Die letzten Lügen des Ardor Benn - Die Abenteuer des Meisters von List und Tücke 3 - Tyler Whitesides - E-Book

Die letzten Lügen des Ardor Benn - Die Abenteuer des Meisters von List und Tücke 3 E-Book

Tyler Whitesides

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dritter und abschließender Band der actiongeladenen epischen Fantasy-Serie um den Gentleman- Gauner und Meisterbetrüger Ardor Benn. Diesmal scheint der Meister von List und Tücke selbst in einer aussichtslosen Zwickmühle gefangen zu sein. Ein alter Feind zwingt ihn zu einer nahezu unmöglichen Mission ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1052

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



AUSSERDEM BEI PANINI ERHÄLTLICH

TYLER WHITESIDES:

DIE ABENTEUER DES MEISTERS VON LIST UND TÜCKE

Band 1: DIE TAUSEND LEBEN DES ARDOR BENN

ISBN 978-3-8332-4279-3

Band 2: DAS ZERBROCHENE REICH DES ARDOR BENN

ISBN 978-3-8332-4332-5

Band 3: DIE LETZTEN LÜGEN DES ARDOR BENN

ISBN 978-3-8332-4400-1

Nähere Infos und weitere phantastische Bände unter:

paninishop.de/phantastik/

Ins Deutsche übertragen von Bastian Ludwig

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright ©2020, 2023 by Tyler Whitesides. All rights reserved.

Autorenfoto von Jamie Younker

Cover design von Lauren Panepinto

Cover Illustration von Ben Zweifel

Cover © 2020 Hachette Book Group, Inc.

Map by Serena Malyon

Titel der Englischen Originalausgabe: »The Last Lies of Ardor Benn« by Tyler Whitesides, published in Great Britain in June 2020 by Orbit an imprint of Hachette Book Group/Little, Brown Book Group, London, UK.

Deutsche Erstausgabe 2023 Panini Verlags, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Bastian Ludwig

Lektorat: Peter Thannisch

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDARDOR003E

ISBN 978-3-7569-9879-8

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, November2023, ISBN 978-3-8332-4400-1

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Für Dean und Wally

I

Im Leben sollten wir stets den Heimischen Gestaden ins Antlitz blicken, auch wenn kein Tag ohne große Strapazen ist. Auf gerader Linie mühen wir uns, doch des Kreises Rund ist unsere Rettung, derweil die Macht der allwärtigen Kugel schier grenzenlos ist.

Des Reisenden Weggefährte, Drittes Buch

Das große rote Auge weissagt mit Klarheit, gedenkt mit Weisheit und nimmt das Jetzt wie einen einzigen ruhigen Moment wahr.

Altes Lied der Agroditen

1

Ard stolperte über den Saum seines seegrünen Eilandsgewands. Ja, ja, ein wahrer Ausbund an Ehrwürdigkeit. Wären da nicht so viele Leute um ihn herum gewesen, hätte er über sich selbst gelacht.

Auf dem Kohlengrund herrschte der übliche Trubel, wenngleich es heute für einen Sommertag im dritten Zyklus ungewöhnlich frisch war, eine Erinnerung daran, dass der Frühling noch nicht allzu lang zurücklag.

Ard jedoch fröstelte nicht. Tatsächlich wäre es sogar angenehmer gewesen, hätte er nichts unter dem Gewand tragen müssen. Er hatte allerdings schnell gelernt, dass so etwas in der Reede verpönt war. Und jetzt herrschte da immer diese peinliche Anspannung zwischen ihm und Eiland Shora, Eiland Ton wollte ihm nicht mehr ins Gesicht schauen, und er war schon zweimal in Bucht eins zitiert worden, wo ihm das Erzeiland eine Standpauke … Wie dem auch sei, er hatte seine Lektion gelernt. Außerdem musste er heute ohnehin etwas unter dem Gewand tragen, denn er brauchte einen Gürtel, um seine Holster daran zu befestigen.

Auf dem Oriarplatz hatte sich eine Menschenmenge versammelt – vornehmlich Gelandete aus der Arbeiterklasse, die Wind davon bekommen hatten, dass hier das große Finale stattfinden würde. Natürlich wollte sich das niemand entgehen lassen. Die Ansammlung teilte sich, als Ard näher kam. Ein paar der Umstehenden hielten Anhänger mit dem Anker des Reisetums in die Höhe, um ihre Unterstützung zu bekunden. Es war schön, die Menge hinter sich zu wissen, doch das durfte Ard nicht in falscher Sicherheit wiegen. Würde es wie beim letzten Mal ablaufen, würden die Leute schlussendlich nur im Weg stehen.

Nein, es musste besser ausgehen als damals, daran durfte Ard einfach keinen Augenblick zweifeln. Er ließ seinen Blick über die vermoosten Steinplatten in der Mitte des Platzes schweifen. Er sollte sich auf jene stellen, die wie ein Dreispitz geformt war. Meinte das Raek ernst? Fast alle der Platten waren mehr oder weniger dreieckig.

»Ich habe doch gesagt, dass du allein kommen sollst«, rief Dalfa Rhed, die sich durch die Reihen der Schaulustigen schob. Die drahtige Frau reichte Ard kaum bis zu den Schultern. Einer ihrer vorderen Schneidezähne fehlte, und wenn sie sprach, sprühte immer wieder Speichel durch die Lücke.

»Ich bin allein«, versicherte Ard.

Dalfa deutetet auf den Menschenpulk. Bestimmt fünfzig Personen hatten sich da mittlerweile versammelt. »Und wer sind dann die?«

»Bürger von Beripent, die einen Sommernachmittag genießen«, entgegnete Ard. »Du erwartest doch wohl nicht, dass ich den Kohlengrund absperren lasse. Ich bin nur ein einfaches Eiland.«

»Spar dir das Gekrätz!«, spie Dalfa. »Du bist Ardor Benn, ein Meister von List und Tücke.«

»Ich wurde geläutert«, erklärte Ard. Er versuchte nicht, seine Vergangenheit zu leugnen. »Oder zumindest habe ich mich zur Ruhe gesetzt.«

Das brachte ihm leises Gelächter aus der Menge ein. Bemerkungen wie diese halfen ihm dabei, das öffentliche Bild von sich zu verfestigen, das er gestalten wollte. Es gab einen guten Grund, weswegen es eine Liste mit Gläubigen gab, die darauf warteten, einen Termin für eine Konsultation bei ihm in der Reede zu bekommen. Das Heilige Eiland Ardor Benn war etwas noch nie Dagewesenes: ein legendärer Gauner, der den Weg zur Frömmigkeit gefunden hatte.

»Ich habe deine Einladung zu einem Treffen erhalten.« Ard streckte die Arme vor, die weiten Ärmel seiner Amtstracht hingen wie Vorhänge nach unten. »Wie kann ich dir helfen?«

Statt ihm zu antworten, wandte sich Dalfa an die Umstehenden. »Dieser Mann besudelt das Gewand der Eilandskongregation mit seinen sesshaften Lügen! Vor fünf Jahren hat er sich Zutritt zu meinem Anwesen im Norden von Strind verschafft. Er hat sich als Edelmann ausgegeben, der an einer geschäftlichen Beziehung interessiert sei, und …«

»Das ist ein wenig vage«, unterbrach Ard sie. »Was genau habe ich denn getan?«

Dalfa spuckte durch ihre Zahnlücke und funkelte ihn an. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«

Ard seufzte. Sie war zu klug, um vor versammelter Schar zuzugeben, dass sie Aschlinge gefälscht hatte. Es war gut möglich, dass sich Regulatoren unter die Leute gemischt hatten.

»Das Entscheidende ist«, fuhr Dalfa fort, »dass ich dachte, wir würden ehrliche Geschäfte betreiben, während Ardor Benn nichts anderes getan hat, als üble Ränke zu schmieden, um mich auszurauben!«

Ard erkannte, dass dieser Vorwurf nicht ganz so viel Wirkung zeigte, wie sie sich es wohl erhofft hatte. Die Schaulustigen schienen alles andere als überrascht. Die meisten von ihnen hatten sicherlich die öffentlichen Entschuldigungsschreiben gelesen, die er nach seiner Begnadigung durch die Königin verfasst hatte – und darin hatte er weit üblere Schandtaten gestanden.

Dabei hatten die Schreiben das Jahrzehnt, in dem er sich als Meister von List und Tücke verdingt hatte, nicht einmal im Ansatz vollständig abgebildet. Viele seiner Zielpersonen waren andere Verbrecher gewesen, die es gewiss bevorzugten, keine öffentliche Entschuldigung von Ard zu erhalten, um nicht die Aufmerksamkeit der Reggies auf sich zu lenken. Im Grunde tat er diesen lichtscheuen Halunken einen Gefallen, indem er Stillschweigen über sie bewahrte.

Dennoch hatte er sich viel Mühe beim Abfassen der Schreiben gegeben und Worte gewählt, mit denen er sich zwar für seine Verbrechen entschuldigt, dabei jedoch keinen Zweifel an deren Gewitztheit gelassen hatte.

»Er hat mein Anwesen verlassen«, fuhr Dalfa fort, wobei sie offenbar dazu ansetzte, ihr Publikum doch noch zu schockieren. »Dann ist er sofort zum örtlichen Schatzhaus gegangen und hat in meinem Namen eintausend Aschlinge abgehoben!«

Das rief nun tatsächlich eine Reaktion hervor, denn schließlich war das ein Betrag, den die meisten dieser Bürger im ganzen Jahr nicht verdienten.

