mich jetzt ernst an. »Ich bin schon lange im Weltall unterwegs, es ist eine Übungssache, damit umzugehen. Man muss einfach andauernd einkalkulieren, dass sich von jetzt auf gleich alles auf den Kopf drehen könnte. Wir müssen immer achtsam sein und immer wissen, wo wir uns sichern können.«

Magdalena richtete sich halb auf und zog ihren Pullover zurück über ihren großen Bauch. »Stimmt es, dass jemand gestorben ist?«, fragte sie mich und lehnte sich zurück auf ihr dickes Kissen.

Ich nickte vorsichtig. »Ja«, sagte ich. »Auf der Brücke ist jemand unglücklich gestürzt.«

Magdalena schloss für einen kleinen Moment die Augen. »Ein Mann oder eine Frau?«, fragte sie leise.

Ich räusperte mich. »Sein Name war André Johnson.«

Kiala legte ihre Utensilien zurück in den bunten Koffer, den sie ständig mit sich herumschleppte, dabei fragte sie wie beiläufig: »Weißt du, welchem Glauben er angehörte? Hatte er Freunde oder Familie auf der Barrakuda, die seine Bestattungsfeier ausrichten können?«

»Ich glaube, einige von der Crew kannten ihn besser«, erwiderte ich zögerlich.

Kiala nickte. »Ich würde gern die Trauerfeier ausrichten, ungeachtet seines Glaubens. Ich denke, es wäre wichtig für alle Reisenden auf diesem Schiff, dass wir gemeinsam Abschied nehmen. Das wird zeigen, dass wir eine Gemeinschaft sind, auch wenn wir uns noch nicht lange kennen.« Kialas Stimme hatte immer einen warmen Unterton. Etwas durch und durch Mütterliches lag in ihrer Art. Extrem passend für ihren Job, und immer, wenn ich sie traf, hatte ich das unbändige Bedürfnis, meinen Kopf einen kleinen Moment an ihre Schulter zu lehnen und ihr die Verantwortung zu übertragen. Oder ihr einfach die Wahrheit zu sagen. Ihr Blick ruhte auf mir, und dann schenkte sie mir ein Lächeln.

»Ich kann etwas singen«, mischte sich Magdalena wieder ins Gespräch ein und schwang ihre Beine über die Bettkante. »Und ich kann nicht nur das Ave-Maria. Ich kann auch die große Gaya singen. Oder etwas von den Erdengläubigen.«

»Das wäre zauberhaft«, murmelte Kiala und ließ mich endlich mit ihrem Blick wieder los. »Wenn du noch genug Luft hast und es nicht zu anstrengend für dich ist. Der Termin rückt immer näher, und du brauchst Ruhe und Schonung.«

»Ich kann nicht die ganze Zeit im Bett liegen«, beschwerte sich Magdalena.

»Aber wärst du bei der Kollision nicht im Bett gewesen, hätte es dich ohne Schwerkraftdecke ziemlich durch die Gegend gewirbelt«, antwortete Kiala streng.

Ich seufzte leise. Ja, unsere Schwangeren hatten es nicht leicht. Sie trugen die Last der gesamten Menschheit in ihrem Uterus, und so wurden sie auch behandelt. Früher hatte man Frauen wohl gesagt, Schwangerschaft sei keine Krankheit. Sie gingen arbeiten, lebten ihr Leben ganz normal. Aber seitdem Kinder Mangelware geworden waren, sah der Umgang mit einer Schwangerschaft ganz anders aus.

»Gut, ihr beiden. Ich sehe zu, dass ich Land gewinne. Der Tag war lang, die Sonne geht gleich unter. Wenn etwas ist, erreicht ihr mich jederzeit über den AD.« Ich verabschiedete mich von beiden und war erstaunt, als Kiala mich kurz in den Arm nahm und an sich drückte. Dabei spürte ich das kleine Medaillon an meiner Kette fest auf meiner Haut. Mich hatte schon sehr lange niemand mehr in den Arm genommen. Für einen kleinen Moment genoss ich die körperliche Nähe.

»Danke«, murmelte ich, schenkte Kiala ein Lächeln und drückte Magdalena kurz die Schulter, während die Doula ihren überdimensionierten Koffer hochhob und mir auf den Flur folgte. Als sich die Tür zu Quartier zwölf schloss, drehte ich mich zu Kiala um. »Darf ich dich etwas fragen?« Kiala wusste so viel mehr über dieses Leben, und ich fast nichts. Ich war ziemlich blauäugig gewesen, das war mir in den letzten Stunden klar geworden.

