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Lucy lebt mit ihren fünf Geschwistern und ihren Eltern in dem verschlafenen Städtchen Stonehill. Aber ab dem Moment, in dem Viola Burrow mit ihren langen schwarzen Haaren und ihrer lila Kleidung die Klasse von Lucy betritt, ist nichts mehr, wie es einmal war. Mamas Smaragdring verschwindet genau dann, als Viola zu Besuch kommt und die eigentlich fiese Klassenlehrerin lässt Viola auch noch ihre mysteriöse Katze Cleopatra mit den violetten Augen in die Schule mitnehmen - trotz striktem Tierverbot! Doch spätestens auf der Klassenfahrt ist sich Lucy ganz sicher: Irgendetwas verheimlicht Viola Burrow. Mit Spannung, Witz und überraschenden Wendungen erzählt Bestsellerautorin Juma Kliebenstein, was in Stonehill wirklich geschah.
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Seitenzahl: 235
Für den weltbesten Stephan, mit dem knifflige Rätsel lösen unheimlichen Spaß macht
Es gibt immer zwei Wahrheiten.
Wenn man von einer Begebenheit hört, erfährt man immer nur einen Teil von dem, was geschehen ist. Man hört das, was der Erzähler für wichtig hält, und so, wie der Erzähler es erlebt hat.
Wenn der Nächste die gleiche Geschichte erzählt, hört man vielleicht etwas ganz anderes. Obwohl beide dasselbe erlebt haben. Deswegen ist es schwierig, zu entscheiden, wem man glaubt, denn jeder ist davon überzeugt, seine Geschichte sei die richtige.
Gibt es also überhaupt eine wahre und eine falsche Geschichte?
Ich finde, es ist nicht wichtig, ob eine Geschichte wahr ist oder falsch. Wichtig ist, dass es Geschichten gibt.
Es spielt keine Rolle, ob ihr am Ende dieses Buches den Kindern aus Stonehill glaubt oder den Erwachsenen.
Ich erzähle euch die Geschichte so, wie die Kinder sie erlebt und mir erzählt haben, denn ihre Version hat noch niemand gehört, und sie ist viel spannender als die der Erwachsenen.
Und genauso wahr.
Mindestens.
Und so fing alles an:
Vor einiger Zeit bekam ich Post von meiner Freundin Christine. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Stonehill, einem kleinen Städtchen im Osten Amerikas.
Leider sehen wir uns sehr selten, denn Amerika ist weit weg, aber E-Mails schreiben wir uns oft. In ihrer letzten Mail hatte Christine von einem ungewöhnlichen Vorfall berichtet.
Du glaubst es kaum: Bei uns ist an Silvester eingebrochen worden! Die Einbrecher haben den gesamten Schmuck mitgenommen. Das Geld, den Fernseher und die Computer haben sie seltsamerweise stehen lassen. Aber das Unglaublichste ist, dass diese Einbrecherbande am gleichen Abend den ganzen Ort bestohlen hat!
Das Gute daran ist, schrieb Christine, dass sie jetzt in Stonehill keine Angst mehr vor Einbrechern zu haben brauchten. So was passiert einem ja bestimmt nicht zweimal im Leben.
Das fand ich höchst interessant.
Aber nicht nur Christine hatte mir geschrieben. Ein paar Tage später bekam ich ein Päckchen von ihrer Tochter Lucy.
In dem Päckchen lagen ein dickes Heft mit vollgeschriebenen Seiten und folgender Brief:
Ich schreibe Dir, weil Du Kinderbücher schreibst, und Du lachst bestimmt nicht, wenn Du die wahre Geschichte über den Einbruch liest. Alle sagen, das, was wir Kinder aus der Maple Street über die Sache mit den Einbrechern erzählen, kann nicht so gewesen sein und dass wir uns getäuscht haben müssen. Wir haben uns aber nicht getäuscht, sondern es war genau so, wie wir es erlebt haben! Ich habe Dir die Geschichte dazugelegt, und Du kannst mal gucken, ob sie gut ist, vielleicht wird ja mal ein Buch draus. Da sind auch Zeitungsartikel dabei, wo so ein Blödsinn drinsteht, dass einem schlecht wird. Damit Du mal siehst, was Erwachsene so alles in die Zeitung schreiben, obwohl es gar nicht stimmt. Wir Kinder finden, es ist nur fair, wenn unsere Geschichte auch gelesen wird. Ich habe Dir alles genau so aufgeschrieben, wie es wirklich war. Es steht alles in dem dicken Heft.
Ganz liebe Grüße
Deine Lucy
Ich weiß nicht, was in Stonehill wirklich passiert ist. Aber ich finde, Lucy hat recht. Warum soll das, was die Kinder glauben, nicht genauso wichtig sein wie das, was die Erwachsenen glauben? Und deshalb könnt ihr jetzt Lucys Geschichte lesen.
Niemand hätte es für möglich gehalten, dass die Burrows es schaffen würden, unsere ganze Stadt an der Nase herumzuführen.