»Lassen Sie Ihr Vertrauen in die öffentlichen Schatzhäuser dadurch nicht erschüttern«, ermahnte Ard die Umstehenden. »Um Geld abzuheben, benötigt man allerlei Papiere, zwei Unterschriften, die mit denen in den Kontobüchern des Schatzhauses übereinstimmen, ein von einem Notar gestempeltes Wachssiegel …«

»Wie haben Sie es dann angestellt?«, rief jemand aus der Menge.

Ard kratzte sich am Kopf. »Daran kann ich mich nicht erinnern. Dalfa?«

Ihr Gesicht war zu einem hässlichen Grinsen verzogen, und er wusste, dass sie das niemals öffentlich ausplaudern würde.

»Ach so, stimmt ja!«, sagte Ard, wobei er so tat, als würde er sich plötzlich wieder entsinnen. »Du hast die Papiere unterzeichnet und hattest auch den Notar dabei, der das Siegel …«

»Ich dachte, dass ich da etwas anderes unterschreibe!«, keifte Dalfa.

Ard lächelte der versammelten Menge zu. »Und darum, ihr guten Menschen, sollte man immer das Kleingeschriebene lesen.«

Das Klicken des Krätzensteinhahns eines Zünders ließ ihn seine Aufmerksamkeit zurück auf Dalfa richten. Sie zielte mit einen Trommelzünder direkt auf seine Brust und blickte ihn finster an. Auch Ard war mit einem Mal nicht mehr nach Lachen zumute. Diesen öffentlichen Ort hier hatte er eigentlich als Treffpunkt vorgeschlagen, um allzu harsche Bedrohungen und gezückte Bleischleudern zu vermeiden.

Er hob die Hände. Mit betrübtem Blick und dazu passendem Tonfall sagte er: »Du kannst meine Entschuldigung in dem persönlichen Schreiben nachlesen, in dem von den Unstimmigkeiten zwischen uns beiden die Rede ist.« Das musste reichen. Noch einmal würde er ganz sicher nicht um Verzeihung bitten.

»Deine faulen Ausreden sind mir völlig gleich«, sagte Dalfa, wobei sie mit dem Trommelzünder herumfuchtelte.

Die Umsichtigeren unter den Bürgern stellten sich so, dass sie aus der Schusslinie waren.

»Ich will meine Aschlinge zurück!«, setzte Dalfa spuckend nach.

»Ich habe dir alles zurückgezahlt«, erklärte Ard. Glimmer und Granit, nun lief es doch genauso wie beim letzten Mal ab. Das war das Ergebnis, wenn seine alten Feinde von seiner Begnadigung erfuhren. Die kleinen Ratten gierten dann danach, aus dem Umstand, dass der legendäre Ardor Benn nun ein redliches Leben führte, ihren Vorteil zu ziehen.

»Alle habe ich ausgezahlt«, beteuerte er. Nun, zumindest alle, die in den Entschuldigungsschreiben Erwähnung gefunden hatten. »Oder glaubst du ernsthaft, dass die Eilandskongregation jemanden in ihre Reihen aufnehmen würde, der nicht all seine Schuldigkeiten …«

»Du bist kein Heiliges Eiland!«, brüllte Dalfa. »Du bist ein Meister von List und Tücke. Und das da«, sie deutete auf sein Gewand, »ist nichts als ein ausgefeilter Schwindel. Nur die Heimischen Gestade wissen, was du wirklich vorhast.«

»Komm schon, Dalfa. Hab ein wenig Vertrauen.« Vielleicht konnte er die Situation noch zum Guten wenden. »Du kennst doch den Ruf meines alten Ichs. Ich war ein umtriebiger Gauner. Wäre ich noch derselbe, würde ich doch wohl kaum seit mehr als einem Jahr in der Reede sein und noch immer mit leeren Händen dastehen.«

»Ich weiß, wie viel Geduld du aufzubringen vermagst«, sagte sie, ohne die Waffe zu senken, »wenn die erhoffte Beute nur fett genug ist.«

»Ist dir bekannt, welche Abmachung ich mit Ihrer Majestät getroffen habe?«, fragte Ard. Auch für die Umstehenden wäre es gut, dieses Wissen noch einmal aufzufrischen.

»Königin Ostel-Agaul hat dich – einen berüchtigten Verbrecher – angeheuert, ihren vermissten Sohn, den Kronprinzen Shad Agaul, aufzuspüren«, entgegnete Dalfa.

»Was mir auch gelungen ist«, sagte Ard. Wenngleich der arme Junge schon bald darauf auf seinem zukünftigen Thron erschossen worden war.

»Welchen Kuhhandel dir Ihre Majestät danach auch angeboten haben mag, er war sicherlich beeinflusst von ihrer Dankbarkeit dir gegenüber.«

»Unsere Kreuzfahrermonarchin zu hinterfragen, ist der erste Schritt auf dem Weg zum Hochverrat. Königin Ostel-Agaul hat in zwei Jahren mehr Gutes getan als viele andere Herrscher in ihrem ganzen Leben.«

Die Menge murmelte zustimmend. Das Volk hatte Abeth schon immer größte Hochachtung entgegengebracht, selbst in der Zeit, als sie außerhalb von Termains Großkönigreich im Exil gelebt hatte. Und nun galt sie den Menschen als die Frau, die mehr durchgestanden hatte, als wohl sonst irgendwer hätte ertragen können: die Ermordung ihres Gemahls und ihres Sohns; den Verlust des Königreichs, das zu regieren sie ihr halbes Leben lang vorbereitet worden war; ein versuchtes Attentat in den Straßen Beripents. Durch all diese Unbill war der Stern von Abeth Ostel-Agaul in unermessliche Höhen gestiegen.

Ard war nicht im Geringsten überrascht gewesen, als Olstad Trabel, das neue Erzeiland, entschieden hatte, sie als Kreuzfahrermonarchin einzusetzen. Wie König Pethredot vor ihr war sie eine Monarchin auf Zeit, eine Interimskönigin, der es nicht erlaubt war, zu heiraten oder einen Thronfolger zu gebären, und deren Aufgabe darin bestand, die Inseln in enger Zusammenarbeit mit dem Erzeiland zurück in ruhigere Fahrwasser zu führen, bis eine Entscheidung über ein neues Herrschergeschlecht getroffen war.

»Als Bezahlung für meine Dienste«, erklärte Ard, »hat mich die Königin unter der Bedingung begnadigt, dass ich nie wieder eine Untat begehe. Ich habe Abbitte und Wiedergutmachung geleistet – warum sollte ich das aufs Spiel setzen, nur um dich um dein Geld zu prellen?«

»Wie man hört, war die Begnadigung aber nicht alles«, sagte Dalfa. »Es heißt, die Königin hätte dir deine Dienste außerdem mit einem anständigen Batzen Aschlingen vergoldet.«

Das stimmte – und Dalfa Rhed war schon die dritte Person, die daraus Kapital schlagen wollte. Es war ganz egal, dass Ard seine Schulden beglichen hatte. Nun, da er reich und gesetzestreu war, war das für einige Leute die ideale Gelegenheit, seinen neuen Leumund auszunutzen, um mehr Aschlinge herauszuschlagen.

»Also, wieso tust du nicht das Richtige?«, sagte Dalfa dementsprechend. »Beweise diesen guten Leuten hier deine Redlichkeit, indem du mir gibst, was du mir schuldest.« Endlich steckte sie ihren Trommelzünder weg. Wahrscheinlich war ihr aufgefallen, dass sie mit der Bleischleuder in der Hand wie eine Wegelagerin aussah.

»Es ist mir ein Vergnügen, einen Beweis für die Zahlung vorzulegen, die ich an dich getätigt habe«, sagte Ard. »Die Quittungen liegen in meinem Schließfach in der Reede.«

In Wahrheit befanden sie sich unter dem Bett in seiner Wohnung im Nordend. In der Reede bewahrte er nichts von wahrem Wert auf. Zu viele der Heiligen Eilande waren mit seiner Aufnahme in die Kongregation nicht einverstanden. Es ließ sich nur erahnen, was sie alles anstellen würden, um seinen Rauswurf zu provozieren.

»Quittungen, die du ohne Mühe fälschen kannst«, sagte Dalfa. »Wie du es auch schon bewiesen hast.«

Ard zuckte mit den Schultern. »Nun, ich werde dich keinesfalls ein zweites Mal bezahlen. Wenn du weiter auf deinem Anspruch beharren willst, solltest du vielleicht einen freien Ermittler anheuern. Ich würde mich freuen, dir jemanden zu empfehlen, der …«

»Jeder kann das Richtige tun, wenn ihm ein Ermittler oder die Regulation im Nacken sitzt«, sagte Dalfa. »Das hier ist jedoch eine Frage des Charakters.«

»Deines oder meines?«, hakte Ard nach.

Mit einem Mal löste sich ein halbes Dutzend Männer aus der Menge und baute sich hinter Dalfa auf. Waren die eben auch schon da gewesen? Ganz sicher wären Ard die hässlichen Gaunervisagen dieser Muskelberge doch nicht entgangen. Voll niederträchtiger Freude präsentierten sie das Waffenarsenal an ihren Gürteln und einer ließ sogar seine fleischigen Fingerknöchel knacken.

»Jetzt mal langsam mit den jungen Drachen.« Ard hob die Hände. »Mir ist bewusst, dass im Norden von Strind noch immer hier und dort das Faustrecht gilt, aber das hier ist Beripent, und hier nehmen wir unsere Gesetze ernst.«

»Wir kennen das Gesetz«, sagte Dalfa. »Und es ist unser gutes Recht, einen Verdächtigen zur nächsten Wache der Regulation zu schleifen.«

Das ließ sich kaum als verschleierte Drohung bezeichnen. Niemals würde er es bis zur Wache schaffen. Hätten Dalfas Schläger ihn erst mal von der Menschenmenge weggezerrt, würden sie ihm für immer die Funzelsphäre auspusten.

