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Osira lebt mit ihrem Onkel Taro im Nordwald. An einem verhängnisvollen Tag wird sie dort von Soldaten überrascht und im kaiserlichen Palast in der Hauptstadt Azoule hinter Gitter gebracht. Doch als die geheimnisvolle Nowa auftaucht und mehr über Osiras Vergangenheit zu wissen scheint als Osira selbst, gerät sie zwischen die Fronten des Kampfes um die Herrschaft im Kaiserreich. Iawis ein junger, ehrgeiziger Kämpfer ist drauf und dran, Palastaufseher zu werden. Sein Traum: Macht und Ansehen. Als ihn eine Botschaft aus seinem Heimatreich ereilt, scheint es, als hätte er die lang ersehnte Gelegenheit bekommen, sich sein Traum zu erfüllen. Doch wie hoch ist der Preis? Als sich Osiras und Iawis' Wege kreuzen, kommt die Prüfung ihres Lebens.
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Seitenzahl: 137
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Für meine ältere Schwester.
Und für alle, die meine Geschichte lesen.
Prolog
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Epilog
Noch bevor die Zeit anfing zu gehen,
fing alles an zu explodieren.
Das Alles und das Nichts.
Nichts zischte und Alles glühte.
Die ersten Funken und Gesteinsbrocken
durchmassen die Weite.
Helle Punkte in einem schwarzen Raum.
Weder Finsternis oder Dunkelheit,
noch gleissendes Licht oder Helligkeit.
Sternenstaub legte sich auf alles
und zwei Monde gingen auf.
Hell und Dunkel.
Gut und Böse.
Oder andersrum?
Mit den Monden kamen die Kaiser.
Mit den Kaisern kam die Ordnung.
Die Explosionen verstummten.
Die Hitze erkaltete,
aber die Glut verfing sich in den Haaren der Kaiser.
Glutrote Haare.
Und die Zeit begann zu gehen.
Das Pendel wankte hin und her,
die Zeiger verloren sich in der Kreisbewegung,
so rund wie die Monde.
Eine geometrische Form ohne Anfang, ohne Ende.
Und dann gab es einen Anfang.
Und irgendwann wird es ein Ende geben.
Alles hat ein Ende.
Das Alles und das Nichts.
Onkel Taro spielte stets mit dem silbernen Knauf seines Messers, wenn ihm eine Situation unangenehm war. Abschied nehmen war ihm höchst unangenehm. Doch er musste nach Halman gehen, der grössten Handelsstadt des doumanischen Reiches, um dort mit Waren aus dem Wald zu handeln.
Taro war leicht gebeugt, von gedrungener Gestalt und hatte schütteres, grau meliertes Haar. Trotz seines fortgeschrittenen Alters konnte er noch genauso flink auf Bäume klettern und zielgenau Wild erschiessen wie früher. Aber besser denn je zauberte er mit seinen Malfarben Bilder hervor. Figuren mit Augen, die einen anstarrten. Die eine solche Ausdruckskraft hatten, dass man fast gezwungen war, den Blick zu senken. So wie er es jetzt tat. Er senkte den Blick und spielte mit seinem Messerknauf. Osira starrte ihn an. Das Vogelgezwitscher war lauter und die Silberbirken, die neben der Waldhütte in den Himmel aufschossen, wirkten aufrechter, strammer als üblich.
«Mach’s gut.» Osiras Worte wurden beinahe geschluckt von der Lichtung, vom dichten Wald darum herum und von der Sommerluft.
«Du auch, meine Kleine!» Onkel Taro wandte sich zum Gehen.
«Onkel Taro!» rief Osira, rannte ihm hinterher und umarmte ihn. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und atmete seinen Duft nach Malerfarben, Regennächten und Bogenöl ein.
«Ich will nicht, dass du gehst.»
Taro strich über ihr glutrotes struppiges Haar und über ihr weisses Leinenhemd. «Meine Kleine. Ich muss. Ich muss.» Er klopfte ihr kurz auf die linke Schulter. «Das weisst du ja.»
Osira seufzte. «Na gut. Aber bring mir irgendetwas mit!» Sie grinste breit und zückte eines ihrer Messer. Wenn sie das tat, sah sie aus wie ein kleiner frecher Junge, der drauf und dran war, irgendetwas Verbotenes zu tun.
