Die Mädchen. Roman - Brigitte Helbling - E-Book

Die Mädchen. Roman E-Book

Brigitte Helbling

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Beschreibung

Über das Buch Zürich Ende der 1970er. Vier 17-Jährige sind verschwunden, alle vier waren Schülerinnen am städtischen Mädchengymnasium. Wurden sie entführt? Sind sie verunfallt? Haben sie sich einer revolutionären Bewegung angeschlossen? Ein Polizist ermittelt. Eltern sorgen sich. Ein jüngerer Bruder wird zum Detektiv, ein Schriftsteller sucht Material für seinen nächsten Roman, und ein Lehrer verzweifelt an seinem Beruf. Nur die Klassenkameradinnen, eine enge Gemeinschaft, scheinen mehr zu wissen, als sie zugeben wollen. Vor allem um sie kreist die Erzählung. Wer weg ist, ist weg. Was aber bedeutet das für diejenigen, die zurückgelassen werden? Vielleicht handelt der Roman von einer bestimmten Stadt in einer bestimmten Zeit. Ganz sicher aber handelt er von Mädchen in einem Alter, in dem alles möglich scheint - und von dem, was passiert, wenn einige beschließen, dieser Verheißung zu folgen.

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Seitenzahl: 316

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Über das Buch

Zürich Ende der 1970er. Vier 17-Jährige sind verschwunden, alle vier waren Schülerinnen am städtischen Mädchengymnasium. Wurden sie entführt? Sind sie verunfallt? Haben sie sich einer revolutionären Bewegung angeschlossen? Ein Polizist ermittelt. Eltern sorgen sich. Ein jüngerer Bruder wird zum Detektiv, ein Schriftsteller sucht Material für seinen nächsten Roman, und ein Lehrer verzweifelt an seinem Beruf. Nur die Klassenkameradinnen, eine enge Gemeinschaft, scheinen mehr zu wissen, als sie zugeben wollen. Vor allem um sie kreist die Erzählung. Wer weg ist, ist weg. Was aber bedeutet das für diejenigen, die zurückgelassen werden?

Vielleicht handelt der Roman von einer bestimmten Stadt in einer bestimmten Zeit. Ganz sicher aber handelt er von Mädchen in einem Alter, in dem alles möglich scheint – und von dem, was passiert, wenn einige beschließen, dieser Verheißung zu folgen.

Über die Autorin

Brigitte Helbling

Die Mädchen

Roman

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Jan Karsten

eBook-Cover: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 01.05.2015

ISBN 978-3-944818-92-4

Inhaltsverzeichnis

TEIL 1
Vor dem Sommer
Robert Kern denkt nach
Schwarzenbach bekommt Besuch
Rachel Rohr weiß auch nicht mehr
Schwarzenbach sucht den Rattenfänger
Bachmann fährt
ZWISCHENSPIEL I
Lili unterwegs
TEIL 2
Nach dem Sommer
Doppelstunde mit Rimbaud
Was mit Walter Schmidlin war
Wie Kern Walti kennenlernte
Da und dort in der Kantine
Immer schön unauffällig bleiben
Verabredung beim Volleyball
Kern dreht gleich durch
Walti schläft auch nicht besonders
Vom reinen Elend
Robin taucht ab
Walter Schmidlin kriegt Besuch
Die Ausstellung des Malerfreundes
Robin das Wunderkind
ZWISCHENSPIEL II
La Palma
TEIL 3
Später
Zeitraffer
Robin und das Klassentreffen

TEIL 1

VOR DEM SOMMER

Um einen Hackbraten (Rôti haché ménagère) zuzubereiten, weicht man zwei oder drei Scheiben Brot ohne Kruste in warmem Wasser ein und dünstet dann Petersilie und eine kleine, fein gehackte Zwiebel bei geringer Temperatur in etwas Butter an. Die gut ausgedrückte Brotmasse kommt ebenfalls in die Bratpfanne, wo die Zutaten so lange miteinander gewendet werden, bis sie einen klumpigen Kloß bilden. Der ausgekühlte Brotkloß wird mit einem gehäuften Esslöffel Mehl, einem Ei, etwas Salz, Pfeffer, Curry und Muskat zum Fleischhack gegeben und ungefähr zehn Minuten lang von Hand durchgeknetet, danach auf einem mit Paniermehl bestreuten Brett zu einem länglichen Braten geformt, in eine ofenfeste Form gelegt und mit Speckscheiben bedeckt. Die Garnitur (besteckte Zwiebeln, Knoblauch, gelbe Rüben und Knollensellerie) dazugeben und unter häufigem Begießen fünfundvierzig Minuten im Backofen schmoren lassen.

Tage, an denen es bei Familie Ziegler Hackbraten gab, waren Festtage. Das kleine Haus füllte sich mit dem Duft von garendem Fleisch, auf dem Tisch lag das rot-weiß karierte Tischtuch, das Vater Ziegler besonders mochte. War der Braten einmal im Ofen, verarbeitete Mutter Ziegler die vorgekochten Kartoffeln zu Kartoffelbrei, was nicht lange dauerte und viel besser schmeckte als aus der Packung. Oft übernahm auch Helene diese Aufgabe, während ihre Mutter sich um Salat und Sauce kümmerte. An Abenden mit Hackbraten deckte der elfjährige Robin ohne Aufforderung den Tisch. David, der schon studierte, erschien irgendwann in der Küchentür, um zu fragen, ob noch etwas aus dem Keller zu holen sei. Selbst der alte Familienschnauzer wirkte lebhafter als sonst. Einzig Ziegler, der Physiklehrer war, blieb in seinem Arbeitszimmer unterm Dach und korrigierte Hefte, bis ein Klopfen an der Tür ihm bedeutete, dass das Essen fertig war. Diese Zurückhaltung war er sich als Respektsperson des Hauses schuldig, aber es war nicht so, dass er an solchen Abenden das Klopfen nicht ungeduldiger als sonst herbeisehnte.