»Verdächtiger?« Ard blickte hinab zu den Pflasterplatten. Ach was, diese dort sah tatsächlich ganz genau wie ein Dreispitz aus. Er machte einen weiten Schritt zur Seite, sodass er mitten auf der steinernen Fläche stand, die Füße schulterbreit voneinander entfernt, die Knie leicht gebeugt.

»Ich will doch sehr hoffen, dass du unter deinem Gewand keine Waffen bei dir trägst«, erklärte Dalfa, wobei sie auf seinen Oberkörper deutete. »Wie du weißt, ist das einem Heiligen Eiland nicht gestattet.«

»Ich kann dir versichern, dass ich nichts darunter trage«, entgegnete Ard mit einem Schmunzeln, wobei er eine Hand in die Tasche seines Gewands gleiten ließ, bis seine Finger die glatte, kühle Oberfläche eines kleinen gläsernen Malmkolbens fanden.

»Verkohlt und abgeschlackt, sollen sich die Regulatoren darum kümmern, wenn wir dich erst mal zur Wache geschafft haben.« Dalfa hob eine Hand und die sechs muskelbepackten Männer marschierten auf Ard zu.

Mochte die Vorstellung beginnen!

Auf der Pflasterplatte ging Ard auf ein Knie, zog die Faust aus der Tasche und warf den Kolben mit dem flüssigen Zündungsmalm auf den flachen Stein unter sich. Das Glasgefäß zersplitterte, der Krätzensteinkrümel im Innern schlug Funken und eine kurzlebige Zündungssphäre entstand.

Die erledigte genau das, was Raek berechnet hatte. Sie zündete das Schiebemalm, das der Chemist unter der dreieckigen Pflasterplatte platziert hatte, und eine Stoßwelle katapultierte den flachen Stein schnurgerade in die Luft wie eine fliegende Plattform. Es gab dabei nur ein Problem: Ard kniete an der falschen Stelle.

Lose Kiesel und Erde spritzten ihm ins Gesicht, als er seitlich umgeworfen wurde und mit ansehen musste, wie sein Fluchtgefährt vor ihm in die Höhe sauste. Stinkendes Gekrätz! Wenigstens war die Schiebesphäre kräftig genug gewesen, die Schläger zurückzustoßen und obendrein die unschuldigen Schaulustigen zu vertreiben.

Doch Ards kühner Fluchtplan war dahin. Eigentlich hätte er auf der Pflasterplatte in die Höhe schießen und dann ein dickes Seil greifen wollen, das Raek direkt über ihm zwischen zwei Baumkronen gespannt hatte. Für einen Moment hätte er dort wie frische Wäsche auf der Leine hängen können, ehe er das Seil am einen Ende durchtrennt hätte, um dann vom Oriarplatz hinunter in die Freiheit zu schwingen.

Jetzt aber hieß es, sich etwas anderes einfallen zu lassen. Also sprang er auf die Füße, riss sein Gewand ohne viel Federlesens vorn hoch und zog seine beiden Trommelzünder. Dafür würde er sich einen weiteren Rüffel beim Erzeiland abholen dürfen, aber allzu schlimm würde der sicherlich nicht ausfallen. Ard wusste, dass es Olstad insgeheim genoss, eine Berühmtheit in der Kongregation zu haben.

Der Schläger, der Ard am nächsten stand, schlug nach ihm, in der einen Hand ein Messer, in der anderen einen Einzünder. Ard köderte ihn zu sich. Ein Schritt. Ein zweiter. Also schön, das war weit genug. Dieser Schwachkopf dort verschwendete ganz offensichtlich nicht allzu viel Zeit damit, seine graue Zellen anzustrengen, denn er hatte eine der ehernsten Wahrheiten der Welt nicht bedacht: Was in die Lüfte stieg, kam irgendwann auch wieder herunter.

Die Pflasterplatte schlug ihm direkt auf den Kopf. Das knackende Geräusch drehte Ard den Magen um. Nun ähnelte die Platte einem Dreispitz also nicht nur, sondern war sogar zu einer echten Kopfbedeckung geworden.

Dass da jetzt ein toter Mann zwischen ihm und Dalfa lag, machte die Sache für Ard allerdings nicht besser.

Einer der anderen Schläger gab einen Schuss ab, aber die Kugel verlor sich im Nirgendwo. Ard zog sich langsam über den Oriarplatz zurück und feuerte seinerseits zweimal. Er zielte absichtlich tief, sodass die Kugeln vor seinen Gegnern auf den Boden schlugen. Hoffentlich würde sie das davon abhalten, ihn zu verfolgen. Er wollte wirklich niemanden erschießen. Es war schon schlimm genug, dass ein Mann ums Leben gekommen war.

Stinkendes Gekrätz! Ards Fluchtweg wurde mit einem Mal von zwei weiteren Schlägern, beides Frauen, versperrt, die ganz ohne Frage zu Dalfa Rheds Gefolge gehörten. Wollte er es vom Platz herunterschaffen und zu einem der Wege gelangen, die vom Kohlengrund führten, würde ihm nur eines bleiben: Er musste durch einen Hagel von Zünderkugeln rennen.

Sein Blick fiel auf die Ruine der alten Palasttreppe. Etwas mehr als vier Jahre war es her, dass er dort gestanden und die gesamte Menschheit gerettet hatte. Vielleicht würden diese Stufen nun ihn retten.

Er sprang über die Kette, mit der das historische Denkmal abgesperrt war. Sein Gewand verfing sich darin und er stürzte mit dem Gesicht voraus zu Boden. Eine Kugel sauste an ihm vorbei, wohl dank dieser Tollpatschigkeit. Vielleicht war die Amtstracht der Eilande also doch zu etwas nutze.

Ard krabbelte vorwärts, kam wieder auf die Beine und hastete die Treppe empor. War das hier die Stufe, auf der er zum Paladin von jenseits des Meeres geworden war und im Schatten gekauert hatte, während Grotenisk der Zerstörer mit flammendem Atem das Ei eines Drachenbullen befruchtet hatte?

Vielleicht, vielleicht auch nicht, allerdings war nun ohnehin keine Zeit für Sentimentalitäten. Ard hatte keinen Plan, er versuchte einfach nur, in eine erhöhte Position zu gelangen. Das war stets ein taktischer Vorteil, nicht wahr?

Was auch immer er tat, es schien zu funktionieren. Als er auf der Hälfte der Treppe angekommen war, stellten seine Gegner das Feuer ein. Dalfa Rhed war zwar skrupellos genug, auf dem Kohlengrund eine Schießerei zu beginnen, doch ihre Leute waren nicht so dumm, ein historisches Monument dieses Kalibers zu durchsieben.

Dennoch war Ard alles andere als aus dem Schneider. Eine der Frauen und zwei der Männer stiegen über die Absperrkette, die Rapiere gezückt. Es musste doch einen Weg runter von dieser Treppenruine geben, die nach oben hin ins Nichts zerbröckelte …

Was war das?

An der hohen Eiche, die sich rechts von der Treppe erhob, hing – einem Geschenk der Heimischen Gestade gleich – ein Seil. Es war das Fluchtseil, das Raek gespannt hatte. Nun war es aber am einen Ende durchtrennt, sodass es knapp über dem zerbröckelten Treppenabsatz baumelte, der den oberen Abschluss der alten Palasttreppe markierte.

Das war perfekt, war es doch nicht nur ein Fluchtweg, sondern obendrein eine willkommene Gelegenheit, eine unbestreitbar heroisch aussehende Tollheit zu vollführen. Ard steckte seine Trommelzünder weg und spurtete den Rest der Treppe hinauf. Er bekam das Ende des Seils mit beiden Händen zu fassen, dann sprang er über den Rand des Treppenabsatzes.

In einem weiten Bogen sauste er um die alte Palasttreppe herum. Er wirbelte dabei um die eigene Achse, sodass ihm beinahe schwummrig vor Augen wurde. Dennoch gelang es ihm, einen Blick auf die verdutzten Gesichter seiner Verfolger zu erhaschen. Voller Erstaunen beobachteten sie dieses akrobatische Wagestück, die Rapiere nun nur noch locker in den Händen.

Das war doch schon mal geglückt … Jetzt musste er nur noch herausfinden, wie er wieder auf den Boden kommen konnte.

Genau in diesem Moment löste sich der Knoten, mit dem das Seil am Baum befestigt war, und Ard knallte auf das Pflaster des Oriarplatzes, nur wenige Meter von Dalfa entfernt. Seine Landung war alles andere als elegant und sein Eilandsgewand zerriss, als er schmerzhaft über den Boden rollte.

Sofort eröffnete Dalfa das Feuer, doch ihre Kugel prallte nutzlos von der durchsichtigen Hülle einer Barrierensphäre ab, die sich mit einem Mal zwischen ihr und Ard geformt hatte.

Mit grober Hand packte ihn jemand an den Schultern und hievte ihn auf die Füße.

»Kannst du nicht einmal in deinem Leben fliehen wie ein normaler Mensch?«, fragte Raek. Dann hob er seine Armbrust, schickte einen Bolzen quer über den Platz, wo er einen von Dalfas Männern das Bein durchschlug, und lud sofort wieder nach.

»Wie fliehen normale Menschen denn?«, fragte Ard, während sie zusahen, dass sie vom Kohlengrund verschwanden.

»Auf jeden Fall nicht über den Oriarplatz schwingend wie ein Seemann mit zu viel Rum im Blut. Wie wäre es denn beispielsweise zu Fuß?« Als wollte Raek verdeutlichen, was er damit meinte, rückte er seinen Rucksack zurecht und eilte los.

