Die letzten Wächter - Sergej Lukianenko - E-Book

Die letzten Wächter E-Book

Sergej Lukianenko

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Beschreibung

Eine einzigartige Mischung aus Horror und Fantasy

Von Tausenden Fantasy-Fans sehnsüchtig erwartet, legt Bestsellerautor Sergej Lukianenko mit Die letzten Wächter nun endlich das atemberaubende Finale zu seiner Wächter- Serie vor, der legendären Saga um die »Anderen« – Vampire, Hexen, Magier, Gestaltwandler –, die seit Jahrhunderten unerkannt in unserer Mitte leben. Längst ist der fragile Waffenstillstand zwischen den Mächten des Lichts und der Dunkelheit nichtig geworden, und auf den Straßen herrscht offener Krieg. Als die Stunde der finalen Schlacht gekommen ist, entscheidet sich das Schicksal der Welt endgültig.

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Seitenzahl: 584

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Sergej Lukianenko

Roman

Aus dem Russischenvon Christiane Pöhlmann

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der russischen Originalausgabe:

Шестой Дозор

In »Die letzten Wächter« werden Auszüge aus Songs und Gedichten von K. D. Balmont, Oleg Medwedew, Sergej Michailkow, Piknik und Akwarium verwendet.

Deutsche Erstausgabe 4/2015

Redaktion: Hana Hadas

Copyright © 2014 by Sergej Lukianenko

Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe und Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-10215-9

www.heyne.de

Der vorliegende Text muss von den

Kräften des Lichts gelesen werden.

Die Nachtwache

Der vorliegende Text muss von den

Kräften des Dunkels gelesen werden.

Die Tagwache

Erste Geschichte

Zwangshandlungen

Prolog

Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit.

In fünfzehn Jahren kommt ein Mensch zur Welt, lernt laufen, sprechen und das Benutzen eines Computers, danach lesen und zählen sowie die Benutzung eines Klos, und erst im Anschluss daran lernt er, sich zu prügeln und sich zu verlieben. Das Pünktchen aufs i setzt er manchmal, indem er neue Menschen zur Welt bringt oder bereits vorhandene aus ebendieser hinausbefördert.

In fünfzehn Jahren durchwandern Mörder in Gefängnissen für Schwerverbrecher alle Kreise der Hölle – nur um schließlich in die Freiheit entlassen zu werden. Mitunter ohne einen einzigen Hauch von Dunkel in der Seele. Mitunter ohne einen einzigen Hauch von Licht darin.

In fünfzehn Jahren ändert jeder Mensch, mag er auch noch so ein Gewohnheitstier sein, sein Leben mehrmals von Grund auf. Er verlässt seine alte Familie und legt sich eine neue zu, wechselt zwei-, drei- oder auch viermal den Beruf, macht Geld und wird zum Bettler. Er besucht den Kongo, wo er Diamanten schmuggelt, oder zieht sich in ein gottverlassenes Dorf im Gebiet von Pskow zurück und züchtet Ziegen. Er verfällt dem Suff, schließt ein zweites Studium ab, tritt zum Buddhismus über, lässt sich auf Drogen ein, lernt, ein Flugzeug zu steuern, oder fährt nach Kiew zum Maidan, bekommt dort mit einem Schlagstock eins über den Schädel gezogen und geht daraufhin in ein Kloster.

In fünfzehn Jahren kann also eine ganze Menge passieren.

Sofern du ein Mensch bist.

Solltest du allerdings ein fünfzehnjähriges Mädchen sein, dann weißt du mit absoluter Sicherheit, dass dein eigenes Leben stinklangweilig ist.

Dass es in ihm fast nichts gibt, was sich zu erzählen lohnt.

Olja Jalowa beispielsweise wüsste, würde sie sich einmal alles von der Seele reden (wie sie es noch vor fünf Jahren mit ihrer Mutter und vor drei mit ihrer Oma getan hatte, heute jedoch nur noch mit sich selbst tat), höchstens drei Dinge zu erzählen.

Erstens: wie sehr sie ihren Namen hasste!

Olja Jalowa.

Darauf musste man erst mal kommen!

In ihrer Kindheit wurde sie von allen immer nur Olja-Ajlo gerufen, nach den beiden Mädchen aus dem Königreich der Zauberspiegel. Das wäre ja noch ganz okay gewesen, schließlich war dieser uralte Kinderfilm – jedenfalls nach Ansicht der siebenjährigen Olja – gar nicht mal so schlecht, außerdem glich sie den beiden Zwillingen tatsächlich ein wenig. Olja-Ajlo? Warum also nicht, es gibt Schlimmeres.

In der vierten Klasse hatte aber irgendeiner ihrer Mitschüler – pah, von wegen irgendeiner, das war niemand Geringeres als der blonde Sokolow, der so gut aussah, immer alles wusste, reiche Eltern hatte und den alle anhimmelten – beschlossen, im Internet die Bedeutung der Nachnamen von ihnen allen zu googeln …

Da hatte sie erfahren, dass Jalowa »Kuh ohne Kalb« bedeutet. Unfruchtbare Kuh. Diese »unfruchtbare Kuh« war von der vierten bis zur sechsten Klasse an ihr hängen geblieben. Manchmal nur als »Kuh«, manchmal als »U. K.«. Daraufhin hatte sie sich in ihrem Zimmer vergraben, geschmollt und geheult, Bücher ebenso verschlungen wie Kekse, bis sie am Ende tatsächlich die Figur einer Kuh gehabt hatte …

Das Zweite, was im Leben von Olja Jalowa – oder von, wie sie sich selbst heimlich nannte, Olja-Ajlo – wichtig war, das war Hockey. Also richtiges, Eishockey, mit Puck. Für Frauen. Oder Mädchen. Sie hatte rein zufällig damit angefangen, als sie einmal von diesem Ekelpaket Sokolow geträumt hatte, wobei sie aus irgendeinem Grund splitterfasernackt vor ihm stand. Und dann hatte dieser Sokolow, der mit dreizehn bereits richtig groß war und einfach umwerfend aussah, das Gesicht verzogen, sich die Augen zugehalten und gezischt: »Kuh …«

Vielleicht hatte dann die Zeit ihr Werk verrichtet, vielleicht war das Eishockey aber auch genau das gewesen, was Olja brauchte, denn binnen sechs Monaten schmolz das gesamte überflüssige Fett, und bereits nach einem Jahr, also mit vierzehn, war sie der Star der russischen Juniorinnen.

Und mit einem Mal zeigte sich, dass unter den Pausbacken und den dicken Schenkeln eine hochgewachsene – mit fünfzehn war Olja die Größte in ihrer Klasse – junge Dame steckte, was ihr Trainer nur mürrisch mit den Worten kommentierte: »Aber zu den Baseballern lasse ich dich nicht.« Außerdem war sie ziemlich kräftig. Es hatte da mal einen albernen Streit gegeben, überhaupt nichts Ernstes, bei dem sie versehentlich zwei Klassenkameraden verletzt hatte. Nachdem die beiden auf dem Boden gelandet waren, starrten sie sich erschrocken an und trauten sich nicht aufzustehen. Wenn Olja also heute aus der Dusche kam und sich im Spiegel betrachtete, dann lächelte sie zufrieden, wusste sie doch, dass kein noch so dämlicher Junge – und Namen wollte sie in diesem Zusammenhang schon gar nicht nennen – bei ihrem Anblick noch einmal das Gesicht verziehen würde.