»Alles, was du wissen möchtest.« Sie blinzelte und hob den Kopf. In jedem Flur liefen Lichtbänder über die Decke. Das Licht dort oben wirkte wie Tageslicht, und so konnte man sich einbilden, dass draußen ein ganz normaler Tag war. Und dieser Tag ging zu Ende, denn das Licht hinter den Plexiglasscheiben hatte einen leicht rosafarbenen Ton angenommen. Die Sonne ging unter.

»Ein lustiges Schiff«, murmelte Kiala. »Bisher war ich noch nie auf einem Schiff unterwegs, das Erdenzeit simuliert. Gut für den Biorhythmus.« Sie sah wieder mich an. »Tag und Nacht hatte ich fast vergessen.« Für einen Moment überkam mich wieder dieses schmerzhafte Heimweh. Die Tage auf Padas waren angeblich ein wenig länger als die Erdentage. Es sollte einen Sommer und einen Winter geben, beide mit moderaten Temperaturen. Wir konnten nur hoffen, dass das stimmte. Unsere einzige Informationsquelle waren die Siedler von Padas, die mit ihren sich selbst versorgenden Schiffen vor über 250 Jahren aufgebrochen waren. Nachrichten von ihnen kamen nur spärlich. Aber die Regierung hatte uns versichert, dass Padas ein exzellenter Kolonieplanet sei. Einer der wenigen Planeten, die ausschließlich aus bewohnbaren Zonen bestünden. Er galt als besonders gesichert, und es hatte der Regierung viel abverlangt, diesen Planeten ohne kriegerische Handlungen für sich zu beanspruchen. Schade, dass ich ihn niemals sehen würde.

»Was wolltest du mich fragen?« Kiala riss mich aus meinen Gedankengängen und stellte ihren Koffer auf den Boden.

»Was weißt du über die RIX?«, fragte ich sie und lehnte mich gegen die Flurwand. Plötzlich war ich unfassbar müde.

Sie zog die hellblonden Augenbrauen zusammen, die so gar nicht zu ihrem dunkelroten Schopf passen wollten. »Hast du ihn auf der Brücke getroffen?«, fragte sie zurück, und ich nickte. Einen Moment überlegte sie. Dann räusperte sie sich. »Die RIX wären leichter zu ertragen, wenn sie KIs wären. Sind sie aber nicht. Sie sind das Ergebnis von Zucht und genetischer Optimierung. Und in ihnen steckt so viel Technik, dass sie in meinen Augen nur noch bedingt als menschliche Lebewesen durchgehen. Sie sind kalt und emotionslos. Killer, wenn du mich fragst.«

»Dieser RIX an Bord hat die Brücke übernommen, nachdem wir angegriffen wurden. Ich weiß nichts über diese … Art«, schloss ich meinen Satz nachdenklich. »Dabei sehen sie irgendwie menschlich aus«, fügte ich noch hinzu.

»Ihr Schmerzempfinden soll fast menschlich sein, damit sie sich nicht selbst gefährden. Aber sie lernen, darüber hinauszugehen. Schmerz, auch schlimmsten Schmerz, auszuhalten. Emotionen werden weggezüchtet oder abtrainiert. Ich halte sie für gefühlskalte Psychopathen. Die, zugegeben, die Erde und uns Menschen ziemlich gut beschützt haben. Ohne die RIX gäbe es uns wohl nicht mehr. Was sie mir dennoch nicht sympathischer macht.« Sie seufzte und nahm erneut ihren Koffer. »Ich bin schon lange in Raum und Zeit unterwegs und habe viele Wesen kennengelernt. Alle sind besonders. Haben ihre Eigenheiten, ihre Rituale, ihre Sozialisierung und ihr Zuhause. Aber wenn ich einen RIX treffe, mache ich auf dem Absatz kehrt. Dass wir ihn auf diesem Schiff haben, ist einerseits gut. Er wird uns beschützen. Aber wenn er nach dem Siradenkorridor von Bord geht, bin ich froh.«

Nachdenklich nickte ich.

»Du tust dich noch schwer mit dem Leben im All«, stellte Kiala im nächsten Moment fest, und wieder lag diese mütterliche Wärme in ihren Augen. »Das wird besser.« Sie berührte sanft meine Schulter, und diesmal wäre ich fast zurückgezuckt. Sie war so freundlich zu mir. Und ich war eine Lügnerin. Ich betrog sie alle.