Ard folgte ihm dichtauf. »Ich habe improvisiert«, verteidigte er sich. »Eigentlich hätte ich ja auf der Steinplatte hocken und in die Freiheit fliegen sollen.«

»Bei dir ist Hopfen und Malz verloren.«

»Aber … Dreispitz?«, klagte Ard. »Für mich sah das eher wie ein Milchhörnchen aus.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht«, entgegnete Raek. »Milchhörnchen – sehr treffend.«

»Jetzt bringt das auch nichts mehr.« Ard warf einen Blick über die Schulter, nur um feststellen zu müssen, dass Dalfa und ihre Schläger von der Barrierensphäre kaum aufgehalten worden waren. Die Meute war zu siebt – und ihnen dicht auf den Fersen.

»Statt jetzt so über meine Beschreibung der Steinplatte zu maulen, hättest du letzte Nacht mitkommen können«, hielt Raek ihm keuchend vor.

»Da hatte ich einen Mann in meiner Bucht, der mir sein Herz ausgeschüttet hat. Ich konnte ihn doch wohl schlecht bitten, ein bisschen schneller zu machen, weil ich noch losmüsste, um ein Aufeinandertreffen mit einer Frau vorzubereiten, die mir ans Leder will. Ich habe darauf vertraut, dass du schon alles besorgen würdest.«

»Nun ja, ich hatte von Anfang an Bedenken wegen der fliegenden Steinplatte«, erinnerte Raek ihn. »Einfach wegrennen … so fliehen ganz normale Menschen.«

Wenngleich er durch die Flucht aus der Puste war, fand Ard noch genug Luft in seiner Lunge, um abfällig zu hüsteln. »Ha, viel zu langweilig. Feiglinge rennen weg. Zu Heiligen Eilanden bekehrte Meister von List und Tücke entfleuchen einem Streit auf gen Himmel segelnden Bodenbelägen.«

»Manchmal frage ich mich, ob du dir eigentlich selbst zuhörst.«

»Das Seil hat übrigens nicht gehalten«, sagte Ard. »Deine Knotenkunst hat auch schon bessere Tage erlebt.«

»Der Knoten ist aufgegangen, weil ich ihn gelöst habe, als ich gesehen habe, wie du hilflos drei Meter über dem Boden herumgeflattert bist.«

»Ich meine davor. Das andere Ende hing einfach so da, oben auf dem Treppenabsatz der alten Palasttreppe.«

»Ich weiß«, sagte Raek. »Gern geschehen.«

Ard zügelte seine Schritte und deutete vor sich. Bürger waren da nicht zu sehen, denn die Menschen von Beripent wussten, wann es besser war, Ärger aus dem Weg zu gehen. Allerdings war da eine Schar blau berockter Regulatoren, die direkt auf Ard und Raek zuhielt. »Wurde aber auch Zeit, dass die hier auftauchen!«

Neben ihm fluchte Raek. »Seit wann sind wir denn froh, wenn die Reggies anrücken?«

»Dalfa hat die Sache vom Zaun gebrochen. Sie und ihre Bande werden bestimmt nicht dableiben, um sich verhören zu lassen.« Ard blickte hinter sich. »Siehst du?« Ihre Verfolger waren dabei, sich eiligst in das üppige Gebüsch zu schlagen, das die Wege des Kohlengrunds säumte.

Ard richtete seinen Blick wieder nach vorn und bemerkte, dass Raek seine Laufrichtung zu einer der historischen Ruinen am Rande des Pfads geändert hatte. Es handelte sich um eines der besser erhaltenen Gebäude von Alt-Beripent. Der erste Stock war zwar in sich zusammengestürzt, doch das Erdgeschoss war noch recht unbeschädigt.

»Raus aus dem Gewand!«, rief Raek, während er die moosüberwucherte Eingangstür der Ruine aufriss.

»Was?«, ächzte Ard.

»Vertrau mir. Du willst doch nicht dafür geradestehen müssen, dass du Trommelzünder unter deinem Eilandsgewand versteckt hast.«

Ard verzog das Gesicht. Raek hatte recht. Die Behauptung, dass es einem Eiland verboten war, unter seiner Amtstracht Waffen mitzuführen, hatte sich Dalfa nicht ausgedacht.

Also verließ Ard den Weg, zog sich den verschmutzten seegrünen Stoff über den Kopf und stopfte ihn eilig unter ein Dickicht aus Farnen. Sein Herz hämmerte, als er sah, wie nah die Reggies bereits waren.

»Mach schon!«, rief Raek aus der Ruine.

Ihm kam es wie eine miserable Idee vor, sich in einem verfallenen Gebäude selbst in die Ecke zu drängen, wo doch die Wachtmeister glasklar mitbekamen, wohin sie sich verkrochen. Aber Ard wollte seinen Freund nicht alleinlassen, also tauchte er durch die geöffnete Holztür, die Raek sofort hinter ihm zuschlug.

»Unbefugter Zutritt in eine historische Ruine auf dem Kohlengrund wird mit Gefängnis und einer Geldstrafe geahndet«, zischelte Ard in die plötzliche Dunkelheit. Das Haus hatte keine Fenster, allerdings fielen durch die Spalten zwischen Türblatt und Türrahmen schmale Lichtstreifen, in denen der Staub tanzte.

»Sagt der Kerl, der eben noch auf der alten Palasttreppe herumgetrampelt ist.« Raek nahm eine Malmkapsel vom Gürtel, warf sie gegen die Tür, und eine Barrierenkuppel versiegelte den Eingang fest und sicher.

Ard sah sich um. Der Raum war größer als erwartet, vielleicht fünfzehn Meter tief und halb so breit. »Ich hätte die Sache klären können. Wir gehören jetzt zu den Guten. Wir haben nichts zu verbergen.«

Nun war es an Raek, abfällig zu hüsteln. »Wenn du wüsstest, was ich hier drin habe«, sagte er, wobei er seinen Rucksack absetzte.

Ard seufzte, dann entschied er zu fragen. »Labsal?« Er wusste, dass sein Freund es wieder genommen hatte, diese Abart des Heilungsmalms, das er direkt in dem Rohr zündete, das in seine Brust eingelassen war. Ard konnte nicht mehr zählen, wie oft Raek in den letzten zwei Jahren schon mit dem Zeug aufgehört hatte – und wie oft er rückfällig geworden war.

»Ich habe hier drin Kolben mit Arten von Flüssigmalm, von denen die meisten Leute noch nicht einmal etwas ahnen«, entgegnete Raek, womit er Ards Frage kunstvoll aus dem Weg ging.

Die klapprige Tür erzitterte unter festem Klopfen. »Aufmachen!«, polterte eine männliche Stimme. »Im Namen der Kreuzfahrermonarchin! Öffnet sofort die Tür und ergebt euch!«

»Wenn wir nicht tun, was sie sagen, werden sie sich den Weg freisprengen«, flüsterte Ard.

Raek schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall wagen sie es, eines der Denkmäler des Kohlengrunds zu zerstören.«

Ard legte das Ohr an die Tür, um mitzuhören, wie eine Frau Bericht erstattete. »Wir haben das Gebäude umrundet, Herr Konstabler. Diese Tür ist der einzige Eingang.«

»Ausgezeichnet!«, war die Antwort. »Also sitzen sie in der Falle. Wir beziehen hier Stellung. Wenn nötig, werden wir sie aushungern.«

Ard trat von der Tür zurück und nickte entschlossen. »Verscharr deinen Rucksack«, flüsterte er zu Raek. »Ich gehe da raus und …«

»Ein einziges Verbrechen«, unterbrach ihn sein Freund. »Alles, was sie uns nachweisen müssen, ist ein einziges Verbrechen.«

Ard war klar, was auf dem Spiel stand. Wenn er die Abmachung mit Abeth verletzte, würde sie die Begnadigung aufheben, und er würde in sein altes Leben zurückgeworfen.

»Das Risiko dürfen wir noch nicht eingehen«, sprach Raek weiter. »Nicht, ehe du herausgefunden hast, was wir wissen wollen.«

Damit hatte er natürlich recht. Herauszufinden, wo die Eilandskongregation ihre wachsende Sammlung von Dracheneischale lagerte, war Sinn und Zweck des ganzen Plans. Seit der kleine Drachenbulle geschlechtsreif geworden war und begonnen hatte, Eier zu befruchten, war plötzlich immer mehr Dracheneischale auf die Inseln gelangt. Nach alter Tradition verwaltete die Kongregation die Schalenstücke und bewahrte sie auf, bis sie zu Paladinmalm weiterverarbeitet werden würden.

Herauszufinden, wo dieses wertvolle Gut aufbewahrt wurde, war tatsächlich gar nicht so schwer gewesen. Ard kannte den Ort nun bereits seit zwei Zyklen. Viel schwieriger war die Entscheidung gewesen, Raek nichts davon zu erzählen.

»Und wie willst du von hier wegkommen?«, flüsterte Ard. »Donnermalm? Willst du ein Loch in die Wand sprengen?«

»Nein, dann könnte das gesamte Gebäude über uns zusammenbrechen«, entgegnete Raek, wobei er sich zwei dicke, ellenbogenlange Handschuhe überstülpte, die er aus seinem Rucksack gekramt hatte. Ein Grinsen überzog sein vernarbtes Gesicht.

»Die Rammfäustlinge? Ist das dein Ernst? Hast du dir beim letzten Mal nicht jeden einzelnen Finger der rechten Hand gebrochen?«

»Nur drei. Den kleinen Finger und den Daumen hat’s nicht erwischt. Außerdem habe ich ein paar Verbesserungen vorgenommen.« Raek nahm eine weitere Malmkapsel vom Gürtel und warf sie Ard zu. »Könntest du die an der hinteren Wand zünden?«

Ard beäugte die tönerne Kugel, die mit einem weißen Punkt markiert war. »Was ist das?«

»Flüstermalm.« Raek zupfte einen der robusten Handschuhe zurecht.

