Die Mächte des Bösen - Nathaniel Hawthorne - E-Book

Die Mächte des Bösen E-Book

Nathaniel Hawthorne

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Abgründe, Geheimnisse und schreckliche Entdeckungen Auf einer jungen, italienischen Schönheit lastet ein »giftiger« Fluch, die Suche nach einem sagenumwobenen Edelstein nimmt ein überraschendes Ende, und für ein Hochzeitspaar läuten nur die Totenglocken. Dies und vieles mehr findet sich in Hawthornes Geschichten, die in rätselhafte Welten entführen und bis heute faszinieren. Zum Gedenktag versammelt der Band die besten Erzählungen des Schriftstellers, u.a. ›Rappaccinis Tochter‹, ›Der große Karfunkel‹, ›Lady Eleanores Schleier‹ und ›Die Totenhochzeit‹. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 255

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nathaniel Hawthorne

Die Mächte des Bösen

Unheimliche Geschichten

Übersetzt von Franz Blei

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2014

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2014 Deutscher Taschenbuch Verlag, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-42013-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14300-4

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

RAPPACINIS TOCHTER

Ein junger Mann, namens Giovanni Guasconti, kam vor langer Zeit aus Süditalien zum Studium nach Padua. Die goldenen Dukaten klangen nur spärlich in seiner Tasche, und Giovanni bezog ein hohes, düsteres Zimmer in einem alten Haus, das gut ein ehemaliger Adelspalast hätte sein können. Und in der Tat: Das Wappenschild einer längst erloschenen Familie war über dem Portal zu sehen. Der junge Fremde wußte wohl Bescheid in seines Vaterlandes größter Dichtung, und er wußte, daß Dante einen Vorfahren dieses Geschlechtes, einen Bewohner dieses Hauses vielleicht, teilhaben ließ an den unendlichen Qualen seines Infernos. Diese Beziehungen und Erinnerungen, im Verein mit der Neigung zum Weltschmerz, so natürlich bei einem jungen Menschen, der zum ersten Mal heimatlicher Vertrautheit entrissen ward, entlockten Giovanni einen tiefen Seufzer, als er sich umschaute in dem trostlosen, schlecht möblierten Raum.

»Heilige Jungfrau«, rief die alte Lisabetta, die sich, gefangen von der auffallenden Schönheit des Jünglings, freundlich mühte, das Zimmer wohnlich herzurichten, »solch ein Seufzer aus so junger Brust! Findet Ihr das alte Haus düster? Dann steckt um Himmels willen rasch den Kopf zum Fenster hinaus, und Ihr werdet ebenso hellen Sonnenschein sehen, wie Ihr ihn in Neapel zurückgelassen habt.«

Unwillkürlich tat Guasconti, wie die alte Frau ihm riet; allein, er war nicht ganz ihrer Ansicht, daß die Sonne in der Lombardei so hell schien wie im südlichen Italien. Doch sie fiel auf einen Garten unter dem Fenster und teilte ihre mütterliche Sorgfalt vielen Blumen mit, die mit außerordentlicher Liebe gepflegt erschienen.

»Gehört dieser Garten zum Hause?« fragte Giovanni.

»Gott behüte, Herr! Ja, wenn bessere Kräuter da wüchsen als jetzt«, antwortete Lisabetta. »Nein, diesen Garten bebaut Signor Giacomo Rappacini mit eigener Hand, der berühmte Arzt, von dem man doch ganz gewiß schon bis Neapel gehört hat. Man sagt, daß er Arzneien mache aus diesen Pflanzen, die machtvoll seien wie Zauberei. Ihr könnt den Herrn Doktor bald bei der Arbeit sehen und, wenn Ihr Glück habt, auch seine Tochter, wenn sie die seltsamen Gewächse pflückt, die in diesem Garten wachsen.«

Die alte Frau hatte nun am Aussehen des Zimmers ihr Möglichstes getan, empfahl den jungen Mann dem Schutze der Heiligen und ging hinaus.