An diesem Dienstagabend schien sich Helene jedoch verspätet zu haben. Robin übernahm es, die Kartoffeln mit dem Kartoffelstampfer zu zerstampfen und anschließend mit Milch, Sahne und Butter auf kleiner Flamme zu einem luftigen Brei zu schlagen. Die Schürze seiner Mutter ging ihm bis zu den Turnschuhen, was den zwanzigjährigen David zu einigem Spott veranlasste, aber insgeheim war Robin stolz darauf, wie gut ihm der Kartoffelbrei gelungen war. Genauso gut wie bei deiner Schwester, lobte seine Mutter. Es wurde Zeit, den Vater zu holen. Helene war noch immer nicht da. War sie in der Schule aufgehalten worden? Normalerweise rief sie in einem solchen Fall an, doch bis jetzt war kein Anruf gekommen. Die Familie setzte sich an den Tisch. Der Vater wünschte einen guten Appetit. Es wäre schade gewesen, das Essen kalt werden zu lassen.

David dachte sich nicht viel dabei, als er im Laufe der Mahlzeit von einem Freund erzählte, der vor einigen Tagen einen Fahrradunfall gehabt hatte und im Krankenhaus lag. Robin dagegen nicht, dass seine Mutter blass geworden war. Idiot, flüsterte er und trat dem Großen unterm Tisch gegen das Schienbein. Der wollte schon zurücktreten, ließ es dann aber bleiben. In den Augen der Mutter standen Tränen. Helene fuhr seit kurzem mit dem Fahrrad zur Schule. Auf der Alten Landstraße gab es eine schnurgerade Strecke, wo die Autofahrer gern Gas gaben.

Vielleicht ist das Fahrrad platt, beruhigte Herr Ziegler seine Frau. Wenn sie es schiebt, dann wird sie eine Weile brauchen.

Oder sie hat den Zug genommen, schlug Robin vor, und David nickte: Wenn sie vernünftig ist, dann hat sie das getan. Er selbst hätte auf die Vernunft seiner Schwester, selbst wenn sie schon siebzehn war, nicht gewettet.

Von draußen kam jetzt das Quietschen einer schlecht geölten Fahrradkette. Frau Ziegler sprang auf und rannte zur Haustür. Die drei am Tisch hörten, wie sie mit jemandem sprach. Der Junge von den Webers, sagte sie, als sie wieder hereinkam. Er fährt denselben Weg wie Helene, aber er sagt, er habe sie nicht gesehen. Sie setzte sich gar nicht mehr an den Tisch, sondern verschwand ins Wohnzimmer nebenan, zum Telefon beim Sofa. Mit einem kleinen Seufzer aß Ziegler die letzten Bissen auf seinem Teller und folgte ihr.

Die beiden Brüder wechselten einen Blick. Dann machten sie sich über die Reste des Hackbratens her.

Im Wohnzimmer hatte Helenes Mutter inzwischen bei Beatrice angerufen. Dort ging keiner ans Telefon, natürlich, die Eltern sind am Wochenende weggefahren, irgendeine Konferenz, sagte sie zu ihrem Mann. Beatrice hatte davon erzählt. Vielleicht wusste Lili etwas? Auch da ging keiner ran. Um diese Zeit saßen Schweizer Familien beim Abendessen. Manche ließen das Telefon einfach klingeln. Es galt als ungehörig, zwischen sechs und acht anzurufen, genauso wie nach zehn, wenn viele schon dabei waren, ins Bett zu gehen. Morgens dagegen konnte man ab acht problemlos den Hörer zur Hand nehmen, da anständige Leute spätestens um sieben Uhr wach waren.

Wir versuchen es nachher noch einmal, schlug Ziegler vor.

Yvonne, fiel seiner Frau ein. Yvonne weiß bestimmt, wo sie ist. Die beiden bereiten doch zusammen eine Arbeit für Geschichte vor. Der Vater ist Sekundarschullehrer, der wird das Telefon nicht einfach klingeln lassen, und das hier ist ein Notfall.

Bei Yvonne nahm tatsächlich der Vater ab, und Frau Ziegler entschuldigte sich, weil sie zur Essenszeit anrief. Er gab den Hörer an Yvonne weiter. Ich habe sie heute gar nicht in der Schule gesehen, sagte Yvonne. Ich dachte, sie ist vielleicht krank? Im Moment sind so viele krank.

Doch Helene war nicht krank. Helene war zur üblichen Zeit aufgebrochen, kurz vor halb acht. Sie war in Eile gewesen und hatte das Frühstück ausgelassen. Ihre Mutter hatte sie gar nicht gesehen, sie war oben beim Jüngsten gewesen, der an diesem Morgen nicht aus dem Bett wollte.

Wir hatten heute nur drei Stunden, erklärte Yvonne.

Tut mir leid, dass wir Ihnen nicht weiterhelfen können, schaltete sich Yvonnes Vater ein, der den Hörer wieder übernommen hatte. Im Hintergrund hörte man Essensgeräusche und eine weibliche Stimme, die etwas rief.

Grüße von meiner Frau, ich hoffe, Helene meldet sich bald.

Frau Ziegler bedankte sich und legte kopfschüttelnd auf.

Schwänzen sah Helene gar nicht ähnlich. Vermutlich gab es einen guten Grund – bestimmt gab es einen guten Grund, warum sie nicht zur Schule gegangen war.

Vielleicht ist sie ja entführt worden, schlug Robin vor, der in der Tür stand und mitgehört hatte.

Dummes Zeug, fuhr ihn sein Vater an. Räum lieber den Tisch ab, statt Blödsinn zu reden. Der Junge drehte sich um und ging ins Esszimmer. Kurz darauf hörte man, wie er die Teller aufeinanderstellte und in die Küche trug.

Und wenn sie doch jemand mitgenommen hat?, sagte Frau Ziegler. Ihre Stimme war dünn, sie klang wie ein Kätzchen, das mit einem Zierkissen erstickt wird.

Ich rufe jetzt bei der Polizei an, entschied Ziegler, weil ihm darauf keine Antwort einfiel.

Bei der Polizei empfahl man ihm, in den Krankenhäusern nachzufragen. Diese jungen Fahrradfahrer sind ohne Licht und mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs und wundern sich dann, wenn es einen Unfall gibt, wir erleben das jeden Tag.