Ard ging zur hinteren Wand und zerschmetterte die Kapsel daran. Um ihn spannte sich eine Sphäre auf und mit einem Mal verstummte die Welt. Für einen Moment nahm er die Ruhe in sich auf und versuchte, in sich das Sehnen der Heimischen Gestade zu spüren, über das er im vergangenen Jahr so oft gepredigt hatte. Doch außer seinem eigenen Verstand war da nichts, das ihm hätte Orientierung bieten können. Kein Sehnen mehr seit der Nacht, in der Gloristeba ihre erstaunliche Verwandlung vollzogen hatte. Sie hatte sich selbst als die Heimischen Gestade bezeichnet. Wenn das stimmte, mochte es eine Erklärung dafür sein, weswegen Ard seitdem nichts mehr verspürt hatte. Er hatte die Heimischen Gestade mit eigenen Augen erblickt. Er hatte gesehen, wie sie vom Alten Nordküstenleuchtturm gestürzt und von den Tiefen des Meeres verschluckt worden waren.

Ard wandte sich um. Raek hatte sich mittlerweile vorbereitet. In jeder behandschuhten Faust hielt er einen eisernen Stab von etwa dreißig Zentimetern Länge. Die Enden der Stäbe waren abgeflacht wie Nagelköpfe.

»Das soll deine Verbesserung sein?«, fragte Ard, nachdem Raek aus der Flüstersphäre getreten war.

»Außerdem habe ich die Stäbe an den Handflächen der Handschuhe festgenäht, damit sie nicht wegrutschen«, presste Raek aus dem einen Mundwinkel hervor, weil er sich zwei kleine Malmkolben mit roter Flüssigkeit zwischen die Lippen geklemmt hatte. Vorsichtig spuckte er je einen der Kolben in seine offenen Handflächen. Das Glas klimperte leicht, als es auf die Eisenstäbe traf.

»Das ist ja eine ungemein praktische Vorrichtung, wenn man in Eile ist«, spöttelte Ard.

»Ich arbeite daran. Bist du bereit?«

Ohne auf eine Erwiderung zu warten, ballte Raek die Fäuste, sodass die Malmkolben an den Eisenstäben zerbarsten. Zwei kopfgroße Malmsphären formten sich. Die dunstigen Kugeln umgaben Raeks Hände vollständig bis zur Mitte der Unterarme.

Zufrieden grunzend schlug er die Fäuste zusammen und die beiden Sphären folgten der Bewegung. Die undurchdringlichen Behältnissphären waren eine der letzten Schöpfungen des verstorbenen Professors Baakwart Wal gewesen. Sie waren so widerstandsfähig wie Barrierensphären, jedoch ließ sich ihre Lage verändern.

Die harten Hüllen der Sphären hatten sich um die Eisenstäbe geformt, sodass deren flache Enden ein kurzes Stück aus den Sphärenhüllen herausragten. Dadurch hatte Raek nun zwei bequeme Griffe, mit denen er die dunstigen Kugeln bewegen konnte.

»Die abgeflachten Enden sollten die Stäbe in Position halten«, erklärte er.

Das war beim letzten Mal das Problem gewesen. Die Stäbe waren verrutscht und hatten ihren Halt in der Hülle der Behältnissphäre verloren, sodass Raek mit voller Wucht gegen die Innenseite der Sphäre geschlagen hatte.

Heute sollte sich das also nicht wiederholen. Nun gut. Raek ließ einen Kampfschrei ertönen und donnerte seine bewehrten Fäuste mit aller Kraft auf die Barrierensphäre, die den Eingang versiegelte. Die alten Scharniere der Tür klapperten und das Holz erzitterte.

»Ähm«, warf Ard ein. »Habe ich die Flüstersphäre am falschen Ort erschaffen?«

Raek wandte sich von der Barrierensphäre ab. »Nein. Ich habe nur ein bisschen Rabatz an der Tür gemacht, damit die Reggies denken, wir wollen dort rauskommen. Mit etwas Glück hält gleich niemand mehr hinten Wache.«

Ard folgte seinem Freund in die Flüstersphäre am anderen Ende des Raums.

»Du solltest deine Augen schützen«, sagte Raek laut, nun, da sie niemand mehr belauschen konnte. Dann holte er weit aus und verpasste der Wand einen festen Schlag. Die eisernen Muskeln in seinem nackten Oberarm vibrierten, und der Mörtel um den Mauerstein, den er getroffen hatte, bröckelte. Steinsplitter flogen in alle Richtungen, und Ard war froh, sich das Gesicht mit den Händen geschützt zu haben.

Noch ein paar Schläge … nun ja, von derselben Art, und in der Mauer würde ein anständiges Loch klaffen.

Erneut schlug Raek zu, diesmal näher an der unteren Kante des Mauersteins, dann spendierte er seinem stoischen Gegner drei weitere Haken mit wechselnden Fäusten. Mittlerweile wackelte der große Steinquader wie ein fauler Zahn. Bald würde er durch die Mauer nach draußen fallen und durch die entstandene Lücke würde sich selbst Raek zwängen können.

Der grinste und holte abermals weit aus, doch ehe er die Faust nach vorn sausen lassen konnte, packte Ard ihn am Arm.

Etwas war zu Raeks Füßen auf den Boden gefallen. Offenbar hatte es sich aus der Wand gelöst, nun lag es dort inmitten von Staub und Schutt … ein gefaltetes Stück Pergament.

Ard hob es auf und wischte es sauber, während Raek nur gleichgültig mit den Schultern zuckte und damit weitermachte, dem Mauerstein eine Tracht Prügel zu verpassen.

Ard entfaltete das Pergament. Die Nachricht, die darauf verzeichnet war, war kurz und schlicht – dennoch verschlug es ihm den Atem.

Ardor Benn. Tofars Fajumar. Achter im Dritten. Mittags. Dort nach Be’Igoth fragen.

Ards Blick schnellte nach oben. Fast erwartete er, in den Schatten des alten Gemäuers jemanden lauern zu sehen. Sein Herz raste nun noch viel mehr als vorhin, während er über den Oriarplatz geschwungen war. Eine Nachricht, an ihn adressiert. Hier, an diesem Ort? Und der achte Tag des dritten Zyklus … Das war in nur drei Tagen. Wie war das überhaupt möglich?

»Raek«, flüsterte er, doch sein Freund hielt nicht inne, während er dem Mauerstein den Todesstoß versetzte. Endlich rutschte der große Steinquader nach draußen und schlug außerhalb des Wirkungsbereichs der Flüstersphäre auf den Boden. Sofort schoss ein rechteckiger Lichtstrahl in den Raum. Raek pustete über seine Rammfäustlinge, als wären es rauchende Zünderläufe, dann sagte er: »Das könnte jemand gehört haben.« Als keine Reaktion folgte, wandte er sich verwundert zu Ard um.

Der glich wohl einer Statue, wie er da auf das Pergament in seiner Hand starrte und es im Licht, das nun den Raum durchflutete, hin- und herdrehte, als könnten dadurch noch weitere Worte erscheinen.

»Ard!«, drängte Raek. »Wir müssen hier weg!«

Das brachte Ard zurück ins Hier und Jetzt. Fest umschloss er die Nachricht, als er durch das Loch kletterte. Raek kam eilig hinterher.

Draußen angekommen, hielt Ard seinem Freund die Nachricht hin. »Schau mal. Das hier hat sich aus der Wand gelöst, und …«

»Jetzt nicht!«, unterbrach Raek ihn. Er hob die sphärenumhüllten Fäuste und blickte besorgt drein.

Nun sah auch Ard den Regulator, der um die Ecke des Gebäudes gelaufen kam. Der Wachtmeister entdeckte die beiden und schlug sofort Alarm.

»Zeit, wie ein normaler Mensch zu fliehen«, murmelte Raek. Er gab Ard mit dem Rammfäustling einen Klaps auf den Rücken und die beiden stürmten los.

Du verdienst die Wahrheit, also werde ich mein Bestes geben, sie dir vollständig zu offenbaren. Keine Tricks. Keine Lügen. All meine reinsten Absichten, so deutlich dargelegt, dass selbst das schlichteste Gemüt sie begreifen kann.

2

Der reglose Körper im Handkarren war schwer, doch das war es nicht, weswegen Quarrah eine weitere Pause einlegte. Furcht war es, die sie zurückhielt. Die Furcht, dass der Mondgeplagte, der da in der langen hölzernen Kiste eingesperrt war, jeden Moment daraus entkommen und auf die arroganten Talumoner, die hier durch die Straßen stolzierten, losgehen könnte.

Wie unerträglich die Überheblichkeit war, die einen auf Talumon an jeder Ecke anzuspringen schien. Quarrah war zwar nicht gern hier, allerdings freute sie sich, wieder auf allen Inseln arbeiten zu können, jetzt, da der Krieg zu Ende war. Einige ihrer einträglichsten Diebeszüge hatte sie auf Talumon getätigt. Auf dieser Insel, an der sich eine Stadt an die nächste reihte, gaben sich die günstigen Gelegenheiten zuweilen die Klinke in die Hand. Ganz sicher aber war ihr Beripent lieber als dieser wichtigtuerische Ort. Dort herrschte in den engen Straßen ein angenehm raues Klima, das die Menschen dazu brachte, den Kopf einzuziehen und sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen.

Quarrah setzte ihren Weg fort. Am Himmel hatten sich dunkle Wolken zusammengebraut und ein scharfer Wind blies ihr durch das dunkelblonde Haar. Gut. Der Regen würde ihr die passende Ausrede bieten, ein wenig länger in Fürst Duliths Villa zu verweilen und so möglicherweise herauszufinden, was es mit dessen geheimnisvollem Heilmittel auf sich hatte.