Noch immer wußte Giovanni nichts Besseres zu tun, als in den Garten unter dem Fenster hinabzuschauen. Dem Anblick nach hielt er ihn für einen botanischen Garten, wie man ihn in Padua früher kannte als sonst irgendwo in Italien oder auf der ganzen Welt. Möglich auch, daß er einst der Lustgarten einer reichen Familie war, denn in der Mitte stand die Ruine eines Marmorbrunnens, in höchst kunstvoller Arbeit, aber so kläglich zertrümmert, daß keine Möglichkeit mehr bestand, den ursprünglichen Entwurf aus dem Wirrwarr der Überreste zu enträtseln. Das Wasser aber sprang und funkelte im Sonnenschein so freudig wie nur je. Ein leises Murmeln drang bis zum Fenster des Jünglings und gab ihm das Gefühl, als sei im Brunnen ein unsterblicher Geist, der sein Lied in Ewigkeiten singt und nicht achthat, was um ihn geschieht, mag ein Jahrhundert ihn in Marmor meißeln, ein anderes dies vergängliche Gewand in Splittern auf den Boden streuen. Der ganze Teich, in den das Wasser abfloß, war von verschiedenartigen Pflanzen überwuchert, die sehr viel Feuchtigkeit zu brauchen schienen, um ihre ungeheuren Blätter und üppigen Blüten zu ernähren. Ein Strauch besonders, den man mitten im Teich in eine Marmorurne gepflanzt hatte, trug eine Überfülle purpurner Blüten, jede einzelne reich und strahlend wie ein Edelstein; und von dem ganzen Busch ging ein solches Leuchten aus, daß es ausreichend schien, dem Garten Licht zu geben, auch ohne Sonnenschein. Allenthalben war der Boden mit Pflanzen und Kräutern bevölkert, die, wenn auch weniger schön, doch sorgfältigste Pflege verrieten, als hätte jede ihre besondere Tugend, um derentwillen ein gelehrter Geist sie hegte. Einige waren in reich geschnitzte alte Urnen gepflanzt, andere in schlichte Blumentöpfe. Wie Schlangen krochen sie am Boden hin, oder sie klommen hoch empor, alles benützend, was sich darbot zum Klettern. Eine Pflanze wand sich um ein Standbild des Vertumnus, der ganz verhüllt und eingeschlossen war in einem Kleid von hängendem Blattwerk, so künstlerisch geschlungen, daß es einem Bildhauer zum Modell hätte dienen können.

Während Giovanni noch am Fenster stand, hörte er hinter einer Blätterwand etwas rascheln und sah, daß jemand sich im Garten zu schaffen machte. Bald trat die Gestalt vor seinen Blick. Es war kein gewöhnlicher Arbeiter, sondern ein schlanker, hagerer, blaß und kränklich aussehender Mann in schwarzem Gelehrtengewand. Er stand jenseits der Mittelgrenze des Lebens, das Haar und der dünne Bart waren grau; sein Gesicht sprach in hohem Maße von Klugheit und Kultur, aber es hatte wohl nie, auch in jüngeren Jahren nicht, große Herzenswärme ausgedrückt.

Mit ganz unübertrefflicher Genauigkeit prüfte dieser gelehrte Gärtner jeden Strauch, an dem er vorüberkam. Er schien in das Innerste der Pflanzen zu schauen, Beobachtungen zu machen über das Wesen ihres Wachstums und festzustellen, warum ein Blatt diese Gestalt hatte, ein anderes jene, und warum die einzelnen Blumen so verschieden waren in Form und Duft. Und doch, trotz seiner eindringlichen Beobachtung, kamen sie einander nicht innerlich nahe, er und seine Pflanzenwesen. Im Gegenteil, er vermied, sie wirklich zu berühren oder ihren Duft voll einzuatmen, mit einer Vorsicht, die Giovanni höchst unangenehm berührte. Er benahm sich so, als ginge er unter bösen Gewalten einher, wilden Furien, todbringenden Schlangen, bösen Geistern, von denen ihm furchtbares Unheil drohe im kleinsten unbeherrschten Augenblick. Sonderbar angstvoll war es für den jungen Mann, diese Unsicherheit an einem Menschen zu beobachten, der einen Garten pflegt, bei dieser einfachsten und unschuldigsten aller menschlichen Beschäftigungen, die schon die Freude und Mühe unserer Ureltern vor dem Sündenfall gewesen.

Der mißtrauische Gärtner hatte seine Hände mit dicken Handschuhen geschützt, als er die toten Blätter fortnahm und das allzu üppige Wachstum der Sträucher beschnitt. Und das war noch nicht sein einziger Schutz. Als er auf seinem Weg durch den Garten zu der prächtigen Pflanze kam, deren rubinrote Blüten neben dem Marmorbrunnen wucherten, legte er eine Art Maske über Mund und Nase, als sei in all dieser Schönheit tödlichste Tücke versteckt. Doch es schien ihm immer noch zu gefährlich; er trat zurück, nahm die Maske ab und rief laut, aber mit der unsicheren Stimme eines innerlich kranken Menschen:

»Beatrice! Beatrice!«

»Da bin ich, Vater! Was wünscht Ihr?« rief eine volle, jugendfrische Stimme aus einem Fenster des gegenüberliegenden Hauses; so reich war die Stimme wie ein Sonnenuntergang in den Tropen, und Giovanni mußte unwillkürlich an tiefe purpurne oder rosenrote Farbentöne denken und an schwere, köstliche Gerüche. – »Seid Ihr im Garten?«

