Die Legende vom heiligen Dimitrij - Peter Nathschläger - E-Book

Die Legende vom heiligen Dimitrij E-Book

Peter Nathschläger

0,0

Beschreibung

Der neunzehnjährige Dimitrij Vengarov lebt im tiefsten Sibirien und scheint keine Vergangenheit zu haben. Zumindest keine, an die er sich im Detail erinnern kann. Es fällt ihm schwer, klare Gedanken zu fassen und trifft seine Entscheidungen rein intuitiv. Dimitrij Vengarov möchte ein "Reisender" sein und er beginnt ein Reisender zu werden, in dem er zum besten Stricher aller Zeiten wird. Er durchreist Russland und landet in Sankt Petersburg, wo er mit seinem Geliebten in einem neuen Gesellschafterclub eines russischen Paten anschaffen geht. Vom ersten Tag seiner Abreise an wird Dimitrij von Visionen heimgesucht, die ihm eine apokalyptische Welt zeigen; eine verheerte Welt, an der er vielleicht mit Schuld hat. Nach dem grauenhaften Tod seines Geliebten verliert Dimitrij fast den Verstand, schafft aber die Flucht aus dem Club. Gleichzeitig verdichten sich Gerüchte um einen Meteor, der der Erde womöglich gefährlich nahe kommt. Dämonische Kräfte versuchen Dimitrij daran zu hindern, seine Reise fortzusetzen. Nicht, weil er am Ende dieser Reise ein Ziel erreichen könnte, sondern weil seine Reise selbst zu einer Passion wird und für die Menschheit zu einem Symbol für das Leben und die Liebe wird. Der Meteor streift die Erde und schneidet einen Korridor von China bis Sankt Petersburg, einen Korridor, den Dimitrij durchwandert, um sein Schicksal zu erfüllen und die Welt vor dem Untergang zu bewahren. Ein poetischer Roman voller Emotionen und mitreißenden Erlebnissen, der den Leser auch hart an die tiefen Abgründe von Sexualität und Gewalt führt!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 499

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Autor:

Peter Nathschläger

Geboren am 3.3.1965 in Wien

Nach der Schule Tischlerlehre, Abschluss 1983

Von 1983-1998 bei verschiedenen Wiener Bühnen als Tischler tätig

1998 Wechsel zur IT, zurzeit tätig im IT Projekt Management.

1999 erschien der erste Gedichtband, der erste Roman folgte

im Herbst 2004.

Peter Nathschläger lebt seit 1995 gemeinsam mit seinem Freund Ryszard

in einer "vom Leben gebeutelten", aber glücklichen Beziehung.

Himmelstürmer Verlag, part of Production House GmbH

Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected] Originalausgabe, März 2005

Coverbild:Frank Stausberg,www.stausi.de.

Umschlaggestaltung:Olaf Welling Grafik-Designer AGD, Hamburg

www.olafwelling.de

ISBN print  978-3-934825-38-9

ISBN epub: 978-3-86361-210-6

Peter Nathschläger

Die Legende vom heiligen Dimitrij

Roman

Inhalt

Prolog  

Erstes Buch: Der Reisende  

Der uralte Schrei

April, im vergangenen Jahr

Änderungen

Erste Schritte  

Die Jeans

Vision

Blick zurück in Trauer

Februar dieses Jahres

Der Reisende

Sergej

Little Mafia

Moskau, adios  

Sergejs goldenes Tor  

Auf nach St. Petersburg  

Reunion  

Gold im Gewitter  

Zweites Buch: Das verheerte Land

Sternschnuppen  

Das Zimmer  

Blick zurück im Zorn  

Der Strugatzki Korridor  

Picknick am Wegesrand  

Samsons Asche  

PROLOG

Chita, Sibirien: November 1955

Die Zeit ist jetzt,

hat mich Castaneda gelehrt.

Und heute bin ich hier.

Nach dem Essen ging der Junge aus dem Haus. Seine Mutter hatte Besuch. Fremde Männer. Und diese beiden Männer beunruhigten ihn. Offensichtlich waren es Fremde, die sich die Stadt anschauen wollten und für das Essen großzügig zahlten. Und obwohl seine Mutter sich um die Gäste bemühte wie um uralte Freunde; ihm waren sie unheimlich. Er hatte noch nie Männer mit einer solchen Ausstrahlung gesehen. Der dunkelhaarige Mann, der Jüngere, wirkte gierig und fiebrig, der ältere Mann hingegen sanft und gütig. Wie ein alter Seemann, in dessen Augen sich das ewige Meer spiegelte. Das dachte er nicht genau. Aber es kam gefühlsmäßig hin. Der Alte war gut. Nein. Mehr als gut. Der Alte war beruhigend und heimelig wie ein Ort, an den man zurückkehren möchte. Der Jüngere machte ihm Angst. So war das.

Der Junge war sieben Jahre alt und hatte bemerkenswert schöne blaue Augen und schwarz glänzende, wilde Haare. Er zog sich im Vorhaus die dicken Schuhe an und schlüpfte in die dicke graue Filzjacke. Dann ging er in den weißen, sibirischen Tag. Zuerst nahm er sich vor, am zugefrorenen See entlang zu gehen, um seinen Freund Gregor zu besuchen. Dann aber entschloss er sich, ein paar hundert Meter auf das Eis raus zu gehen. Nur so. Bummeln. Er hauchte weiße Dampfwölkchen aus. Er vergaß bald die seltsamen Männer.

Der Jüngere der beiden hatte ihn so komisch angesehen. Unfreundlich. Als ob er lästig wäre. So, wie manche Erwachsene immer dreinschauen, wenn Kinder anwesend sind. Aber er dachte nicht darüber nach.

Er wanderte weiter raus, schlitterte und lief auf dem Eis und freute sich. Es war ein großer, klarer Tag und der Himmel schien ewig zu sein. Wenn er zurücksah, konnte er die dunkle Linie des Ufers ausmachen und die farbige Front der Holzhäuser, die sich an diesem Teil des Sees an das Wasser drängten. Sah er jedoch geradeaus, nach links oder nach rechts, sah er nur, wie das Weißblau des Eises in einen fernen, malvenfarbenen Nebel überging; der Junge badete in Farbe. In diesem Moment beschloss er nur so für sich, dass Klarheit mit Kälte verwandt sein musste. Konnte nicht anders sein. Der letzte Sommer war trügerisch gewesen, immer sehr warm, aber auch klebrig, dunstig und unerfreulich. Er erinnerte sich in erster Linie an Schweiß, der in den Augen brannte, nass geschwitzte Unterwäsche und bleierne Müdigkeit. Echt. Dieser kleine Junge hier liebte die Müdigkeit des Winters, nicht die vergiftete, schwüle Umarmung des Sommers.

Eine Zeit lang lief er so dahin und schaute auf seine Fußspitzen. Lichtreflexe ließen ihn hochblicken. Sie flimmerten zart rosa und hellgrün und blassblau und ihr Licht war wunderschön. Der Junge machte ein paar Schritte darauf zu und kicherte. Er fand das Kichern albern und schluckte. Er machte noch ein paar rutschige Schritte auf das Licht zu und ganz plötzlich, ganz ohne Warnung explodierte ein Schmerz in seinem Kopf, als ob das Licht wie eine Lanze hineingeschossen wäre. Er brach vom Schmerz überrascht zusammen und schaute erstaunt zu, wie hellrotes Blut aus seiner Nase auf das glasklare Eis tropfte.

Er sah verschwommene Schatten durch den Tränenschleier; schlittschuhlaufende Geister.

ERSTES BUCH: DER REISENDE

Ich bin gereist, bis an die Grenzen der Zeit,

dorthin, wo in hellen Augen einer Nacht

sich der Morgen verliert.

Matteo Thun

FÜNFZIG JAHRE SPÄTER

 DER URALTE SCHREI

Very Large Array, New Mexico.

Normalerweise bedeuteten Besuche von Finanzkontrolleuren der diversen Sponsoren bei privat finanzierten Forschungseinheiten nie etwas Gutes. Man musste Ergebnisse vorweisen, Unterlagen vorbereiten und nervös schwitzen, während die zumeist sehr jungen und smarten Typen die Unterlagen durchwühlten und so nichtssagend dreinschauten, dass man ihnen pausenlos in die Fresse hauen könnte. Sie kamen meist mit Handy und Laptop bewaffnet und schwitzten nie, egal, wie heiß es war; sie trugen immer perfekt gebügelte Anzüge und wirkten kühl, wie aus dem Eisfach geholt. Heute jedoch war das anders. Jim Tiberius von SETI hatte etwas gefunden. Zwar kein UFO, aber doch etwas, dass gehörig Staub aufwirbeln würde, war er sicher. Er hatte die Fehlerroutinen laufen lassen. Und er hatte seine Meßergebnisse mit den Ergebnissen zugeschalteter Teams verglichen. Es war etwas, das man vorweisen konnte. Und es machte Jim eine Höllenangst. Der Kontroller saß bequem in Jims Computersessel und hatte die Fingerspitzen zusammengelegt, sah neugierig und auch ein wenig blasiert zu ihm rauf.

