Die letzten Tage der Wespen - Vera Bleibtreu - E-Book

Die letzten Tage der Wespen E-Book

Vera Bleibtreu

4,8

Beschreibung

Ein alter Apfelbaum, in den Kleidungsstücke gehängt wurden - Kommissarin Tanja Schmidt und ihre Freundin Pfarrerin Susanne Hertz sind beunruhigt. Und richtig: Die Kleidung gehörte einer Frau, die vor zehn Jahren spurlos verschwunden ist.Die Ermittlungen führen Tanja und ihren Kollegen Arne Dietrich zu einem Physikprofessor und seiner Gattin, die ehrenamtlich in der Kleiderkammer einer Mainzer Kirchengemeinde arbeitet.Als immer mehr Obdachlose tot aufgefunden werden, geraten alle mächtig unter Druck: Kann es sein, dass mit Altkleidern so viel Geld zu machen ist, dass dafür Menschen sterben müssen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 228

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die letzten Tage der Wespen

Vera Bleibtreu

Die letzten Tageder WespenEin Krimi

Die Handlung und alle Personen sind völlig frei erfunden; Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

© Leinpfad VerlagHerbst 2014

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten.Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kosa-design, IngelheimLayout: Leinpfad Verlag, IngelheimDruck: wolf print, Ingelheim

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,Tel. 06132/8369, Fax: 896951E-Mail: [email protected]

ISBN 978-3-942291-86-6

Inhalt

Erster Sonntag

Erster Montag

Erster Dienstag

Erster Mittwoch

Erster Donnerstag

Erster Freitag

Zweiter Sonntag

Zweiter Dienstag

Zweiter Mittwoch

Zweiter Freitag

Dritter Sonntag

Dritter Dienstag

Dritter Mittwoch

Dritter Donnerstag

Dritter Freitag

Dritter Samstag

Erster Sonntag

Die Wespen saßen fast bewegungslos auf der Fensterscheibe. Es waren viele. Er zählte sie. Elf Wespen. Von seinem Schreibtisch aus konnte er sie sehr gut beobachten. Wie elegant sie aussahen. Noch jetzt, da ihre Tage gezählt waren, hatten sie nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Ihre schlanken Körper pressten sich an die Scheibe. Die Novembersonne hatte das Glas erwärmt. Sie spürten gewiss, dass es innen noch wärmer war. Er hätte das Fenster öffnen können. Er tat es nicht. Er genoss es vielmehr, sie so ungestört ansehen zu können. Er sah gerne genau hin und es ärgerte ihn, dass das selten gut möglich war. Menschen war es unangenehm, wenn sie beobachtet wurden. Er mochte eigentlich keine Sonnenbrillen, weil sie das Licht verfälschten und auch die Sicht leicht trübten, aber er hatte sich trotzdem eine zugelegt. So konnte er zumindest an sonnigen Tagen ungestört seiner Leidenschaft nachgehen. Er hatte festgestellt, dass viele Menschen über einen sechsten Sinn verfügten. Sie spürten, wenn sie jemand mit Blicken abtastete, selbst dann, wenn sie der Person den Rücken zugewandt hatten. Er hatte öfter bemerkt, dass die Objekte seiner Beobachtung sich plötzlich unruhig bewegten, sich umdrehten, sich forschend umsahen. Er schaute dann hastig weg, aber das war auffällig, und häufig erntete er erboste Blicke. Vor allem von Frauen.

Diese Wespen waren auch Weibchen, aber sie wehrten sich nicht dagegen, beobachtet zu werden, sie waren ganz auf die letzte Wärme des Jahres konzentriert. Es blieben ihnen nur noch wenige Tage, vielleicht sogar nur Stunden. Gut möglich, dass es heute Nacht frieren würde, der Tag war klar und wolkenlos, die Nacht sollte es auch werden. Beim ersten Frost mussten die Tiere sterben.

Erstaunlich, dass es so viele waren. Die Königin war gestorben, der Wespenstaat hatte sich aufgelöst. Diese Wespen waren Individualistinnen, sie sammelten den Nektar nur noch für sich, nicht mehr für die Jungköniginnen, die ebenfalls schon längst das Nest verlassen und sich ein geschütztes Versteck gesucht hatten. Zum ersten Mal in ihrem Leben waren sie wirklich frei, ohne Aufgaben, und das bedeutete, dass das Ende ihres Lebens nahte. Er dachte darüber nach, dass das bei Menschen im Grunde ähnlich war. Richtig frei waren sie erst im Moment des Sterbens, wenn es nur noch um sie ging und um ihren letzten Atemzug. Wenn alles Sorgen und Nachdenken und alle Tätigkeiten und auch die täglichen Freuden zum Ende gekommen waren. Warum fürchteten die Menschen diese letzte Freiheit? Es war im Grunde ein großes Geschenk.