Ziegler hätte gern gesagt, dass das Licht am Rad seiner Tochter funktionierte, aber ganz sicher war er sich nicht.

Und schauen Sie doch mal nach, ob ihr Ausweis noch da ist, riet ihm der Beamte. Sparbuch, solche Sachen. Wenn sie nicht in der Schule war, dann kann schon sein, dass sie für länger weggehen wollte. Eltern glauben immer, ihre Kinder würden so etwas bestimmt nicht tun, aber ich sage Ihnen, da sind schon einige böse auf die Welt gekommen.

Diesen letzten Teil der Unterhaltung ließ Ziegler aus, als er seiner Frau von dem Telefongespräch berichtete. Er sagte nur, dass man nicht davon ausgehen könne, dass gleich nach Helene gesucht werden würde. Der Polizist hatte gemeint, die meisten Jugendlichen in dem Alter melden sich spätestens nach vierundzwanzig Stunden bei ihren Familien, es sei denn, sie seien einem Verbrechen zum Opfer gefallen.

Einem Verbrechen!, japste Frau Ziegler.

Erst mal die Krankenhäuser, sagte Ziegler schnell und verschwand im Flur, wo die Telefonbücher standen.

Während er in den Krankenhäusern nachfragte, ob vielleicht ein siebzehnjähriges, langhaariges blondes Mädchen mit grünen Augen, einer blauen Jacke, einem roten T-Shirt und einer Jeanshose eingeliefert worden war – vermutlich bewusstlos, fügte Ziegler hinzu, sie war mit dem Fahrrad unterwegs – ging Robin mit seiner Mutter in den ersten Stock in Helenes Zimmer.

Es war das mittlere der drei Kinderzimmer, die alle gleich aussahen: die Tür auf der einen Seite des Raums und an der Wand gegenüber zwei Fenster. Helenes Bett stand auf der rechten Seite, es war sauber gemacht, die helle Tagesdecke sorgfältig glatt gestrichen. Links stand der Kleiderschrank aus hellem Holz. An der Schranktür waren mit durchsichtigem Kleber zwei Poster festgemacht, eins von einer amerikanischen Sängerin mit langen, wilden Haaren und ein anderes, auf dem man einen Eisbär sah. Eisbären waren Helenes Lieblingstiere.

Auf dem Tischchen neben dem Bett befanden sich der Wecker und ein Comicheft von Fix und Foxi, das Helene sich von Robin geliehen hatte. Robin nahm es an sich. Über dem Bett hing das Bild, das Helene bei ihrer Taufe von einer Nachbarin erhalten hatte: ein Farbdruck aus dem Bilderbuch Pitschi. Es war die Szene, wo das Kätzchen Pitschi auf dem Hühnerhof der alten Lisette steht und versucht, für ein Küken gehalten zu werden.

Der Tisch vorn am Fenster war bis auf die Lampe, die Schreibunterlage und einen Behälter mit Bleistiften, Kugelschreibern und Filzstiften leer. So ordentlich war der Tisch sonst nie, dachte Frau Ziegler, während sie sich auf den bequemen Stuhl neben dem andern Fenster setzte, im Schoß das Kissen, das sie für die sechsjährige Helene gestickt hatte. Auf einem Regal zwischen den Fenstern lag der Kassettenrekorder, den sich Helene vor zwei Jahren zu Weihnachten gewünscht hatte, auf den unteren Brettern standen ihre Bücher und Kassetten. Rechts hing an der Wand der Setzkasten mit Münzen und Steinen und kleinen Eisbären darin.

Der Kissenstoff in ihrer Hand war ein samtenes, tiefdunkles Blau, auf das Frau Ziegler einen lachenden Vollmond und viele Sterne gestickt hatte, am unteren Rand in dunkleren Tönen die Häuser einer nächtlichen Stadt. Draußen vor dem Fenster stand ein ebenfalls voller Mond am Himmel. Es war noch nicht ganz dunkel, und man sah nur wenige Sterne. Eine wolkenlose Nacht, dachte Frau Ziegler, während sie in den bläulich schimmernden Himmel starrte. Wie gut. Da wird sie doch den Weg nach Hause finden.

Und warum sollte sie ihn auch nicht finden? Sie lebten schließlich nicht im dunklen Wald oder draußen auf dem Land, hier gab es Straßenlaternen und Autoscheinwerfer und sogar einen Bus, der weiter oben an der Straße hielt, falls Helenes Rad kaputtgegangen war und sie keine Lust hatte, den Weg vom Bahnhof hochzulaufen. Der Bus fuhr bis halb zwölf. Die Busfahrer kannten Helene. Selbst wenn sie aus irgendeinem Grund kein Geld dabei haben sollte, würden sie sie mitfahren lassen und ihr die Fahrkarte beim nächsten Mal verrechnen.

Während seine Mutter aus dem Fenster starrte, hatte Robin angefangen, die Tischschubladen seiner Schwester zu durchsuchen. Hatte der Polizist am Telefon nicht gesagt, man solle nachschauen, ob Helenes Pass und Sparbuch noch da waren? Robin hoffte, dass seine Schwester nicht schon in den nächsten Minuten nach Hause kommen würde. Hier bot sich eine seltene Gelegenheit, die er wahrnehmen musste. Und wenn sie sich später beschweren sollte, konnte er sagen, dass er nur dem Rat der Polizei gefolgt war. Nach Spuren suchen! Als da waren: Briefe, Postkarten aus vielen Ländern, ein Tagebuch, das er bereits kannte. Drei Einträge von vor fünf Jahren, zu mehr hatte Helenes Interesse an dem Geburtstagsgeschenk nicht gereicht. Ein Foto von diesem Jungen, Reto. War seine Schwester bei ihm? Sie hatte ihn nach dem Sommer vor zwei Jahren nie wieder erwähnt. Die untere Schublade war abgeschlossen. Nein. Sie klemmte nur, sie war voller alter Schulhefte, dazwischen lag nichts, jedenfalls nicht, soweit Robin erkennen konnte. Er drehte sich zu seiner Mutter um und schlug ihr vor, mit dem Schrank weiterzumachen.