»Ja, Beatrice«, antwortete der Gärtner, »und ich brauche deine Hilfe.«

Bald trat aus einem geschnitzten Portal die Gestalt eines jungen Mädchens, mit so erlesenem Geschmack gekleidet wie die prächtigste der Blüten und schön wie der Tag. Überquellend von Leben, Gesundheit und Kraft sah sie aus; all dies verhalten und verdichtet, in seiner Überfülle, sozusagen eingedämmt vom Gürtel der Jungfräulichkeit. Doch Giovannis Phantasie mußte krank geworden sein vom Schauen in den Garten, denn das schöne fremde Mädchen erschien ihm selber wie eine Blume, die menschliche Schwester jener Gewächse, so schön wie sie, schöner noch als die köstlichste von ihnen – doch auch sie nur mit geschützten Fingern anzufassen, auch ihr nicht ohne Maske nahe zu kommen. Als Beatrice den Gartenpfad herabkam, konnte man beobachten, daß sie mehrere Pflanzen anfaßte, die ihr Vater sorgfältigst gemieden hatte, und auch ihren Duft einatmete.

»Sieh hier, Beatrice«, sagte der Vater, »wie vielerlei an unserem größten Schatz notwendig zu geschehen hat. Allein, hinfällig, wie ich bin, könnte ich es mit dem Leben büßen, so dicht heranzugehen wie erforderlich. Ich fürchte, von nun an muß ich dir allein die Sorge für diese Pflanze übertragen.«

»Und gern will ich sie übernehmen«, rief wieder die volle Stimme des jungen Mädchens. Es neigte sich zu der prächtigen Pflanze und tat die Arme auf, als ob es sie umfassen wolle.

Giovanni, hoch oben am Fenster, rieb sich die Augen und wußte nicht recht, ob das ein Mädchen war, das seine Lieblingsblume pflegt, oder eine Schwester, die der andern liebevollste Dienste tut. Bald aber schwand das Bild. Vielleicht hatte Doktor Rappacini seine Arbeiten im Garten beendet; vielleicht auch hatte sein wachsames Auge das Gesicht des Fremden erspäht – er nahm den Arm seiner Tochter und zog sich zurück. Schon sank die Nacht; schwüle Dünste schienen von den Pflanzen aufzusteigen und oben an dem geöffneten Fenster vorbeizuschleichen. Giovanni schloß die Läden, ging zu seinem Lager und träumte von einer prächtigen Blume und einem schönen Mädchen. Blume und Jungfrau waren zwei, und doch dasselbe, mit seltsamer Gefahr verknüpft in beiderlei Gestalt.

Doch es liegt im Morgenlicht eine Kraft, die klarzustellen sucht, wo unsere Phantasie und Urteilskraft sich täuschten beim Sonnenuntergang, in den Schatten der Nacht oder im ungesunden Schein des Mondlichts. Giovanni schreckte aus dem Schlummer empor, und seine erste Bewegung war, das Fenster aufzureißen und in den Garten hinabzustarren, den seine Träume so mit Geheimnissen bevölkert hatten. Er war erstaunt und leicht beschämt, zu finden, wie wirklich und selbstverständlich er erschien in den ersten Strahlen der Sonne, die den Tau auf Blatt und Blüte vergoldete; wenn sie auch all den seltenen Blumen noch schimmernde Schönheit verlieh, so rückte sie doch alles in die Grenzen üblicher Erfahrung zurück. Der junge Mann freute sich, daß er mitten in der kahlen Stadt das Vorrecht genoß, diese Stelle lieblichen und üppigen Wachstums zu überschauen. Freilich waren jetzt weder der kränkliche, vergrübelte Doktor Giacomo Rappacini noch seine strahlende Tochter zu sehen, so daß Giovanni nicht entscheiden konnte, wieviel von der Eigenart, die er ihnen beiden zuschrieb, ihren wirklichen Eigenschaften entsprach und wieviel davon seiner wundertätigen Phantasie entsprang. Allein, er war geneigt, die ganze Sache höchst rational anzusehen.

Im Laufe des Tages stellte er sich bei Signor Pietro Baglioni vor, Professor der Medizin an der Universität, einem Arzt von hervorragendem Rufe, an den er ein Empfehlungsschreiben mitgebracht hatte. Der Professor war ein älterer Herr, offenbar von heiterer Veranlagung und lustig in seinem Wesen. Er behielt den jungen Mann zum Mittagessen da und war höchst angenehm in seiner freien und lebhaften Unterhaltung, besonders, nachdem er sich an einer Flasche Toskanerwein erwärmt hatte. In der Annahme, daß Gelehrte, die in der gleichen Stadt wohnen, notwendigerweise auf vertrautem Fuße miteinander stehen müßten, nahm Giovanni Gelegenheit, den Namen des Doktor Rappacini zu erwähnen. Aber der Professor antwortete nicht so herzlich, wie er angenommen hatte.