Es war das Spektakulärste, was je in Stonehill geschah, sogar spektakulärer als die Fast-Beerdigung von Mrs Bedingshire, die gar nicht tot war und von innen an den Sarg geklopft hat, als der Pfarrer gerade die Grabrede hielt. Der Sohn von Mrs Bedingshire und ein paar andere Gäste machten den Sarg auf, und zwei Tage später war sie wieder die Alte und saß fröhlich am Kopfende des Tisches, als alle gemeinsam das Beerdigungsessen aufaßen.
Mein großer Bruder Jeremy sagt, dass ich meine Geschichten ruhig aufschreiben soll, weil in Büchern auch Sachen drinstehen dürften, die nicht wirklich passiert sind. Er ist zwar erst sechzehn, aber genau wie die Erwachsenen in unserer Stadt tut er so, als ob die Burrows ganz normale Menschen gewesen wären und Cleopatra eine normale Katze.
Aber das stimmt nicht.
Es war alles ganz anders.
Der Tag, an dem alles begann, war der zehnte Oktober.
Es war ein ganz gewöhnlicher Herbsttag in Stonehill. Draußen fegte der Wind durch die Bäume, und gelbe und orange Blätter segelten auf den Boden. Drinnen, in unserer Küche, war die übliche Morgenhektik im Gang.
Mama machte Frühstück, und mein kleiner Bruder David packte seine Kindergartentasche. Er stopfte Kekse und unseren Goldfisch Dr. Watson hinein. Jeremy nahm Dr. Watson wieder raus und brachte ihn in seine Goldfischglaskugel zurück. Mein Zwillingsbruder Tim aß wie jeden Morgen seine Cornflakes und machte beim Kauen mit offenem Mund so einen Krach, dass ich ihn anstupste und die Milch aus der Schüssel schwappte.
Während meine Mutter fluchte, dass vier Kinder am Morgen vier zu viel sind, machte sich mein Vater auf den Weg zur Arbeit. Er arbeitet, wie fast alle hier in Stonehill, in einem Berg und schlägt Edelsteine aus den Felsen. In den Hügeln um Stonehill gibt es nämlich eine Menge Quarze, die man aber erst mal aus den Hügeln rausklopfen muss, bevor sie zu Edelsteinen geschliffen werden können und schließlich glitzern und glänzen. Dann werden sie an Goldschmiede verkauft, die daraus Ketten und Ohrringe und anderen Schmuck machen. Alle, die die Steine aus den Hügeln klopfen oder schleifen oder verkaufen, bekommen den Schmuck billiger, und deswegen sehen alle Frauen in Stonehill aus wie geschmückte Weihnachtsbäume auf zwei Füßen.
Das Einzige, was in Stonehill noch fehlt, sagte mein Vater, ist ein Edelsteinmuseum. Dann würden Leute von überallher kommen, um sich die Edelsteine anzusehen, und sie würden die glitzernden Edelsteine kaufen wollen, und dann verdient Papa mehr Geld, und wir kriegen einen Swimmingpool in den Garten.
Bisher kam niemand hierher, denn niemand will wirklich zusehen, wie Leute mit großen Schutzbrillen im Berg stehen und mit großen Hämmern in den Fels hauen. Ein Museum zu bauen, ist aber irre teuer, sagte mein Vater. Wenn Stonehill eine Stadt wäre, hätte die Stadt genug Geld für so ein Museum. Für eine Stadt fehlten uns aber noch eine Handvoll Leute. Es ist nämlich so, dass aus einem Ort erst dann eine Stadt wird, wenn darin mindestens fünftausend Leute wohnen. Und in Stonehill wohnten damals nur viertausendneunhundertfünfundneunzig.
»Wenn der Tag kommt, an dem aus Stonehill eine Stadt wird, fresse ich einen Besen«, sagte meine Mutter, denn jedes Mal, wenn ein paar Kinder zur Welt kamen und wir fünftausend Einwohner gewesen wären, starb garantiert wieder irgendwer, und es war wieder nichts mit der Stadt und dem Geld und dem Museum.
Vielleicht fragt ihr euch, warum ich so etwas Langweiliges überhaupt erzähle, aber es ist deswegen wichtig, weil es wegen der Burrows dann schließlich doch eine Stadtfeier gab und an jenem Tag das Spektakulärste passierte, was je in Stonehill geschehen war.
An diesem Morgen wusste aber noch niemand, dass heute die Geschichte beginnen würde, von der man in Stonehill wahrscheinlich in hundert Jahren noch spricht. Wie ich schon sagte, es war ein ganz gewöhnlicher Herbsttag.
Als Tim und ich endlich aus dem Haus kamen, warteten die anderen schon auf uns. Die anderen Kinder aus der Maple Street, das sind Annie Clover, Owen Cline, Evan Carter, Tina Westermann und Jenny Garner.
Jenny Garner ist meine Cousine und außerdem meine beste Freundin. Manchmal ist es Tina Westermann, aber nur dann, wenn Jenny mal wieder eine ihrer Launen hat.