Wir könnten nachsehen, ob sie Kleider mitgenommen hat, sagte er betont sachlich. Er hatte sich schon halb in den Geheimagenten verwandelt, der er später werden wollte, und stand kurz davor, die große Lupe aus seinem eigenen Zimmer zu holen. Lupen waren eigentlich eher etwas für Detektive, aber warum sollte nicht auch ein Geheimagent eine Lupe benutzen.

Seine Mutter antwortete nicht. Sie saß in dem Sessel und starrte auf ein Blatt Papier, das sie aus Helenes Papierkorb geholt und glatt gestrichen hatte.

Robin hatte das Blatt vorhin auch gesehen. Es war das Einzige gewesen, was im Papierkorb lag, ein zerknüllter Zettel, den er nicht weiter beachtet hatte. Ein Fehler. Gut möglich, dass jetzt seine Mutter die Spur in der Hand hielt, nach der er Ausschau gehalten hatte.

Leicht verärgert stellte er sich neben sie und betrachtete den Satz, der auf dem Zettel stand. Französisch, so viel konnte er erkennen, aber er verstand ihn nicht.

A., das bin nicht ich, sagte seine Mutter nachdenklich.

Natürlich nicht, dachte Robin, warum sollte seine Schwester über Mama französische Sätze schreiben?

Ich frage mich, warum sie nicht herausfinden konnten, an welchem Fieber diese A. gelitten hat, fuhr seine Mutter fort und runzelte die Stirn. Robin starrte sie an. Wovon sprach sie? Hatte sie Helene ganz vergessen? Als hätte seine Mutter den Gedanken gehört, blickte sie ihn an und sagte: Vielleicht sollten wir Helene einfach fragen, was mit ihr ist. Ja – sie nickte mit Nachdruck – das ist bestimmt das Beste, wenn wir das tun.

Bevor Robin etwas antworten konnte, hörte er, wie sein Vater von unten nach ihnen rief. Er hat sie gefunden, flüsterte seine Mutter, und beide eilten die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.

Wenigstens kein Unfall, sagte einige Stunden später Ziegler zum fünften Mal zu seiner Frau. Das ist doch immerhin etwas.

Er hatte nur sagen wollen, dass in den Krankenhäusern niemand lag, auf den Helenes Beschreibung passte, und ja. Natürlich war das etwas. Aber es war nicht genug, es ließ Raum für alles weitere, das Helene zugestoßen sein könnte, nichts davon gut.

Gut wäre gewesen: Die Tür geht auf, Helene kommt herein, gesund und reuevoll, weil sie ihren Eltern Sorgen bereitet hat.

Meinetwegen sogar betrunken, dachte Frau Ziegler, obwohl Helene, soweit sie wusste, gar keinen Alkohol trank. Eben deswegen. Oder berauscht von einer Marihuanazigarette. Helene schien sich für all das zwar nicht zu interessieren, aber was wusste sie schon. Vielleicht hatte sie sich in ihrer Tochter getäuscht. Sie hätte sich gern in ihr getäuscht, wenn sie nur endlich wieder da wäre.

Oder schwanger.

Wenn sie schwanger wäre, dann wäre das noch lange nicht das Ende der Welt, sagte sie sehr entschieden zu ihrem Mann.

Der blickte erstaunt von den Heften hoch, die er aus dem Arbeitszimmer nach unten gebracht hatte und jetzt am Wohnzimmertisch korrigierte. Warum sollte Helene schwanger sein? Sie hat doch noch nicht mal einen Freund.

Frau Ziegler schüttelte den Kopf. Dann nahm sie ihr Strickzeug und strickte weiter an dem blau-grün gestreiften Pullover, den Robin sich gewünscht hatte. Männer, dachte sie, haben keine Ahnung, was in einem Mädchen in diesem Alter vorgeht. Ihr Mann schien sich keine großen Sorgen zu machen. Für ihn war Helene noch ein Kind. Sie hatte sich verschwatzt, sie war verabredet gewesen und hatte vergessen, zu Hause davon zu erzählen. Yvonne hatte sich getäuscht, Helene war doch in der Schule gewesen, oder es gab einen Grund, warum sie nicht im Unterricht gewesen war, irgendein Anlass, der mit der Schule zu tun hatte. Er kannte tausend Gründe, sich keine Sorgen zu machen. Und vielleicht hatte er ja recht. Frau Ziegler hoffte und wünschte sich, dass er recht haben möge, aber sie glaubte nicht daran. Zumindest nicht ganz. Eigentlich gar nicht.

Das Zimmer, sagte sie nachdenklich und legte das Strickzeug in den Schoss. Neben ihr auf dem Sofa schnarchte leise der alte Schnauzer. Es war so aufgeräumt. So ordentlich. So ist es sonst nie.

Sie wird eben langsam erwachsen, erklärte Ziegler und überraschte seine Frau damit. Sie wird vernünftig und weiß, dass man ein Zimmer aufräumen muss, wenn man darin arbeiten will. Dann nahm er den Stapel Hefte und stand auf. Ich gehe nach oben, meinte er. Ich bin sicher, sie ist gleich wieder da.

Aber drei Stunden später war Helene noch immer nicht da.

Inzwischen waren die letzten Busse vorbeigefahren, und für den letzten Zug war es auch zu spät. Ihr Mann war nicht wieder nach unten gekommen, vielleicht war er oben eingeschlafen. Frau Ziegler überlegte, ob sie hinaufgehen und ihn wecken sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Das Strickzeug hatte sie schon vor einiger Zeit beiseitegelegt.

Auf ihrem Schoß lag jetzt das Fotoalbum, Helenes Fotoalbum, jedes der Kinder hatte eins mit Bildern von der Taufe über die Einschulung bis zur Konfirmation. Helene in den Armen ihrer Patentante. Helene zuoberst auf einem Felsen bei einer Wanderung. Helene mit dem kleinen, frisch geborenen Bruder auf dem Arm. Helene, strahlend, mit dem neuen Schulranzen. Ein Bild von Helene mit Beatrice, beide im Skianzug, auf den Skiern in einer Schlange vor dem Skilift, im Hintergrund die Berge.