»Es stünde einem Lehrer der göttlichen Kunst der Medizin schlecht an«, antwortete Professor Pietro Baglioni auf eine Frage Giovannis, »einem so ungeheuer geschickten Arzt wie Rappacini die schuldige und wohlerwogene Anerkennung vorzuenthalten. Andererseits aber könnte ich es kaum vor meinem Gewissen verantworten, einen Jüngling wie Euch, Signor Giovanni, den Sohn eines alten Freundes, in irrigen Annahmen zu belassen über einen Mann, der vielleicht noch einmal Euer Leben und Euren Tod in seinen Händen halten könnte. Die Wahrheit ist, daß unser verehrter Doktor Rappacini in der Wissenschaft so beschlagen ist wie nur irgendein Vertreter der Fakultät – vielleicht mit einer einzigen Ausnahme – in Padua oder ganz Italien. Aber gegen seine Berufsauffassung bestehen gewisse ernste Bedenken.«

»Und welche?« fragte der junge Mann.

»Hat mein Freund Giovanni irgendeine körperliche oder seelische Krankheit, weil er so eingehend nach Ärzten fragt?« sagte der Professor lächelnd. »Aber was Rappacini anbetrifft, so sagt man von ihm – und ich, der ich den Mann gut kenne, stehe dafür ein, daß es wahr ist –, daß er sich unendlich viel mehr um die Wissenschaft als um die Menschheit kümmert. Seine Patienten, die doch lebendige Wesen sind, interessieren ihn nur als Gegenstände für irgendein neues wissenschaftliches Experiment. Er würde Menschenleben opfern, auch sein eigenes, oder was ihm sonst am teuersten ist, nur um dem ungeheuren Berg seiner aufgehäuften Weisheit auch nur ein Senfkörnlein hinzuzufügen.«

»Er scheint mir wahrlich auch ein furchtbarer Mann«, bemerkte Guasconti, der sich im Geiste das von nichts als kaltem Verstand sprechende Antlitz Rappacinis wieder vorstellte. »Und doch, verehrter Professor, ist er nicht ein hervorragender Mensch? Gibt es viele, die einer so vergeistigten Liebe zur Wissenschaft fähig sind?«

»Gott behüte«, antwortete der Professor etwas starrköpfig – »es sei denn, daß man gesündere Ansichten von der Heilkunst hat, als Rappacini sie vertritt. Es ist nämlich seine Theorie, daß alle Heilkräfte in den Substanzen eingeschlossen sind, die wir pflanzliche Gifte nennen. Diese züchtet er eigenhändig, und man erzählt, daß er sogar neue Arten von Giften erzeugt habe, verderblicher als alle, mit denen die Natur ohne die Hilfe dieses Gelehrten die Menschheit jemals heimgesucht hätte. Daß der Herr Doktor mit solch gefährlichen Stoffen weniger Unheil anrichtet, als man erwarten sollte, läßt sich nicht leugnen. Ab und zu, das muß man zugeben, hat er oder scheint er eine wunderbare Heilung bewirkt zu haben. Aber wenn ich meine persönliche Meinung sagen soll, Signor Giovanni, man sollte ihm solche Fälle des Erfolges nicht hoch anrechnen, da er sie wahrscheinlich dem Zufall dankt, für die Fehlschläge jedoch sollte man ihn ernsthaft verantwortlich machen, denn die kann man mit Recht als sein eigenes Werk ansehen.«

Der Jüngling hätte Baglionis Ansichten mit mancherlei Einschränkung aufgenommen, hätte er gewußt, daß zwischen ihm und Rappacini ein langer beruflicher Zwist bestand, in dem der letztere nach allgemeiner Ansicht Sieger blieb.

»Ich weiß nicht, gelehrter Herr Professor«, entgegnete Giovanni, nachdem er eine Zeitlang über das nachgedacht hatte, was von Rappacinis ausschließlichem Eifer für die Wissenschaft gesagt worden war – »ich weiß nicht, bis zu welchem Grade dieser Arzt seine Kunst liebt; aber sicher gibt es etwas, was ihm noch teurer ist. Er hat eine Tochter.«

»Aha!« rief der Professor und lachte. »So, nun ist Freund Giovannis Geheimnis entdeckt. Ihr habt von dieser Tochter gehört, in die alle jungen Männer von Padua vernarrt sind, obwohl noch nicht ein halbes Dutzend jemals so glücklich war, ihr Gesicht zu sehen. Ich weiß wenig von Fräulein Beatrice, außer daß Rappacini sie tief in seine Wissenschaft eingeweiht hat und daß sie, trotz der Jugend und Schönheit, die man ihr nachrühmt, schon imstande wäre, einen Lehrstuhl auszufüllen. Vielleicht hat ihr Vater sie für meinen vorgesehen! Es gehen noch andere sonderbare Gerüchte, die aber kein Gehör oder Weitererzählen verdienen. So, Signor Giovanni, nun trinkt aber Euer Glas Lacrimae aus!«

Etwas erhitzt vom Wein, kehrte Guasconti in seine Wohnung zurück, und seltsame Phantasien über Rappacini und die schöne Beatrice schwammen durch sein Hirn. Als er unterwegs zufällig an einem Blumenladen vorbeikam, kaufte er einen frischen Strauß.