Eine der Wespen bewegte sich leicht. Wie schön sie gefärbt war, gelb und schwarz in hartem Kontrast. Es waren Warnfarben und in der Tat könnte sie ihn noch stechen. Doch das Tier war so träge, dass es sich kaum bewegte, als er seine Fingerspitze an die Scheibe führte. Er überlegte kurz, ob er das Fenster doch öffnen sollte. Er könnte eine oder mehrere Wespen erschlagen und sie unter dem Mikroskop studieren. Er entschied sich dagegen. Er mochte keine Brutalität und er mochte es nicht, wenn Schönheit zerstört wurde. Sein Schlag würde den so wunderbar geformten Körper zerbrechen. Diese Gewalt war ihm fremd, ja widerlich. Es war ja gerade die Schönheit der Schöpfung, die ihn faszinierte, ja, die er liebte und verehrte. Deshalb sah er auch gerne so genau hin, fuhr mit seinen Blicken die Linien eines Gesichts, die Biegung eines Nackens, den Schwung einer Hüfte nach. Am liebsten hätte er es mit allen Sinnen getan, mit seinen Fingern, seiner Zunge, hätte geschnuppert, wie die Haut duftet. Es war wirklich schade, dass Menschen das nicht mochten. Er nahm ihnen doch nichts. Im Gegenteil, er schenkte ihnen seine Bewunderung. Wer weiß, ob sie ohne ihn jemals erfahren hätten, wie wundervoll sie waren, wie kostbar und einzigartig, wie zauberhaft schön.

Kommissarin Tanja Schmidt betrachtete die Kleidungsstücke, die in die Äste eines Apfelbaumes gehängt waren. Ein BH flatterte im Wind, ein T-Shirt hatte sich um einen Ast gewickelt, Socken waren über Astenden gestülpt worden, eine Jeans mit Wäscheklammern in die Zweige geheftet, ein Trenchcoat war mit den Ärmeln in die Zweige geknotet. Tanja zog die Augenbrauen zusammen. Irgendetwas an dieser Präsentation gefiel ihr ganz und gar nicht. Nachdenklich legte sie ihr Fahrrad ins Gras. Sie war von Mainz über die Theodor-Heuss-Brücke auf die andere Rheinseite geradelt, hatte die Fähre nach Ingelheim genommen und war nun auf der Höhe des Campingplatzes. Es war eher ein Zufall, dass sie den Schlenker vom Fahrradweg nahm. Sie wollte zu dem Spazierweg, auf dem sie sich vor drei Monaten mit Wolfgang so sehr gestritten hatte, dass ihre Beziehung seitdem auf Eis lag. Er war, wie immer, ruhig geblieben, was ihren Zorn nur angefacht hatte. Erbittert hatte sie ihm vorgeworfen, sie dominieren zu wollen, es immer besser zu wissen. Wolfgang hatte zuletzt nur noch hilflos mit den Schultern gezuckt, kein Wort mehr gesprochen, er hatte sie schweigend mit dem Auto nach Hause gefahren und sich seitdem nicht mehr bei ihr gemeldet. Tanja stellte selbstkritisch fest, dass sie seit ihrer Fehlgeburt noch ungerechter zu Wolfgang gewesen war als zuvor. Es war sowieso ihr Problem, dass sie sich viel zu leicht durch ihren Zorn aus der Fassung bringen ließ und dann die Kontrolle über sich verlor. Ihr Kollege Arne Dietrich kannte ihre Schwäche und wusste, wie er sie in die Schranken weisen konnte. Aber eine Liebesbeziehung war keine Dienstpartnerschaft und was mit Arne funktionierte, ging mit Wolfgang eben nicht. Der konnte sie nicht an Paragrafen erinnern, nur an ihre gemeinsame Geschichte. Seit dem Verlust des Kindes war es nicht besser geworden. Die Hormonumstellung nach der Fehlgeburt hatte sicher verstärkend gewirkt, aber nach mehr als einem halben Jahr konnte sie ihren Jähzorn nicht länger auf die Hormone schieben. Allerdings hatte sie auch nichts getan, um sich mit dem Verlust ihres Babys auseinanderzusetzen. Ihre Freundin, Pfarrerin Susanne Hertz, hatte ihr dringend geraten, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen oder ein paar Stunden Therapie in Anspruch zu nehmen. Sie hatte empört abgelehnt. Sie war stark und unabhängig und brauchte keine Hilfe. Sie hatte es auch vermieden, mit Wolfgang über das Thema zu sprechen, dabei war es für ihn besonders hart gewesen. Er hatte erst davon erfahren, dass sie sein Kind erwartete, als er nach dem Mordanschlag auf sie im Krankenhaus um ihr Leben bangte. Sie wusste genau, wie sehr er sich ein Kind wünschte, und so hatte er an diesem Abend alles in wenigen Stunden zu verkraften: Die Nachricht seiner Vaterschaft, die verzweifelte Hoffnung, sie würde das Kind behalten können und die Trauer über sein totes Baby. Er hatte ihr nie Vorwürfe gemacht, dass sie ihm nichts von der Schwangerschaft erzählt hatte. Das hatte ihren Zorn merkwürdigerweise nur verstärkt, und das bestimmte auch diesen entscheidenden Spaziergang am Rhein, in der Nähe von Budenheim. Im Rückblick erschien es Tanja, als ob Wolfgang einfach kapituliert hatte. Sie litt sehr darunter, war aber zu stolz, sich bei Wolfgang zu melden. Heute, an ihrem freien Sonntag, wollte sie sich mit einer Fahrradtour ablenken, dem kalten Novemberwetter trotzen und mit dem Fahrtwind auch frischen Wind in ihre Gedanken bringen. In Heidenfahrt fuhr ihr die Erinnerung an den Spaziergang mit Wolfgang wie ein Dolchstich ins Herz. Und Tanja wäre nicht Tanja gewesen, wenn sie diesen Dolch nicht noch ein paarmal in der Wunde hätte drehen müssen: Also bog sie mit dem Fahrrad vom Weg ab und suchte den Ort, an dem sie Wolfgang offenbar zu sehr provoziert hatte, als dass er einen Weg zurück zu ihr hätte finden können.