«Messer besitzt du genug!» Ihr Onkel grinste auch, dabei spannte sich sein faltiges Gesicht. Er nahm einen kleinen Schluck aus seiner Schnapsflasche,die stets an seinem Wildledergurt hing. Dann wischte er sich über den Mund, hob die Hand zum Gruss und marschierte in Richtung Norden davon.
«Und zieh dir endlich mal Schuhe an!» Osira schaute auf ihre nackten Füsse, dann winkte sie Onkel Taro hinterher, bis seine schmale Gestalt mit den Tannenstämmen verschmolz und die Vögel zu singen aufhörten.
Zum ersten Mal war Osira während des ganzen Sommers allein im Nordwald. Allein in der kleinen Hütte mitten im Dickicht. Hierher würde sich keine Menschenseele je verirren.
Nur ihren Onkel Taro und ihre Mutter Asma hatte die Flucht damals hergetrieben. Als die Mutter bei Osiras Geburt starb, war das Schicksal von Onkel Taro besiegelt. Von nun an musste er sich um Osira kümmern. Vielleicht sein Leben lang. Weshalb sie sich aber versteckt hielten und von der Menschheit abgeschottet im Nordwald wohnten, wollte Onkel Taro nicht verraten.
Osira war jetzt schon vier Kalarius alt, wobei ein Kalarius nach doumanischer Berechnung für die Zeit zwischen den Schaltjahren steht. Sie hatte den Nordwald noch nie verlassen. Onkel Taro sprach nicht gerne über seine Vergangenheit. Und wenn Osira fragte, nahm er stets einen grossen Schluck aus seiner Schnapsflasche und starrte stumm in die Ferne. Es war, als würde er sich in einem dunklen Zimmer einschliessen und die Tür verriegeln. Er gab keine Antworten. Irgendwann stellte Osira auch keine Fragen mehr.
Der Abschied von Onkel Taro tat weh. Er würde bestimmt nicht vor der zweiten Mondphase zurückkehren.
Der Weg nach Halman und zurück war weit und beschwerlich, insbesondere, da Taro zuerst alles zum Verkauf hinschleppen und später alles Gekaufte zurückschleppen musste. Auf der anderen Seite brachte der Abschied Glück. Osira war frei. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte.
Sie konnte den ganzen Tag an ihrem Lieblingsteich sitzen, wo die Trauerweiden müde ihre Äste im Wasser badeten und das Wasser so tief violett war wie ein Gewitterhimmel. Oder sie konnte tagelang durch den Wald streifen, Fährten lesen, Wild erlegen und dabei selbst Teil des Waldes werden. Vielleicht würde sie aber auch Bücher lesen, die alten Geschichtsbücher mochte sie am meisten. Diese zogen sie immer wieder in ihren Bann. Am liebsten aber kletterte sie auf die Weisstanne neben der Hütte, wo sie in schwindelerregender Höhe Zweige rausgeschnitten hatte und von wo aus sie, so oft sie konnte, beobachtete, wie die Sonnenkugel hinter den dicht bewaldeten
Hügeln unterging und die beiden Monde heraufzogen.
Osira hatte keine Freunde. Sie hatte niemanden mehr ausser Onkel Taro. Aber die Sonnenuntergänge, die Bäume, die Monde und der Teich, das waren ihre Freunde und wenn sie allein war, sprach sie mit ihnen. Wie zu Freunden.
Die Zeit war zähflüssig, wie der Saft der Bäume mit den rubbeligen Blättern. Osira konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie und Onkel Taro Löcher in die Stämme bohrten und den Saft in Eimern auffingen. Später kochten sie den Saft zu Sirup ein und er verkaufte den Sirup auf dem Markt. Er verkaufte auch getrocknetes Wildfleisch und Kräuter – und manchmal verkaufte er sogar seine Bilder.
Es gab aber Bilder, die er niemals nach Halman mitgenommen hätte, die ihm zu fest am Herzen lagen. Darunter dieses eine Bild, das Osira so fesselte und über das Onkel Taro nie etwas erzählte. Auf dem Bild war ein Mädchen zu sehen, wie aus Schnee erschaffen. Haare, die heller als das Innere der Sonne waren, gewittergraue Augen und Haut, blass wie ein einsamer Mondschimmer. Das Mädchen sah so zerbrechlich aus, so schutzlos, als könnte der kleinste Sonnenstrahl es wegschmelzen, als könnte die zärtlichste Berührung es zerbrechen.