"Also?"

"Sie wissen doch, dass Sterne, Planeten, alles im Universum einen Klang hat, den man aufzeichnen kann? Ja? Nun,dieserMeteorhat auch einen Sound. Und das ist ein echter Heuler. Wollen Sie mal hören? Ja?Klarwollen Sie das."

Der Wissenschafter mit den langen grauen Haaren und dem verhuschten Gesichtsausdruck griff an dem Anzugmann vorbei zu einer Konsole und drehte einen Regler etwas nach rechts. Dann drückte er die "Enter" Taste auf der Tastatur und der Mann im Anzug zuckte erschrocken zurück. Jim Tiberius sah zufrieden, wie der Mann angewidert das Gesicht verzog und beendete den Spuk. Für Momente war es völlig still im Computerraum. Zumindest kam es ihnen so vor.

"Kennen Sie den Film "Titanic" von Cameron? Die Szene, als die Titanic schon untergegangen war und all die Leute da im eiskalten Wasser um Hilfe schrieen und weinten und wimmerten? Der Meteor klingt so, als ob man das mal tausend multipliziert hätte, nicht?"

Der Mann im Anzug hieß Greg Stillson und war der Finanzbeauftragte der Firma, die SETI in diesem Jahr sponserte und ihnen die Antennenzeit auf dem Very Large Array in New Mexiko ermöglichte. Ein Prestigeprojekt, sicher, aber den Leuten von SETI war es ziemlich egal, woher die finanziellen Mittel kamen, wenn sie nur gesichert waren. Stillson war hier, weil er prüfen sollte, was mit den Firmengeldern auf dem VLA getrieben wurde. SETI hatte ein halbes Jahr "Schüsselzeit" gebucht und obwohl niemand damit rechnete, dass SETI wirklich außerirdisches Leben finden würde, und zwar auch nicht in gottverdammten zehntausend Jahren, erhoffte man sich doch immer wieder Erkenntnisse. Irgendetwas Verwertbares. Und jetzt, so schien es, hatte man etwas gefunden, dass gleichermaßen aufregend, unheimlich und sehr seltsam war. Eigentlich sogar etwas, dass man hoffte, nie zu finden. Echt nicht. Es ist Blut auf dem Mond, Eric. Eimerweise, hatte Jim Tiberius an einen Freund in einer E-mail geschrieben.

Stillson nickte. Er kannte die Szene aus dem Film. Der Vergleich kam hin. Er sah zum Fenster raus, zu der Reihe der ausgerichteten Riesenantennen und zuckte mit einem Mundwinkel. Eine Schüssel in der Reihe wurde gerade auf eine Parkposition gefahren, wie er von Tiberius erfahren hatte. Es war ein beeindruckender Anblick.

"Es ist ein Meteor, ja?"

"So genau kann man das nicht sagen.Leider,muss ich gestehen. Es gibt ein paar Details, die dagegen sprechen."

"Was?"

"Nun. Er ist schnell. Er ist sogar schnell wie eine gesenkte Sau, wenn ich das mal so salopp sagen darf. Etwa dreimal so schnell wie ein Asteroid in vergleichbarer Größe. Wie es zu dieser Geschwindigkeit kommt, können wir derzeit nur raten. Er ist nicht sonderlich groß, wissen Sie? Grad mal etwa 500 Meter im Durchmesser. Zweitens, er ist schwer. So wie es aussieht, besteht er nicht, wie die meisten anderen Kometen, aus Eis und Gesteinsbrocken, sondern aus reinem Schwermetall. Und drittens: Er hat die Richtung geändert."

"Er hat was?"

"Die Richtung geändert. Auf seinem normalen Kurs hätte er die Erde um 16 Millionen Kilometer verfehlt. So wie es jetzt ausschaut, könnte er echt gefährlich werden."

"Wiehat er die Richtung geändert? Wie geht das?"

"Das ist uns auch ein Rätsel. Kollisionen in erster Linie. Schwerkraftquellen können den Kurs eines Meteors beeinflussen. Sonnen, Planeten, andere schwere Körper, schwarze Löcher, all so was. Aber da, wo er den Knick in seinem Kurs machte, da war nichts. Daistnichts. Absolut nichts. Er machte einfach einen Bogen und fliegt jetzt auf einem Kurs, der ihn gefährlich nahe an die Erde bringen wird."

"Wie nahe, verdammt?"

"Das ist noch zu früh. Viel zu früh. Aber in ein paar Tagen können wir mehr dazu sagen."

"Wie wollen Sie weiter vorgehen? Kann man was tun? Ich meine, falls er wirklich ... gefährlich wird?"

"Tun? Gar nichts können wir tun. Er war plötzlich da. Er ist keiner der üblichen Verdächtigen, der aus seiner Bahn aus dem Asteroidengürtel gesprengt wurde. Er ist ein Eindringling. Ich denke, über Pi mal Daumen, dass wir in vier Monaten das Rendezvous haben werden. Entweder als ganz tolle Lichtshow oder als Einschlag. Tun? Gar nichts. Wir können rausfinden, wo er einschlagen würde, wenn er denn einschlägt. Leute evakuieren. Und dann beten."

"Und abschießen. Da muss doch was gehen."

"Hören Sie, dass ist kein Hollywood Film. Wir haben dem nichts entgegenzusetzen. Außer, die NASA hat irgendeine superheftige Waffe im Keller. Aber das glaube ich nicht. Für so was gibt es ja wohl kein Budget, oder? Kein "Meteoriteneinschlagssonderbudget" oder so?"

Der Mann im Anzug schwieg. Und schwitzte. Und seine Hände waren nicht mehr ruhig, sondern zitterten.

"Ungefähr? Wo ungefähr?"

Jim hatte natürlich schon einige grobe Berechnungen angestellt und ein sehr vages Ergebnis. Er wuchtete einen Packen Computerpapier auf den Tisch und schlug mit der flachen Hand drauf.

"Ohne Gewähr, ja? Nageln Sie mich nicht fest. Irgendwo in China. China an der Grenze zu Sibirien. Würde mich nicht wundern, wenn die Leute dort im Dreiländereck Sibirien, China und Mongolei eine gigantische Lichtshow zu sehen kriegen. Wahrscheinlicher ist Sibirien. Aber es besteht die Möglichkeit, dass er bloß ein Kratzer ist. Einer, der die Erdatmosphäre streift. Heult über unsere Köpfe hinweg, macht Lärm und verduftet wieder. Und wie gesagt: Falls er einschlagen sollte, dann am ehesten in China oder in Sibirien. Und er ist mit Sicherheit nicht groß genug um globalen Schaden anzurichten."

APRIL, IM VERGANGENEN JAHR

Alle sagten: Die Gleise, die Gleise. Man konnte sie singen hören, wenn der Zug kam. Egal, ob er aus Moskau kam und an den Pazifik fuhr; der Regionalzug, der die Strecke der transsibirischen Eisenbahn befuhr und aus Skorowodino kam oder von Wladiwostok; man konnte die Gleise singen hören, wenn der Zug kam, sagten sie. Und manche von ihnen konnten sogar ziemlich genau sagen, wie lange er noch brauchte, bis er hier war, Verspätung hin oder her. Alles Leben am Bahnhof, so schien es, klammerte sich an das silbrige Singen der Gleise. Und im Frühjahr ließ sich ein hübscher Bursche auf diesen Gesang ein.

Als Dimitrij Vengarov neunzehn Jahre alt war, kam er oft zum Bahnhof, um dort unter Leuten zu sein. In den etwa vierzig Minuten vor Ankunft des Zuges, entwickelte sich auf den Bahnsteigen und in den Unterführungen, die die Bahnsteige verbinden, ein intensives, pulsierendes Treiben; für Dimitrij war das wie Jahrmarkt. Das Leben sickerte in die verwahrlosten Bahnsteige ein, es tat sich was. Im Abend- oder Morgenlicht sah die Szenerie wildromantisch aus und Dimitrij war empfänglich für solche Stimmungen. Das Licht kaschierte und perlte über die Gemäuer des Bahnhofs in Fruchtfleischfarben und über die Berge in der Ferne. Es hatte sich ein schwungvoller Handel mit Lebensmitteln und Getränken entwickelt. Im Lauf der Jahre hatten sich fliegende Händler eingefunden, die auf rostigen Einkaufswagen aus dem alten leeren Kaufhaus (das inzwischen Obdachlosen als Schlafplatz diente) ihre Waren anboten. Zigaretten, Cola, Kekse und natürlich Wodka für die kalte Reise durch dieses kalte Land.

Dimitrij glaubte, dass dieses Land so kalt ist, weil es so groß ist. So, wie ein großer Raum schwer zu heizen ist, muss es auch hier, in seinem Land sein ... in seinem Teil des Landes. Die Vorstellung kam Dimitrij etwas naiv vor; dennoch gefiel sie ihm. Deswegen bauten sich die Menschen ja ihre warmen Häuser aus dunklem Holz. Dimitrij war auch der Meinung, dass Sibirien wie ein altes schwarzweißes Foto ist. Das ewige Land – an den Rändern schon etwas welk und abgegriffen.