Das dritte bedeutende Ereignis in Oljas Leben sollte heute Nacht stattfinden. Sie schob die Hände in die Taschen, denn es war kalt, Handschuhe wollte sie jedoch keine anziehen. Nachdem sie am Olympiastadion mit den noch unfertigen Minaretten der zentralen Moschee dahinter vorbeigelaufen war, kam sie zu einer kleinen orthodoxen Kirche. Obwohl es noch früh am Abend war und überall Laternen brannten, gab es nur wenig Leute in den Straßen. Moskau kannte eben keinen richtigen Winter mehr: Bei lediglich fünfzehn Grad minus eilten bereits alle nach Hause oder kauerten in Autos.

Jetzt musste Olja bloß noch eine schmale Gasse hinunterlaufen und anschließend die Straßenunterführung durchqueren, damit sie zur anderen Seite des Prospekts Mira gelangte. Dort wiederum war ihr Ziel eine Querstraße, durch welche die Straßenbahn ratterte und in der ein Hochhaus mit massivem Stylobat stand. Die drei Jahre, die Olja als Leseratte verbracht hatte, waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen, sondern hatten in ihrem Kopf Unmengen von Wörtern und Wissensbrocken hinterlassen. In besagtem Haus also lebte das Ekelpaket Sokolow. Der verdammt gut aussehende Sokolow. Ihr – und nur ihr! – Oljeshka Sokolow.

Seit einem halben Jahr gingen sie nun miteinander, was aber niemand wusste. Weder in der Schule noch beim Sport. Nicht einmal ihre Mutter oder Oma ahnten es.

Dafür galten Olja Jalowa und Oleg Sokolow zu lange als einander spinnefeind.

Aber jetzt … jetzt würde sich das ändern. Morgen würden es alle erfahren. Denn da würden sie beide, Olja und Oleg, zusammen zur Schule gehen.

Weil sie heute bei ihm übernachten würde. Olegs Eltern waren verreist, und ihre Oma und Mutter glaubten, sie würde nach dem Training zu einer Freundin gehen und dort übernachten.

Aber sie würde bei Oleg sein.

Sie hatten über alles gesprochen. Bisher hatten sie sich bloß geküsst, denn das eine Mal im Kino, als sie in der letzten Reihe saßen und Oleg mit seinen Händen plötzlich überall gewesen war, das zählte ja wohl nicht.

Nein, heute Nacht wollten sie Ernst machen. Schließlich waren sie beide schon fünfzehn, da war es doch direkt peinlich, dass sie noch nie Sex gehabt hatten! Wenn die andern das wüssten, würden sie sich kaputtlachen. Gut, die Mädchen aus ihrem Team hatten vielleicht auch noch keinen Sex gehabt, denen fehlte schlicht und ergreifend die Energie dazu, denn sie mussten neben dem Training ja auch noch viel für die Schule machen … Aber wer, bitte schön, hätte sonst mit fünfzehn sein erstes Mal noch nicht erlebt, egal ob nun Junge oder Mädchen?

In dem Alter hatten doch bereits alle Sex gehabt, so stand es im Internet, und die drei Jahre als Leseratte hatten Olja eben nicht nur jede Menge überflüssigen Wissens beschert, sondern auch einen völlig ungerechtfertigten Glauben ans gedruckte Wort.

Irgendwo tief in ihrem Herzen – das ihr allerdings wohl gerade in die Hose gerutscht war – empfand Olja eine leichte, kalte Angst. Und sogar Zweifel.

Sie mochte Oljeshka. Und ihn zu küssen war klasse. Wenn er sie umarmte, wollte sie mehr. Wie das sein würde, wusste sie auch ganz genau. Eben aus dem Internet …

Kurz und gut, eigentlich wollte Olja es.

Sie wusste bloß eins nicht: Wollte sie es jetzt oder später? Mit Oleg oder nicht?

Allerdings hatte sie ihm versprochen zu kommen. Und Olja Jalowa hielt ihre Versprechen.

In der Querstraße schlug ihr aus Richtung der Drei Bahnhöfe eisiger Wind entgegen. Außerdem war es hier stockdunkel. Erklären konnte sie sich das nicht, denn die Laternen funktionierten, und in den Fenstern der Wohnungen sowie in den Schaufenstern der Geschäfte brannte ebenfalls Licht. Nur vertrieb es die Dunkelheit irgendwie nicht: Die hellen Lichtflecken schimmerten in der Nacht, richteten aber nichts aus, fast wie Sterne am Himmel.

Für einen kurzen Moment blieb Olja stehen und sah sich um.

Was war bloß los mit ihr? Jagten ihr die drei Minuten zu Fuß – und wenn sie rannte, mal gerade eine – wirklich Angst ein? Ihr, die einsfünfundsiebzig groß und kräftiger als die meisten Jungen war? Mitten in Moskau, um sieben Uhr abends, mit genug Menschen um sie herum, die nach Hause eilten?

Wovor hatte sie also Angst?

Davor, zu Oleg zu gehen, das war’s! Der Wahrheit musste man ins Auge sehen.

Sie hatte zwar ihr Wort gegeben – aber Angst wie ein kleines Mädchen. Dabei war sie doch schon eine erwachsene Frau, jedenfalls fast erwachsen, jedenfalls fast eine Frau …

Nachdem sie die Strickpudelmütze zurechtgezogen und den Riemen der Sporttasche – sie enthielt ein Handtuch, einen sauberen Slip und ein Päckchen Slipeinlagen, denn Olja hatte den Verdacht, dass sie die Dinger morgen brauchen würde – ein Stück die linke Schulter hochgeschoben hatte, beschleunigte sie den Schritt.

Der Unterleutnant der Polizei, Dmitri Pastuchow, hatte heute frei. Er trug nicht einmal Uniform, als er den Arm hob, um an der Ecke Protopopowski und Astrachanski ein Taxi anzuhalten. Da die Gründe, warum Dima Pastuchow sich zu dieser Zeit in dieser Gegend aufhielt, seiner Frau den Boden unter den Füßen wegziehen könnten, sei darauf verzichtet, näher auf sie einzugehen. Zu Dimas Ehrenrettung sei jedoch angemerkt, dass er immerhin eine Tüte mit einer Schachtel Raffaelo sowie einen Blumenstrauß aus dem Automaten bei sich hatte, beides im Supermarkt Billa um die Ecke erworben.

Dima schenkte seiner Frau nur selten Blumen und Konfekt, ein-, zweimal im Jahr vielleicht. Daher sollte der heutige Einkauf zu seinen Gunsten ausgelegt werden.

»Was soll das heißen – fünfhundert?«, fing Dima eifrig zu feilschen an. »Dreihundert, darauf könnte ich mich noch einlassen!«

»Weißt du nicht, was das Benzin heute kostet?«, antwortete der Fahrer in dem alten Ford genauso eifrig. Obwohl er wie jemand aus einer südlichen Republik aussah, sprach er akzentfreies Russisch. »Dann ruf doch ein offizielles Taxi! Für weniger bringt dich jedenfalls niemand ans Ziel!«

»Ich halte ja gerade deshalb ein Schwarztaxi an, damit es nicht allzu viel kostet«, erklärte Dima. Im Grunde war er bereit, die fünfhundert zu zahlen. Die Fahrt würde schließlich einigermaßen lange dauern, überhaupt feilschte er nur aus alter Gewohnheit …

»Vierhundert«, sagte der Fahrer schließlich.

»Hört sich schon besser an«, erwiderte Dima und stieg ein, nicht ohne einen letzten Blick die Straße hinauf zu werfen – selbst wenn es dafür keinen triftigen Grund gab.

Fünf Schritt vor ihm stand ein Mädchen, schwankte und starrte Dima an.