Die Tage im Nordwald waren ausgefüllt. Die Tage waren heiss. Die Bäume spannten ihre blätterreichen Äste zu Zelten, doch die Sonne war erbarmungslos ehrgeizig. Die Sonne entdeckte jede Ritze und briet wie zum Hohn mit stärkster Hitze hindurch. Osira schützte ihre blasse Haut, damit sie nicht feuerrot wurde.
Als der Sommer in die Gänge kam und sich aufgewärmt nicht wieder vertreiben liess, wurde Osira träge und müde. Sie verzichtete auf stundenlanges Umherstreifen im Wald, mit Pfeil und Bogen gewappnet, auf jede Bewegung achtend. Sie lag am kühlsten Fleck aller glutheissen Flecken des Waldes. Ihr Atem wurde lang und flach, ihr Puls schläfrig. Das Blut, das in den Adern der Zeit floss, zähflüssig wie der Saft der Bäume. Sie lag auf dem Rücken und ihr Blick richtete sich zum Baumzelt empor. Wann würde ihr Onkel zurückkommen?
Die Hitze des Sommers erkaltete. Das Baumzelt lichtete sich, die Blätter wurden durchsichtig, beinahe glasig.
Onkel Taro war noch immer nicht zurück. Kleine, dunkle Sorgenkügelchen schwirrten in Osiras Kopf umher, dehnten sich aus und platzten. Neue, grössere und schwärzere Sorgenkügelchen kamen.
Die Blätter hielten sich mit Müh und Not an den Bäumen. Bald schon würden sie in die Tiefe gleiten. Den Kampf verlieren. Die Blätter würden einen weichen, dicken, ockerfarbenen Teppich auslegen. Während die Tannen stolz ihre Nadeln behalten würden.
Es geschah an einem dieser Spätsommertage, dass Osira von der Vergangenheit eingeholt wurde. Während der Morgenstunden hatte sie zwischen den silbernen Birkenstämmen nördlich der Flussbrücke Salbei gepflückt. Nach einiger Zeit wurde sie müde, legte sich am Ufer des Flusses aufs feuchte Moos und schlief ein.
Der Boden vibrierte und riss sie aus dem Schlaf. Kein Geräusch, das sie je gehört hatte, kein Bärengetrampel, kein Sturm, kein Donnergrollen hatte sich je so angehört. Schwer, erdrückend, als würde die Erde jeden Moment in tausend Stücke bersten.
Osira liess den Beutel mit Salbei achtlos liegen, schnappte sich ihre heissgeliebte Schaffelljacke und hetzte tiefer in den Wald hinein. Nicht nach links, nicht nach rechts schauend. Blind hätte sie sich hier zurechtgefunden. Sie wusste, wo sie sich ducken musste, wo sich eine Mulde auftat, wo die Stämme so eng standen, dass man sich durchschlängeln musste, wo der Boden matschig wurde, wo man einen Umweg um Dornen herum machen musste, wo man über einen Wassergraben springen musste, wo man sich verstecken konnte.
Sie schwang sich auf die untersten Äste einer knorrigen alten Eiche. Ihre Hände waren mit jedem Ast vertraut. Wenn sie ihn ergriff, war es, als schüttelte sie ihm zum Gruss die Hand. In grosser Hast erklomm sie Ast um Ast, wie andere Treppen steigen würden. Von Etage zu Etage.
Etwa auf halber Höhe zwischen Boden und Himmel gab es ein Loch im Stamm. Klein, feucht und eng. Sie zwängte sich hinein, presste sich gegen die Rinde. Ihr Herz pochte und fühlte sich so geschwollen an, dass sie sich wunderte, wie sie überhaupt in das Loch passte. Mit diesem Herz.
Stunden verstrichen. Vielleicht waren es auch nur Minuten. Im Nachhinein war sie sich nicht mehr sicher. Stimmen drangen an ihr Ohr. Wortfetzen, laute und leisere. Jede Muskelfaser ihres Körpers war angespannt. Die Fragen in ihrem Kopf überholten sich selbst. Osira versuchte mit grösster Anstrengung in Gedanken zusammenzusetzen, was sich hier abspielte.