»Wenn man keinen örtlichen Bezugspunkt mehr hat, weil die Heimat fehlt, muss man dieses Gefühl durch Menschen ersetzen. Das Leben an Bord ist schwierig, aber es gibt auch schöne Momente. Nähe und Freundschaft.« Ihr Lächeln brachte ihr Gesicht zum Strahlen. »Wenn das Schiff sagt, es ist Schlafenszeit, werde ich das mal als Wink mit dem Zaunpfahl sehen und tatsächlich ins Bett gehen. Schlaf gut, liebe Milla!« Sie zwinkerte mir noch einmal zu und verschwand in die entgegengesetzte Richtung.

Ich setzte mich ebenfalls in Bewegung und folgte dem verwinkelten Flur zur Krankenstation, die allerdings aus irgendeinem Grund leer und fest verschlossen war. Dabei sollte doch Rilke hier die Stellung halten.

Ich verschaffte mir mit meiner ID Zutritt und fragte leise in den leeren Raum: »Rilke?« Aber meine persönliche KI war nicht da. »Wo steckst du denn?« Ich sah in jedem der Räume nach und entdeckte nichts. Alles war fein säuberlich aufgeräumt, die Geräte sterilisiert, nirgends lag etwas herum, was dort nicht hingehörte, nur Rilke, die Poesie vortragende Nervensäge, war verschwunden.

Die Uhr über der Tür, ein uraltes Modell, das mit kleinen Algenbatterien lief und die Erdenzeit anzeigte, sagte mir, dass es kurz vor zehn war. »Trefft ihr KIs euch im Hangar, um Partys zu feiern?« Ich sah ein letztes Mal in meinem kleinen Büro nach, aber kein Rilke weit und breit.

Ich war mir nicht sicher, ob KIs so etwas wie ein Privatleben pflegten, meine zumindest schien es zu tun. Ich wusch mir ein letztes Mal am heutigen Tag die Hände an dem strahlend weißen Keramikwaschbecken, das in der Wand eingelassen war. Ein herrliches Gefühl, sich mit frischem, sauberem Wasser die Hände waschen zu können. Und dann beschloss ich, auch diesen Abend so zu beenden, wie ich die letzten Abende beendet hatte.

Ich schlüpfte aus meinen festen Arbeitsstiefeln mit der magnetischen Sohle, die leider ein klein wenig zu eng waren, und stellte sie in den Schrank unter das Waschbecken. Ganz rechts in einer Schublade lagen meine Laufschuhe. Sie waren kostbar und so bequem, dass man glaubte, auf Wolken zu laufen. Ich streifte sie über die Füße und genoss für einen Moment mit wohlig geschlossenen Augen, wie sich die feinen Knochen in meinen Füßen endlich ausdehnen konnten.

Dann tat ich das, was seit genau achtundsechzig Tagen zu einem festen Bestandteil in meinem Leben geworden war: Ich checkte die neuesten Nachrichten auf meinem AD. Wie immer schlug mir dabei das Herz bis zum Hals, und ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich eine Nachricht herbeisehnte oder hoffte, dass es keine neuen Informationen gab. Dazu kam, dass uns hier draußen Nachrichten nur mit erheblicher Verspätung erreichten, sie wurden maximal alle zwei Tage aktualisiert. Aber der kleine Bildschirm blieb leer. Keine Nachrichten.

Ich atmete tief durch, und die Anspannung des Tages ließ ein wenig nach. Ich war immer noch müde, aber das war kein Grund, meinen Plan zu ändern. Ich musste schließlich fit bleiben. Mit einer Handbewegung löschte ich das Licht und verschloss die Tür mit der ID, dann wandte ich mich nach links und verfiel schnell in einen leichten Trab. Es war kein wirkliches Joggen, nur ein gemächliches Vor-mich-hin-Traben, aber die gleichförmige Bewegung war nach diesem völlig chaotischen Tag eine Wohltat. Und ich hatte ein Ziel. Es gab nichts Besseres, als beim Laufen ein Ziel zu haben.

Die Strecke war viel zu kurz. Um irgendwie mein Erdpensum zu erreichen, würde ich dieses Schiff ungefähr hundertzwanzigmal kreuz und quer durchlaufen müssen, wobei ich oftmals nicht im Kreis laufen konnte, sondern wieder umdrehen musste, weil viele Korridore einfach in Versorgungsschächten endeten.