Die Planwirtschaft hatte vor Jahren tatkräftig in das alte Stadtbild von Chita eingegriffen: drei Typen von Plattenbauten an den äußeren Rändern der Altstadt, große, betonierte Plätze und ein riesiger Bahnhof. Die Siedlungen mit den weiß, blau oder grün gestrichenen Holzhäusern am Chita, dem Fluss, nach dem die Stadt und auch der Verwaltungsbezirk benannt wurden, waren Überreste des alten Stadtbildes. Der Großteil der Stadt war grau, verbraucht und verblichen wie ein altes Foto. Nur der Bahnhof und die Gebäude des Stadtkerns waren gut erhaltene Relikte aus alten Tagen.

Dimitrij stand in seinen abgetragenen, ausgewaschenen Sachen da und kuschelte sich in den schäbigen blauen Anorak. Die Kapuze hatte er hochgeschlagen und sein Atem stieg in kleinen Wölkchen auf. In etwa fünf Minuten sollte der Express eintreffen. Menschen würden ein- und aussteigen, die Händler würden sich um die paar Leute, die genug Geld haben, die Köpfe einschlagen. Dimitrij kannte ein paar der Händler, so wie zum Beispiel die mollige Blonde dort mit dem überquellenden Wagen. Sie war Kindergärtnerin, aber der Staat konnte ihr nichts zahlen. Sie hatte irgendwelche Diplome, aber all das hatte ihr nichts genutzt. Am Ende kamen sie alle hier zusammen und verhökerten gestohlene, geschmuggelte oder einfach illegale Waren an die Reisenden.

Der Wind, der Feuchtigkeit und Kälte verschlimmerte, ließ plötzlich nach und der graue Himmel riss ein wenig auf, ein Spalt Licht sickerte zur Erde. Dimitrij fand, dass der Anblick wirklich sehr schön war. Vielleicht für eine Sekunde konnte er den alltäglichen Szenen am Bahnhof etwas Neues abgewinnen. Ein neues Licht, eine neue Perspektive; vielleicht Chancen auf ..., was weiß ich.

Dimitrij zuckte für niemand im speziellen mit den Schultern und wandte sich vom Licht ab. Ein paar Frauen schleppten Bottiche mit Kohlen heran. Dimitrij dachte, dass es für einen Außenstehenden so wirken müsste, als wäre hier alles ... chaotisch. Die Menschen wuselten herum und folgten ihren eigenen Gezeiten ... nun, nicht ihren eigenen Gezeiten, sondern denen der Bahn. Die blonde Frau mit dem übervollen Wagen, der schon leicht Schlagseite hatte, kam lächelnd auf ihn zu:

"Hübscher Junge. Ja du. Willst ein Stückchen Wurst, ja? Oder lieber eine Zigarette? Nein. Wurst ist gut. Du schaust hungrig aus. Wie ein Wolf. Warte, ich schneide dir was runter..." Die Frau fasste in die Untiefen ihres Mantels und holte eine geräucherte Wurst hervor. Aus der anderen Tasche angelte sie ein gewaltiges Messer und schnitt ein gar nicht so mickriges Stückchen herunter. Er lächelte dankbar, pusselte die Haut vom Wurstrand und biss ab. Die Frau schaute ihm eine Weile beim Kauen zu und lächelte. Dann strich sie ihm über die Kapuze und wandte sich wieder ihrem Wagen zu. Sie stemmte sichgegen das Gewicht an und schob das ratternde Ungetüm den Bahnsteig entlang. Weiter rechts sah Dimitrij zwei ältere Männer, die gemeinsam in eine Zeitung schauten und aufgeregt miteinander redeten. Er ging ein paar Schritte zu ihnen, um zuzuhören: "… Schlagzeilen lügen", sagte der eine Mann grimmig und spuckte Tabakkrümel auf den Boden, "Sie lügen immer, und je größer sie sind, desto verlogener sind sie, so wahr ich hier stehe. Siehst du da was von Katastrophenschutz oder so? Nein? Na also. Kein Katastrophenschutz, kein Meteor,soist das, Oleg,soist das." Oleg, ein kleinerer Mann, dessen schütteren Haare im sachten Wind wie Spinnweben wehten, antwortete: "Aber es steht doch da: Der Meteor kommt. Wahrscheinlich Changun. Und das ist grad mal ums Eck hier … Die müssen das doch auch woher haben, irgendwie…"

"Blödsinn", gab der andere zurück, "Blödsinn! Keine Panzer, keine Brigaden, kein Notfall und kein gottverdammter Meteor…" Dimitrij sah nach links zum Abgang und lächelte wegen dem Streit der alten Männer: Ein Meteor, so ein Unsinn …

Eine Gruppe heruntergekommener Jungs kam aus dem betonierten Treppenschacht hoch und machte heiseren Lärm. Dimitrij kannte diese Jungs vom Sehen. Sie trieben sich hier dauernd herum, meistens unten bei den Toiletten. Dimitrij konnte nicht verstehen, wieso. Da unten stank es nämlich erbärmlich. Es war zwar etwas geschützter vor Wind und Kälte, aber trotzdem ... der Gestank war widerlich.

Dimitrij war davon überzeugt, dass ihn die Jungs nicht mochten. Und er wusste nur nicht, wieso. Nur, dass es so war. Sie sahen ihn zornig an, wenn sie an ihm vorbeigingen oder spuckten vor ihm auf den Boden. Dimitrij glaubte zu verstehen, warum, aber er war sich nicht sicher. Einer der augenscheinlichsten Unterschiede war der, dass Dimitrij viel hübscher war als sie. Er hatte gesunde, weiße Zähne und pechschwarze, kurze Haare und blaue Augen. Seine Haut war glatt wie die eines Mädchens und seine Wimpern waren lang. Er war davon überzeugt, dass die Jungs Kleber schnüffelten und billigsten Trinkspiritus oder Wodka tranken. Sie saßen oft bei der Tür zu den Toiletten auf dem Boden und ließen die Flasche im Kreis gehen. Ihre Kleidung war dreckig und einer von ihnen hatte eine schlimme Hautkrankheit. Alle hatten sie schlechte, graue Zähne, abgebrochen oder ausgeschlagen. Dimitrij vermutete, dass die Jungs obdachlos waren. Wahrscheinlich hausten sie am See. Dort gab es ein paar Barackensiedlungen aus notdürftig zusammengebauten Hütten und schrägen Dächern, die einfach nur vor dem Wind schützen sollten, der ununterbrochen über den See fegte. Dächer ohne Häuser darunter, mit Stelzen schief in den Boden gerammt. Darunter wackelige Tische, Hocker oder rostige Ölfässer, Petroleumlampen, die selten brannten. Auch Dimitrij wohnte am See mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern. Die Siedlung, in der sie wohnten, war etwa drei Kilometer von der Barackensiedlung entfernt. Die Häuser waren aus dunklem Holz gefertigt und wirkten typisch sibirisch. Klein, heimelig und warm. Aus den Rauchfängen stiegen immer dünne Rauchsäulen hoch, Rauch, der würzig und hölzern roch. Seine Mutter arbeitete als Reinigungsfrau für eine der Frauen in der Stadt und lieferte ihr, woher auch immer, des öfteren Zigaretten. Westliche Zigaretten. Hauptberuflich arbeitete sie in der Markthalle, verdiente damit aber zuwenig, um damit ihre kleine Familie durchzubringen. Dimitrij liebte sie und auch seine Schwestern, die ein wenig älter waren als er. Die Not schweißte sie zusammen und weil die Familie so gut funktionierte, ging es ihnen ein wenig besser als den anderen am See. Seine Schwestern arbeiteten in irgendeinem Hotel oder einer Bar; Dimitrij wusste das nicht genau. Manchmal hatte er sie mit fremden Männern gesehen, die so ganz und gar nicht zu ihnen passten. Aber es war ihm egal. Denn sie brachten auch Geld nach Hause. Und nicht zuwenig.

Dimitrijs Familie gehörte zu jenen Zuwanderern, die man mit Versprechungen von einem besseren, stolzen Leben nach Sibirien gelockt hatte. Seine Eltern kamen ursprünglich aus Königsberg. Immerhin, die Sozialleistungen konnten sich sehen lassen, man versprach ihnen einen eigenen Grund, gute Arbeit und gerechten Lohn. Am Anfang sah es auch so aus, als ob alles klappen könnte. Dimitrijs Mutter meinte viel später, ernüchtert von der Wahrheit, dass es den Politikern in Moskau wohl weniger um die Urbarmachung des Landes gegangen sei, sondern vielmehr darum, Sibirien, speziell in dieser schwierigen Zone, zu besiedeln.