Der Apfelbaum stand etwas abseits des Spazierwegs. Ein alter Baum, erkennbar nicht mehr landwirtschaftlich genutzt, seine Früchte lagen auf dem Boden, manche hingen noch in den Ästen. Dazwischen die Kleidungsstücke. Tanja betrachtete sie genauer. Wer auch immer die Kleidung in die Äste gehängt hatte, er oder sie hatte es nicht gestern getan. Die Teile hingen schon länger hier, alle waren feucht, mit Spuren von Trockenrändern. Als sie mit Wolfgang hier spazieren gegangen war, hatten die Kleidungsstücke noch nicht im Baum gehangen. Sie hätte es bemerkt, Berufskrankheit. Sie beobachtete ihre Umgebung stets sehr genau. Während ihrer Dienstzeit in Rumänien hatte ihr das mehr als einmal das Leben gerettet. Sie hätte diesen merkwürdigen Apfelbaum auf jeden Fall wahrgenommen, so wie sie ihn jetzt wahrgenommen hatte, trotz ihrer schweren Gedanken. Tanja holte ihr Handy aus ihrem Rucksack und fotografierte den Baum. Sie fragte sich, warum sie diese Inszenierung so beunruhigte. War es die Sorgfalt, mit der die Stücke im Baum drapiert waren? Nichts wirkte zufällig, sodass es auf keinen Fall ein Streich von Jugendlichen sein konnte. Außerdem schien es, als ob die Kleidung einmal hochwertig gewesen war, die Stücke wirkten unbeschädigt. Tanja konnte die Markennamen an einer Jeans und dem Trenchcoat erkennen, es handelte sich also nicht um Abfallentsorgung. Warum wollte jemand gute Kleidung nicht mehr haben und drapierte sie an einem alten Apfelbaum?

Tanja verfügte über eine ausgezeichnete Intuition. Sie fühlte jetzt deutlich, dass von der Inszenierung am Apfelbaum etwas Bedrohliches ausging, womöglich sogar etwas Bösartiges. Unwillkürlich schaute sie sich um, doch sie entdeckte niemanden, der sie beobachtete. Auf dem Damm gingen in einiger Entfernung Spaziergänger, doch es kam ihr nicht vor, als ob die in ihre Richtung blickten. Sorgfältig studierte sie die Umgebung des Baums und konnte, trotz aller Sorgfalt, nichts entdecken. Mit ihrem Smartphone fotografierte sie noch einmal die gesamte Umgebung des Apfelbaums, dann packte sie das Smartphone wieder in den Rucksack und fuhr mit dem Fahrrad zurück auf den Radweg. Den Weg mit Wolfgang suchte sie nicht mehr auf. Sie war nachdenklich. Sie wusste, irgendetwas würde geschehen. Oder war schon geschehen. Etwas Böses.