Menschen. Fremde Menschen in ihrem Wald. Nicht ihre Mutter Asma, nicht Onkel Taro. Schreiende Menschen.
Sie hörte genau hin, aber sie waren zu weit entfernt. Der Klang ihrer Stimmen verirrte sich im Wald, wurde von den umstehenden Baumkronen verschluckt. Plötzlich eine Stimme. Ganz nah. Ganz laut.
«Sie ist hier! Hier oben!»
Osira fing an zu zittern und wagte nicht, hinuterzuspähen. Mit aller Kraft wünschte sie sich, unsichtbar zu werden, mit der Baumrinde zu verschmelzen oder dass das Loch im Stamm zuwachsen würde.
«Jemand soll die Leiter bringen!»
«Zu Befehl, Joman!»
Osira seufzte innerlich. Die Äste der anderen Bäume waren zu weit entfernt, als dass sie über die Baumkronen hätte entkommen können. Sobald sie das Loch im Stamm verlassen würde, um sich in den Wipfeln der Eiche zu verstecken, könnte man sie entdecken. Also presste sie sich noch tiefer in das Loch im Stamm, wagte kaum zu atmen und riss ihre Augen weit auf.
Der rhythmische Klang des Leiterkletterns schmerzte in ihren Ohren. Je mehr Klänge sie hörte, desto lauter wurden sie und desto näher kamen ihr diese furchtbaren Menschen. Die Klänge hörten auf. Sie hörte, wie sich jemand auf einen Ast schwang.
«Joman, hier oben ist nichts.»
«Such! Such überall!»
«Zu Befehl, Joman!»
«Joman, ich sehe ein Loch im Stamm.»
Osira hörte auf zu atmen.
«Untersuch es!»
«Da kann niemand drin sein! Viel zu klein und zu eng!
«Such!»
«Da! Ich hab sie, Joman! Aber sie wehrt sich.»
«Denk an das Gift!»
Alles wurde neblig. Wie in einem Traum wurde Osira von einem breiten schwarz gekleideten Hünen aus dem Loch im Stamm gezerrt. Sekunden später sah sie den Abgrund unter sich. Angst hatte sie nicht. Sie war frei von Schwindel. Wie ein kleines Kind wurde sie unter seinen muskelbeladenen Armen eingeklemmt und nach unten geschleift. Soldatenmänner. Sehr viele Soldatenmänner. Alle schwarz gekleidet und bis an die Zähne bewaffnet. Manche zu Pferd, manche zu Fuss. Ihre Augen waren kalt und hart wie Eisen. Hätte sich der Griff um ihre beiden Arme nur um einen Tausendstel gelöst, hätte Osira sich losgerissen und wäre weggerannt, hätte diese fremden Männer in ihrem Wald aus dem Hirn gebrannt.
Fremde Männer waren in ihrem Wald. Fremde Soldaten. Ihr brach der kalte Schweiss aus und der Nebel verdunkelte ihre Gedanken.
Der breite Hüne hielt sie noch immer fest und schwang sie, als wöge sie leichter als ein Herbstblatt, auf den Rücken des Pferdes. Bäuchlings wurde sie mit einem borstigen Strick über dem Rücken des Pferdes festgezurrt. Ihr wurde übel. Die Reitersoldatenmänner schwangen sich auf ihre Pferde, die anderen marschierten zu Fuss los.
Zuvorderst ritt ein Mann mit einer mondweissen Strähne in den nachtschwarzen Haaren. Das Getrappel der Pferde munkelte Wörter: Wohin – Wohin? Wohin – Wohin? Und gab sich selbst die Antwort: Dorthin – Dorthin! Dorthin – Dorthin!
Langgezogen, halb gesungen und total unverständlich waren die Worte des Sultans. Auch wenn der Dolmetscher sein Bestes gab, blieb ihm der Sinn der Worte wie von einem Schleier verhüllt.
Iawis stand kerzengerade, die Brust rausgestreckt, mit einem ausdruckslosen Blick, der irgendwo in die Ferne glitt. Glücklicherweise schnappte er den Befehl «Abtreten!» auf, hob die rechte Hand zu einem zackigen Gruss und marschierte mit langen Schritten aus dem Thronsaal.