»Suchen Sie sich lieber einen Unterschlupf, junges Fräulein!«, rief ein alter Mann, der gerade die Befestigung des Baldachins überprüfte, der seine Veranda überspannte.

Das war es, was Quarrah meinte. Immer die viel zu hoch getragene Nase in die Angelegenheiten anderer Leute stecken. Sie entgegnete nichts. Würde sie ihn in ein Gespräch verwickeln, wollte er vielleicht als Nächstes wissen, was sich in der Kiste befand.

Diese Frage hatte man ihr schon ein halbes Dutzend Mal gestellt, seit sie ihre Fracht an der Hafenregulation vorbeigeschmuggelt hatte. Am liebsten hätte sie die Fragesteller ignoriert, doch die Form der Kiste erinnerte verdächtig an einen Sarg, und die Talumoner waren geradezu versessen auf Klatsch und Tratsch, also musste sie irgendeine Antwort bieten. »Lieferung für Fürst Dulith«, antwortete sie darum stets und behauptete dann, eine Ladung Feldzünder zu befördern, was die allgemeine Neugier wohl hinreichend befriedigte.

Duliths Villa war alt und imposant. Rote Steinwände erhoben sich drei Stockwerke hoch. Quarrah hatte das Gebäude längst sorgfältig ausgekundschaftet. Es gab einen Ost- und einen Westflügel, Zimmer für die Dienerschaft und einen großzügigen Innenhof, auf dem man sich vergnügen konnte, wenn das Wetter mitspielte.

Das übrige Anwesen war nicht ungewöhnlich. Ein Kiesweg führte zu einer Treppe am Eingang, und ein kleines Bächlein schlängelte sich über die östliche Wiese, wo es gleichsam als Zierde, aber auch zur Entsorgung von Unrat und Ausscheidungen diente, die durch ein eisernes Rohr aus dem Ostflügel eingeleitet werden konnten. Einige dichte Büsche und ein paar Bäume mit dicken Stämmen waren die einzige Deckung, die das Gelände bot.

So uninteressant das Anwesen auch war, so wenig galt das für den Hausherrn. Wie alle Angehörigen der feisten Gesellschaft hatte Fürst Dulith Zeit und Aschlinge im Überfluss, sodass er verschiedenen Steckenpferden nachgehen konnte. Während aber viele seiner Standesgenossen ihr Vermögen für nutzlose Möbelstücke oder Glücksspiel verprassten, war dieser Mann ein aufstrebender Heiler. Zunächst hatte Quarrah gedacht, er wäre ein Labsalsüchtling. Mit der für den Heilerberuf nötigen Approbation wäre es für ihn viel einfacher gewesen, Zugang zu den Zutaten zu bekommen, um Labsal zusammenzumischen. Doch in dem Moment, da sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie ihre Meinung schlagartig geändert.

Quarrah brachte ihren Karren an der Grenze zu Duliths Anwesen zum Stehen. Aus einer der Taschen an ihrem Gürtel holte sie einen Malmkolben mit orangefarbener Flüssigkeit, dann hob sie ganz vorsichtig die Ecke des Kistendeckels an. Sofort entwich dem Behältnis eine dunstige Malmsphäre, die darin gänzlich eingeschlossen gewesen war. Zugleich strömte Quarrah ein widerlicher Gestank entgegen, der mit all den schrecklichen Erinnerungen angereichert war, die sie bei ihren viel zu vielen Begegnungen mit Mondgeplagten gesammelt hatte – den erst jüngst vollzogenen Fang dieser bemitleidenswerten Seele hier vor ihr eingeschlossen. Quarrah musste sich beinahe übergeben.

Mit angehaltenem Atem schob sie den Malmkolben in die Kiste und legte ihn auf einen kleinen Holzblock, den sie an deren Innenseite als behelfsmäßige Ablagefläche festgenagelt hatte. Dann schlug sie den Deckel fest zu und lauschte, wie der Malmkolben zerbrach – das Zeichen dafür, dass sich nun eine neue, von der Kiste gänzlich umschlossene Sphäre gebildet hatte.

Quarrah trat einen Schritt zurück und begutachtete ihr Werk. Es war zwar weit entfernt von einer echten Federkiste, aber hätte sie eine solche mit sich herumgeschleppt, hätte das sicherlich die Aufmerksamkeit der Reggies erregt, und eine Durchsuchung der Fracht wäre unvermeidbar gewesen.

Die Erstarrungssphäre würde den mondgeplagten Mann in einem Zustand der Bewusstlosigkeit halten. Selbst sein keuchender Atem und der Herzschlag wurden gestoppt – sofern das Herz dieser Kreatur überhaupt noch schlug. Trotz all ihrer Begegnungen mit den Blutaugen wusste Quarrah nur wenig über sie. Getrieben von ungezügelter Gier nach Gewalt, stumm, die blutroten Augen blind – ein Zustand, der mit dem Tod endete. Nur eine Person hatte die Mondplage jemals überlebt, doch Quarrah mochte das nicht als Heilung bezeichnen. Es war eine Verwandlung gewesen, die das einstige Erzeiland Gloristeba Cet vollzogen hatte, eine Verwandlung in etwas völlig Fremdartiges.

Quarrah nahm den Griff ihres Karrens, zufrieden damit, dass die Erstarrungssphäre in der Kiste verblieb. Sie polterte den Kiesweg zur Villa hinauf, gerade als die ersten Regentropfen vom Himmel fielen. Als sie bei der überdachten Veranda vor dem Haupteingang ankam, standen dort schon ein fein gekleideter Diener und vier kräftige Arbeiter bereit.

»Fräulein Khai«, begrüßte sie Ersterer. »Fürst Dulith erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer.« Er deutete ins Haus. »Wenn Sie mir folgen möchten.«

»Ich sollte das hier wirklich nicht unbeaufsichtigt lassen«, entgegnete Quarrah, wobei sie eine Hand auf den Deckel der Kiste legte. »Bei dieser Lieferung ist Zeit eine entscheidende Größe.« Sie wollte diesen Männern lieber nicht verraten, dass ihnen nur zehn Minuten blieben, ehe die Fracht erwachen würde, schließlich wusste sie nicht, inwieweit Dulith seine Dienerschaft in die Verstrickungen eingeweiht hatte, die er mit einer Gaunerin eingegangen war. Ihre Kontakte auf Talumon hatten zumindest behauptet, nie davon gehört zu haben, dass der Edelmann je mit dem Gesetz in Konflikt geraten wäre.

»Fürst Dulith weiß sehr wohl, dass die Ware äußerst sensibel ist«, entgegnete der Diener. »Diese Männer hier werden deswegen dafür Sorge tragen, dass sie so rasch wie möglich an ihren Zielort gelangt.«

Unter normalen Umständen wäre Quarrah zufrieden damit gewesen, ihre Ware abzuliefern, die Bezahlung einzustreichen und zu verschwinden. Doch an diesem Auftrag war etwas anders. Es juckte ihr in den Fingern, mehr über diese merkwürdige Angelegenheit herauszufinden – und ihr war schmerzlich bewusst, dass sie damit auf Ards allzu ausgetreten Pfaden wandelte. Der Fürst hatte ihr gegenüber in aller Ruhe behauptet, ein Heilmittel gegen die Mondplage zu haben. Auf keinen Fall glaubte Quarrah das. Was aber, wenn er eine Entdeckung gemacht hatte, ohne sie wirklich zu begreifen?

Was, wenn er Metamorphosemalm entdeckt hatte?

Während die breitschultrigen Arbeiter den Karren umringten, folgte Quarrah dem Diener in die Villa. Drinnen war es ruhig und trocken. In den Wandleuchtern kämpften kleine Funzelsphären gegen die durch das Unwetter früh eintretende Dämmerung. Der Diener führte sie einen breiten Flur entlang, klopfte an eine Tür, öffnete sie und kündigte dann die Besucherin an.

Quarrah blickte an ihm vorbei und sah Fürst Dulith, der gerade aus einem Sessel aufstand. Er war kein sonderlich großer Mann. Tatsächlich überragte Quarrah ihn um mehrere Zentimeter. Er trug einen dichten Schnauzer, sein schütteres Haar wurde an den Schläfen allmählich grau, und seine schlaffen Hängebacken verrieten, dass er, wenngleich nun von normalem Körperbau, früher wohl einmal dick gewesen war.

»Kommen Sie herein«, sagte er. »Setzen Sie sich.«

Derartige Einladungen nahm Quarrah nur selten an, heute aber tat sie es. Sie setzte sich in den weichen Sessel neben jenem, in dem ihr Gastgeber bis eben gesessen hatte.

»Ist alles wie gewünscht verlaufen?«, fragte Dulith.

Da der Diener noch immer an der Tür stand, hielt der Fürst den Auftrag wohl nicht so sehr geheim, wie Quarrah angenommen hatte.

»Er ist hier«, entgegnete sie, was allerdings nicht bedeutete, dass die Dinge wie geplant verlaufen waren. Wann taten sie das je?

»Ein Mann also?«, hakte Dulith nach.

»Ja, er war einmal ein Mann«, entgegnete sie mit einer Betonung auf »war«, denn nun ließ sich dieses Ungeheuer kaum noch in menschlichen Kategorien beschreiben.

»Wie viele befanden sich noch in dem Gehege?«, wollte Dulith weiter wissen.