Pfarrerin Susanne Hertz stand nackt vor dem Spiegel und kniff sich in den Bauch. Was sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu fassen bekam, war ganz klar eine Speckrolle. Mindestens drei Kilo, schätzte sie. Leider war sie nicht die einzige ihrer Art. Susanne schloss die Augen, zog den Bauch ein und stellte sich so vor den Spiegel, dass er ihr Profil wiedergab. Sie machte die Augen ganz kurz auf, um sie dann sofort wieder zu schließen. Du lieber Himmel! Das sah aus wie fünfter Monat! Arne war ein Held, dass er sie nicht schon längst verlassen hatte. Auf der anderen Seite war er mitverantwortlich für ihre Gewichtszunahme. Wer brachte schließlich immer diese Salate von Fisch Jackob mit nach Hause? Fisch war zwar angeblich gesund, aber der Heringssalat mit den roten Pfefferkörnern war bestimmt nicht in Magerjoghurtsoße angemacht, und dass der Krabbensalat mit Lychees satt in Sahnesoße getaucht war, ließ sich auch nicht verleugnen. In eine sehr leckere Sahnesoße, leider. Denn Susanne konnte der Versuchung selten widerstehen, die Soße nach Verzehr der Krabben und Lychees mit Weißbrotscheiben aufzutunken. Wenn Arne nicht aufpasste, leerte sie zügig, aber ohne Hast, auch ganz alleine drei Salatschälchen im Rahmen eines Frühstücks. Arne hatte schon kritisch angemerkt, dass Susanne sich demnächst als Bischöfin bewerben müsse, damit sie sich ihre Leidenschaft für Shrimpscocktail und Lachstorte mit Spinat im Blätterteigmantel auch weiterhin leisten konnten. Susanne öffnete die Augen und musterte die Folgen ihrer Genusssucht. Mäßigung war doch die vierte Kardinaltugend, oder? Nun, sie würde sofort damit beginnen, zu einer tugendhaften Pfarrerin zu mutieren. Sie würde tapfer jeder Versuchung widerstehen, schließlich war Tapferkeit die dritte Kardinaltugend. Nun ja, fast jeder Versuchung. Es gab ja auch Versuchungen, die nicht dick machten.

Das Telefon klingelte. Es war ihre Freundin Tanja – wer sonst, an einem frühen Sonntagnachmittag: „Hast du Lust, mit mir eine Runde joggen zu gehen?“

Susanne freute sich. Der letzte Lauf mit Tanja lag schon viel zu lange zurück. Und Sport war ja bekanntlich wichtig im Kampf gegen die Pfunde. „Gerne, bis gleich, im Gonsenheimer Forst?“

„Nein, ich würde gerne mit dir am Rhein laufen, bei Budenheim. Ich will dir was zeigen und wissen, was du davon hältst. Ich hol dich in zehn Minuten ab.“

Nun, zehn Minuten würden ihr ausreichen, um ihren Leib barmherzig mit Joggingklamotten zu umhüllen. Glücklicherweise waren die ja auch dehnbar. Mit der Windjacke drüber fiel der Bauch auch gar nicht so auf. Das hoffte Susanne jedenfalls. „Also, bis gleich, ich freu mich!“

Susanne stand mit Tanja vor dem Apfelbaum, an dem die Kleidungsstücke baumelten. „Was fällt dir dazu ein?“, fragte Tanja.

„Aus theologischer Perspektive?“

„Was du willst. Egal. Einfach, was dir einfällt.“

Susanne überlegte. „Jesus musste seine Kleider ablegen, vor der Kreuzigung. Gott hat den Menschen Kleider angefertigt, nach dem Sündenfall. Gott war also sozusagen der erste Modeschöpfer. Josef wurde von seinen Brüdern fast umgebracht, weil er von seinem Vater einen bunten Rock geschenkt bekommen hatte und die deshalb total eifersüchtig waren.“

Tanja runzelte die Stirn. „Haben deine Assoziationen etwas Gemeinsames?“

Susanne dachte nach. „Na ja, sie haben alle drei mit Verfehlungen zu tun. Die ersten Kleider gibts nach dem Sündenfall der Menschen; bei Josef ist es die Eifersucht der Brüder, aber auch die fehlende Sensibilität von Josef selbst, der vor seinen Brüdern angibt mit seinem Kleidungsstück, und bei Jesus sind es die Menschen, die seine Botschaft nicht aushalten.“