Ein Palastwächter erwartete ihn am Ausgang und führte ihn über viele Umwege, so schien es Iawis zumindest, zu seiner Schlafstatt: Eine enge Kammer mit vier doppelstöckigen Pritschen. Der Palastwächter zeigte mit seinem dunkel behaarten Finger auf eine der schimmelnden Matratzen, und Iawis legte sein Gepäck darauf. Zeit fürs Ausruhen blieb nicht.
Er spürte immer noch alle seine Knochen. Er fühlte sich beinahe seekrank nach seinem langen Ritt. Die Reise war mühselig gewesen, die Freunde hatten ihm davon abgeraten, aber sein Ziel war ihm beständig vor Augen geblieben.
Schon sein Leben lang wollte er Oberster Melzak werden. Er war noch jung, erst fünf Kalarius alt, und hatte daher noch viel Zeit, seinen Traum wahr werden zu lassen.
Die Melzaks waren in seiner Heimat, dem Reich Douma, zuständig für die Sicherheit. Der Oberste Melzak konnte über alle Palastaufseher, Sicherheitsaufseher und das Militär bestimmen und war gleichzeitig der engste Berater des Kaisers. Er hatte Macht, Geld und Ansehen im Überfluss, war der zweithöchste Mann im ganzen Reich Douma und stand nur noch unter dem Kaiser Arka. Die einjährige Schule zum Palastaufseher in Kidan, dem Reich des Westens, war eine gute Gelegenheit, um in Douma ein höherer Melzak zu werden, denn sie war bis über die Grenzen des Reiches hinaus berüchtigt für ihre strenge Ausbildung. Nicht wenige Schüler brachen sie ab. Er würde auf alles schwören, dass er sie schaffen würde. Sie brachte ihn seinem Ziel näher. Immer näher.
Der Tagesablauf war dunkelgrau, wie die Wände in der Kammer oder der Schleimbrei morgens und abends. Aufstehen, so früh, dass die beiden Monde noch am Himmel hingen, geweckt von dem ärgerlichen Gebrüll des Kommandanten. Appell stehen auf dem kahlen Hinterhof. Fahne hissen und Nationalhymne singen bei Sonnenaufgang. Wobei Iawis immer nur die Lippen bewegte. Fassstrasse für dunklen, gestreckten Schleimbrei. Kraftübungen, die einem den Schweiss in die Augen trieben, den Körper beben und die Muskeln brennen liessen. Messerfechten mit dem Boogi, einem kurzen einschneidigen Schwert. Geländelauf mit Gewichten, bis kein Schweiss mehr aus den Poren austrat. Messerwerfen, bei Verfehlung des Ziels Kraftübungen. Fassstrasse für mittägliche Gemüsesuppe und dürre Brotfladen.
Eine halbe Stunde Erholung, bei der man wie Häftlinge bei Hofgang auf dem Hinterhof bleiben musste. Armbrust– und Bogenschiessen, bei zu vielen Verfehlungen nach dem Abendessen ein zweiter Geländelauf. Kampf zu Pferd mit dem Sihk, dem Nationalschwert von Kidan, Kraftübungen, bis man seinen eigenen Körper nicht mehr fühlte.
Bei einbrechender Nacht schliesslich Fassstrasse für dunklen, gestreckten Schleimbrei. Theoriestunden über Kampfstrategien, Landes– und Waffenkunde, bis die Augenlider bleischwer wurden und hinunterzufallen drohten. Wenige Stunden Schlaf – und die Tortur fing von vorne an.
Wenn der erste Tag für Iawis schon schlimm war, so war der zweite Tag noch schlimmer, denn die Muskeln schmerzten schon beim Aufwachen. Vom dritten Tag kaum zu sprechen. Der vierte Tag war schrecklich. Der fünfte Tag war eine Tortur. Bevor er abends, müde genug für zehn Nächte auf seine Pritsche sackte, flüsterte er in die löchrige Matratze: «Dieser Tag war der härteste. Härter als alle zuvor».
Tage und Wochen vergingen. Schmerz und Schweiss. Unerbittlich brannte die Sonne auf den Hinterhof. Ein Wunder, dass der Boden nicht unter den Füssen wegschmolz. Iawis hatte gewusst: es würde hart werden. Doch für diese Härte fand seine Zunge keine Worte. «Dieser Tag war der härteste. Härter als alle zuvor».