Quarrah musste ihn enttäuschen. »Ich war nicht auf Strind.« Das Siechenlager der Mondgeplagten zu besuchen, wäre eine Freifahrt in den Tod gewesen. Es war ein Hort des Elends, den König Pethredot im Versuch eingerichtet hatte, mildtätig zu wirken. Statt die Blutaugen umzubringen, hatte er sie in eine abgelegene, von der Regulation bewachte Krankenstätte verfrachten lassen, wo sie bis zum Tod ein klägliches Dasein fristeten. Ihre Leichname wurden anschließend geborgen und an Drachen verfüttert, um daraus jene Arten von Spezialmalm zu gewinnen, die auf menschlichen Knochen gründeten.

Quarrah hatte gehört, dass das Siechenlager während des Krieges beinahe aus allen Nähten geplatzt war. Die Mondplage hatte sich auf den Inseln auf natürliche Weise ausgebreitet, und es hatte auch nicht geholfen, dass die Graue Regentschaft Blutaugen für ihre eigenen, finsteren Pläne gezüchtet hatte.

»Ich hätte gedacht, dass Sie ein Exemplar aus dem Siechenlager holen«, sagte Fürst Dulith verwundert. »Ich hätte nur zu gern erfahren, wie viele dort noch eingesperrt sind, nun, da die Mondplage dank der Heiligen Lohe im Rückzug begriffen ist.«

Quarrah musste ein fassungsloses Seufzen unterdrücken. Wer zum Karmesinmond hielt denn dieser Tage noch immer am Märchen von der Heiligen Lohe fest? Bis vor einem Jahr hatte die angeblich ach so mächtige Flamme auf ganzer Linie versagt, und nun sollte sie plötzlich wie durch ein Wunder besser denn je wirken? Wie konnte man nur derart die Augen davor verschließen, dass die Ausbreitung der Mondplage direkt mit der Anzahl der auf Pekal lebenden Drachen zusammenhing?

Der junge Bulle, dessen Ei Quarrah eigenhändig von dort geholt hatte, war umtriebiger, als sie sich das auch nur in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Vor etwa einem Jahr hatten plötzlich überall auf Pekal Drachenkälber zu schlüpfen begonnen. Es hieß, dass der Drachenbestand nun größer war als jemals zuvor. Das allein war der Grund, weswegen von immer weniger Erkrankungen durch die Mondplage zu hören war.

»Das Siechenlager schien mir zu gefährlich«, gab Quarrah zu. »Deswegen habe ich mich für einen anderen Weg entschieden.«

Dulith runzelte die Stirn. »Welchen anderen Weg gibt es denn bitte schön noch? Sagen Sie bloß, diese unbedachten Dummköpfe in Neugunst hat das Glück verlassen? Wenn man das Schicksal derart herausfordert, kann das schneller passieren, als einem lieb ist.«

»Den Siedlern geht es gut«, entgegnete Quarrah. Wenngleich sie der Meinung war, dass jeder, der freiwillig während eines Monddurchgangs auf Pekal blieb, auch ganz ohne Mondplage schon halb verrückt war.

»Woher haben Sie also das Exemplar?«, fragte Dulith.

»Neugunst mag ungefährdet sein, doch die Rotaugengrenze gibt es noch immer, auch wenn sie sich verschoben hat. Geht jemand zu weit von der Küste weg ins Inselinnere, wird er nach wie vor von der Mondplage heimgesucht.«

»Ich verstehe. Und der Bursche, den Sie mir gebracht haben?«

»Er gehörte zu einer Gruppe, die es nicht rechtzeitig zurück nach Neugunst geschafft hat. Fünf von ihnen hat die Mondplage befallen. Die Hafenregulation hat erkannt, dass sie sich noch früh im ersten Stadium befanden, und wollte sie festnehmen, aber ein paar Freunde der Erkrankten sorgten für ein Scharmützel mit den Regulatoren, in dessen Verlauf die Mondgeplagten von der Insel fliehen konnten.«

Dulith beugte sich vor, seine Hängebacken schwabbelten hin und her. »Warum sollten sie das tun? Dadurch könnten sie Hunderte Unschuldiger in Gefahr bringen. Ein wahrer Freund hätte diesen armen Seelen eine Kugel in den Schädel gegeben.«

Nun, das war aber keine sonderlich mitfühlende Bemerkung von einem angehenden Heiler, der behauptete, ein Mittel gegen die Mondplage zu haben.

»Keine Sorge«, sagte Quarrah. »Die Flüchtigen wurden in Beripent festgenommen, in Ketten gelegt und nach Strind ins Siechenlager verschifft. Einen konnte ich mir vorher schnappen – und nun ist er hier bei Euch.«

Sie erzählte das betont gleichmütig, in Wahrheit war die Aufgabe aber alles andere als einfach gewesen. Quarrah hatte sich auf das Transportschiff schleichen müssen, ehe es Beripent verlassen hatte. Dort war es ihr gelungen, den Mondgeplagten zu befreien. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der arme Bursche bereits im zweiten Stadium befunden. Seine Stimme war ihm verloren gegangen und seine erblindeten Augen hatten eine tiefrote Färbung angenommen.

Er war durchaus kooperativ gewesen, bis ihn Quarrah in die Kiste eingesperrt und auf ein Frachtschiff mit Kurs nach Talumon geschmuggelt hatte. Verzögertes Erstarrungsmalm hatte den Verfall zwar ein wenig aufgehalten, doch als sie ihre Fracht am Hafen wieder in Empfang genommen hatte, war der Kerl bereits mitten im dritten Stadium gewesen. Als sie die Kiste geöffnet hatte, war er auf sie losgegangen und hatte versucht, sie zu zerfetzen, aber mit mehr Erstarrungsmalm hatte sie ihn schließlich bezwingen und lange genug außer Gefecht setzen können, um ihn hierherzuschaffen.

Fürst Dulith erhob sich langsam. »Dann wollen wir uns das Monstrum doch einmal anschauen. Wenn sich alles zu meiner Zufriedenheit zeigt, werde ich Ihre Bezahlung veranlassen, und Sie können Ihres Wegs ziehen.«

Wenn es für Dulith tatsächlich neues Terrain war, Gauner anzuheuern, konnte er selbstverständlich nicht wissen, dass Quarrahs Arbeit keiner Überprüfung bedurfte. Aber … nun gut.

»Totshin, es ist so weit«, sagte der Fürst zu seinem Diener. »Holen Sie meinen Sohn.«

Mit einem knappen Nicken verschwand der Angesprochene durch die Tür, so flink, dass er schon außer Sicht war, als Quarrah auf den Flur trat.

»Was ist so weit?«, hakte Quarrah nach.

»Mit meinem Heilmittel die Probe aufs Exempel zu machen«, entgegnete Dulith.

»Das klingt faszinierend. Heiler suchen schon seit Ewigkeiten nach einem Mittel gegen die Mondplage – und Ihr denkt wirklich, dass Ihr eines gefunden habt?«

»Nun, es gibt Menschen, die ihr gesamtes Leben der Heilkunst gewidmet haben. Ich jedoch studiere deren Lehren erst, seit meine Gemahlin vor knapp drei Jahren von uns gegangen ist.«

»Aha«, sagte Quarrah nun verwundert. Bei Dulith klang das fast so, als meine er, durch diese kurze Zeit des Studiums einen Vorteil gegenüber langjährig praktizierenden und forschenden Heilern zu haben. Aber in welcher Weise?

Der Fürst warf ihr einen schmerzerfüllten Blick zu. Erst da wurde ihr bewusst, wie unsensibel ihre Reaktion auf die Bemerkung über den Tod seiner Frau gewesen war.

»Ich hielt sie in den Armen, als sie starb«, erzählte Dulith weiter. »Pasic war ebenfalls dort – ein Knabe von gerade einmal neun Jahren, und doch musste er mit ansehen, wie seiner Mutter das Leben entwich.«

Er machte Halt vor einer großen Doppelflügeltür, verziert mit goldenen Intarsien in der Form von Blattwerk. Ein Diener wartete dort, in der Hand einen langen Mantel mit Kapuze. Er hielt die Kluft hoch, um seinen Herrn damit einzukleiden, doch Dulith schenkte ihm keine Beachtung – offenbar war er ganz und gar in Gedanken versunken.

»Es regnet recht stark, gnädiger Herr«, sagte der Diener mit Nachdruck, der Fürst jedoch winkte nur ab und sprach weiter zu Quarrah: »In meinem Leben hatte ich mich noch nie so hilflos gefühlt. Danach herrschte in mir eine Leere. Gelegentlich wurde sie von einer unbändigen Wut gefüllt, die sich zuweilen auch Bahn brach. Schlussendlich wandte ich mich der Heilkunde zu. Ich dachte mir, dass ich dieser schrecklichen Tragödie so zumindest noch etwas Nützliches würde abgewinnen können.«

Er drückte die schwere Messingklinke nach unten und öffnete einen der Türflügel. Über seine Schulter sah Quarrah den Innenhof der Villa. Er war mit bemoosten Pflastersteinen befestigt und reichlich begrünt. An der Außenwand des Westflügels stand ein Hitzemalmofen, umgeben von mehreren Bänken. Rechts davon lag eine längliche Sandbahn, in die Pflöcke gesteckt waren – ein Spielfeld, auf dem man sich einer gepflegten Partie Matrosenmumpitz widmen konnte.

Und in der Mitte des Innenhofs stand der Mondgeplagte. Seine von enthemmten Wutanfällen zerfetzte Kleidung hing ihm regennass am Leib. Schwere Ketten hielten ihn an einem hölzernen Laternenmast. Sie umwickelten ihn wie die Fäden einer Spinne ein gefangenes Insekt, sodass nur sein Kopf und seine Füße herausschauten. In der Laterne über ihm brannte eine Funzelsphäre, auch wenn der trübe Abend noch nicht vollends der nächtlichen Dunkelheit gewichen war.