Einmal neckten die Schwestern Dimitrij und sagten, er könnte doch auch Geld verdienen, so wie sie. Er sei doch hübsch. Sie sagten nie wieder so was zu Dimitrij, der nie ganz verstanden hatte, was sie eigentlich meinten, und trotzdem rot geworden war. Ein bisschen schon. Aber er machte sich nie wieder Gedanken darüber. Man könnte fast sagen, er setzte sich mit nahezu obszöner Gleichgültigkeit über solche Gedanken hinweg.

In der Ferne heulte der Zug, begleitet von einem stählernen Rauschen. Der Riss in der Wolkendecke schloss sich und es wurde schlagartig dunkel.

Auf dem unüberdachten Bahnsteig erwachte Leben: Die Leute schoben ihre Einkaufswagen auseinander, um ihr Revier abzustecken, die Kohlefrauen teilten sich auf und kannten ihre Plätze, wenn es galt, die Wagons zu beliefern, und der Bahnhofsvorstand zündete sich mit überheblicher Miene eine Zigarette an. Dimitrij hatte auch Lust zu rauchen und angelte ein verbogenes Stäbchen aus der zerknitterten Packung und steckte sie sich in den Mund. Einhändig rieb er ein Streichholz an der Schachtel an und rauchte sich die Zigarette genüsslich an. Er hatte die Schachtel seiner Mutter geklaut und rauchte nur, wenn er auf den Bahnhof ging und nur, wenn der Zug kam. Nicht vorher und nicht nachher. Immer erst, wenn der Zug auf dem Bahnsteig einfuhr.

Der Express machte einen fürchterlichen Lärm, wenn er bremste, er fauchte und kreischte, spuckte Funken und Rauch. Die Jungs rotteten sich beim Treppenabgang zusammen und starrten ausdruckslos an Dimitrij vorbei zum Zug. Sie warteten.

Dimitrij wusste, warum er hier war. Manche der Reisenden, besonders europäische Männer, die eine Reise machten, waren sehr, sehr freundlich zu ihm und schenkten ihm oft ganz einfach so Zigaretten und Wodka, Wurst, Brot oder Nüsse. Manche sahen ihn verzweifelt an, so wie die Bettler im Bahnhof eine volle Flasche Wodka ansehen würden, wenn sie je eine hätten.

Der Zug würde etwa eine halbe Stunde stehen bleiben. Die Bahnarbeiter würden die Bremsen kontrollieren und mit schweren Stahlstangen auf Kupplungen und Räder schlagen, die Kohlefrauen würden die Eimer in den Zug schleppen und ein Gläschen mit dem Zugführer trinken und die Händler würden sich wie immer darum streiten, ihre Waren anzubringen. Und die Jungs würden sich mit Männern unterhalten. Und dann mit ihnen in der Unterführung oder in den Toiletten verschwinden. Oder mit ihnen in den Zug gehen. Auch das hatte Dimitrij schon gesehen.

Der Zug stand und die Türen wurden aufgerissen, Fenster nach unten geschoben. Leute stiegen aus und scharten sich um die Einkaufswagen. Dimitrij rauchte und schaute zu, er genoss das geschäftige Treiben. Er wusste nicht warum, aber er schob die Kapuze vom Kopf und ließ sein Haar in der dürftigen Beleuchtung schimmern. Und wie auch sonst immer stiegen ein paar Männer aus und sahen sich mit großen Augen um. Ein Mann ging schnurstracks auf die Jungs an der Treppe zu und redete mit ihnen. Die Jungs grinsten provokant und obszön. So zumindest empfand es Dimitrij. Wenn sie keine Jungs wären, dann wären sie billige Nutten, dachte er. Ein anderer Mann, der sehr gepflegt wirkte, lehnte sich aus einem Fenster und winkte Dimitrij. Er ging zu dem Wagon und fragte höflich: "Bitte?" Der Mann winkte ihm noch mal und schaute sich dabei ein wenig ängstlich um.

"Komm doch in den Zug und leiste mir Gesellschaft. Trink ein Glas mit mir.Bitte!"

Die Bitte kam dem Mann sowohl leicht wie auch dringend über die Lippen. Dimitrij grinste und versuchte, ohne es zu merken, so zu grinsen wie die anderen Jungs: wissend und verdorben. Im Gang entlang den Abteilen tummelten sich die unterschiedlichsten Leute: Jung und alt, arm und weniger arm, eine Frau trieb eine Horde heiserer Halbwüchsiger vor sich her. Ein paar Kinder wirbelten über den Gang und bettelten ihre Mutter lautstark um Süßigkeiten an. Dimitrij lächelte und sah den Mann aus einem Abteil winken. Da wurde sein Gesicht angespannt.

Dimitrij betrat das Abteil, setzte sich dem Mann gegenüber hin und schaute sich in dem kleinen Raum um. Es war das Abteil eines Menschen, der eine lange Reise macht. Ein wenig unordentlich und doch wohnlich eingerichtet. Auf einer Ablage waren ein Brett mit Brot und Speck, eine Thermoskanne und zwei saubere Gläser. Der Mann lächelte ihn entschuldigend an und schenkte Wodka in die Gläser. Dimitrij prostete ihm zu und nahm einen großen Schluck. Es war guter Wodka. Der Mann trank sein Glas leer und schenkte sich gleich wieder ein. Noch mit dem Glas in der Hand sprang der Reisende auf und riss die Vorhänge zum Gang hin zu und schloss auch das Rollo vor dem Fenster: "Besser so, oder?" Er sah Dimitrij mit brennenden Augen an, als ob er ihn festnageln wollte.

Dimitrij nickte, wusste aber nicht genau, was der Mann meinte. Außerdem hatte er einen merkwürdigen Dialekt. Der Mann trank wieder und lächelte. "Du bist ein hübscher Junge ... aber das weißt du sicher, ja? Das sagen doch Leute oft zu dir, oder?"

Dimitrij schüttelt langsam den Kopf: "Nein, eigentlich nicht. Nicht so direkt." Dimitrij trank und wartete neugierig, was der Mann noch wollte; er spürt aber auch, dass sich der Reisende nicht so richtig traute, mit der Sache herauszurücken. Um die Situation zu entspannen, fragte Dimitrij den Mann, wie weit er denn fahren würde. Der Mannsagte:"Nach Chabarowsk. Um ein Buch zu schreiben." Dimitrij nickte, es war ihm egal. Auf einmal beugte sich der Mann vor und griff Dimitrij zittrig zwischen die Beine. Dimitrij erschrak kurz, wirklich nur für den Bruchteil einer Sekunde und dachte sich: Aha. Das ist es also. Er lehnte sich lächelnd zurück und rutschte mit dem Becken etwas vor. Die Hose spannte dadurch etwas mehr an den Hüften. Der Mann verstärkte den Griff und schaute Dimitrij verzweifelt in die Augen. Dann rutschte er von der Bank, fiel auf die Knie und rutschte zu Dimitrij und hob sein Gesicht.

Er schaute Dimitrij an, mit roten Augen, in denen Tränen schimmerten. Dimitrij grinste: Das ist es also? Das ist alles?

Er ließ ihn gewähren. Dimitrij blieb aufreizend passiv. Er wurde nur einmal aktiv, als ihn der Mann bat, ihm ins Gesicht zu spucken. Er genoss die unterwürfige Haltung des Mannes ebenso, wie er es genoss, seinen Orgasmus in die Hände dieses Fremden zu legen. Oder genauer ausgedrückt: In seinen Mund.

Später holte der Mann seine Brieftasche aus der Hose und gab Dimitrij ein paar Scheine. Er erkannte mit einem kurzen Blick, dass es mehr war als das Monatsgehalt seiner Mutter. Dimitrij steckte das Geld weg und schaute den Mann fragend an. Der rutschte wieder auf die Bank und zog die Vorhänge auf. Draußen am Bahnsteig wurde der Trubel ruhiger und verlief wie Regen auf einer Scheibe. Dimitrij stand auf und putzte sich die Hose ab. Der Mann fuhr sich mit einem schmutzigen Taschentuch übers Gesicht und sagte zu ihm: "Du bist verdorben. Du bist besser als die anderen Jungs. Und du bist viel schlimmer als sie. Es macht dir Spaß, ja?"

ÄNDERUNGEN

Dimitrij wusste, dass an seiner Kleidung einiges nicht stimmte. Die Sachen rochen, selbst wenn sie gewaschen und gepflegt waren, nach Armut und Hunger. Nach verzagtem Leben. Sie lebten hier und trugen die Kleidung von Generationen auf, atmeten den Mief und verrotteten zusehends in ihren kleinen, wurmstichigen Häusern und vergilbten in ihren feuchten Plattenbauten. Überall krabbelten Insekten, aus allem drang der Atem des Endgültigen; es gab keinen Ausweg. Denn wenn es einen Weg gäbe, einen Ausweg aus all dem, dann hätten ihn schon andere vor ihm beschritten. Wenn es diese Option gäbe, diesen Fluchtweg mit der Leuchte drüber, wie man sie aus dem Kino kennt, dann wäre genau genommen niemand mehr hier, um dieses freudlose Leben zwischen Wodka, See und Transsib zu verbringen. All diese Städte und Dörfer wären längst dem Verfall anheim gestellt. Geisterstädte, durch die nach eigenen Gezeiten ein dröhnender, endlos langer Zug rauschte - Menschen, die sich an den Fenstern die Nase platt drückten, um zu sehen, was es nicht geben kann, weil alle vor langer Zeit gegangen sind: Leben.