Die Kleine war groß und hatte eine gute Figur, sodass sie im Halbdunkel durchaus für eine erwachsene Frau hätte durchgehen können. Jetzt fiel aber das Licht der Straßenlaterne direkt auf ihr Gesicht – und das war das Gesicht eines Kindes.

Sie trug keine Mütze, ihre Haare waren zerzaust. Tränen kullerten aus ihren Augen, über den Hals sickerte Blut. Die Skijacke aus Nylon hatte zwar nichts abbekommen, die hellblauen Jeans zeigten hier und da jedoch Blutspuren.

Pastuchow warf die Tüte und den Blumenstrauß auf den Rücksitz und eilte zu dem Mädchen. Hinter ihm stieß der Fahrer, der das Mädchen nun ebenfalls bemerkt hatte, einen fantasievollen Fluch aus.

»Was ist mit dir?«, schrie Pastuchow und packte das Mädchen bei den Schultern. »Was ist los? Wo ist dieser Dreckskerl?«

Aus irgendeinem Grund zweifelte er nicht eine Sekunde daran, dass das Mädchen ihm gleich zeigen würde, in welche Richtung dieser Dreckskerl abgehauen war. Er würde das Schwein einholen und festnehmen und ihm dabei mit etwas Glück sogar ein paar Knochen brechen oder die Fresse polieren.

Stattdessen fragte das Mädchen jedoch nur mit leiser Stimme: »Sie sind ein Polizist, oder?«

Pastuchow, der in diesem Augenblick völlig vergessen hatte, dass er gar keine Uniform trug, nickte bloß.

»Stimmt«, schob er dann hinterher. »Das bin ich! Also – wo ist der Dreckskerl?«

»Bringen Sie mich von hier weg, mir ist kalt«, bat das Mädchen in jämmerlichem Ton. »Bringen Sie mich bitte von hier weg.«

Der Vergewaltiger war nirgends zu sehen. Der Fahrer war inzwischen ausgestiegen und hatte sich mit einem Baseballschläger bewaffnet. Bekanntlich spielt in Russland ja kaum jemand Baseball, der Absatz dieser Schläger ist jedoch fast mit dem in den USA zu vergleichen. Als ein Pärchen in mittleren Jahren, das den Astrachanski heruntergeschlendert kam, das Mädchen, Pastuchow und den Fahrer erblickte, verschwand es sofort im Supermarkt. Ein Junge mit einem Rucksack, der sich ihnen aus dem Protopopowski-Prospekt näherte, blieb dagegen stehen und johlte derart begeistert und fröhlich, dass Pastuchow prompt über den von der Bibel gepriesenen Nutzen körperlicher Züchtigung bei der Kindererziehung nachdachte.

»Du darfst den Ort des Verbrechens jetzt nicht verlassen …«, teilte Pastuchow dem Mädchen mit.

Und verstummte plötzlich.

Denn nun sah er, woher das Blut kam.

Zwei winzige Wunden im Hals.

Zwei Bissspuren.

»Komm«, entschied er daraufhin und bugsierte das Mädchen ins Auto. Die Kleine leistete keinen Widerstand, als ob sie mit der Entscheidung, ihm zu vertrauen, völlig aufgehört hatte, eigenständig zu denken. »Fahren wir.«

»He, du musst zur Miliz mit ihr …«, sagte der Fahrer. Oder ins Krankenhaus … Das Sklifossowski ist gleich um die Ecke …«

»Ich bin von der Polizei«, sagte Pastuchow, während er mit einer Hand seinen Ausweis aus der Tasche zog und ihm den Fahrer unter die Nase hielt. »Das Sklif können wir uns sparen. Bring uns nach Sokol.«

»Wieso das?«, fragte der Fahrer erstaunt.

»Da hat die Nachtwache ihren Sitz«, antwortete Pastuchow, während er dem Mädchen die Sporttasche unter den Kopf schob. Ihre Beine bettete er auf seine Oberschenkel. Von den hohen »Winterturnschuhen« tropfte der dreckige schmelzende Schnee. Die Blutung am Hals war dagegen gestillt. Dafür wenigstens sorgte der Speichel eines Vampirs, sobald der Untote sich satt getrunken hatte.

Ärgerlich war nur, dass Vampire dann nicht immer rechtzeitig damit aufhörten.

»Was soll das denn sein – die Nachtwache?«, fragte der Fahrer erstaunt. »Ich lebe seit zwanzig Jahren in Moskau, aber ich kann mich nicht daran erinnern, je davon gehört zu haben.«

Und auch nach der Fahrt zur Nachtwache wirst du dich nicht mehr an sie erinnern, dachte Pastuchow. Aber das sagte er nicht laut. Schließlich war er sich nicht sicher, ob die Anderen ihm die Erinnerung an diesen Besuch ließen.

Seine Hand dafür ins Feuer legen würde er jedenfalls nicht.

»Und jetzt gib Gas«, bat er den Fahrer. »Ich zahle die Strafe auch.«

Der Fahrer erklärte ihm in höchst anschaulicher Weise, wohin Pastuchow sich sein Geld stecken konnte, und raste los.

Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen da. Entweder war sie ohnmächtig oder hatte einen Schock erlitten. Pastuchow schielte zum Fahrer hinüber. Der hatte den Blick fest auf die Straße gerichtet. Daraufhin spreizte Dima behutsam die Beine des Mädchens, auch wenn er sich dabei selbst wie ein perverser Vergewaltiger vorkam.

Die Jeans waren im Schritt sauber, da klebte nirgends Blut. Das Mädchen war also nicht vergewaltigt worden.

Obwohl aus Pastuchows Sicht eine sexuelle Straftat in diesem Fall offen gestanden das geringere Übel dargestellt hätte. So was kannte man immerhin.

Eins

»Du hast lange genug rumgesessen«, knurrte Geser.

»Ach ja? Und wo bitte?«

»Nicht wo, sondern worauf«, erwiderte mein Chef, ohne den Blick von irgendwelchen Papieren zu heben. »Auf deinen vier Buchstaben.«

Wenn der Chef ohne jeden Grund anfing zu motzen, dann hieß das, dass er komplett ratlos war. Nicht sauer, denn in dem Fall war er ausgesprochen höflich. Nicht erschrocken, dann neigte er zu Melancholie und Sentimentalität. Sondern ratlos.

»Was ist los, Boris Ignatjewitsch?«, fragte ich.

»Anton Gorodezki«, fuhr der Chef fort, sah mich aber immer noch nicht an. »Zehn Jahre in der Abteilung für Ausbildung reichen allmählich, findest du nicht auch?«

Meine Gedanken schweiften in ihre eigene Richtung.

An irgendetwas erinnerte mich dieses Gespräch. Aber an was?

»Liefere ich etwa Grund zur Klage?«, fragte ich. »Ich leiste keine schlechte Arbeit … vor Fahndungen drücke ich mich auch nicht …«

»Außerdem rettest du noch regelmäßig die Welt«, höhnte der Chef, »kümmerst dich um die Erziehung deiner Tochter, einer Absoluten Zauberin, und verträgst dich bestens mit deiner Frau, einer Hohen Zauberin.«

»Nicht zu vergessen, dass ich meinen Chef ertrage«, parierte ich, »der ebenfalls ein Hoher ist.«

Daraufhin besaß Geser sogar die Güte, mich anzusehen.

»Ganz genau«, sagte er. »Und nun hör mir zu, Anton Gorodezki. In der Stadt wüten nicht registrierte Vampire. Auf ihr Konto gehen bereits sieben Überfälle in einer Woche.«

»Oh«, stieß ich aus. »Das bedeutet, diese Miststücke brauchen jeden Tag Nahrung … Was sagen unsere Fahnder?«

Geser schien diese Frage jedoch gar nicht gehört zu haben, denn er blätterte wieder hingebungsvoll in seinen Papieren.