Er stieg in sein Zimmer hinauf und setzte sich ans Fenster, aber in den Schatten der dicken Mauer, so daß er ohne große Gefahr, entdeckt zu werden, in den Garten hinabschauen konnte. Unter seinen Augen lag nichts als Einsamkeit. Die seltsamen Pflanzen badeten im Sonnenschein und nickten einander von Zeit zu Zeit freundlich zu, wie um sich Liebe und Zusammengehörigkeit zu beweisen. In der Mitte, bei dem eingestürzten Brunnen, wuchs der prächtige Strauch, ganz übersät von purpurnen Edelsteinen. Sie glühten in der Luft und glänzten aus der Tiefe des Teiches zurück, der so überzuquellen schien von farbigem Schimmer, in den er getaucht war. Zuerst war der Garten einsam. Bald jedoch – wie Giovanni halb gehofft und halb gefürchtet hatte – erschien eine Gestalt unter dem alten geschnitzten Portal und kam durch die Reihen der Blumen herabgeschritten, ihre verschiedenen Düfte atmend, wie eines jener klassischen Fabelwesen, die von süßen Wohlgerüchen lebten. Beim erneuten Anblick Beatrices erschrak der junge Mann fast, als er bemerkte, wie weit ihre Schönheit seine Erinnerung daran noch übertraf; so glänzend war sie, so lebhaft in ihrer Eigenart, daß sie mitten im Sonnenlicht noch glühte und, wie Giovanni leise bei sich sagte, tatsächlich die schattigeren Teile des Gartenpfades erleuchtete. Jetzt war ihr Gesicht weniger verhüllt als bei der früheren Gelegenheit, und er erstaunte über seinen schlichten und lieblichen Ausdruck, etwas, was er sich nicht in ihrem Charakter vorgestellt hatte, und er fragte sich wieder, was für ein Lebewesen sie eigentlich sei. Auch fehlte wieder die Beobachtung oder Einbildung nicht, daß eine Ähnlichkeit bestand zwischen dem schönen Mädchen und dem üppigen Strauch, der seine edlen Blüten über den Brunnen hängen ließ – eine Ähnlichkeit, die Beatrice in phantastischer Laune noch mit Absicht zu erhöhen schien durch die Anordnung ihres Gewandes und die Wahl seiner Farben.

Als sie sich dem Strauch näherte, öffnete sie die Arme, wie in leidenschaftlicher Liebe, und zog seine Zweige in enger Umarmung an sich, so eng, daß ihr Gesicht in seinen Blätterherzen sich versteckte und ihre glänzenden Locken sich ganz mit seinen Blüten mischten.

»Gib mir deinen Odem, Schwester«, rief Beatrice, »denn ich bin schwach von der gemeinen Luft. Und gib mir diese Blüte, die ich mit zartesten Fingern von deinem Stamme löse und dicht an meinem Herzen berge.«

Mit diesen Worten pflückte Rappacinis schöne Tochter eine der reichsten Blüten des Strauches und wollte sie an ihrer Brust befestigen. Doch jetzt geschah etwas Sonderbares, wenn nicht der Wein Giovannis Sinne verwirrt hatte. Ein kleines orangefarbenes Tier, eine Eidechse oder ein Chamäleon, kroch zufällig gerade vor ihren Füßen über den Weg. Es schien Giovanni – aber aus der Entfernung, von der er herabschaute, hätte er kaum etwas so Winziges beobachten können –, es schien ihm jedoch so, als seien ein oder zwei feuchte Tropfen aus dem verwundeten Stamm auf den Kopf der Eidechse gefallen. Einen Augenblick lang wand sich das Reptil krampfartig, dann lag es bewegungslos im Sonnenschein. Beatrice bemerkte die auffallende Erscheinung und bekreuzigte sich, auch zögerte sie nicht, die verhängnisvolle Blume vor die Brust zu stecken. Dort erglühte sie und schimmerte fast so blendend wie ein Edelstein. Sie verlieh ihrer Kleidung und der ganzen Erscheinung den einzigen passenden Reiz, den sonst nichts in der Welt hätte verleihen können. Aber Giovanni beugte sich aus dem Schatten des Fensters vor, schrak zurück, sprach irre Worte und zitterte.

»Wache ich? Bin ich bei Sinnen?« sagte er zu sich selber. »Was ist dieses Wesen? – Soll ich sie schön nennen – oder unaussprechlich furchtbar?«

Lässig durch den Garten streifend, kam Beatrice nun dichter unter Giovannis Fenster, so daß er den Kopf ganz aus seinem Versteck vorstrecken mußte, um der großen, schmerzenden Neugier zu genügen, die sie erregte. In diesem Augenblick kam ein schönes Insekt über die Gartenmauer herüber. Vielleicht hatte es die Stadt durchflogen und keine Blüten und kein Grün an diesen alten Stätten der Menschheit gefunden, bis der schwere Duft von Doktor Rappacinis Sträuchern es von weit her herangelockt hatte. Ohne sich auf die Blumen zu senken, schien dies geflügelte Glänzen von Beatrice angezogen, zauderte in der Luft und umflatterte ihr Haupt. Nun mußten aber Giovanni Guascontis Augen wirklich trügen. Wie dem auch sei, er glaubte zu sehen, wie das Insekt, von Beatrice mit kindlichem Entzücken bestaunt, matt wurde und zu ihren Füßen niederfiel – seine schimmernden Flügel erzitterten – dann war es tot – aus keinem wahrnehmbaren Grund, wenn es nicht ihr eigener Odem war. Wieder schlug Beatrice ein Kreuz und seufzte tief, als sie sich über das tote Tier neigte.