Helene, ernst, beinah feierlich am vergangenen Heiligabend unter dem Weihnachtsbaum. Ein Kind, dachte Frau Ziegler, während ihr nun doch Tränen über das Gesicht liefen. Helene war doch noch ein richtiges Kind, natürlich war sie das. Sie hätte doch gemerkt, wenn das nicht mehr so gewesen wäre.

Die Standuhr auf dem barock geschwungenen Wohnzimmerschrank schlug zwei Uhr.

Wann war sie das letzte Mal bis zwei Uhr aufgeblieben? Das war lange her. Vielleicht würde es jetzt öfter vorkommen. David, der ältere, war manchmal auch spät nach Hause gekommen, aber er hatte immer vorher Bescheid gesagt, und außerdem war er ein Junge. Um die musste man sich keine Sorgen machen, nicht wie um ein Mädchen. Aber um Helene hatte sie sich bisher auch keine Sorgen machen müssen. Anders als andere Mütter. Helene hatte nie versucht, die Grenzen zu überschreiten, die ihre Eltern ihr setzten.

Vernünftige Grenzen, dachte Frau Ziegler. Meine Eltern waren damals strenger.

Es war ihr wichtig gewesen, mit ihren Kindern einen anderen Umgang zu finden, als ihre eigenen Eltern mit ihr und ihren Geschwistern gehabt hatten. Einen, der nicht auf strickten Anweisungen und starren Erwartungen beruhte.

Ein Knacken draußen vor dem Fenster. Als Frau Ziegler aufsprang und hineilte, gelang es ihr gerade noch, den Fuchs zu sehen, der im Garten stand, die Augen wie leuchtende Murmeln im Mondlicht. Einen kurzen Moment lang starrten sie sich an, die Frau am Fenster, das Tier auf dem dunklen Rasen. Dann drehte es sich um und verschwand in den Büschen des Nachbargrundstücks.

Frau Ziegler setzte sich wieder aufs Sofa. Eine Tochter zu bekommen, das war für sie damals wundervoll gewesen. Sie liebte ihre Söhne, aber bei einer Tochter war da noch etwas anderes. Dieses Kind würde ihr etwas zurückgeben. Es würde sie bewundern, und wenn Helene erwachsen war, würde daraus mehr werden. Eine Freundschaft. War das zu viel verlangt?

Nun kam ihr vor, als habe sie sich einem lächerlichen Traum hingegeben. Die Tochter, die sie sich gewünscht hatte, gab es nicht. Stattdessen war da ein Mädchen, das nicht zweimal darüber nachdachte, ob sich seine Mutter vielleicht gerade Sorgen machte, ob sie kurz davor war wahnsinnig zu werden, weil es sich zu nachtschlafender Zeit weiß Gott wo herumtrieb. Nein, sagte sie sich dann, man muss erst fragen. Man muss Helene einfach fragen, was mit ihr ist.

A. est calmée maintenant, nous ne saurons jamais de quelle fièvre.

Der Satz auf dem Zettel im Papierkorb ging ihr nach. Eine Nachricht von Helene? Wohl eher nicht. Vielleicht eine Hausaufgabe, etwas, was sich das Mädchen hatte merken wollen, notiert in ihrer runden Schrift. Wie war sie bloß darauf gekommen, dass sich in dem Satz eine Botschaft für sie versteckte?

Das Zimmer war so ordentlich gewesen. Helenes Papierkorb war sonst immer voll. In diesem Haushalt war es Frau Ziegler, die die Papierkörbe leerte.

Sie wusste, dass mir das auffallen wird, dachte Frau Ziegler schon im Halbschlaf, und dann: Was das denn für eine Art war, Abschied zu nehmen, indem man sein Zimmer so aufräumt, wie es die Mutter die ganzen Jahre über von einem verlangt hat.

Als am nächsten Morgen um sieben das Telefon klingelte, war Helenes Mutter erst nicht klar, warum sie unten auf dem Sofa lag und nicht in ihrem Bett. Ihr Mann, der schon aufgestanden war, kam aus der Küche gelaufen und ging ran.

Es war eine ältere Dame, die etwas von einem Turnzeug redete. Ziegler verstand kein Wort. Was?, sagte er immer wieder. Was?

Seine Frau nahm ihm den Hörer aus der Hand. Können Sie uns sagen, wo Helene ist?, fragte sie.

Die Anruferin war die Tante von Helenes Schulfreundin Lili. Die Tante hieß Bachmann und wohnte im selben Haus wie Lili und ihre Familie. Lilis Mutter war verreist. In dieser Zeit schaute sie nach ihrem Bruder und den drei Mädchen. All das erzählte sie atemlos. Sie hatte eigentlich nichts weiter gewollt, als Lili auszurichten, dass ihr Turnzeug noch im Keller an der Wäscheleine hing.

Gestern Abend ist es mir zu spät eingefallen, erklärte Frau Bachmann. Ich dachte, wenn ich jetzt anrufe, kann sie noch vorbeikommen und die Sachen abholen. Weil sie doch bei Helene übernachtet.

Lili ist nicht hier, sagte Frau Ziegler.

Nein?, sagte Frau Bachmann überrascht.

Helene auch nicht, sagte Frau Ziegler. Sie ist fort, seit gestern Morgen schon.

Lilis Vater erwischte Donna, die beste Freundin seiner Tochter, als sie gerade zur Schule wollte.

Wie geht es Lili? fragte Donna. Ich habe gestern versucht anzurufen, aber da ist keiner rangegangen.

Bachmann fragte nach. Als er verstand, dass Lili genau wie Helene am Tag zuvor nicht in der Schule gewesen war, rief er seine Sekretärin an und sagte seine Termine für den Vormittag ab. Dann setzte er sich ins Auto und fuhr zu den Zieglers nach Erlenbach.