»Das erste Opfer … Alexander Pogorelski. Dreiundzwanzig Jahre. Verkäufer in einer Boutique … unverheiratet … bla, bla, bla … wurde am helllichten Tag im Bezirk Taganka überfallen. Das zweite Opfer, einen Tag später. Nikolaj Rjo. Siebenundvierzig. Ingenieur. Im Bezirk Preobrashenski. Als drittes dann Tatjana Iljina. Neunzehn. Studentin an der MGU. Bezirk Tschertanowo. Das vierte Opfer: Oxana Schemjakina. Zweiundfünfzig. Putzfrau. Bezirk Mitino. Die Fünfte ist Nina Lissizina, Schülerin, zehn Jahre …«

»Dieses Drecksstück«, entfuhr es mir.

»… am helllichten Tag im Bezirk Matwejewski.«

»Er hat sich auf Frauen spezialisiert«, sagte ich. »Anscheinend ist er auf den Geschmack gekommen und experimentiert jetzt mit dem Alter …«

»Das sechste Opfer: Gennadi Ardow. Sechzig. Rentner.«

»Also womöglich ein Vampirpärchen?«

»Nicht auszuschließen«, antwortete Geser. »Auf alle Fälle ist aber eine Vampirin im Spiel.«

»Woher wissen wir das?«, hakte ich nach. »Hat etwa eines der Opfer überlebt und konnte eine Aussage machen?«

Auch diese Frage ignorierte Geser.

»Das siebte Opfer, das letzte bisher. Olja Jalowa, Schülerin, fünfzehn. Du kannst dich übrigens bei deinem Bekannten bedanken, bei diesem Dmitri Pastuchow. Er hat sie nach dem Überfall aufgelesen und sofort zu uns gebracht … was wirklich sehr klug von ihm war.«

Geser sammelte die Papiere zusammen, richtete sie an der Handkante gerade aus und legte sie in eine Pappmappe.

»Haben eventuell noch weitere Opfer überlebt?«, erkundigte ich mich voller Hoffnung.

»Ja«, antwortete Geser nach kurzem Zögern, wobei er mich fest ansah. »Alle.«

»Was soll das heißen?«, entfuhr es mir. »Sind sie jetzt alle … Vampire?«

»Nein. Sie dienten lediglich als Nahrungsquelle. Dabei wurde ihnen nicht mal besonders viel Blut ausgesaugt. Bloß das letzte Opfer ist ziemlich stark betroffen, der Arzt sagt, sie habe mindestens einen Liter Blut verloren. Aber das ist leicht zu erklären, die Kleine war zu ihrem Freund unterwegs … und anscheinend hatten die beiden ihren ersten … äh … Koitus geplant.«

Merkwürdigerweise war es Geser peinlich, dieses Thema anzuschneiden. Das zeigte sich bereits daran, dass er statt des Wortes »Sex« diesen medizinischen Begriff wählte.

»Verstehe«, sagte ich. »Das Mädchen war randvoll mit Endorphinen und Geschlechtshormonen. Welches Geschlecht auch immer der Vampir gehabt hat, er hat sich an ihr besoffen. Wir können von Glück sagen, dass er sie nicht völlig leer getrunken hat … Gut, Chef, ich stelle sofort ein Team zusammen und schicke es aus …«

»Das wirst du nicht.« Geser schob mir die Mappe über den Tisch zu. »Du wirst diese Vampirin oder diese Vampire selbst jagen.«

»Warum das?«, fragte ich erstaunt.

»Weil die Vampirin oder die Vampire das so wollen.«

»Haben sie irgendwelche Forderungen gestellt? Sollten die Opfer uns etwas mitteilen?«

Gesers Lippen kräuselten sich zu einem durchtriebenen Grinsen.

»Man könnte durchaus behaupten, dass sie uns etwas mitgeteilt haben«, sagte er. »Nimm diese Papiere an dich, und mach dich an die Arbeit. Wenn du auf klassische Weise vorgehen willst, kriegst du Blut im Lager. Ach ja … und ruf mich an, sobald du dahintergekommen bist.«

»Damit Sie mir mit gutem Rat zur Seite stehen?«, grummelte ich, während ich aufstand und die Pappmappe an mich nahm.

»Quatsch. Aber ich habe mit Olga gewettet, wie lange du brauchst, um das Ganze zu begreifen. Sie glaubt, eine Stunde, ich rechne mit einer Viertelstunde. Wie du siehst, vertraue ich dir voll!«

Ohne mich von Geser zu verabschieden, verließ ich sein Arbeitszimmer.

Nach einer halben Stunde rief ich ihn an. Ich hatte mir alle Unterlagen flüchtig angesehen, sie dann auf dem Tisch ausgebreitet und eine Zeit lang daraufgestarrt.

»Und?«, fragte Geser.

»Alexander. Nikolaj. Tatjana. Oxana. Nina. Gennadi. Olga. Das nächste Opfer ist wahrscheinlich ein Roman. Oder eine Rimma.«

»Damit war ich am Ende doch näher an der Wahrheit«, bemerkte Geser. »Eine halbe Stunde.«

»Auf alle Fälle haben sie noch einiges vor sich«, bemerkte ich.

»Sie?«

»Ich nehme an, dass es mehrere sind. Genauer, zwei, ein Mann und eine Frau.«

»Vermutlich hast du recht«, erwiderte Geser. »Wir sollten sie aber nicht bis zum i kommen lassen.«

Ich schwieg. Geser beendete das Telefonat jedoch nicht.

Ebenso wenig tat ich es.

»Was wolltest du noch fragen?«, brachte Geser schließlich heraus.

»Diese Vampirin … vor fünfzehn Jahren … die den Jungen überfallen hat, Jegor … Sie wurde doch mit Sicherheit getötet?«

»Für ihr Verscheiden wurde gesorgt«, antwortete Geser kalt. »Davon kannst du mit hundertprozentiger Sicherheit ausgehen. Jedenfalls wahrscheinlich. Ich habe das selbst überprüft.«

»Wann?«

»Heute Morgen. Ich habe auch als Erstes an sie gedacht. Checke aber trotzdem noch einmal alles, was wir zu den Möglichkeiten der Pseudovitalisierung von Vampiren haben, für deren Verscheiden bereits gesorgt wurde.«

Erst jetzt beendete Geser das Gespräch. Also hatte er mir alles gesagt.

Das heißt, alles, was ich wissen musste. Aber garantiert nicht alles, was eventuell nötig war, und schon gar nicht alles, was er selbst wusste.

Denn die Hohen rücken nie ganz mit der Sprache raus.

Das hatte ich inzwischen gelernt. Weshalb auch ich Geser nicht alles gesagt hatte.

Die Krankenstation war in einem der Kellergeschosse untergebracht, genauer gesagt in dem, wo auch die Gästezimmer lagen. Weiter unten gab es noch Lagerräume, Gefängniszellen sowie andere Räume, die speziellen Schutz brauchten.

Normalerweise bewachte niemand diesen Krankentrakt. Meist war er ja sowieso leer. Wurde einer der Wächter verwundet, kurierte ihn ein Heiler in zwei, drei Stunden. Gelang das nicht, war der Patient vermutlich bereits tot.