Eine plötzliche Bewegung Giovannis lenkte ihre Augen nach dem Fenster. Dort erblickte sie den schönen Kopf des Jünglings – mehr ein griechischer als ein italienischer Kopf, mit hübschen, regelmäßigen Zügen und einem goldenen Schimmer über den Locken. Er starrte auf sie herab, wie ein Wesen, das frei in der Luft schwebte. Kaum wissend, was er tat, warf Giovanni den Strauß hinab, den er bisher in der Hand gehalten.

»Fräulein«, sagte er, »dies sind reine und gesunde Blüten. Tragt sie um Giovanni Guascontis willen!«

»Ich danke Euch, Herr«, erwiderte Beatrice mit ihrer vollen Stimme, die wie ein Strom von Musik aus ihr hervorquoll, und mit heiterem Ausdruck, halb kindlich und halb frauenhaft. »Ich nehme Eure Gabe an und möchte sie gerne mit dieser köstlichen Purpurblüte lohnen, aber wenn ich sie auch hinaufwerfe, sie wird Euch nicht erreichen. So muß sich Signor Guasconti mit meinem Dank allein begnügen.«

Sie hob den Strauß vom Boden auf, und dann, als schäme sie sich innerlich, aus ihrer mädchenhaften Scheu herausgetreten zu sein, um dem Gruß eines Fremden zu antworten, eilte sie rasch durch den Garten heimwärts. Aber so kurz die Augenblicke auch waren, es kam Giovanni so vor, als finge sein schöner Blumenstrauß in ihrer Hand bereits zu welken an, als sie gerade unter dem geschnitzten Portal verschwand. Es war eine müßige Einbildung, denn es war nicht möglich, aus so großer Entfernung eine welke Blume von einer frischen zu unterscheiden.

Viele Tage lang nach diesem Zwischenfall mied der junge Mann das Fenster, das in Doktor Rappacinis Garten blickte, als ob etwas Häßliches und Ungeheuerliches sein Augenlicht mit giftigem Hauch bedrohe, sobald er sich nur zu einem Blick verleiten ließ. Er war sich bewußt, durch die Verbindung, die er mit Beatrice angesponnen hatte, sich bis zu gewissem Grade unter den Einfluß einer unbegreiflichen Macht begeben zu haben. Das klügste wäre gewesen, hätte sein Herz wirklich in Gefahr gestanden, seine Wohnung und ganz Padua sofort zu verlassen; fast so klug, sich so gut wie möglich an den vertrauten Anblick Beatrices im hellen Tageslicht zu gewöhnen und sie so streng und planmäßig in die Grenzen allgemeiner Erfahrung zu rücken. Am allerwenigsten aber hätte Giovanni diesem ungewöhnlichen Wesen so nahe bleiben sollen, ohne es zu sehen, weil die Nähe und sogar die Möglichkeit der Unterredung, den wilden Einfällen, die seine Phantasie unaufhörlich jagten, eine Art Faßbarkeit und Wirklichkeit verliehen. Guasconti war keine tiefe Natur – jedenfalls ließ sich die Tiefe noch nicht ermessen –, aber er hatte eine lebendige Phantasie und heißes südliches Temperament, das ihn von Minute zu Minute in einen höheren Fiebergrad steigerte. Ob Beatrice nun wirklich diese schrecklichen Eigenschaften besaß oder nicht – jenen todbringenden Atem, die Verwandtschaft mit den schönen, verhängnisvollen Blumen –, was sich alles aus Giovannis Beobachtungen ergab, jedenfalls hatte sie ihm ein heftiges und tückisches Gift eingeflößt. Es war nicht Liebe, wenn auch ihre reiche Schönheit ihn toll machte; auch Entsetzen war es nicht, selbst wenn er sich vorstellte, daß ihr Geist ebenso verderblich durchsetzt war, wie ihr Körper es schien. Liebe und Entsetzen hatten gleichen Teil daran; es brannte wie die eine und machte zittern wie das andere. Giovanni wußte nicht, was er zu fürchten hatte. Noch weniger wußte er, was er hoffen durfte. Doch Furcht und Hoffnung stritten in seiner Brust, besiegten einander und standen wieder auf zu neuem Streit. Gesegnet seien alle einfachen Gefühle, düstere und helle! Das geisterhafte Gemisch aus beiden läßt die lodernde Flamme des Infernos entstehen.