Tanja nickte. „Du kannst aber statt Verfehlungen auch Verbrechen sagen, es geht um Diebstahl und falsche eidesstattliche Aussage bei Adam um Eva; um versuchten Totschlag bei Josef und bei Jesus um Justizmord. Und es ist doch merkwürdig, dass dir beim Anblick dieser Kleidungsstücke im Baum ausgerechnet Verbrechen einfallen. Wobei es beim Sündenfall ja tatsächlich auch um einen Baum geht. So wie hier. Ich bin ja keine Theologin, aber ich bin mir sicher, dass in der Bibel noch mehr über Kleider steht oder es Forschungsergebnisse zur Kleidung altorientalischer Volksgruppen gibt oder Untersuchungen dazu, was die Priester im Tempel getragen haben. Aber du erzählst mir von drei Verbrechen. Und in der Tat: Ich finde, diese Inszenierung hier hat etwas Bedrohliches. Und es ist eine Inszenierung, da bin ich mir sicher.“

Susanne sah Tanja fragend an. „Warum?“

„Was sollte es sonst sein? Diese Stücke hat jemand ganz bewusst in den Baum gehängt. Wer Kleidung entsorgen will, wirft sie in die Altkleidersammlung oder in den Mülleimer. Er kann sie auch verbrennen. Sicher, das hier könnte ein übler Scherz sein. Aber, ich weiß auch nicht warum, dies hier zaubert kein Lächeln auf mein Gesicht – findest du es lustig?“

Susanne schüttelte den Kopf. „Du hast recht. Ich finds nicht lustig. Ich fände es übrigens auch nicht lustig, wenn es ein Scherz hätte sein sollen. Schließlich gehören die Kleidungsstücke ja jemandem und der wird sich nicht freuen, wenn er seinen Pullover oder seine Jeans so findet.“

Tanja nickte. „Eben. Du gehst ganz selbstverständlich davon aus, dass da jemand die Kleidungsstücke eines anderen Menschen in den Baum gehängt hat. Das glaube ich in der Tat auch. Obwohl es durchaus möglich wäre, dass das jemand mit seinen eigenen Sachen gemacht hat. Aber das denke ich nicht. Es sind die Kleider eines anderen Menschen. Ich wollte dir unbedingt den Baum zeigen. Die Ingelheimer Kollegen haben mir erzählt, dass das nicht zum ersten Mal passiert ist. Das haben sie bereits öfter vorgefunden. Sie haben sogar schon einmal in der Zeitung nach Hinweisen gefragt. Vergeblich.“

Susanne blickte ihre Freundin fragend an. „Warum macht das jemand?“

Tanja schaute in den Baum. „Ich weiß es nicht. Ich habe den Eindruck, dass jemand etwas zeigen will. Ich verstehe nur nicht, was.“

Susanne dachte nach. „Mich erinnert es auch an Bilder aus dem Krieg. Wenn Leute an Bäumen aufgehängt wurden.“

„Richtig. Jedes Kleidungsstück steht ja auch für den Menschen, der es besitzt. Also hätte hier jemand symbolisch einen Menschen aufgehängt. Ich finde das hier wirklich sehr merkwürdig. Meine Chefin killt mich, wenn ich eine Untersuchung einleite, nur weil ein paar Klamotten in Bäumen hängen. Wir sind alle vollkommen überlastet, das weißt du ja von Arne. Da bleibt kein Spielraum für Apfelbäume mit Kleidern drin. Auch wenn es böse aussieht.“ Tanja überlegte. Dann fasste sie einen Entschluss: „Auf der anderen Seite – meine Intuition hat mich nur selten getrogen. Ich lass das untersuchen.“ Tanja nestelte ihr Smartphone heraus und gab eine Anweisung für die Spurensicherung durch. „Die Kollegen von der Spurensicherung werden gleich da sein.“

Die beiden Frauen betrachteten noch einmal die Kleidungsstücke. „Mir fällt auch ein, dass Kleidung einen Menschen auszeichnet. Josef fühlt sich besonders, als er das bunte Kleid trägt, das sein Vater ihm geschenkt hat, und er ist ein Nichts und wird als Sklave verkauft, nachdem ihm seine Brüder das Kleid gewaltsam ausgezogen haben. Und bei Jesus ist es ja auch ein Zeichen der Erniedrigung, dass ihm die Kleider ausgezogen werden. Heute vermitteln Kleider auch eine Botschaft. Ich präsentiere meinen Wohlstand, meine Lebenshaltung. Oder ich versuche, den Wohlstand und die Lebenshaltung anderer zu kopieren. Davon lebt H&M, wenn sie Designerklamotten kopieren und billig verkaufen.“