Obendrein war jeder Heiler ein hoch qualifizierter Killer. Man brauchte einen Heilzauber nämlich bloß »umgekehrt« anzuwenden – und das Resultat war verheerend. Daher konnten unsere Ärzte getrost auf Bodyguards verzichten: Sie sorgten bestens für sich selbst. Wie hatte es irgendein betrunkener Streithammel von Doktor in einer alten sowjetischen Komödie ausgedrückt? »Ich bin Arzt! Die Knochen, die ich breche, flicke ich auch wieder zusammen!«

Heute gab es allerdings eine Patientin in der Krankenstation, noch dazu einen Menschen, der unter einem Dunklen gelitten hatte. Deshalb stand vorm Eingang ein Posten. Arkadi, der erst vor Kurzem in unseren Verein eingetreten war, hatte früher als Lehrer gearbeitet. Wie nicht anders zu erwarten, versicherte er ständig, es sei wesentlich einfacher, Vampire zu jagen, als einer zehnten Klasse Physik beizubringen. Ich kannte ihn natürlich, wie alle, die in den letzten Jahren in der Nachtwache ausgebildet worden waren. Und er kannte mich erst recht.

Trotzdem blieb ich vor der Glastür zum Krankentrakt stehen. Die gängigen Vorstellungen davon, wie ein Security-Mann auszusehen habe, veranlassten Arkadi, einen streng geschnittenen blauen Anzug zu tragen, eine logische Variante für die Wache. Er erhob sich dann auch noch von seinem Stuhl. Glücklicherweise ging die Paranoia bei uns jedoch nicht so weit, dass die Sicherheitsleute ihren Dienst mit vorbereiteten Zaubern antraten. Nachdem er mich sowohl in der gewöhnlichen Welt als auch im Zwielicht eingehend gemustert hatte, öffnete er die Tür.

Alles strikt nach Vorschrift. Noch vor fünf Jahren hätte ich mich genauso verhalten.

»Wer kümmert sich um das Mädchen?«, erkundigte ich mich.

»Iwan. Wie immer.«

Iwan war ein Mann nach meinem Geschmack. Bei ihm handelte es sich nicht schlicht um einen Heiler, sondern um einen Heiler und Arzt. Im Allgemeinen fallen bei uns Anderen die Berufsausbildung, die wir als Mensch hinter uns gebracht haben, und die magischen Anlagen selten zusammen. Aus Soldaten werden zum Beispiel fast nie Kampfmagier. Wie ich von Sweta wusste, wurden aber aus Ärzten meist Heiler.

Iwan war ein guter Arzt. Er hatte seine Laufbahn noch Ende des 19. Jahrhunderts als Landarzt begonnen, irgendwo im Gouvernement Smolensk. Dort wurde er auch initiiert. Er wählte die Seite des Lichts, behielt seinen Beruf als Arzt jedoch bei. Später arbeitete er in der Nachtwache von Smolensk, Perm und Magadan, führte also ein echtes Nomadenleben. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschlug es ihn nach Österreich, wo er zehn Jahre blieb und ebenfalls als Arzt arbeitete. Anschließend ging er nach Zaire, nach Neuseeland und Kanada. Irgendwann kehrte er nach Russland zurück und trat der Moskauer Wache bei.

Über einen Mangel an Lebens- und Berufserfahrung konnte der Mann also wirklich nicht klagen. Obendrein sah er noch wie ein Bilderbucharzt aus: stattlich, äußerlich so um die fünfundvierzig, fünfzig, grau meliert, mit kurzem Bart, einem Stethoskop um den Hals und einer Brille auf der Nase. Mit seinem weißen Kittel schien er geradezu verwachsen zu sein, dies sogar im Zwielicht. Kein Wunder also, dass alle Kinder bei seinem Anblick fröhlich »Onkel Doktor, Onkel Doktor, ich hab Aua!« riefen, während Erwachsene ihre Leiden mit ausgesprochener Gründlichkeit darlegten.

Was er überhaupt nicht mochte, war die Anrede mit Vor- und Vatersnamen. Vielleicht hatte er sich im Ausland daran gewöhnt, ausschließlich auf Iwan zu hören, vielleicht gab es dafür jedoch auch persönliche Gründe.

»Freut mich, dich zu sehen, Anton.« Er kam extra aus seinem Sprechzimmer, um mich zu begrüßen. »Bist du mit der Geschichte beauftragt?«

»Ja, Iwan«, antwortete ich. Wie förmlich sich das alles anhört, schoss es mir durch den Kopf. Fast wie in einem schlechten Roman oder in einer dieser kreuzdämlichen Fernsehserien. Fehlt bloß noch, dass ich ihn frage, wie es dem Mädchen geht … »Wie geht es dem Mädchen?«

»Inzwischen ganz gut«, sagte Iwan und seufzte. »Was ist, wollen wir einen Tee trinken? Sie schläft sowieso noch.«

Ich spähte durch die Glastür ins Krankenzimmer. Das Mädchen lag in der Tat mit geschlossenen Augen unter einer Decke. Entweder schlief die Kleine also wirklich oder tat so als ob. Ich verzichtete darauf, das herauszufinden, selbst wenn sie es gar nicht gemerkt hätte, wäre ich auf magische Weise vorgegangen.

»Ja, gern«, nahm ich Iwans Vorschlag an.

Der Mann liebte Tee, im Übrigen stinknormalen, also schwarzen Tee mit Zucker, manchmal noch mit einer Zitronenscheibe. Trotzdem war dieser Tee extrem gut, vermutlich irgendeine mir unbekannte Sorte, allerdings ohne Kräuter, wie sie ja ältere Menschen sonst so gern in den Tee mischen.

»Ich habe mal einen Menschen getroffen, der Geranienblätter in den Tee getan hat«, sagte Iwan, als er den Tee aufgoss. Für diese Gesprächseröffnung brauchte er nicht einmal meine Gedanken zu lesen: Er war alt und erfahren genug, um zu wissen, woran ich gerade gedacht hatte. »Einfach widerwärtig. Obendrein haben diese Blütenblätter ihn nach und nach vergiftet.«

»Und wie endete das Ganze?«

»Er ist gestorben«, antwortete der Heiler achselzuckend. »Die Pumpe hat schlicht und ergreifend versagt. Aber du wolltest dich nach dem Mädchen erkundigen, oder?«

»Ja.«

»Wie gesagt, mittlerweile ist sie wieder in Ordnung. Aber die Situation war ohnehin nicht kritisch, denn sie wurde früh genug eingeliefert. Außerdem ist die Kleine jung und stark. Deshalb habe ich von einer Bluttransfusion abgesehen und lediglich die Hämatopoese forciert, einen Tropf mit Glukose gesetzt, einen Beruhigungszauber gewirkt und ihr Baldrian plus Echtes Herzgespann gegeben.«

»Wozu das?«

»Sie hat einen gewaltigen Schock erlitten«, antwortete Iwan mit einem Lächeln. »Lass mich etwas für deine Allgemeinbildung tun und dir sagen, dass die meisten Menschen, die von einem Vampir ausgetrunken werden, einen Schock erleiden … Aber mal ernsthaft: Nach dem Blutverlust hätte sie im Schock das Bewusstsein verlieren, irgendwo in einem dunklen Hinterhof liegen bleiben und erfrieren können. Aber sie hat es geschafft, jemanden anzusprechen. Zu ihrem Glück wurde sie dann auch noch hierhergebracht. Für uns ist das ebenfalls nicht schlecht, denn es erspart uns eine Menge Arbeit.«

»Bei dem Polizisten hätten wir die sowieso nicht gehabt. Das ist ein Mann von uns.«

»Ich weiß. Aber dem Fahrer mussten wir die Erinnerung löschen.«

»Das versteht sich von selbst.«

Die nächsten Minuten tranken wir schweigend Tee.