Die vier kräftigen Arbeiter hatten sich um das Blutauge herum aufgebaut – zwei auf jeder Seite. Quarrah bemerkte, dass sich einer von ihnen um eine frische Verletzung kümmerte, die er am Arm erlitten hatte. Es glich einem Wunder, dass diese Männer allesamt noch am Leben waren. Vielleicht hatten sie gewusst, womit sie es zu tun bekommen würden. Doch viel eher waren sie wohl überrascht worden, als sie den Deckel der Kiste geöffnet und den bewegungslosen Mondgeplagten für tot gehalten hatten – bis sein Kopf aus der Erstarrungssphäre herausgerutscht war.

Der gemeine Bürger des Großen Archipels wusste nichts von Erstarrungsmalm. Quarrah hingegen hatte diese nützliche Flüssigkeit während ihrer Zeit in der Grauen Regentschaft kennengelernt. Und sie hatte das Glück, einen zwielichtigen Chemisten zu kennen, der in der Lage war, Professor Baakwart Wals Flüssigmalmarten nachzubrauen.

Fürst Dulith trat in den Innenhof und blieb nur eine Armlänge vor dem Blutauge stehen. Sein vom Regen feuchtes Gesicht war wie versteinert. Quarrah wusste nicht, wie sie diese Miene zu verstehen hatte – ganz sicher war es aber nicht die eines Heilers, der einen Patienten in Augenschein nahm.

Irgendetwas stimmte nicht, das war Quarrah in dem Moment klar geworden, da sie Dulith an diesem Abend gesehen hatte. Doch man hatte sie nicht festgesetzt und ihr nicht einmal ihre Waffen abgenommen, also gab es für sie keinen Grund, sich in Gefahr zu wähnen.

»Vater?«, erklang eine Stimme von der Tür hinter ihnen. Sie gehörte zu einem bleichen Jungen mit Strubbelhaar und dunklen Ringen unter den Hohlaugen, der dort neben Totshin, dem Diener, stand.

Dulith drehte sich zu seinem Sohn um und öffnete die Arme weit in einer herzlichen Geste. Schier grenzenlose Begeisterung strahlte ihm mit einem Mal aus dem Gesicht. »Der Tag ist endlich gekommen, Pasic!«

»Welcher Tag?«, fragte der Junge, der noch immer trocken jenseits der Türschwelle im Haus stand. Er schien den Mondgeplagten bisher nicht bemerkt zu haben, obgleich der seinen Kopf wild hin- und herriss, wobei die Ketten, mit denen er gefesselt war, bedrohlich rasselten.

»Vater? Wer ist diese Frau?«, fragte Pasic weiter.

»Es ist alles in Ordnung, mein Sohn.« Dulith winkte ihn herbei. »Los, komm ruhig her. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Diese Bemerkung schien den Jungen ganz im Gegenteil davon zu überzeugen, dass er sehr wohl allen Grund hatte, ängstlich zu sein. Mit einem lauten Ächzen entdeckte er nun das Blutauge. Sofort wollte er sich abwenden und den Flur hinunter fliehen, aber Totshin packte ihn an den Schultern und hielt ihn fest.

Dulith eilte zur Tür, und Quarrah verkrampfte, als sie den Trommelzünder in der Hand des Fürsten entdeckte. »Nimm ihn. Nur zu.« Er drückte seinem Sohn die Bleischleuder in die Hand und richtete den Arm des scheinbar willenlosen Jungen so aus, dass deren Mündung direkt auf die an den Laternenmast gekettete Kreatur gerichtet war. »Keine Frau war so fürsorglich und liebevoll wie deine Mutter. Erweise ihr diesen Dienst, mein Sohn. Ehre ihr Andenken!«

Voller Schrecken musste Quarrah mit ansehen, wie sich die Miene des Jungen verfinsterte. Mit angespanntem Kinn und zu Schlitzen verengten Augen trat er hinaus in den Regen.

»Dieses Monstrum dort hat sie uns genommen!«, krähte Dulith, wobei er heftig auf das Blutauge zeigte. »Jedwede Gnade ist unangebracht! Mach mich stolz, mein Sohn!«

Mit einem Mal stürzte Quarrah nach vorn. Nicht mehr Herrin ihrer eigenen Beine, wurde sie getrieben vom schmerzlichen Bewusstsein, Ähnliches am eigenen Leibe erlebt zu haben. Ob der Mondgeplagte sterben würde, war ihr dabei egal – fauchender Funkenflug, wahrscheinlich wäre das besser für alle. Doch es durfte nicht von der Hand eines gramgebeugten Zwölfjährigen geschehen.

»Was soll das, Dulith?«, brüllte sie, wobei sie sich zwischen den Mondgeplagten und den Jungen schob. »Ihr habt gesagt, Ihr hättet ein Heilmittel.«

»Das hier ist das Heilmittel!«, schrie der Fürst. Regen floss ihm durch die Falten seiner hängenden Wangen und tropfte ihm vom Kinn. »Endlich wird mein Sohn wieder er selbst sein. Keine schlaflosen Nächte mehr, in denen seine Schreie die Flure der Villa erfüllen. Der Moment der Vergeltung naht und wir beide werden dadurch geheilt werden!«

Quarrah deutete auf das Blutauge. »Auf keinen Fall kann das der Mann sein, der Eure Frau getötet hat!«

»Die sind alle dasselbe Pack«, kreischte Dulith. »Dieses Monstrum dort, jene im Siechenlager, jenes damals auf dem Marktplatz …«

Quarrah überlief es heiß und kalt. Ein Blutauge auf einem talumonischen Markt vor drei Jahren? Dabei musste es sich um eines jener Exemplare gehandelt haben, die von der Grauen Regentschaft gezüchtet und freigesetzt worden waren. Die verbrecherische Geheimgesellschaft hatte die Mondgeplagten erschaffen, um Angst und Schrecken unter den Reisenden zu verbreiten, sodass die sich schlussendlich in der Mehrzahl entscheiden würden, den Großen Archipel auf ewig zu verlassen.

Fürstin Dulith war zu einem unnötigen Opfer im persönlichen Krieg der Grauen Regentschaft geworden. Doch sosehr ihr Sohn Pasic auch leiden mochte, das hier war gewiss keine Lösung.

»Hört mich an, gnädiger Prinz,« wandte sich Quarrah an den Jungen. »Wenn Ihr dieses Blutauge tötet, dann werdet Ihr Eure Mutter kein Äschlein weniger vermissen.«

»Wagen Sie es nicht, über meine Mutter zu sprechen!«, fauchte Pasic. Tränen strömten ihm aus den tief liegenden Augen und vermischten sich mit dem Regen auf seinen Wangen. Für einen Augenblick sah Quarrah dort ihr eigenes kindliches Gesicht vor sich. Verwirrt. Verängstigt. Von einem unzurechnungsfähigen Elternteil dazu gedrängt, Schreckliches zu tun. Zwar war es kein Mord gewesen, doch Jerisa Khailar hatte ihre junge Tochter zu anderen Untaten angestachelt, die noch immer schmerzten, wenn Quarrah sich nicht beeilte, die Erinnerungen daran zu verdrängen.

Das Blutauge dort war innerlich bereits tot. Und würde Pasic den Abzug betätigen, würde ihn dasselbe Schicksal ereilen.

Quarrah machte einen raschen Schritt vor, packte den Jungen am Handgelenk und drückte ihm den Arm nach unten. Der Krätzensteinhahn des Trommelzünders musste gespannt gewesen sein, denn mit einem ohrenbetäubenden Knall löste sich ein Schuss. Quarrah riss Pasic die Waffe aus der Hand und trat ein paar Schritte zurück.

»Sie werden meinem Sohn diese Möglichkeit auf Heilung nicht verwehren!«, spie Fürst Dulith ihr entgegen, Speichel und Regen spritzte ihm dabei von den Lippen. »Das Blutauge muss sterben!«

Nun, zumindest darin waren sie sich einig. Quarrah drehte sich auf der Ferse um, spannte den Hahn des Trommelzünders und jagte dem Mondgeplagten eine Kugel direkt zwischen die Augen. Sie wusste, dass ein einzelner Schuss nicht ausreichen würde. Diese Kreaturen hatten die erschreckende Fähigkeit, sich binnen kürzester Zeit sogar von schwersten Verletzungen zu erholen. Quarrah musste dem Mondgeplagten also derart gravierenden Schaden zufügen, dass der Tod ihn holen würde, ehe sein Körper sich heilen konnte.

Sie gab zwei weitere Schüsse ab. Eine Kugel prallte von den Ketten ab, die um die Brust des Blutauges geschlungen waren, doch die andere traf das Wesen direkt in den Hals.

Plötzlich war Fürst Dulith bei Quarrah. Er sprang sie von der Seite an und riss sie von den Füßen, sodass sie beide über das feuchte Pflaster des Innenhofes rollten.

Es war nicht das erste Mal, dass sich Quarrah aus dem Griff eines Angreifers befreien musste. Auch dieses Mal gelang ihr das ohne Mühe. Sie gab dem Fürsten noch einen Tritt zwischen die Beine mit, ehe sie sich seitlich wegrollte und in die Hocke gelangte.

Durch den strömenden Regen sah sie, wie einer der Arbeiter eine Malmkapsel vom Gürtel friemelte, also zielte sie mit dem Trommelzünder und feuerte. Die Kugel traf den Mann genau ins Bein. Mit einem Stöhnen sackte er neben dem Laternenmast zusammen, wobei er die Malmkapsel fallen ließ.

Quarrah hatte erwartet, dass der Kerl sie in einer Barrierensphäre hatte fangen wollen, doch stattdessen spannte sich eine Schiebesphäre auf, die den gestürzten Arbeiter sofort quer über das Pflaster schleuderte. An der Wand des Westflügels blieb er schließlich regungslos liegen.