Die Autos der Spurensicherung hoppelten über den Feldweg. Tanja begrüßte die Kollegen und wies auf den Baum. Die Männer nickten. Dann warf Tanja einen letzten Blick auf den Apfelbaum und die Kleidungsstücke. „Die Jungs machen jetzt ihren Job, da stehen wir nur im Weg. Komm, lass uns weiterlaufen.“

Die restliche Strecke legten die beiden dann schweigend zurück. Tanja fuhr Susanne noch nach Hause. „Danke, dass du dir das mit mir angesehen hast. Ich fühle, dass mir das geholfen hat. Ich werde öfter mal an diesem Baum vorbeilaufen. Den behalte ich im Auge. Machst du mit? Wenn du magst, können wir ja am nächsten Sonntag wieder laufen.“

Susanne nickte dankbar. „Ich bin so fett geworden in letzter Zeit, da tut es mir gut, wenn du mich zu etwas Sport zwingst.“

Tanja grinste. „Arne würde bestimmt sagen: von einem guten Stück kann man nie genug haben – aber wir zwei arbeiten an deiner Gewichtsreduzierung, versprochen.“

Erster Montag

Die Dienstbesprechung im Sekretariat der St. Johannis-Gemeinde zog sich in die Länge. Kantor Arzfeld hatte sich entschieden, den Anwesenden Konzeption und Aufbau seines kompletten Konzertprogramms des nächsten Jahres zu erläutern. Susanne beobachtete, wie ihrem Küster die Augen zufielen und die Sekretärin verstohlen gähnte. Susanne konnte es nachvollziehen. Sie wusste, dass Frau Braun auf Roger Whittaker und Tom Jones stand (eine merkwürdige Kombination, aber so war es eben) und mit Orgelmusik des 20. Jahrhunderts etwa so viel am Hut hatte wie die Rolling Stones mit der Blaskapelle der Heilsarmee. Das Äußerste, was ihr an Kirchenmusik zugemutet werden konnte, war das Weihnachtsoratorium. Aber das auch nur, weil ihre Enkelin im Chor mitsang. Der Küster wiederum war so unmusikalisch, dass er nicht einmal einen CD-Player besaß. Umso erstaunlicher war, dass er plötzlich laut und entschieden „Das geht nicht“ sagte. Arzfeld war gerade dabei gewesen zu erklären, dass eine Passionszeit ohne Musik von Arvo Pärt künstlerisch gar nicht denkbar sei und er daher für den 24. März ein Konzert mit Werken von Arvo Pärt angesetzt habe. „Wieso geht das nicht?“, fragte Arzfeld irritiert. „Haben Sie etwas gegen Arvo Pärt?“

„Ich kenn ihn nicht persönlich und hab daher auch nichts gegen ihn. Obwohl ich nicht weiß, wie man sein Kind Awo nennen kann. AWO – wie Arbeiterwohlfahrt? Na ja, vielleicht war der Opa da aktiv. Aber heute heißen die Kinder ja alle so komisch. Bei der letzten Taufe habe ich mich schon gefragt, wie Eltern ihren Kindern später mal erklären wollen, warum sie sie Sharmine oder Justin-Nevjo genannt haben. Awo – oder hat das was mit Avon zu tun? Meine Cousine war Avon-Beraterin. Jedenfalls: Am 24. März läuft die Bethel-Sammlung und da brauch ich jeden Zentimeter Platz, auch den Probenraum vom Chor. Außerdem hab ich dann keine Zeit zum Plakate kleben.“

Arzfeld hatte gegen Ende der ungewöhnlich langen Rede von Küster Beckmann den Kopf in die linke Hand gestützt. Die Ausführungen hatten ihn sichtbar erschöpft. „Arvo, lieber Herr Beckmann. Mit „r“. A-R-V-O. Arvo. Das ist ein estischer Name. Estland. Da kommt Arvo Pärt her. Arvo Pärt, das weiß doch wirklich jedes Kind, ist der zeitgenössische Komponist mit einer ungeheurer spirituellen Tiefe, die sowohl aus Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus schöpft, er vereinigt in seinen Kompositionen Spiritualität, Ethik und Ästhetik in einer einzigartigen Weise. Dazu ist er eine beeindruckende mutige Persönlichkeit. Wussten Sie, lieber Herr Beckmann, dass Sie ihm sogar ein wenig ähneln? Ihr Bart, wissen Sie, und Ihre Platte. Was ich jedoch nicht verstehe ist die Bethel-Sammlung? Was ist denn das?“