»Was beunruhigt dich eigentlich?«, fragte Iwan dann. »Ein Vampir dreht durch – das ist doch eine völlig alltägliche Geschichte. Wir können noch froh sein, dass er niemanden tötet …«

»Es gibt da eine Sache, die mich irritiert«, antwortete ich vage. »Ohne mich jetzt in Einzelheiten zu ergehen – aber ich habe Grund zur Annahme, dass ich diesen Vampir kenne.«

Iwan runzelte die Stirn.

»Denkst du an … Konstantin Sauschkin?«, fragte er nach einer Weile.

Ich seufzte.

Klar, die Geschichte mit dieser Vampirin lag weit zurück und hatte kaum Aufsehen erregt. Swetlana hatte uns damals von einem unglücklichen Vampirpärchen und von dem Jungen, den sie beinahe verspeist hätten, abgelenkt …

Aber über Kostja, der zu einem Hohen geworden war und beinahe alle Menschen dieser Welt in Andere verwandelt hätte, wusste jeder Andere Bescheid.

»Nein, Iwan. Kostja ist tot. Verbrannt. Hier geht es um eine ganz andere Geschichte, mit einem ganz anderen Vampir … genauer, eine Vampirin. Sag mal, hast du schon einmal von wiederbelebten Vampiren gehört?«

»Das sind doch sowieso wiederbelebte Tote«, antwortete Iwan gelassen.

»In gewisser Weise schon, stimmt. Trotzdem: Wenn dafür gesorgt wurde, dass ein Vampir verscheidet – kann man ihn dann wiederbeleben?«

Iwan dachte kurz nach.

»Ich glaube, davon habe ich tatsächlich schon einmal gehört«, gab er widerwillig zu. »Erkundige dich besser im Archiv danach, möglicherweise hat es einen solchen Fall bereits gegeben … Apropos Vergangenheit. Ich habe mir neulich im Fernsehen eine Serie über einen alten Kollegen angesehen. Über Mischka.«

»Über welchen Mischka?«, fragte ich.

»Über Bulgakow selbstverständlich!«, antwortete Iwan in einem Ton, der mir signalisierte, dass er hier von einem Menschen sprach, auf dessen Bekanntschaft er sich einiges einbildete.

Bisher hatte ich allerdings nicht einmal gewusst, dass Iwan den großen Schriftsteller überhaupt kannte. Ob er vielleicht sogar seinen Teil dazu beigetragen hatte, dass Bulgakow allerlei Mystisches und Fantastisches geschrieben hatte?

»Und? Wie ist die Serie?«

»Gar nicht schlecht«, antwortete Iwan zu meiner Überraschung. »Sie haben das wirklich gut gemacht, hätte ich den Briten nie im Leben zugetraut! Der Schauspieler ist noch jung, wahrscheinlich ist das eine seiner ersten Rollen, aber er hat sich ordentlich ins Zeug gelegt. Jedenfalls habe ich mich voller Vergnügen an Mischka erinnert! Übrigens läuft da noch eine Serie …«

Anscheinend wollte er ein wenig plaudern, dabei das Thema Vampire aber meiden. Sein Dienst musste ihn langweilen.

Selbstverständlich wurden auch Andere manchmal krank, fingen sich beispielsweise eine Zwielicht-Angina ein – da gibt es gar nichts zu lachen, schließlich ist es im Zwielicht verdammt kalt! – oder auch eine durch den starken Abfall magischer Energie nach Wirken eines Zaubers ausgelöste postmagische Depression.

Außerdem gab es ja auch noch die üblichen Krankheiten der Menschen, die er behandeln musste.

Trotzdem hatte ein Heiler zweiten Grades bei uns kaum was zu tun. Und aus purer Freundlichkeit gingen wir nicht zum Arzt.

»Tut mir leid«, unterbrach ich ihn trotzdem und stand auf. »Aber ich werde jetzt mal zu dem Mädchen gehen. Vielen Dank für den Tee … Wie sieht’s denn aus, kann die Kleine entlassen werden?«

»Selbstverständlich«, antwortete Iwan. »Wenn du möchtest, lösche ich ihre Erinnerung.«

Das war ein freundliches Angebot. Ein großzügiges. Denn niemand löscht gern Erinnerungen, noch dazu die eines so jungen Mädchens. Selbst wenn es zu ihrem eigenen Besten ist. Denn im Grunde töten wir damit etwas in einem Menschen ab.

»Danke, Iwan«, erwiderte ich. »Aber ich mache das schon selbst, ich will mich ja nicht drücken …«

Er nickte.

Auch ihm war klar, worum es hier ging.

Nachdem ich Iwan in seinem Sprechzimmer – oder wie heißt das bei Ärzten: Empfangsraum? Behandlungsraum? – allein gelassen hatte, ging ich hinüber ins Zimmer der Kranken.

Mittlerweile schlief Olja Jalowa nicht mehr. Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett und starrte auf die Tür, als erwarte sie, dass jeden Moment jemand einträte. Sofort wurde ich stutzig. Konnte sie etwa in die Zukunft blicken? Ich überprüfte ihre Aura.

Nein! Schade, aber da war nichts zu machen! Ein Mensch. Ohne die geringsten Anlagen zur Anderen.

»Hallo, Olja«, sagte ich, schnappte mir einen Stuhl und setzte mich an ihr Bett.

»Hallo«, erwiderte sie höflich.

Mir entging nicht, wie angespannt sie war, auch wenn sie versuchte, sich völlig unverkrampft zu geben.

Im Prinzip gibt es ja kaum einen friedlicheren Anblick als ein junges Mädchen, das in einem Schlafanzug steckt, der ihr eine Nummer zu groß ist.

Also, dann noch einmal: Sie war fünfzehn …

»Ich bin dein Freund«, sagte ich ihr. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. In einer halben Stunde setze ich dich in ein Taxi, das dich nach Hause bringt.«

»Ich mache mir ja auch gar keine Sorgen«, entgegnete Olja und entspannte sich. Sie war zwar höchstens ein Jahr älter als Nadjuschka, aber auf dieses Jahr kam es an, denn in ihm wurde ein Kind zum Erwachsenen.

Gut, vielleicht nicht zum Erwachsenen – aber zum Nicht-Kind auf alle Fälle.

»Erinnerst du dich noch daran, was gestern Abend passiert ist?«, fragte ich.

Sie dachte nach. Dann nickte sie.

»Ja. Ich bin …« Eine kaum merkliche Pause. »… zu jemandem zu Besuch gegangen. Und plötzlich habe ich etwas gehört … ein Geräusch. Eine Art Lied …« Ihre Augen verschleierten sich ein wenig. »Ich bin darauf zugegangen … das war in einer schmalen Gasse. Links gab es ein Geschäft, rechts einen abgezäunten Hof … dort stand der … die …«

»Das war eine Frau?«, hakte ich nach.

Normalerweise erinnern sich diejenigen, die eine Begegnung mit einem Vampir überlebt haben, zwar an den Überfall, nicht aber an den Blutsauger. Nicht einmal an das Geschlecht. Das lag an einer Art Schutzmechanismus, den die Vampire in den Jahrtausenden, die sie nun schon Jagd auf Menschen machten, entwickelt hatten.

Nur musste der Vampir beziehungsweise die Vampirin zu lange aus Olja getrunken haben, sodass er oder sie in einen Rauschzustand geriet und sich nur noch schlecht zu kontrollieren vermochte.

Das Mädchen zögerte kurz, bestätigte meine Frage dann aber.