Manchmal versuchte er, das Fieber seines Geistes durch ein rasches Gehen in den Straßen von Padua zu dämpfen. Seine Tritte gingen im Takt mit dem hämmernden Klopfen im Gehirn, so daß der Spaziergang zu wildem Jagen wurde. Eines Tages fühlte er sich plötzlich aufgehalten. Sein Arm wurde von einem stattlichen Mann erfaßt, der umgekehrt war, als er den Jüngling erkannte und ihn nun keuchend eingeholt hatte.

»Signor Giovanni! Halt, junger Freund!« rief er. »Habt Ihr mich vergessen? Das könnte wohl angehen, wenn ich mich ebenso verändert hätte wie Ihr.«

Es war Baglioni, den Giovanni seit der ersten Begegnung gemieden hatte, aus Furcht, die Klugheit des Professors möchte zu tief in seine Geheimnisse dringen. Er versuchte, sich zu fassen; verwirrt trat er aus der Welt seines Innern in die Außenwelt hinaus und sprach wie im Traum.

»Ja, ich bin Giovanni Guasconti. Und Ihr seid Professor Pietro Baglioni. Nun laßt mich weiter!«

»Noch nicht – noch nicht, Giovanni Guasconti«, sagte der Professor lächelnd; aber zugleich schaute er mit ernstem, forschendem Blick den Jüngling an. »Wie, bin ich mit Eurem Vater gemeinsam aufgewachsen, und sein Sohn soll wie ein Fremder in diesen alten Gassen von Padua an mir vorübergehen? Bleibt stehen, Signor Giovanni, wir müssen ein paar Worte wechseln, bevor wir uns trennen.«

»Dann aber schnell, sehr verehrter Professor, schnell!« sagte Giovanni. »Sehr Ihr nicht, daß ich in Eile bin?«

Während er noch sprach, kam ein schwarzgekleideter Herr die Straße entlang. Er ging gebückt und bewegte sich mühsam wie ein kranker Mensch. Sein Gesicht war von gelber, kränklicher Blässe überzogen; doch der Ausdruck durchdringender, lebhafter Klugheit beherrschte es so stark, daß ein Beschauer leicht das rein Physische übersehen und nur die wunderbare Energie bestaunen konnte. Im Vorübergehen wechselte er einen kühlen, zurückhaltenden Gruß mit Baglioni, heftete aber mit solcher Eindringlichkeit den Blick auf Giovanni, daß er alles aus ihm hervorzuholen schien, was der Beachtung wert war. Trotzdem lag eine merkwürdige Ruhe in dem Blick, als nehme er nur wissenschaftliches und kein menschliches Interesse an dem jungen Mann.

»Das ist Doktor Rappacini!« flüsterte der Professor, als der Fremde vorüber war. »Hat er Euer Gesicht schon einmal gesehen?«

»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Giovanni, der bei dem Namen zusammenschrak.

»Er hat Euch sicher gesehen! Er muß Euch gesehen haben!« sagte Baglioni hastig. »Zu irgendeinem Zweck beobachtet Euch dieser Gelehrte! Ich kenne diesen Blick: Es ist der gleiche, der kalt in seinen Augen leuchtet, wenn er sich über einen Vogel, eine Maus oder einen Schmetterling neigt, die er um irgendeines Versuches willen mit dem Duft einer Blume getötet hat – ein Blick, so tief wie die Natur, doch ohne ihre wärmende Liebe. Signor Giovanni, ich setze mein Leben zum Pfand, Ihr seid der Gegenstand eines Versuches für Rappacini!«

»Wollt Ihr mich zum Narren halten?« rief Giovanni wild. »Das, Herr Professor, wäre ein unangebrachtes Experiment.«

»Geduld, Geduld«, erwiderte der unerschütterliche Professor. »Ich versichere Euch, mein armer Giovanni, Rappacini hat ein wissenschaftliches Interesse an Euch. Ihr seid in furchtbare Hände geraten! Und die Signora Beatrice? Welche Rolle spielt sie in dem Geheimnis?«

Aber hier lief Guasconti, der Baglionis Hartnäckigkeit unerträglich fand, davon und war fort, bevor der Professor seinen Ärmel wieder fassen konnte. Er blickte aufmerksam hinter dem jungen Mann her und schüttelte das Haupt.