Meine Frau ist in Frankreich, erklärte er Frau Ziegler, die allein war, weil ihr Mann sich entschlossen hatte, doch zur Arbeit zu fahren. – Sie besucht dort eine Freundin. Die Kleinen sind bei meiner Schwester, aber Lili wollte bei mir bleiben, in der Wohnung. Ich bin gestern Abend spät nach Hause gekommen, deswegen habe ich nicht nachgeschaut, ob sie da ist. Ich bin davon ausgegangen, dass sie schläft.

Sie sind also beide weg, sagte Frau Ziegler. Es klang beinah erleichtert.

In der Wohnung war Lili jedenfalls seit gestern Vormittag nicht mehr, sagte Herr Bachmann. Als ich nach Hause kam, stand das Geschirr vom Frühstück noch auf dem Tisch. Was ist denn mit ihrer Freundin, wie heißt sie, Beatrice?

Das Mädchen war ein paar Mal mit Helene bei Lili gewesen. Bachmann, der die Freundinnen seiner Tochter nicht unterscheiden konnte, war Beatrice im Gedächtnis geblieben, vielleicht weil seine Frau sie nicht mochte.

Natürlich, Beatrice!, rief Frau Ziegler. Die Eltern sind doch verreist. Die sind bestimmt bei Beatrice und machen – aber was sie da machten, war unwichtig. Wenn sie nur da wären.

Als bei Beatrice keiner ans Telefon ging, schlug Bachmann vor: Fahren wir doch einfach hin! Kommen Sie. Wir blasen den jungen Damen mal kräftig den Marsch.

Bei der Familie Rohr war es die italienische Haushälterin, die ihnen die Tür aufmachte. Sie war nervös und sagte, sie hätte Beatrice seit Tagen nicht mehr gesehen. Bachmann bestand darauf, dass sie hereingelassen wurden, dürfen wir vielleicht kurz das Zimmer der Signorina sehen? Frau Ziegler kam das unnötig vor. Anderseits war sie merkwürdig fröhlich, seitdem sie wusste, dass Helene nicht allein unterwegs war. Das Ganze wirkte wie ein Jungmädchenstreich, der sich irgendwann auflösen würde. Schlimm genug, aber nicht so schlimm wie – wie das andere.

Und mit der Erleichterung wuchs auch die Neugier. Beatrice Zimmer kannte sie nur aus Erzählungen von Helene.

Es lag im Erdgeschoss und war ungefähr so groß wie die drei Zimmer ihrer Kinder zusammengenommen. Ein riesiger weißer Flokatiteppich auf dem Fußboden. An die Mühe, die man hatte, diesen Teppich sauber zu halten, wollte Frau Ziegler lieber gar nicht denken. Möbel standen wenige im Raum. Ein weißes Himmelbett in der Ecke, voll gepackt mit Kissen und Decken. Ein feuerroter Fernseher. Ein großer, alter Schreibtisch am Fenster, davor ein Stuhl mit gedrechselten Beinen. Anders als bei Helene war der Schreibtisch und selbst der Fußboden drum herum voll mit Schulheften und Filmzeitschriften. Dazwischen lagen Bücher, Der kleine Prinz von Saint Exupéry und Brehms Tierleben. Es wirkte, als sei Beatrice gerade erst vom Tisch aufgestanden, aber als Frau Ziegler näher ran ging, sah sie, dass er staubbedeckt war.

Die Haushälterin, die ängstlich in der Tür stand, bemerkte den Zeigefinger, mit dem die fremde Frau über die Bücher strich, und erklärte eifrig, dass Signorina nicht gewollt habe, dass sie hier saubermache. Natürlich nicht, lächelte Frau Ziegler und nickte ihr beruhigend zu. Wenn’s um den Arbeitsplatz geht, sollen die Kinder ruhig selbst für Ordnung sorgen.

Die Wände waren leer. Nichts hing daran, gar nichts, nicht einmal an den Schiebetüren des weißen Wandschranks. Einzig neben dem Himmelbett war in einem silbernen Rahmen ein Foto aufgehängt, Beatrice mit ihren Eltern als ungefähr Zehnjährige. Die Mutter jung und elegant in einem Sommerkleid, der Vater deutlich älter im weißen Leinenanzug. Beatrice zwischen ihnen sah aus wie ein Junge, mit ihren kurzen schwarzen Haaren und dem quer gestreiften T-Shirt. Ihr Blick fixierte einen Punkt links vom Fotografen. Im Hintergrund sah man den Vesuv.

Ein richtiges Prinzessinnenzimmer sagte Bachmann, der sich über den Fernseher wunderte.

Und natürlich war es das, was an dem Zimmer merkwürdig war. Die Beatrice, die sie kannte, war keine Prinzessin, ganz im Gegenteil, dachte Helenes Mutter. Kein Wunder, dass sie so oft bei uns war.

Hier sind sie jedenfalls nicht, meinte Bachmann, und fing dann an, mit der Haushälterin italienisch zu reden. Die bekam immer größere Augen, und als sie antwortete, wurde auch ihre Stimme immer lauter, bis sie plötzlich anfing zu weinen. Forse potrebbiamo continuare a parlare con un caffè?, schlug Bachmann vor. Er dachte, dass es der Frau vielleicht guttäte, wenn sie etwas schaffen konnte, und außerdem war er wegen dieser Geschichte noch nicht zum Frühstücken gekommen.

Als ihre Eltern am Freitag weggefahren waren, hatte Beatrice der Haushälterin freigegeben. Ihre kleine Tochter war vor kurzem eingeschult worden, und Beatrice meinte zu ihr, sie solle ruhig Anfang der Woche zu Hause bleiben und sich um das Kind kümmern. Die braucht Sie mehr als ich, erklärte sie.

Die Frau stellte ein Tablett mit drei Kaffeetassen auf den Küchentisch, daneben eine Schale mit Butterkeksen. Milch. Würfelzucker. Währenddessen sprach sie immer weiter, auf Italienisch, und zwischendurch übersetzte Lilis Vater das Wesentliche für Helenes Mutter.

Samstag war die Haushälterin das letzte Mal hier gewesen. Heute war Mittwoch, gegen Abend würden Professor Rohr und seine Frau zurückkommen. Die Frau hatte keine Ahnung, wann Beatrice das letzte Mal da gewesen war, sie hatte ihr gesagt, dass sie vielleicht bei Elena übernachten werde.