Und so beendete ich meine Runden wie die letzten Tage auch auf Deck 5. Im sogenannten Wood. In den ersten Jahren der Raumfahrt war schnell klar geworden, dass der Mensch grundsätzlich kein großes Talent für Langstreckenflüge hatte. Erdlinge bekamen reihenweise nach spätestens zehn Monaten schwere Depressionen. Man arbeitete mit den klassischen Medikamenten gegen diese Probleme an, doch sie tauchten immer wieder mit der gleichen Zuverlässigkeit auf wie der klassische Muskel- und Knochenabbau in den früheren Schwerelosigkeitsflügen. Das änderte sich erst, als die ersten Terraner auf die Kolonien zogen. Mit ihnen wanderten viele Kühe, Schweine, Ziegen und Hühner aus. Waren diese Nutztiere an Bord der Langstreckenflüge, erkrankten die landwirtschaftlichen Flugbegleiter des ganzen Viehzeugs nicht an depressiven Verstimmungen oder Schlimmerem. Wir brauchten offenbar die Natur für die geistige Gesundheit. Nach dieser Erkenntnis wurde jahrelang experimentiert, um heimische Pflanzen auf Langstreckenflüge mitzunehmen. Zumal selbst gezogenes Gemüse die karge Speisekarte des Instant-Essens enorm bereicherte. Sehr zum Vorteil der Nährstoffversorgung und Zufriedenheit der Besatzung.

Nicht immer war das irdische Grünzeug an die Bedingungen im All anzupassen. Aber es gab genug Pflanzen von anderen Sonnensystemen, die sich auch auf terranischen Schiffen gut machten. Ein Sprichwort besagte, wer niemals eine soirische Korkadenblume in voller Blüte gesehen habe, habe nicht gelebt. Diese Pflanze war nicht nur hübsch anzusehen, ihre Samen enthielten auch genug Vitamin C, um eine ganze Besatzung für Monate zu versorgen.

Ich trabte um die Kurve zum Wood und blieb vor der doppelten Schleusentür kurz stehen, um sie mit meiner ID zu öffnen. Der Scanner meldete sich mit einem leisen Piep, und mit einem sanften Zischen fuhren die Türen auf.

Schon in der Schleuse atmete ich tief durch. Die Pflanzen entlasteten auch die Lüftungsanlagen der Schiffe, und hier war der einzige Ort, der meinen Lungen eine gewisse Wohltat versprach. Eine Wohltat, die ich auch auf der Erde kaum noch gefunden hatte, seitdem der Baumbestand nach dem endgültigen ökologischen Kollaps auf ein Minimum geschrumpft war.

Hinter mir schloss sich die Tür, und für einen Herzschlag lang verharrte ich in der geschlossenen Schleuse und wartete auf grünes Licht. Da im hinteren Bereich des Woods auch ein Großteil des Gemüses angebaut wurde, musste jeder Besucher auf mögliche Kontaminierungen untersucht werden. Das Licht links der Tür blitzte mich grün an, und nun endlich fuhr die Tür auf, und ich betrat den wohl schönsten Raum dieses Raumschiffs.

Über uns erstreckte sich der Himmel. Wenn auch nur imaginär, aber er war hellblau, und es gab Wolken und eine einzige Sonne. Unsere Sonne. Ich blinzelte in die Helligkeit und spürte, wie die Glückshormone in meinem Körper ansprangen. Vermutlich grinste ich sogar. Vor mir erstreckte sich eine grüne Landschaft, Simulationen an allen Enden der riesigen Halle spiegelten sie wider, und so machte es den Anschein, als würde ich auf einer Anhöhe stehen und in das weite Land blicken. Der Boden war mit Gras bewachsen, das sehr viel grüner aussah, als es eigentlich sollte, aber das spielte keine Rolle. Verzweigte Wege führten in unterschiedliche Richtungen, immer vorbei an flachem Gebüsch und halbhohen Bäumen.

Ich schlenderte zu einer Ulme, die von der Erde mitgereist war. Mein Lieblingsbaum. Ulmen waren auf der Erde in der freien Natur schon lange ausgestorben. Sie hatten sich den klimatischen Veränderungen nicht anpassen können, aber hier ging es der Nachzüchtung der Bäume, die einst die Urwälder der Erde bevölkert hatten, hervorragend.