Dimitrij bekam immer Kopfschmerzen von dieser Art Gedanken. Um ehrlich zu sein, er bekamimmerKopfschmerzen, wenn er versuchte, etwas rational zu erfassen und zu analysieren. Aber seitdem ihm der Mann soviel Geld gegeben hatte, wie seine Mutter in einem Monat verdient, dafür das Dimitrij ihn gewähren ließ, erschien ihm alles in einem anderen Licht. Der See, das Holzhaus seiner Familie, der Weg durch die verrottete Stadt. Alles hatte ein neuesLeben und neue Chancen, der dumpfe Druck wich einem Gefühl von Aufbruch. Er fasste dieses Gefühl nicht in Worte, sondern kostete es einfach aus.

Aber er warauchder Meinung, dass es ohne ein Mindestmaß an Analyse nicht gehen konnte.

Die erste Frage war, warum der Mann ihn ausgesucht hatte. Der Fremde konnte ja nicht wissen, dass er vielleicht auch deswegen da war. Da hakte es das erste Mal.Warst du auch zum Bahnhof gegangen, um dich zu verkaufen? Der Kontakt mit diesem Mann war der erste Kontakt in diese Richtung und er war sich sicher, dass das, was er getan hatte, oder mit sich machen ließ, nur eine von tausenden Möglichkeiten war.

Warum hat es dich geil gemacht? Blöde Frage. Einfach so. Will kein Kopfweh kriegen.

Warum hatte dich der Mann ausgesucht? Siehst du aus wie einer dieser Jungs, die am Bahnhof herumhängen, um sich ... wie heißt es: einen blasen zu lassen? Dimitrij zog sich langsam nackt aus. Er machte das methodisch; er legte die Socken ordentlich zusammen und steckte sie in die Turnschuhe, er schlüpfte aus der Hose und legte sie ordentlich Bundfalte an Bundfalte zusammen, obwohl sie schon herausgebügelt war, er zog sich den Slip aus und legte ihn auf den Stapel mit seinen Kleidern.

Seine Mutter war zur Arbeit und seine Schwestern hingen wieder in der Lobby eines versifften Hotels herum und lachten mit Männern, die Drinks und Zigaretten spendierten. Er setzte sich breitbeinig vor den großen Spiegel seiner Mutter aufs Bett und schaute sich an. Er konnte an seinem Körper nichts finden, das aufsehenerregend wäre. Nichts. Er lehnte sich zurück und schaute an sich hinunter und dann wieder in den Spiegel. Nun. Seine Haut war glatt und er war geschmeidig, sein Körper war gegliedert, nicht plump oder stämmig. Sein Gesicht war weich und schön. Und in seinen Augen war etwas ... Er atmete ein und versuchte, seinen Blick zu fangen. Er erinnerte sich an die Reaktion des Mannes auf seine Art, zu schauen. Worauf reagieren Menschen, wenn sie jemanden attraktiv finden? Worauf, wenn sie geil werden? Wenn die Jungs bei den Weibern dauernd von Möpsen reden, von der Fut und von dem geilen Blick ... ah ja, das wäre was. Was Jungs und Männer an Frauen geil finden, lässt sich auf ein paar Äußerlichkeiten einschränken. Aber was findet ein Mann oder ein Junge an einem Jungen geil? Sicherlich den Körper. Schlank, agil, beweglich. Was noch? Der Blick? Kann auch ein Junge wie eine Nutte dreinschauen? Ein anderer Punkt war die Haltung, seine Haltung. Er riss die Augen auf, erhob sich und stellte sich vor den Spiegel. Auch da ist ein Unterschied: Die anderen Jungs schlichen am Bahnhof herum wie Raubtiere. Er ging. Nein: er stolzierte. Schon oft haben sich seine Schwestern über seine Haltung lustig gemacht und gesagt: "Du gehst wie ein Dirigent, der seinen Stock verschluckt hat. Wie ein Tuntchen vom Ballett!" Er ging wie jemand, der etwas zu tun hat. Er hing nicht herum. Ein Junge mit noblen oder edlen, auf jeden Fall aber wichtigen Zielen. Er schloss die Augen und sah wieder die Hyänen von Bahnhof vor sich. Diesmal nackt. - Das Gesicht und graue, zerbrochene Zähne. Und auf ihrer Stirn klebten Zettel: Fick mich. Lutsch ihn mir. Ich bin billig. Kauf mich.

Er sah sich selbst, nackt vor dem Schaufenster in der Unterführung im Neonlicht: Wie ein Prinz aus dem Meer. Aus dem Meer? "Woher hast du das schon wieder", flüsterte er sein Spiegelbild an. Schön und stolz. Und kein Zettel auf der Stirn. Dafür aber eine Nachricht in den Augen: Du hast eine Chance. Ich weiß, was ich wert bin. Ich bin schön. Undmöglicherweisebin ich zu haben ...

Das ist es: Ich bettle nicht um die Chance, meinen Samen zu verspritzen. Aber es ist möglich, dass genau du ihn kriegst, wenn du weißt, was ich wert bin.

Der Mann am Bahnhof, im Zug, der wusste es und stellte es nicht in Frage. Dimitrij überlegte, ob er nicht die Chance, allein zu sein nützen sollte, um sich Erleichterung zu verschaffen. Er nahm seinen halbsteifen Schwanz in die Hand und schob die Vorhaut zurück. Aber er hatte wieder Kopfschmerzen. Immer, wenn er nachdachte. Er ließ sich zurückfallen und streichelte sich gedankenverloren, spielte mit seinen Brustwarzen und schloss die Augen. Und kurz bevor ihn die große schwarze Welle wegspülte, dachte er: Ich werde Stricher. Ich werde der beste Stricher. Ich werde die beste Hure aller Zeiten.

Etwa eine Stunde später wurde Dimitrij munter, weil die schräger stehende Sonne direkt in das Schlafzimmer und ihm aufs Gesicht schien. Er rieb sich die Augen und schwang sich aus dem Bett. Das Zimmer seiner Mutter war ein Puppenhauszimmer. Klein und vollgestopft mit ihrer Geschichte, Kleinode der Kindheit und der frühen Ehe, Bilder ihres Mannes, eines Vaters, der in Dimitrijs Herz keinen Platz hatte, Spitzendeckchen und Tischchen, kleine Lampenund Kram. Er schlüpfte in die gefälschte Nike Sporthose und zog ein schwarzes Tanktop an. Dann ging er vor das Haus und streckte sein Gesicht der Sonne entgegen und bleckte die Zähne. Kindergeschrei, wieder und wieder. Sehr heiser und wie das Rufen hungriger Wölfe. Streitereien ein Haus weiter ... Obwohl er fror und sich seine Muskeln vor Kälte verkrampften, ging er den Betonsteg etwas weiter raus und schaute über den See, der von einem leichten Nebel verhangen war. Und Dimitrij erinnerte sich:

Da waren schon öfters Blicke. Männer, die ihm nachschauten; er spürte es damals schon, wusste aber nichts damit anzufangen. Im Wirtshaus, wo er die Zigaretten seiner Mutter ablieferte. Durchreisende, die ihn anschauen, so, als ob plötzlich niemand anderer mehr im Raum wäre. Auf der anderen Seite des Sees, wo es einige Sandbuchten gibt. Männer, die ihm nachschauten, wenn er ins Wasser ging. Wenn er wieder raus kam und seine weiße Unterhose nass am schmalen Hintern klebte.

Die Blicke waren immer schon da gewesen, zumindest seitdem er vom Kind zum Jugendlichen geworden war. Und sie waren ihm ebenso wenig ins Bewusstsein gedrungen, wie der Nebel auf dem See, das Geschrei der Kinder und die Armut auf dem Bahnhof. Weil das alles immer schon da war und zu seinem Leben gehörte. Weil es nie anders war.

Aber erst seit jetzt wusste er, dass er aus diesen Blicken Geld machen konnte. Er wusste nicht genau, wie er das machen würde und ob das auf immer von den Gezeiten der transsibirischen Bahn abhängen würde. Aber er machte sich da keine Gedanken, weil immer alles so kommt, wie es nun mal kommt und weil Denken gleich Kopfweh ist. Er ging ins Haus zurück und räumte das Ess- und Wohnzimmer auf. Währenddessen wurde ihm bewusst, dass er an seinem Blick arbeiten musste, um gewisse Nuancen herauszukitzeln.

ERSTE SCHRITTE

 Etwa ein Monat nach der ersten Begegnung mit dem Mann, der Dimitrij viel Geld für ein wenig Zuwendung gab, kam es zur zweiten, intensiveren Begegnung. Ein betrunkener Mann im Bahnhofslokal.