»Ja, das war eine Frau … An ihr Gesicht erinnere ich mich nicht mehr, es war sehr mager, mit eingefallenen Wangen … Und ich glaube, sie war jung. Die Haare waren kurz und dunkel. Die Augen lagen tief in den Höhlen und waren auch dunkel. Ich bin fast wie eine Schlafwandlerin auf sie zugegangen. Dann hat sie mir ein Zeichen mit der Hand gemacht, woraufhin ich den Schal abgenommen habe. Und dann hat sie …« Olja schluckte. »… plötzlich stand sie ganz dicht neben mir. Das ging wirklich rasend schnell. Und …«

Sie verstummte. Das ließ ich ihr jedoch nicht durchgehen, denn ich brauchte Details.

Schließlich steckt der Teufel im Detail.

»Sie hat mich in den Hals gebissen und mein Blut getrunken«, fuhr Olja fort. »Lange. Dabei hat sie gezuckt und gestöhnt … und …« Abermals verstummte Olja kurz. »Und sie hat meine Brust begrapscht. Nicht wie ein Junge … aber es war trotzdem noch viel ekliger. Einmal haben eine Freundin aus dem Team und ich ein bisschen rumgemacht … nur so zum Spaß … aber das war auch irgendwie schön. Ich bin keine Lesbe, das brauchen Sie gar nicht zu denken. Wir haben bloß Spaß gemacht. Aber das gestern war widerlich. Das ist ja schließlich keine Frau, aber auch kein Mann. Sie ist überhaupt kein Mensch, sondern ein Vampir …«

Olja, dieses Geschöpf zwischen Mädchen und Frau, sah mich ernst an.

»Sie ist tot, oder?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ja«, bestätigte ich. »Nur ist das ein ganz besonderer Tod … kein endgültiger. Aber keine Bange, du verwandelst dich jetzt nicht in eine Vampirin.«

»Das hat mir der Doktor gestern Abend auch schon gesagt«, erwiderte Olja. »Und jetzt werden Sie also dafür sorgen, dass ich alles vergesse?«

Ich wollte sie nicht anlügen. Deshalb nickte ich.

»Wenn ich Sie bitten würde, mir meine Erinnerung zu lassen …«, murmelte Olja nachdenklich. »Aber nein … besser nicht. Erstens würden Sie mir meinen Wunsch eh nicht erfüllen. Und zweitens … ich will mich gar nicht daran erinnern. Ich will nicht wissen, dass es Vampire gibt.«

»Es gibt aber auch diejenigen, die sie fangen.«

»Zum Glück«, erwiderte Olja. »Trotzdem will ich mich nicht daran erinnern. Denn eine von ihnen könnte ich sowieso nicht werden, oder?«

Ich schüttelte bloß den Kopf.

»Dann will ich lieber alles vergessen«, entschied sie. »Dann will ich lieber glauben, dass ich den Abend bei einer Freundin verbracht habe.«

»Eine Frage noch«, bat ich. »Bist du ganz sicher, dass die Vampirin allein war? Da war nicht irgendwo noch ein männliches Wesen? Ein Vampir? Auch wenn er dich nicht angegriffen, sondern bloß alles beobachtet hat …«

Sie schüttelte den Kopf.

»Damit hast du mir wirklich geholfen, vielen Dank«, sagte ich. »Gut, und nun erzähl mir mal, was an dem Abend eigentlich hätte geschehen sollen.«

»Ich war auf dem Weg zu meinem Freund«, berichtete sie. »Wir wollten Sex haben. Zum ersten Mal. Er wollte mir entgegenkommen. Das hat er auch getan. Als ich dann zu der Vampirin gegangen bin, ist er mir gefolgt und hat mich gefragt, was ich da mache und wohin ich wolle … Und dann … als er sie gesehen hat … sie hat Oljeshka angelächelt, und dabei haben ihre Eckzähne gefunkelt … da hat er sich einfach umgedreht und ist weggerannt.«

Ihre Offenheit frappierte mich. So etwas erlebt man hin und wieder im Zug, wenn Fremde sich in dem Wissen, sich nach ein oder zwei gemeinsam in diesem Abteil verbrachten Tagen nie wiederzusehen, ein Gläschen genehmigen und sich alles vom Herzen reden. Ansonsten findet man diese Offenheit nur noch bei Menschen, denen klar ist, dass sie nicht mehr lange zu leben haben …

Was im Grunde ja auf das Mädchen zutraf. Die Olja Jalowa von heute würde für immer verschwinden, waren erst einmal die letzten zwölf Stunden ihres Lebens unwiderruflich aus ihrem Gedächtnis gelöscht. An ihre Stelle würde eine neue Olja treten. Die Version 1.1. Eine optimierte, ohne die bisherigen Fehler.

»Denken Sie also daran, auch seine Erinnerung zu löschen«, fuhr Olja fort. »Er soll auch vergessen, dass wir miteinander gehen. Das möchte ich übrigens auch vergessen.«

»Ist das nicht zu streng?«, hakte ich nach.

»Aber er ist abgehauen! Wissen Sie eigentlich, was das heißt?! Dass er mich im Stich gelassen hat! Mich diesem Monster zum Fraß vorgeworfen hat!«

»Olja«, sagte ich und griff nach ihrer Hand, wobei ich hoffte, dass diese Geste nicht zu theatralisch wirkte, sondern so, als wäre ich ein Freund von ihr oder ihr Vater. »Der Ruf eines Vampirs, sein Blick oder sein Geruch zwingen jeden Menschen in die Knie, mag er auch noch so stark sein. Du hattest gar keine andere Chance, als auf die Vampirin zuzugehen. Und dein Freund musste wegrennen, denn das hat sie ihm befohlen. Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich nicht, dass der Junge die Liebe deines Lebens ist, aber trotzdem solltest du nicht zu streng mit ihm sein.«

Darüber dachte sie kurz nach. Schließlich seufzte sie, allerdings, wie ich meinte, vor Erleichterung.

»Gut, dann soll er ruhig denken, dass er vor ein paar Rowdys Angst gehabt hat«, gab sie nach. »Und ich kann das auch denken. Dass wir beide weggerannt sind, aber in unterschiedliche Richtungen. Ihm kann ruhig ein bisschen peinlich sein, dass er mir nicht hinterher ist, und ich bin dann deswegen etwas sauer auf ihn. Vielleicht … eine Woche lang oder zwei …«

»Ihr Frauen, ihr seid wirkliche durchtriebene Wesen!«, platzte es aus mir heraus. »Durchtriebener als jeder Vampir!«

Daraufhin entspannte sich Olja endgültig.

»Genau!«, erwiderte sie mit breitem Grinsen. »So sind wir eben!«

»Dann schlaf jetzt«, forderte ich sie auf.

Auch dies ein Befehl, den sie umgehend ausführte.

Nachdem ich ihre Erinnerung gelöscht hatte, überließ ich sie nun Iwan. Er würde sich um sie kümmern, für ihre Kleidung sorgen, sie in ein Taxi setzen und nach Hause schicken. Nebenbei konnte er noch eine Patrouille zu Oleg schicken, damit sie auch seine Erinnerung löschte.

Danach ging ich ins Archiv.

Ein großer Teil unserer Dokumente und Unterlagen ist bereits digitalisiert. Zugriff auf diese Daten hat man ausschließlich übers Intranet, denn davon, die ins Netz zu stellen, kann natürlich keine Rede sein.

Ein noch größerer Teil der Dokumente und Unterlagen liegt aber auch heute noch in Papierform vor.

Oder als Papyrus, Pergament und sogar als Tontafel.

Geser hatte mal behauptet, dass dies der Sicherheit geschuldet sei, denn es sei wesentlich einfacher, einen materiellen Informationsträger mit einem Zauber zu schützen als … tja, als was eigentlich? Als die Gigabytes von Informationen? Terabytes? Meiner Ansicht nach hat er uns da aber einen Bären aufgebunden.