Bei uns?, wunderte sich Frau Ziegler. Sie dachte, die Frau täusche sich bestimmt. Wo sie doch kaum Deutsch konnte. Kaffeekochen konnte sie allerdings, der Kaffee war wunderbar. Sie merkte sogar, wie sie Hunger bekam. Die Schale mit den Keksen sah verlockend aus.

Lei è la madre!, rief nach einer italienischen Erklärung von Bachmann die Haushälterin. E una ragazza tanta bella e gentile, la vostra figlia!

Grazie tanto, sagte Frau Ziegler, die vielleicht nicht den Inhalt, aber doch die Absicht des Kompliments verstanden hatte.

Also hat Beatrice ebenfalls behauptet, sie würde bei Ihnen übernachten, überlegte Bachmann. Das spricht doch dafür, dass sie mit den beiden unterwegs ist.

Zu dritt also! Frau Ziegler spürte ein unbändiges Bedürfnis zu lachen. Sie war sich nur nicht sicher, ob sie damit auch aufhören könnte, wenn sie einmal angefangen hatte, deswegen schob sie sich lieber schnell einen Keks in den Mund.

Vielleicht gibt es ja einen guten Grund für diese Unternehmung, meinte Bachmann weiter. Obwohl ich nicht verstehe, warum keine von ihnen eine Nachricht hinterlassen hat. So schrecklich sind wir Eltern doch auch wieder nicht? Er sah Frau Ziegler fragend an.

Vielleicht hatten sie keine Zeit dazu.

Frau Ziegler griff nach einem weiteren Keks.

Aber dann dachte sie wieder an das ordentliche Zimmer ihrer Tochter, und die Küche fing an, sich zu drehen.

Mit dem Geld, das Lili auf dem Sparbuch hat, meinte Bachmann nachdenklich, werden sie nicht weit kommen.

Bei Helene ist das genauso, sagte Frau Ziegler erleichtert.

Das Erste, was Professor Rohr tat, als er bei seiner Ankunft am Abend von der Haushälterin die Neuigkeiten erfuhr, war, Jeremias Gotthelf aus dem Bücherregal im Arbeitszimmer zu ziehen. Das lag nicht am plötzlichen Bedürfnis, Geschichten von Pächtern und Großbauern im Berner Oberland zu lesen. Zwischen den Seiten der zweibändigen Ausgabe von Geld und Geist steckte das Geld, das er neulich in Baden-Baden gewonnen hatte. Aus einer Laune heraus hatte er es dort hineingelegt, wer liest schon Gotthelf? In seinem Haushalt niemand. Beatrice mochte keine Romane, und seine Frau las Literatur ausschließlich auf Empfehlung einer ehemaligen Schulfreundin: Frauenromane oder Bücher von diesem Schweizer Zeitgenossen, Walter Schmidlin.

Er hatte keine Ahnung, wie Beatrice hinter das Versteck gekommen war. Er wusste nur, dass sie das Geld mitgenommen hatte. Das Buch stand im Regal, allerdings verkehrt herum. Als wollte sie ihm damit zu verstehen geben, dass die ansehnliche Summe jetzt bei ihr war.

500er Scheine, 100er, eine Handvoll 50er. Damit konnte man einige Zeit unterwegs sein. Und sie hatte nichts in dem Buch hinterlassen, keine Erklärung, auch nicht einen einzelnen Geldschein, vielleicht zu einem Schwan oder Schiff gefaltet.

Ich hätte mich mit einer Quittung zufrieden gegeben, sagte er Bachmann am Telefon. Mehr hätte ich gar nicht verlangt. Nur ein »mit Dank erhalten, Unterschrift«.

Die beiden Männer kannten sich von den Rotariern, und als Geschäftsführer der Mercedesvertretung in Zürich hatte Bachmann dem Professor schon einige Autos verkauft.

Wie viel war’s denn?

Was weiß ich. Über zwanzigtausend, sagte Rohr, der nicht wirkte, als wüsste er nicht ganz genau, wie viel es gewesen war.

Bachmann pfiff leise durch die Zähne. Wie Rohr kam dazu, so viel Geld bei sich zu Hause aufzubewahren? Er wirkte nicht wie jemand, der den Banken misstraute.

Fürs Erste wird es jedenfalls reichen. Nebenan hörte Rohr seine Frau, die im Schlafzimmer die Koffer auspackte. Sie summte leise vor sich hin. Dass Beatrice fort war, schien Rachel nicht groß zu beunruhigen, aber das war auch nicht zu erwarten gewesen. Es lag nicht daran, dass Beatrice ihr nichts bedeutete. Rachel war einfach – anders.

Bachmanns Stimme war ein Krächzen im Telefonhörer, ein tastendes, suchendes Krächzen. Wonach er suchte, waren Antworten, die es nicht gab. Hatten sich die Mädchen aus einer plötzlichen Laune heraus zum Weggehen entschieden? War die Sache von langer Hand vorbereitet gewesen? Und wie sollten sie, die Eltern, jetzt weiter vorgehen?

Ich bin mir nicht sicher, ob wir die Polizei an diesem Punkt schon ins Spiel bringen sollten, überlegte Rohr. Immerhin können wir doch davon ausgehen, dass die Mädchen aus freien Stücken unterwegs sind.

Bachmann räusperte sich. Die Frage stellt sich nicht mehr, sagte er dann. Meine Frau ist vor einer Stunde aus Frankreich zurückgekommen. Sie hat bereits zu dem Polizeipräsidenten der Stadt Kontakt aufgenommen. Er wohnt in Gockhausen, ist ein Nachbar ihrer Eltern. Er hat versprochen, alle Hebel in Bewegung zu setzen.