Aus Gewohnheit hatte sich Dimitrij wieder am Bahnhof eingefunden und genoss das Treiben, nicht, ohne sich etwas abgehoben zu fühlen. Der Mai kam mit erstaunlichen Temperaturen und heute hatte es fast 25 Grad. Dimitrij hatte nur die lange, glänzend schwarze Nike Hose an und ein enges weißes Tanktop. Die Leute am Bahnsteig, die Händler und Kohlenträger, die Herumstreifenden und Dimitrij erfuhren, dass der Zug zwei Stunden Verspätung haben würde, wenn nicht mehr. Irgendwelche Probleme. Also beschloss Dimitrij, ins Bahnhofslokal zu gehen, um ein Glas Limonade zu trinken und eine oder zwei Zigaretten zu rauchen. Er stellte sich an die Bar und lächelte die Frau an, die dort schon seit ewigen Zeiten ihren Dienst machte. Sie kannte Dimitrij, so wie sie wohl alle Jungs vom Bahnhof kannte und Dimitrij war überzeugt, dass sie auch die Geschichten der Jungs kannte. Die Geschichten der Frauen mit den Rollwägelchen und die Geschichten der Kohlefrauen. Früher dachte Dimitrij, die Kohle werde für die Lokomotive gebraucht. In Wirklichkeit war sie für die Samoware, die es in jedem Wagon gab. Und einige davon wurden tatsächlich noch mit Kohle befeuert.

Er bestellte sich ein Glas Eislimonade und zündete sich eine Zigarette an. Es war selten, dass sich jemand hier etwas leistete. Oft kamen die Leute nur rein, um sich aufzuwärmen (vor allem im Winter) und die Frau hinter der Bar hatte schon vor undenklichen Zeiten aufgegeben, dagegen zu protestieren. Im Frühjahr und Sommer war die Unterführung nahezu ausgestorben und damit auch für das Lokal ein übel riechendes Jammertal. Dimitrij glaubte kurz, allein im Lokal zu sein und musterte die Farbkringel, die die Neonwerbung an die Decke malte. Dann hörte er ein nasses Trinkerhusten und schaute in die hinterste Ecke, dort wo die tote Musikbox stand. Ein einsamer Mann saß hinter seinem Glas und starrte ihn an. Doch der Blick war nicht aggressiv oder unhöflich, sondern zärtlich und traurig. Dimitrij nahm sein Glas und ging an den Tischreihen entlang nach hinten. Er deutete auf den leeren Platz und fragte: "Darf ich?"

Der Mann sah ihn überrascht an und nickte dann eifrig. "Nimm Platz, Junge. Komm, setz dich nur zu mir her."

Der Mann hustete wieder und zündete sich eine stinkende, filterlose Zigarette an. Dann nahm er einen Schluck und bot dabei Dimitrij die Gelegenheit, ihn zu mustern. Und erst jetzt wurde ihm klar, dass er den Mann kannte. Sein Gesicht kam ihm bekannt vor. Und der Blick. Es istimmerder Blick. Vielleicht kannte er den Mann gar nicht, sondern alle, die so waren wie er: Die Männer mit diesemBlick.

"Wartest du auch auf den Zug?"

Dimitrij nickte und trank. "Sie haben gesagt, er kommt später. Vielleicht ging irgendwo eine Mure ab und sie müssen erst die Gleise wieder frei machen. Es ist ja immer so was ..."

"Ja, es ist immer so was … Und was machst du, wenn der Zug kommt? Betreibst du Handel oder so was?"

Dimitrij lächelte und rutschte auf der Bank etwas vor, lehnte sich zurück.

"Kann man so sagen. Aber meistens stehe ich nur so rum und schaue den Leuten zu."

"Und womit handelst du, wenn du was verkaufen willst? Hast du Zigaretten oder Dosengetränke ...?"

Dimitrij beschloss aufs Ganze zu gehen und nicht weiter um den heißen Brei herumzureden. Er setzte sein schönstes Lächeln auf, das er vor dem Spiegel geübt hatte und deutete mit dem Daumen auf sich selbst.

"Ich bin meine beste Ware. Ich verkaufe mich selbst."

Er wusste, dass er hoch spielte. Der Mann könnte ihn ja anschreien oder aufstehen und vor ihm auf den Boden spucken, das Bier auf seinen Schoß kippen ... Aber nichts dergleichen geschah. Der Mann blieb ruhig sitzen und lächelte.

"Du siehst aber nicht aus wie einer der Jungs, die das üblicherweise tun. Du siehst besser aus. Aber deine Augen sind ... ach, ich weiß nicht. Ich schau dir jetzt schon lange nach. Du bistsohübsch und soanders. Mit den anderen Jungs, da war schon mal was, aber ich hab mir immer gewünscht, ich könnte dich mal ..."

"Was?"

"... ich würde dir gerne einen blasen. Und die Füße küssen, mit dir schmusen, ach ich würde dich lieben ..."

Der Mann unterbrach sich und trank sein Bier aus.

"Du willst ihn mir lutschen, ja? Und mich küssen ...?"

"Ja!"

Der Mann winkte der Wirtin und deutet auf sein leeres Glas.

"Wie viel Geld hast du denn?"

Dimitrij wusste nicht, ob das diplomatisch war, aber egal.

"Wie gesagt. Du schaust aus, als könntest du zu ganz anderen Preisen arbeiten, als die Ratten dort draußen." Mit einer unbestimmten Geste deutete er zu den Toiletten, die schräg gegenüber in der Unterführung als Anlaufpunkt für die Stricher vom Bahnhof dienten.

Dimitrij nickte und lächelte selbstgefällig.

"Na, ich kann dir so ... das hier geben ..."

Dimitrij betrachtete die paar Geldscheine und Münzen und stellte fest, dass es sich dabei um einen Bruchteil von dem handelte, was ihm der Mann vorigen Monat im Zug bezahlt hatte. Er sah aber auch, dass er dem Mann wahrscheinlich das letzte Geld abnahm und das stimmte ihn versöhnlich. Er musste diesem Mann sehr viel wert sein. Aber es war nun mal wenig. Und deswegen schlug er sich eine kleine Frechheit heraus.

"Na gut. Nur blasen. Und ich will dir, wenn ich dir in den Mund gespritzt habe, nachher auch noch reinpissen, ist das klar?"

"Wie bitte, was willst du? Das ist nicht dein Ernst oder? Du machst dich doch über mich lustig?"

"Du hast schon richtig gehört. Nachdem ich abgespritzt habe, piss ich dir in die Fresse. Ich will das einfach mal machen."

Dimitrij hatte nicht das Gefühl, wirklich zu hoch gepokert zu haben, denn er sah im Blick des Mannes die gleiche unterwürfige Gier, die er auch in den Augen des Mannes im Zug gesehen hatte. Kann es sein, dass alle Männer, die irgendwie schwul sind und auf Jungs stehen, diesen Blick kriegen, wenn sie sich einen Hauch von einer Chance ausrechneten? Diese gierigen Glubschäuglein ... Dimitrij spürte, dass ihm dieser Blick gefiel. Und ihm gefiel die Tatsache, dass er der Auslöser dafür war. Nicht, dass er einen Menschen, der so schaute, als Freund haben wollte. Aber als leicht zu behandelnder Freier? Na sicher!

Dimitrijs Blick wurde lauernd. Er wusste nicht, woher ihm die Idee kam, den Mann anpinkeln zu wollen. Aber es schien ihm eine gute Idee zu sein und ein gutes Mittel, um auszutesten, wo die Grenzen sind. Er rechnete eigentlich damit, dass der Mann enttäuscht und verärgert abwinkte und das Handtuch warf.

Aber der Trinker lächelt und sagte: "Na schön. Von einem Jungen wie du es bist, angepinkelt zu werden, kann auch na ja ... Wo machen wir’s?"

Dimitrij überlegte kurz und deutete dann nach draußen: "Bei den Ratten." Er grinste wieder und sah sich schon: An die Wand geschmiegt als obszönes Rufzeichen fiebriger Lust - hier der bestialische Gestank der versifften Scheißhäuser, draußen der heisere Sound der hungrigen, eifersüchtigen Stricher ...

Der Mann hob die Schultern und stand auf. Dimitrij warf eine Münze für seine Limonade auf den Tisch und winkte der Wirtin, deutete auf das Geld und ging hinter dem Mann her zu den nach Ammoniak und Scheiße stinkenden, vergammelten Toiletten.

Sie gingen über die Neonpassage und drängten sich durch eine Meute von hungrigen Jungs. Es waren die Jungs von Bahnsteig. Sie grinsten Dimitrij obszön an und deuteten mit ihren Zungen, die sie von innen gegen die Wange drücken und mit den Händen an, dass sie wussten, was nun passiert. Dimitrij hatte nicht einmal ein Grinsen für sie übrig.

Er warf eine Münze ein und öffnete die Tür. Er stellte sich in die Ecke und zog das Shirt über den Kopf. Dann schob er den Gummibund der Sporthose runter und befreite seinen Schwanz.

"Knie dich nieder."