Susanne wunderte sich nun nicht, dass Arzfeld über die Bethel-Sammlung nicht Bescheid wusste. Schließlich sah er nicht so aus, als ob er seine Altkleider entsorgen würde. Er trug sie ganz offensichtlich bis zum bitteren Ende. Wobei sich Susanne nicht ganz sicher war, ob Arzfeld die Kleidung, die er am Leib trug, nicht schon von seinem Großvater geerbt hatte. Möglich wäre es. Aktuell kombinierte er eine geräumige Cordhose, die von breiten Hosenträgern mit Lederschlaufen gehalten wurde, zu einem weißen Hemd mit steifem Kragen. Der derbe Cordstoff war an den Knien fast durchsichtig und das Hemd hatte geflickte Manschetten. Susanne fand es bemerkenswert, dass jemand heutzutage Manschetten flickte und das Hemd nicht umgehend wegwarf. Ihre Oma hatte noch Socken gestopft, diese Technik war völlig aus der Mode geraten. Doch Arzfeld focht jeder neumodische Gedanke nicht an. Einmal abgesehen von seinen Füßen. An den Füßen trug er nämlich handgenähte Budapester, die zu seinem restlichen Outfit passten wie die Faust aufs Auge. Susanne erklärte sich die Budapester damit, dass die Füße eines Organisten, zusammen mit den Händen, quasi seine Arbeitsorgane waren und Arzfeld die Füße zu ihrem Schutz entsprechend in bestes Schuhwerk hüllte. Konsequenterweise müsste Arzfeld auch handgenähte Handschuhe tragen, das tat er aber nicht. Ob sie es ihm einmal vorschlagen sollte?

„Bethel-Sammlung?“, fragte Arzfeld noch mal und riss damit Susanne aus ihren Gedanken. „Na, Altkleidersammlung. Wir haben den ganzen Probenraum voll, wenn die rum ist. Die kommen mit einem großen Lkw, um den Kram abzuholen. Nein, der 24. März geht nicht.“

Der Küster klang entschieden. Arzfeld klappte seinen Mund empört auf und Susanne erwartete schon einen Vortrag zum Thema „Verkannte Kunst“ oder „Die Leiden des Herrn A.“, aber zu ihrer Verblüffung klappte Arzfeld nach kurzem Überlegen den Mund wieder zu und strich den 24. März in seinem Terminkalender.

Susanne begann, sich ernsthaft Sorgen um ihren Kantor zu machen. Seitdem man eine Leiche in seinem Orgelgehäuse gefunden hatte, war er einfach nicht mehr derselbe. Zunächst schien er den Schock über die Leiche ganz erfolgreich überwunden zu haben, aber das hielt nicht lange. Schließlich war er sechs Wochen in Kur gewesen, um seine Nerven zu beruhigen. In Bad Bergzabern. Susanne war klar, dass sie persönlich nach sechs Wochen Bad Bergzabern ein Fall für die Psychiatrie wäre, es sei denn, man stellte ihr ein Auto zur Verfügung, damit sie die umliegenden Schuhfabriken ausplündern konnte. Doch Arzfeld hatte der pfälzische Kurort recht gutgetan, er berichtete anschließend angeregt von den örtlichen Orgeln und Organisten und fügte sich nach erfolgreicher Kur wieder in den Betrieb der Kirchengemeinde in St. Johannis ein, stürmisch begrüßt von seinen Chorsängerinnen und -sängern, die ihm jede Woche einen Brief in die Kur geschickt und ihn schmerzlich vermisst hatten. Doch manchmal, so wie jetzt in der Diskussion mit dem Küster, merkte man, dass Arzfeld sich verändert hatte. Manchmal sehnte sich Susanne nach den früheren Zeiten zurück, als Arzfeld in einer vergleichbaren Situation das Schauspiel des verkannten Genies gegeben hätte, der, umgeben von feindlichen Banausenheeren, unbeirrt die Fahne des Wahren, Guten und Schönen hochhält, um die entscheidende Schlacht für die Kunst zu gewinnen. Stattdessen fragte Arzfeld fast schüchtern, ob denn der 30. März ginge.

„Passt“, bestätigte der Küster, der offenbar von der Arzfeldschen Persönlichkeitsveränderung völlig unbeeindruckt war. Brav notierte der den Termin in seinem Kalender.

Susanne fragte sich, ob die alljährlich wiederkehrende Debatte über die Musik für den Heiligen Abend dieses Jahr ebenfalls anders verlaufen würde als sonst. Sie nahm sich vor, Arzfeld „Leise rieselt der Schnee“ vorzuschlagen. Wenn er dem widerspruchslos zustimmen würde, müsste sie für Arzfeld ernsthaft eine Untersuchung beim Amtsarzt in Erwägung ziehen.