›Das darf nicht geschehen‹, sagte Baglioni zu sich selber. ›Der Junge ist der Sohn meines alten Freundes, und er soll keinen Schaden nehmen, vor dem ihn die Geheimnisse der ärztlichen Wissenschaft bewahren können. Außerdem ist es eine unausstehliche Anmaßung von Rappacini, mir den Burschen einfach wegzuschnappen und für seine verdammten Experimente zu gebrauchen. Und diese Tochter! Ich werde aufpassen. Wer weiß, hochgelehrter Rappacini, vielleicht fasse ich Euch, wo Ihr es Euch nicht träumen laßt.‹

Inzwischen hatte Giovanni einen weiten Umweg gemacht und sah sich schließlich vor der Tür seiner Wohnung. Auf der Schwelle traf er auf die alte Lisabetta, die übers ganze Gesicht schmunzelte und offenbar seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte; umsonst jedoch, denn der Aufruhr seiner Empfindungen war plötzlich einer kalten, dumpfen Leere gewichen. Er wandte die Augen voll auf das welke Gesicht, das sich zu einem Lächeln verzog, aber er schien es nicht zu sehen. Da faßte ihn die Alte am Mantel.

»Herr! – Herr!« flüsterte sie und grinste noch immer von einem Ohr bis zum andern – es sah fast aus wie ein alter, in Jahrhunderten gedunkelter Holzschnitt. »Hört nur, Herr! Es gibt einen geheimen Eingang in den Garten!«

»Was sagt Ihr da?« rief Giovanni und fuhr rasch herum, als ob ein lebloses Wesen zu fieberhaftem Leben aufwache. »Ein geheimer Eingang zu Doktor Rappacinis Garten?«

»Pst! Nicht so laut!« flüsterte Lisabetta und legte ihm die Hand auf den Mund. »Ja, in den Garten des verehrten Doktors, wo Ihr all die schönen Gewächse sehen könnt. Mancher junge Mann in Padua würde es mit Gold bezahlen, zu diesen Blumen eingelassen zu werden.«

Giovanni legte ihr ein Goldstück in die Hand.

»Zeigt mir den Weg«, sagte er.

Ein Argwohn durchkreuzte sein Hirn, wahrscheinlich durch seine Unterhaltung mit Baglioni hervorgerufen, daß diese Einmischung der alten Lisabetta irgendwie im Zusammenhang stehen könnte mit der unbekannten Intrige, in die ihn Doktor Rappacini nach der Meinung des Professors scheinbar verwickeln wollte. Aber solcher Verdacht, wenn er ihn auch störte, konnte ihn doch nicht zurückhalten. Sofort nachdem er nur eine Möglichkeit sah, sich Beatrice zu nähern, erschien ihm dies als unbedingte Lebensnotwendigkeit. Es galt ganz gleich, ob sie ein Engel war oder ein Dämon, er stand unwiderruflich in ihrem Bann und mußte dem Gesetz gehorchen, das ihn vorwärtstrieb, in immer engeren Zirkeln zu einem Ziel, das er sich nicht auszumalen versuchte. Und doch – wie seltsam – kam ihm ein plötzlicher Zweifel, ob dieses brennende Interesse seinerseits auch keine Täuschung sei, ob es wirklich so bedingungslos und tief sei, daß es ihn dazu berechtigte, sich jetzt in eine unberechenbare Situation zu stürzen, ob es nicht nur die Schwärmerei eines jugendlichen Hirnes sei und wenig oder gar nichts mit dem Herzen zu tun habe!

Er blieb stehen, zögerte, wandte sich halb um, dann ging er weiter. Seine alte Führerin leitete ihn durch mehrere dunkle Gänge und schloß zuletzt eine Tür auf. Als sie offen war, hörte und sah man raschelnde Blätter, durch die gebrochenes Sonnenlicht schimmerte. Giovanni trat hinaus, bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp eines Busches, der mit seinen Ranken den versteckten Eingang versperrte, und stand unter seinem eigenen Fenster, frei in Doktor Rappacinis Garten.

Wie oft ist es so: Wenn Unmöglichkeiten aufgehört haben, wenn nebelhafte Träume sich zu greifbarer Wirklichkeit verdichtet haben, dann sind wir ganz ruhig, fast kalt und beherrscht in Umständen, deren bloße Vorstellung uns sonst vor Freude oder Schmerz rasend gemacht hätte. Das Schicksal liebt es, so mit uns zu spielen. Die Leidenschaft wählt sich die Zeit nach eigenem Willen, auf der Bühne zu erscheinen; sie zögert träge im Hintergrund, selbst wenn die günstigsten Ereignisse zusammentreffen und ihr Auftreten zu fordern scheinen. So erging es Giovanni jetzt. Tag für Tag hatte sein Blut fieberhaft gepocht bei der unwahrscheinlichen Vorstellung, mit Beatrice zusammenzutreffen, Aug’ in Auge ihr gegenüber, in diesem Garten hier, im südlichen Sonnenschein ihrer Schönheit zu versinken, aus ihrem offenen Blick das Geheimnis zu schöpfen, das ihm das Rätsel seines eigenen Lebens schien. Doch jetzt fühlte er einen merkwürdigen, unangebrachten Gleichmut in seiner Brust. Er ließ seinen Blick durch den Garten gehen, um festzustellen, ob Beatrice oder ihr Vater da seien. Als er sich allein sah, begann er eine kritische Beobachtung der Pflanzen.