Er schaute zu, wie der Mann langsam und fast bedächtig auf die Knie ging.

"Und jetzt lutsch ihn!"

Der Mann nahm Dimitrijs Schwanz in beide Hände und hauchte heißen Atem drauf. Dimitrij drückte das Becken etwas vor und streichelte seinen Oberkörper. Und als sein Schwanz in den heißen feuchten Mund des Mannes eindrang, stöhnte er leise und spürte im selben Moment, dass Stöhnen sehr wichtig war. Man muss es steuern können. Man gibt damit zu verstehen: Du machst das gut. Du bist ein guter Lutscher, ja, mach weiter so ... Und mal ganz abgesehen davon: Es war gut. Alles war gut. Dieser Mann hier auf den Knien, so halb vorgebeugt, sein nasser, heißer Mund und Dimitrijs Becken, dass sich lasziv und eigenmächtig hin und her bewegte ...

Als er merkte, dass es ihm bald kommen würde, schaute er an sich herab und fühlte einen Moment Verwirrung und Entsetzen.Was mach ich da? Lass mir von ’nem Penner einen lutschen... Aber es war zu spät. Dimitrij spreizte sich in der Ecke und stieß sein Becken in wilden Zuckungen nach von. Es war ein guter Orgasmus. Er war intensiver als alles, was er bisher mit sich selbst angestellt hatte. Und er hatte dabei einen Mann zu einem Bettler gemacht. Der Trinker schluckte Dimitrijs Samen und wich einige Zentimeter zurück, um sich das nasse Glied anzuschauen.

"Willst du es wirklich tun? Ich meine das mit dem ..." Dimitrij grinste keuchend und spöttisch und streichelte seinen flachen, unbehaarten und leicht gebräunten Bauch. Dann griff er nach seinem Schwanz und zog die Vorhaut ein Stück zurück. Er visierte den halboffenen Mund des Trinkers an und ein kleiner gelber Spritzer Pisse quoll heraus.

"Machs Maul auf ..."

DIE JEANS

Bevor Dimitrij herausfand, dass man gut von den sexuellen Begierden der Männer leben kann oder zumindest damit gut über die Runden kommen konnte, versuchte er sich in dem, was die meisten Jungs machten, an denen die Sexualität irgendwie und scheinbar spurlos vorüberging. Jungs, die immer beschäftigt wirkten und so taten, als fänden sie die Anwesenheit anderer unerträglich. Immer schauten sie an einem vorbei, ob da nicht jemand um die Ecke kam, der viel wichtiger war als der, mit dem sie sich gerade über Belanglosigkeiten unterhielten. Sie suggerierten dadurch ein Gefühl von Gewicht und Emsigkeit, was natürlich Betrug reinsten Wassers war. Sie warteten auf niemanden. Oder besser gesagt: Sie warteten auf niemanden besonderes. Und es wartete niemand auf sie.

Sie trieben Geschäfte, was auch immer man sich darunter vorstellen wollte. Sie boten Dienstleistungen an und Zigaretten, kutschierten gestohlene Ware durchs Land oder packten Drogen in rostzerfressene Autos und kurvten damit herum. Seitdem sich der Westen etwas geöffnet hatte und zumindest das Echo kapitalistischen Wohlstands bis nach Sibirien schwappte, kannten sie alle kein Halten mehr. Der Traum, ohne viel zu tun und ohne viel zu können, schnell an viel Geld zu kommen, prägte sie alle durch die Bank. Werbejingles aus dem Westen, Plakate mit schönen Menschen in unerschwinglicher Unterwäsche und das räudige Armendasein schienen unvereinbar ..., aber in den Köpfen der Halbwüchsigen wehte ein weißer Wind voller unvergrätztem Optimismus. Der Glaube, mit ein wenig Geschick und Glück und Durchhaltevermögen eine Menge Geld zu machen ... Direkt drauf angesprochen, wussten sie nicht wie. Aber irgendwie schienen sie alle überzeugt zu sein, dass der Westen ganz sicher auf sie wartete: "Oh, da seid ihr ja. Meine Güte, was haben wir gewartet und gewartet, um euch endlich begrüßen zu können. Wir brauchen ein paar Expertisen von euch und Ratschläge, wie wir hier und da und da noch mehr Geld rausleiern können ..."

Sie alle wussten, dass es nicht so war, aber sie träumten diesen Traum eben, so lange es nur ging. Die einzigen, die den Sprung aus diesem Gebiet schafften, waren die Schönen. Und natürlich die Ganoven, die sich irgendwann einmal in den Armen der Mafia wiederfanden. Man erkannte diese billigen Gauner überall auf der Welt. Die muskulösen Burschen mit dem Pokerface, Jogginganzüge und Bürstenhaarschnitt. Es war immer das Gleiche. Aber die Schönen schafften es eleganter, wenn sie nicht gerade auf die angestaubte Masche einer smarten Werbeagentur reinfielen. Und Dimitrij wusste, dass er zu den Schönen gehörte. Auf eine andere Art und Weise wie die, die schon vor ihm Richtung Süden oder Südwesten abgedampft waren. Er glaubte zu wissen, dass der Westen diese Kinder voller wilder Schönheit einfach assimilierte. Sie gingen rüber und lösten sich auf. Punkt um. Er hatte oft überlegt, auch zu gehen. Über die Grenzen hinaus weiterzugehen und sich so teuer wie möglich zu verkaufen. Aber er war schlau genug zu wissen, dass seine Reise ein ungutes Ende nehmen könnte. Er war noch nicht genug vorbereitet, er hatte noch nicht genügend Geld und er hatte noch nicht das passende Outfit. So, wie er jetzt angezogen und gestylt war, würde er es wahrscheinlich nicht mal 2000 Kilometer schaffen.

Jedenfalls legte Dimitrij sein Geld zusammen und leistete sich nur selten etwas von den Dingen, die einem das Leben versüßen konnten. Erstens würde das auffallen und zweitens hatte er ein Ziel. Das Ziel war noch verschwommen und wie hinter einer Wand aus klebrigem Regen verborgen, aber es war da. Und am Beginn, dieses Ziel zu erreichen, stand eine Reise.

Und damit zurück nach Chita.

Auf einem Betonplatz in der Nähe des Bahnhofs trafen sich immer wieder Jungs, die was zu verhökern hatten. Manchmal zum Beispiel wurden die für Deutschland und Österreich bestimmten Lieferungen an Zigaretten aus der Ukraine von den Zöllnern abgefangen und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Dann landeten die Zigaretten hier und ein Monat lange rauchten alle Marlboro, Winston oder HB. Manchmal hatten sie ganze Kisten voller CDs und versuchten sie zu verkaufen. Und hin und wieder hatten die Jungs eben auch Brauchbares auf Lager: Tabak, billigen Schmuck, selten aber doch Drogen und ... Jeans. Als Dimitrij am Mittwoch über den Platz vor dem neuen Bahnhof ging, sah er drei Jungs beieinander hocken und rauchen. Sie flachsten herum und pfiffen den Mädchen nach, es war warm und eine Brise wehte über den Platz und vertrieb den Gestank, der am Rand des Platzes befindlichen Toiletten. Er driftete zu ihnen und mischte sich ins Gespräch ein.

"Läufts?"

Einer der Jungs kannte ihn aus der Schule und grüßte ihn lässig, indem er ihm die Hand zum Einschlagen hinhielt.

"Na geht so. Nicht viel los. Kennst du jemand, der ne Jeans kaufen will? Wir haben da echt amerikanische.Echte. Ja? Ich meine,verstehstdu? Echte Levis. In allen Farben. Sind wo aus dem Zug gefallen. Kann ja nicht anders sein ..." Der running Gag schlechthin. Wenn es je einen gab, war das die Behauptung: "Is wo vom Laster gefallen; Scheißendreck direktemang vor meine Füße, ich schwör’s dir."

Dimitrij stimmte in das Gelächter ein, setzte sich auf eine der harten Pappkisten und zündete sich eine Zigarette an.

"Echte Levis? Das ist stark. Lass mal sehen ... "

"Wie willst du dir denn die leisten können, hä? ", mischte sich ein anderer Junge ein.

"Ich hatte ein Business. "

Eine Standardfloskel, wenn man andeuten wollte, dass man Geld hatte, aber nicht darüber reden wollte, woher.

"Ah ja. Na schau mal."

Der Junge stand auf, spuckte auf den Boden und grinste verschwörerisch. Dann machte er sich an einer der Kisten zu schaffen und winkte Dimitrij zu sich.

"Da. "

Dimitrij kniete sich lässig hin und seine Augen leuchteten wie die eines Kindes zur Bescherung. Nur, dass in seinen Augen animalische Gier funkelte. Weiße Jeans, blaue Jeans, schwarze, grüne und rote ... Puh. Er angelte sich eine schwarze Levis 501 aus der Kiste und hielt sie sich vorne an. Dann legte er sie zurück und nahm wieder eine schwarze. Und die schien zumindest von der Länge her zu passen.