Erster Dienstag

„Weißt du, was cold cases sind?“, fragte Tanja Susanne. Die beiden hatten sich in der Neustadt auf einen schnellen Kaffee im Stehen in einer Bäckerei verabredet. Susanne kam von einem Geburtstagsbesuch bei einer achtzigjährigen Jubilarin, Tanja aus dem Polizeipräsidium. Susanne überlegte. „Wenn eure Kantine im Polizeipräsidium die Wärmeschalen ausgestöpselt hat und du zu spät kommst und deine Roulade ist dann ein cold case?“

„Mit Polizeipräsidium bist du nahe dran und wenn man davon ausgeht, dass das Rind nicht freiwillig aus dem Leben geschieden, sondern streng genommen ermordet worden ist, dann geht deine Definition von cold case in Richtung ‚heiß’. Cold cases sind Fälle, die die Polizei nicht lösen konnte und die in den Akten schimmeln. In den letzten Jahren haben wir dank Gentechnik einige Fälle lösen können. Ja, und es sieht fast so aus, als ob wir einen cold case neu aufrollen. Denn die Kleidungsstücke, die wir im Baum gefunden haben, die gehören Privatdozentin Dr. Eleonore Weinfurt, die seit zehn Jahren spurlos verschwunden ist. Und an ihrem Trenchcoat findet sich genetisches Material des Mannes, der damals im Zentrum der Ermittlungen stand: Martin Freund. Physikprofessor in Mainz. Ich denke, wir werden die Sache jetzt ganz neu aufrollen.“

„Einer aus meinem Kirchenvorstand ist ein emeritierter Physikprofessor“, meinte Susanne nachdenklich. „Wäre es nicht hilfreich, wenn du vor deiner Befragung mit ihm sprechen würdest? Du hast keine Ahnung von der universitären physikalischen Welt. So wärest du besser vorbereitet, zumal Professor Freund ja wohl kaum etwas von euren neuen Ergebnissen weiß und der Überraschungseffekt auf eurer Seite ist.“

„Gute Idee“, meinte Tanja.

„Das finde ich ja mal richtig spannend, in Polizeiermittlungen mitzuwirken“, meinte Professor Dr. Stefan Winkler. Er hatte sich mit Tanja und Arne in seiner Wohnung in der Altstadt verabredet. Ein renovierter Altbau mit einem für die Altstadt unbezahlbaren Innenhof mit Parkplätzen. Innen freigelegtes Mauerwerk, alte Eichendielen, ein offener Kamin, neben dem sich Holzscheite stapelten. Eine geschmackvolle, zugleich gemütliche Einrichtung. Mit einem gewissen Neid bemerkte Tanja, dass sich Winkler die Le Corbusier-Liege mit Kuhfell vor den Kamin gestellt hatte. Sie sparte schon seit einiger Zeit für diese Liege, Winkler besaß sie – und er hatte auch den Platz, den diese Liege brauchte, um ihre volle Wirkung entfalten zu können. Tanja zweifelte beim Anblick des Winklerschen Ensembles etwas, ob ihr das auch in ihrer Neustadtwohnung gelingen könnte.

Winkler wies ihnen freundlich Plätze auf einem hellbraunen Büffelledersofa zu. Noch einmal das Stichwort ‚Platz‘. Dieses Sofa würde ihr Wohnzimmer sprengen, bei Winkler wirkte es passend. Man fragte sich, ob in dieser Wohnung an diesem Platz jemals etwas anderes gestanden haben konnte als dieses Sofa – und es fiel selbst der in Sachen Design stets oberkritischen Tanja nicht ein, was die Alternative zu diesem Sofa in diesem Raum sein konnte. Es musste einfach hier an diesem Ort stehen. „Haben Sie einen Innenarchitekten?“, fragte Tanja spontan.

„Wieso?“, antwortete Winkler irritiert und Arne rollte mit den Augen. Tanjas Hang zu edlen Designmöbeln kombiniert mit ihrer emotionalen Spontaneität gingen ihm gerade wieder gehörig auf die Nerven. Immerhin war sie vor Neid nicht jähzornig geworden beim Anblick dieser Wohnung. Aber: Konnte die Kollegin sich nicht mal zusammenreißen? „Meiner Kollegin gefällt es bei Ihnen, das will sie damit sagen“, bemerkte Arne.

„Ach, wirklich? Danke! Ja, ich fühle mich hier auch ganz wohl.“