Neben der Ulme, die immerhin schon größer war als ich, wuchsen die soirischen Korkadenblumen, und sie blühten, seitdem wir die Erde verlassen hatten, in allen Farben, die das menschliche Auge zu erfassen in der Lage war. In Wahrheit waren es noch viel mehr, denn die Soiriker hatten in ihren Sehorganen, die mit Augen nicht viel zu tun hatten, ein sehr viel breiteres Farbspektrum als der Mensch.

Schwungvoll verließ ich den Weg, um mich mitten in diese wunderbare Traumlandschaft hineinzubegeben. Allerdings stellte ich nur zwei Schritte später fest, dass der Platz unter meinem Baum bereits besetzt war. Ich trat zögernd noch einen Schritt näher.

Da saß tatsächlich schon jemand. Auf dem Boden, mit dem Rücken am Stamm. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Und als ich begriff, wer dort saß, wurde mir mit beängstigender Klarheit bewusst, dass ich vermutlich allein mit diesem Jemand in der riesigen Halle war. Üblicherweise befand sich der Gärtner irgendwo in der Nähe seines Gemüses, aber es war schon spät. Er würde sicherlich, wie fast alle von der Besatzung und den Passagieren, nach Erdenzeit leben und Feierabend gemacht haben.

In meinen Beinen zuckte ein Fluchtreflex, den ich nur mit Mühe unterdrücken konnte. Aber mir fiel genau in diesem Moment ein, dass man sie auch Jäger nannte. Jäger jagten flüchtende Beute. Deswegen stand ich ganz still, den Kopf hoch erhoben.

Ich räusperte mich. Einfach, um überhaupt irgendetwas zu tun.

Der RIX hob endlich den Kopf. Er musste mich bei seinem Potenzial bereits bemerkt haben, als ich noch vor der Tür gestanden hatte. Das ließ er sich aber nicht anmerken, denn erst jetzt blickte er mich an. Seine Augen waren grau. Tiefgrau. Wie der Atlantik bei Sturm. Er zog auf sonderbare Art die linke Augenbraue hoch.

Ich räusperte mich erneut und sagte schließlich: »Das ist mein Baum.« Womit ich mich selbst erstaunte. Schweigen wäre doch in so einer Situation definitiv die bessere Alternative.

»Stand nicht dran.«

Ich war überrascht, dass er überhaupt mit mir sprach. »Ist aber so«, sagte ich knapp und überlegte gleichzeitig, ob es wirklich so eine pfiffige Idee war, ein Wesen, das zum Töten gezüchtet worden war, zu provozieren.

Für den Bruchteil einer Sekunde sahen wir uns direkt in die Augen. Was ein Versehen war und mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ. Doch dann stand er einfach auf. Ging an mir vorbei, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, und verschwand.

Etwas ratlos sah ich ihm hinterher und setzte mich dann auf meinen üblichen Platz unter der Baumkrone. Aber die ersehnte Ruhe wollte sich nicht einstellen.

KAPITELVIER

Ich traf den kleinen Blechknaben erst am nächsten Morgen in der Praxis wieder, aber da war es so hektisch, dass mir keine Zeit blieb, ihn zur Rede zu stellen. Man sollte kaum glauben, dass bei siebenundachtzig Menschen an Bord eine tägliche Sprechstunde vonnöten war, aber es war den gesamten Vormittag über rappelvoll. Husten, Kopfschmerzen, Heimweh, Verdauungsstörungen. Den Leuten war entweder langweilig oder sie sehnten sich nach etwas Fürsorge und Ansprache so weit entfernt von der Heimat. Denn dass ich meine Patienten nicht wortlos in die Check steckte, wie es überall auf der Erde gängige Praxis geworden war, hatte sich offenbar schnell herumgesprochen.

Ich genoss den Trubel, aber mit jeder Hand, die ich schüttelte, ging ich eine weitere emotionale Verbindung ein. Ich übernahm Verantwortung für diese Menschen. Das war grundfalsch, und immer, wenn ich nicht aufpasste, blitzte mich mein schlechtes Gewissen an. Mir war klar, dass ich mich beizeiten damit auseinandersetzen musste.

Aber nicht jetzt, denn jetzt saß eine junge Auszubildende in Intergalaktischer Gärtnerei vor mir, der ich einen Schnitt im Handballen verarztet hatte. Zwei Stiche, eine sanfte Berührung am Unterarm, völlig unspektakulär. Die junge Frau betrachtete den Verband an ihrer Hand, dann wühlte sie in ihrer Umhängetasche herum und hielt mir eine klitzekleine Möhre vor die Nase.

---ENDE DER LESEPROBE---