"Probier sie im Klo an. Dort hast du Ruhe." Er zeigte auf den mit Graffiti besprühten Betonblock, dem der Gestank wie Farbe anhaftete.

Dimitrij nickte, rollte die Jeans zusammen und packte sie unter den Arm.

Er sperrte sich im atemberaubend stinkenden Klo ein und schlüpfte aus seiner billigen Stoffhose. Dann streifte er die schwarze Jeans über und fing vor Freude zu kichern an. Sie passte wie angegossen. Er musste den sowieso schon flachen Bauch etwas einziehen, um den obersten Knopf zuzukriegen und sie saß wie eine zweite Haut. Nicht all zu eng, aber doch so, dass sie seine Figur toll zur Geltung brachte. Rasch zog er die Hose aus und schlüpfte in seine alte, bei den Knien ausgebeulte Hose. Der Gestank im Pissoir war so bestialisch, dass Dimitrij einen Brechreiz runterwürgen musste. Und abgesehen von der Freude und dass er diese Hose haben musste, wollte er nichts wie raus hier.

Er warf dem Jungen die Jeans hin und sagte etwas cooler als es vielleicht angebracht wäre: "Die nehme ich. Was hast du noch?"

Der Bursche starrte ihn mit offenem Mund an und fing sich gleich wieder. Er sprang auf, machte eine andere Schachtel auf und deutete hinein.

"Unterwäsche. Wenn du was brauchst."

Dimitrij kramte ein bisschen herum und dann fand er sozusagen auf Anhieb das zweite Stück, dass er brauchte. Er hatte es immer gebraucht, aber nicht gewusst, dass es genaudaswar. Ein schwarzer, glänzender Body aus Lycra. Dimitrij hielt ihn in die Höheund wusste, dass er ihn nicht anprobieren musste. Er würde eng sitzen und seinen Körper wie schwarzes Metall glänzen lassen.

"Den nehme ich auch."

"Hast du wirklich soviel Geld?"

"Mach dir keinen Kopf."

"Schuhe hab ich auch", mischte sich Dimitrijs Schulkollege ein. Er stand auf und machte die Kiste auf, auf der er gesessen hatte. Inzwischen hatten die anderen Jungs mitgekriegt, dass hier ein Großeinkauf vonstatten ging und scharten sich um Dimitrij und den Händler. Sie rauchten, flüsterten und gaben Kommentare ab. Dimitrij machte eine schnelle Zwischenbilanz und errechnete, dass ihn dieser Einkauf um sein gesamtes Ersparnis bringen könnte, aber egal. Er wusste, dass er in seine Zukunft investierte. Er wollte schön sein. Und gut verpackt.

Er schaute in die Kiste und sah Turnschuhe, Tennisschuhe, nichts, was ihm auf den ersten Blick gefiel. Dann sah er klobige Schnürstiefel aus Leder. Mit sehr dicken Gummisohlen. Das wäre perfekt. Größe 41. Er trat sich einen Schuh vom Fuß, schlüpfte in den Stiefel und schnürte ihn zu. Er bewegte den Fuß etwas hin und her und fand, dass der Stiefel zwar gut aussah, aber ein wenig drückte. Nicht sehr. Und wahrscheinlich nur deshalb, weil das Leder noch hart war. Egal.

"Die nehme ich auch."

Vor seinem inneren Auge sah sich Dimitrij schon als schwarz gekleideter Junge am Bahnhof. Eine schwarze … Rose. Er sah die Blicke der Männer, er spürte die Blicke der jungen Mädchen, die ihm nachschmachteten. Es war ihm egal, welches Geschlecht ihn anbetete.Aber bei den Männern war mehr rauszuholen.Under sah diese Jungs hier den Gewinn in einer der billigen Kaschemmen versaufen. Sollten sie doch.

Er hatte, was er wollte.

Über eine viertel Stunde lang feilschte er mit ihnen um den Preis und es wurde hin und wieder etwas lauter. Dann einigten sie sich und er packte die Sachen in einem großen Plastiksack zusammen und schleppte sie nach Hause, um sie ausgiebig anzuprobieren.

VISION

Im Juni, in einer Vollmondnacht, die hell und still über dem See lag, erwachte Dimitrij schweißgebadet und mit vibrierenden Nerven. Sein Schwanz war steinhart und die dünne Decke war bis zu den Lenden gerutscht. Egal. Das waren nur Wahrnehmungen am Rande. Die Stille draußen war ohrenbetäubend; nur der See klatschte ungerührt an die verdreckten Betonstege. Er kroch und kippte aus dem Bett, rappelte sich hoch und versuchte, sich zu räuspern, aber es entkam ihm nur ein dünnes, kraftloses Schluchzen. Er taumelte zu der Kommode, in der er seine Utensilien aufbewahrte und öffnete sie. Er kramte einen Bleistift und einen Packen Papier heraus und setzte sich an den kleinen Tisch am Fenster. Im Nebenzimmer schnarchten seine Schwestern Wodka aus, seine Mutter atmete still wie immer. Er schaute auf seine billige Armbanduhr und gluckste: 2.45 Uhr.

Ich werde Kopfweh kriegen, dachte er: Scheiße, Mitja. Junge! Einen echten Heuler von Schmerzen.

Er überlegte kurz, leckte dann in Anlehnung an alte Filme den Blei ab und schrieb:

Ich gehe über einen Feldweg. Es ist ein kaltes Feld und die Straße ist eine Allee. Bin nicht sicher - es ist Abend oder Morgen, je nachdem aus welcher Richtung man kommt, eine Straße, Felder, die sich nach mir richten. Würde ich auf dieser Straße aus der anderen Richtung kommen, wäre es vielleicht Morgen, ich weiß es nicht, es ist krank. — Es sind keine Bäume am Straßenrand, es ist was anderes.Benzingestank überall, Gasfackeln schießen alle paar Sekunden aus dem gefrorenen Boden der endlosen Felder und es stinkt nach noch etwas anderem. Es ist ein elektrischer Geruch, als ob die Luft brennen würde. Hinter mir ein Kreischen, so, wie ich es noch nie gehört habe.

Es sind Galgen aus schwarzem, hartem Holz und an ihnen sind Menschen aufgeknüpft. Hunderte, Tausende, eine Allee voller Galgen. Nackte Menschen, alt und jung, Frau oder Mann, dick oder dünn, kein Muster erkennbar. Ich gehe weiter und jetzt schneller. Auch ich bin nackt, aber es kommt mir so vor, als wäre meine Nacktheit schlimmer als die der Menschen, die da an den Galgen hängen ...Ich gehe weiter und noch weiter und die Felder mit den Gasfackeln bleiben zurück, es wird etwas stiller.—Weil ich am Leben bin und sie nicht — Dafür sind auch keine Galgen mehr da, sondern andere, stählerne Gerüste, an denen Käfige hängen. Die Käfige hängen an meterlangen Ketten, sie schwingen langsam hin und her. In den Käfigen kauern nackte Menschen, diesmal junge Leute. Jungs in meinem Alter. Sie rütteln in Zeitlupe an den Käfigstangen und schreien, sie wollen etwas Bestimmtes rufen, aber wenn sie den Mund aufmachen, klingt es wie das Zischen einer Gasleitung ... Ich hab Angst, ich schwitze, ich stinke sauer und wie Erde zugleich. Ich hab damit nichts zu tun, das hab ich nicht getan, das soll aufhören! Ich versuche zu schreien, aber es spritzt nur blutige Kotze aus meinem Mund. Gute Jungs, so verängstigte Jungs, einer sticht mir besonders ins Auge: Er ist schön, so schön, dass es mir wehtut. Er hat kurz geschorene Haare, eine Glatze. Er rüttelt lautlos an den Stäben und aus seinen Augen rinnen Tränen aus Blut. Immer wieder deutet er in meine Richtung, auf mich, nein, auf etwas über mir ... Von ihm gehtein besonders intensiver Benzingeruch aus, und seine Haut glänzt so, als ob sie mit Benzin übergossen wäre! Und die Fackeln fauchen so nahe an ihm aus dem Boden! Ich kenne ihn. Ich kenne ihn. Ich weiß, wer das ist, verdammt, ich mag ihn, nein: ich liebe ihn — Ich will mich umdrehen und gleichzeitig diesem Jungen etwas sagen, dass ihm die Angst nimmt, aber es kommt wieder nur ein Schwall Blut aus meinem Mund, ich drehe mich um, und weiß doch aus dem Religionsunterricht: Dreh dich nicht um. Dreh dich niemals um. Du weißt ja, was mit Lots Weib geschah ... Dreh dich nicht um. Als ich auf meine Beine runterschaue, sehe ich, dass sie weiß und zu Stein geworden sind. Und dass sie mit dem Boden verwachsen sind. Ich kann nicht mehr weiter. Jetzt erst hebe ich wieder den Blick und schaue in den dicht bewölkten Himmel. Es kommt etwas. Ich kann nichts sehen, aber es kommt und es kreischt und es ist uralt und es ist böse...

Und woher hab ich solche Gedanken?