Ein großer Teil der Informationen lässt sich nämlich einfach nicht digitalisieren. Oder wenn, dann nur unter enormem Aufwand.

Nehmen wir zum Beispiel ein Hexenbuch mit Zaubersprüchen. Das ist mit dem Blut eines Kindes auf Seiten geschrieben, die aus der Haut von Jungfrauen hergestellt wurden. Zugegeben, das ist ekelhaft, aber schließlich müssen wir den Feind kennen …

Im Übrigen haben unsere Untersuchungen ergeben, dass sich statt Kinderblut genauso gut das von Greisen nehmen lässt. Oder das von erwachsenen Menschen. Sogar Schweineblut tut es. All das macht keinen Unterschied.

Nur wenn man den Zauber mit dem Blut eines Anderen schreibt, funktioniert er plötzlich nicht mehr. Das Gleiche gilt, nimmt man das Blut eines Hundes oder einer Kuh.

Hühner- und Katzenblut taugen dann allerdings wieder!

Für die Seiten muss auch nicht unbedingt die Haut einer Jungfrau herhalten, da geht auch jede andere, und selbst Pergament oder Papier sind möglich. Im Zweifelsfall klappt es sogar mit Klo- oder Schmirgelpapier. Hexen haben all diese Rezepte mit Blut, Haut, Tränen und den Körperteilen von Jungfrauen nur ersonnen, weil sie selbst in der Regel alte und hässliche Schrauben sind. Verjüngungszauber versagen bei ihnen schlicht und ergreifend, sie können bei sich lediglich Maskierungszauber einsetzen. Deshalb hassen Hexen alle schönen jungen Frauen und vergreifen sich an ihnen, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Das ist so ihre Art, mit Komplexen umzugehen …

Blut ist allerdings tatsächlich nötig. Was es eigentlich bewirkt und warum das so ist, darüber streiten unsere Wissenschaftler immer noch. Im Endeffekt heißt es aber, dass man ein Hexenbuch mit Zaubersprüchen nicht in digitale Form bringen kann, weil die Zauber sonst nicht mehr funktionieren.

Oder die Rezepte der Heiler. Das ist lichte Magie, die verzichtet natürlich auf all die Horrormomente. Zumindest in der Regel. Doch nehmen wir nur einmal unser beliebtes Rezept für ein Elixier gegen Migräne. Da werden fünf von sieben Bestandteilen nicht in geschriebener Form genannt, sondern sind durch ihren Geruch ausgewiesen! Man muss die fraglichen Seiten also beschnuppern!

Würde da bloß das Wort Vanille, Kastanienhonig oder Roggenbrot stehen, man aber nichts riechen, dann versagte das Elixier.

Der Heiler muss bei der Herstellung also wohl oder übel alle Ingredienzien erschnuppern, mag es sich dabei nun um zerstoßene Kreide, die kaum, oder um Quellwasser, das gar nicht riecht, handeln.

In dieser Frage sind sich die Wissenschaftler wenigstens einmal einig, was ja selten genug vorkommt. Ihrer Ansicht nach aktivieren die Gerüche bei uns Anderen den Hippocampus und die Schläfenlappen, was sich wiederum direkt auf den Zauber auswirkt.

Nur wie?

Dann sind da noch die magischen Artefakte. Oder Zauber, die einen haptischen Kontakt verlangen. Sicher, auch sie ließen sich beschreiben, doch der Wert einer solchen Beschreibung wäre sozusagen rein akademischer Natur.

Deshalb spuckte unsere Datenbank – und natürlich hatte ich mich zuallererst an den Rechner gesetzt – nur einen knappen Eintrag aus.

VAMPIRE, WIEDERBELEBUNG (fälschlicher Gebrauch, korrekt: ERNEUTE PSEUDOVITALISIERUNG) – ein Prozess der Wiederherstellung der Pseudolebensfähigkeit von Vampiren nach der endgültigen (➛) Verwehung, dem (➛) finalen Verscheiden oder der vollständigen physischen Auslöschung. Vgl. dazu: Csaba Oros (1732–1867), Index 097635249843 u. Amanda Randy Gru Kaspersen (* 1881), Index 325768653166.

Mit diesem Ausdruck ging ich nun also ins sechste Untergeschoss, in dem ich nach der Kontrolle durch einen Security-Posten – der schon mehr hermachte als der vorm Krankenzimmer, bestand er doch immerhin aus zwei Anderen – ins Archiv gelassen wurde.

Helen Killoran war Irin, also eine Mitarbeiterin, wie sie die Moskauer Nachtwache auch nicht alle Tage hatte. Natürlich wimmelte es bei uns von Anderen aus sämtlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Auch einen Polen hatte es zu uns verschlagen und einen Koreaner.

Obendrein kamen aus aller Welt Austauschandere zu uns. Nur blieben die eben nicht für lange, sondern verabschiedeten sich nach ein, zwei Jahren wieder.

Killoran war vor rund zehn Jahren nach Moskau gekommen. Mit ihrem schwarzen Haar erinnerte diese gelassene, pünktliche und schüchterne Frau, die nie trank, so gar nicht an eine Irin, wie sie sich die breite Masse vorstellt. Sie war eine Andere fünften Grades, und irgendeinen Ehrgeiz, das zu ändern, zeigte sie nicht. Ihre ganze Leidenschaft galt der Vergangenheit. Selbst wenn sie keine Andere gewesen wäre, hätte sie ihr ganzes Leben in Archiven zugebracht, ihre magische Begabung war für sie also nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen aus alten Dokumenten und Artefakten.

Helen Killoran tat nichts lieber, als irgendwo Ordnung reinzubringen. Deshalb fand sie bei uns in Moskau ihr Paradies auf Erden, das sie in Europa längst hätte vergeblich suchen müssen.

Oh, unsere Archive sind vorzüglich, in denen geht nichts verloren. Dort wird alles sicher verwahrt.

Über Jahrhunderte.

Nur hatte vor Killoran ein witziger, geselliger Mann dieses Archiv geleitet, dem man bloß eins vorwerfen konnte: Er fand nie etwas. Oder höchstens rein zufällig. Immerhin durfte man als Besucher stets auf eine offene Tür und eine leistungsstarke Taschenlampe hoffen, denn die Stromleitungen hier unten hatten eine Macke, sodass man in dem riesigen Raum jederzeit im Stockdunkeln dastehen konnte.

Helen hatte innerhalb eines Jahres Ordnung ins Archiv gebracht, jedenfalls soweit das überhaupt möglich war. Anschließend hatte sie sämtliche Materialien katalogisiert und klassifiziert, inklusive der noch nicht ausgewerteten, die neunzig Prozent ausmachten. Danach hatte sie Geser erklärt, dass es hier die nächsten vierzig bis fünfzig Jahre Arbeit für sie gebe, weshalb sie die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen gedächte und einen Vertrag mit der Nachtwache abschließen wollte. Geser hatte sie mit großen Augen angestarrt und erwidert, in dem Fall würde ihr die Wache als Prämie eine Wohnung gleich um die Ecke kaufen. Das hatte Helen jedoch unter der Versicherung abgelehnt, es sei nicht nötig, ihr irgendwas zu kaufen, sondern es reiche, wenn ihr die Miete bezahlt werde. Geser hatte ihr daraufhin höchst plausibel auseinandergesetzt, dass sie in einem halben Jahrhundert so viel Miete bezahlen würde, dass sie davon mehrere Wohnungen kaufen könnte, und dann von mir verlangt, ich solle Helen helfen, den ganzen Behördenkram zu erledigen.

ENDE DER LESEPROBE