Wachtmeister Schwarzenbach hatte als Polizist lange Zeit am Flughafen Dienst gemacht, fast die ganzen Siebzigerjahre über, als ständig Terroralarm herrschte und das Verhältnis zwischen Flughafen- und Stadtpolizei erst noch geregelt werden musste. Da hieß es Fingerspitzengefühl bewahren mit den Kollegen von der Flughafenpolizei und im Umgang mit den Fluggästen, die in der verstärkten Polizeipräsenz gern einen Hinweis auf eine akute Bedrohung sahen. Inzwischen arbeitete er als Kommandant der Wache in Zürich-Seefeld. Er kümmerte sich um Fahrraddiebstähle und Ruhestörung und häusliche Gewalt. Taschendiebstähle unten an der Seepromenade. Kleinere Einbrüche. Manchmal dachte er, dass in ihm doch mehr stecken könnte als ein schlichter Quartierspolizist, selbst wenn er inzwischen der Wache vorstand. Dass ihn der Polizeipräsident jetzt mit diesen verschwundenen Mädchen betraut hatte, konnte man auch als Auszeichnung verstehen.

Ich brauche jemanden, der die Sache ein wenig koordiniert, hatte der Chef gesagt. Eine Art Schaltstelle zwischen Eltern und Schule.

Wie auch immer. Offenbar, übersetzte Schwarzenbach den Auftrag für sich, waren wichtige, und damit im Zweifelsfall auch anstrengende Menschen – Eltern – in die Sache verwickelt. Nun, mit anstrengenden Menschen konnte er umgehen. Der ganze Flughafenauftrag hatte am Ende daraus bestanden, anstrengende Menschen anständig zu behandeln. Eine Herausforderung vor allem dann, wenn sie sich auch noch wichtig vorkamen. Und wenn den Eltern ihre Töchter davonlaufen, überlegte Schwarzenbach, befinden sie sich vermutlich in einem ähnlichen Zustand von Hysterie wie Passagiere, deren ganz normale Flugangst sich mit der Fantasie eines Terroranschlags zur Panik steigert.

Trotzdem war er froh, dass der Polizeipräsident bei diesem ersten Treffen mit den Betroffenen das Wort führte. So konnte er in Ruhe diese Väter und Mütter studieren, die allerdings nicht besonders panisch wirkten. Die hübsche kleine Gattin des Augenarztes strahlte sogar eine erstaunliche Zufriedenheit aus, als hätte ihr nichts Besseres passieren können, als dass ihr die Tochter abhanden kam. Ihr Mann war deutlich älter und wirkte weniger besorgt als verärgert. Und dann dieser Physiklehrer aus Erlenbach, guckte durch seine graugeränderte Militärbrille, als könne er sich gar nicht vorstellen, wie er in diese Lage gekommen sei. Seine Frau sah aus, als hätte sie in den letzten beiden Nächten kaum geschlafen. Es bereitete ihr sichtlich Mühe, den Ausführungen seines Chefs zu folgen. Schwarzenbach fiel auf, dass sie hin und wieder in die Handtasche langte und etwas in den Mund steckte. Pillen? Kekse, stellte er fest, und bekam gleich Hunger. Dass man in einer solchen Situation essen wollte, konnte er gut verstehen.

Das dritte Paar kannte der Chef von irgendwoher. Sein ungewöhnlicher Einsatz hing mit dieser Bekanntschaft zusammen. Das bessere Zürich, dachte Schwarzenbach, die Frau nicht mehr ganz jung, sehr gepflegt, mit einem strengen Zug um den Mund. Sie saß aufrecht da, aufmerksam, als handle es sich um eine Art Examen. Sie war es auch, die die ersten Fragen stellte. Was die Polizei vorhabe, welche Kräfte sich einsetzen ließen, welche Schlüsse aus dem Ganzen gezogen werden mussten ... Der Mann war beleibt, nicht ganz so füllig wie Schwarzenbach selbst, aber klumpiger. Fand Schwarzenbach. Als würde er sich nicht viel bewegen. Die graublonden Haare waren über die beginnende Glatze gekämmt. Schwarzenbach sah in seinen Unterlagen nach. Guido Bachmann verkaufte Autos, stellte er fest. Von den drei Paaren war es das einzige, bei dem die Frau kein einziges Mal den Mann anblickte. Der sah umgekehrt oft zu ihr hin, ein wenig leidend, kam Schwarzenbach vor, vielleicht lag das an ihrer Stimme, die recht durchdringend war. Wer hatte noch gesagt, dass Schweizerinnen die schönsten Frauen der Welt sind, solange sie den Mund halten?

Es blieb Schwarzenbach überlassen, konkrete Fragen zu stellen, deren Antworten ihn in den meisten Fällen nicht überraschten. Selbstverständlich nahm keins der Mädchen Drogen, hatte nie mit derlei Berührung gehabt, ach woher. Natürlich gab es auch keinen Freund, mit dem sie hätten durchbrennen können, obwohl von drei Mädchen im Alter von siebzehn Jahren erfahrungsgemäß eine einen Freund hatte. Mindestens.

Emotionale Schwierigkeiten? Nicht in unserer Familie.

Dann die Frage nach dem Umgang mit kriminellen Elementen. Bei dieser Frage hätte Schwarzenbach ein Ja tatsächlich erstaunt. Immerhin handelte es sich hier um behütete Mädchen aus der Seeregion, die vielleicht heimlich Sympathien für linke oder kommunistische Gruppierungen hegten (wer tat das in dem Alter nicht), aber doch wohl kaum wussten, wie die halbverstandene Theorie in die Tat umzusetzen wäre. Die Frage nach Kontakten zu linksterroristischen Gruppierungen ließ Schwarzenbach von vornherein weg. Die Mädchen passten ganz einfach nicht ins Täterprofil.

Täterprofil. Schwarzenbach kannte das Wort aus den Krimiserien im Fernsehen. Im richtigen Polizistenleben spielten solche Begriffe keine Rolle, jedenfalls nicht, wenn man Leiter der Wache im Seefeld war.

Wir möchten vermeiden, dass diese Geschichte in die Presse kommt, erklärte Schwarzenbach nach seiner Befragung mit einem Blick zu seinem Vorgesetzten. Damit können wir auch falsche Lösegeldforderungen minimieren. Sollte sich jemand bei Ihnen melden und Geld von Ihnen wollen, bleiben Sie ruhig und geben Sie die Information direkt an uns weiter. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Trittbrettfahrer.