»Habt ihr den Text über die Geschichte von Stonehill gelesen?«, fragte Jenny.
Das war unsere Hausaufgabe für heute gewesen. Wir sollten nämlich ein wenig mehr über Stonehill erfahren, hatte unsere Lehrerin gesagt, aber da gab es nicht viel zu lesen. Der Text füllte gerade mal zwei Seiten in unserem Schulbuch.
»Ja«, sagte Evan, »aber ich bin dabei eingeschlafen. Ich wette, nirgendwo auf der Welt ist es so langweilig wie hier.«
Er wusste ja nicht, wie unrecht er hatte.
Noch bevor die erste Schulstunde begann, war es in unserer Klasse schon richtig rundgegangen.
Jimmy Woods hatte sich mit Evan Carter geprügelt, Owen Cline hatte Mallory Lesters Wasserfarbkasten von ihrem Pult geklaut und mit Tom Severins Hilfe auf dem Klassenschrank versteckt, und Jeannie Pitts heulte wie ein Schlosshund, weil Annie Clover »Pitbull, Pitbull« gerufen und dazu gebellt hatte wie ein Hund.
Irgendwann kam unsere Lehrerin Mrs Hersham hereingeschossen. Sie nahm das große Lineal, das neben der Tafel hing, und schlug damit so fest auf den Tisch, dass es sich durchbog.
»Ich mache Kleinholz aus euch«, brüllte sie, »und damit baue ich eine Wallfahrtskirche!«
Das wirkte. Niemand wollte als Holzstückchen in der Wand einer Wallfahrtskirche enden, und dass Mrs Hersham aus uns Kleinholz machen würde, daran bestand kein Zweifel.
Mrs Hersham war groß und kräftig, und auch ihre hellrosa Kleidung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie alles andere als harmlos war.
»Sie sieht aus wie ein Marshmallow«, hatte Owen Cline damals gesagt, als Mrs Hersham zum ersten Mal in ihrem hellrosa Mantel in unser Schulzimmer gedampft kam wie ein Schneepflug. Seitdem nannten wir Mrs Hersham heimlich Marshie. Marshie konnte richtig wütend werden, und wir verstummten alle augenblicklich, als Marshie sich vorne am Pult aufbaute wie ein über dem Feuer aufschäumendes Marshmallow.
»Ich muss noch mal ins Lehrerzimmer«, verkündete Marshie. »Wenn ich zurückkomme, ist hier alles tipptopp in Ordnung. Wer auch immer es war, der den Wasserfarbkasten auf den Schrank gelegt hat, holt ihn runter und gibt ihn zurück. Und, Annie, wenn ich dich noch einmal bellen höre, bringe ich dich höchstpersönlich ins Tierheim. Hunde gehören nicht in meine Klasse.«
Marshie lässt keine Gelegenheit aus, uns daran zu erinnern, dass Tiere in unserer Klasse nicht erwünscht sind. Das hat einen guten Grund, aber davon erzähle ich später.
Tatsächlich war es still wie in einer Kirche, als wir kurz darauf Marshies Schritte wieder draußen auf dem Gang hörten. Wir wollten alle nicht zu Kleinholz gemacht werden, und Annie wollte nicht ins Tierheim. Dann ging die Tür auf, und Marshie wogte herein. Sie war aber nicht allein. Hinter ihr betrat ein Mädchen unsere Klasse. Die Stille wurde, falls das möglich ist, noch stiller.
»Das hier ist Viola Burrow«, sagte Marshie. »Sag Hallo, Viola.«
»Hallo, Viola«, sagte Viola Burrow.
Wir mussten alle lachen.
»Viola ist mit ihren Eltern und Großeltern aus Virginia hergezogen«, erklärte Marshie. »Ich hoffe, ihr seid nett zu ihr und werdet gute Freunde!« Dann wedelte sie mit den Armen, und wir wussten, dass wir Viola begrüßen sollten, aber wir wussten nicht, wie. Es war noch nie jemand neu in unsere Klasse gekommen. »Herzlich willkommen, Viola«, »Hallo, Viola« und »Schön, dass du da bist, Viola« riefen wir alle durcheinander.
Marshie verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
Wir alle schauten Viola neugierig an. Sie trug ziemlich seltsame Kleidung: einen langen, lilafarbenen Rock und einen ebenso lilafarbenen Pullover. Im Haar leuchtete eine lila Schleife, und selbst die Stiefel waren lila. Was ihr Aussehen betraf, schien sie also schon mal gut zu uns zu passen, denn in unserer Klasse laufen viele Kinder in seltsamen Sachen rum:
Annie Clover kam ausschließlich in Rüschenkleidern zur Schule.
Tina Westermann trug nur Pullover, die ihre Mutter selbst strickte (meistens war ein Ärmel zu lang, oder ein paar Wollfäden hingen heraus), und ihre Brille war ziemlich unmodern.
Steve Warren wurde von seiner Mutter jeden Morgen in einen Anzug gesteckt (wofür wir ihn heftig bemitleideten), und Nina Stringers Brille war so groß und dick wie die Panzerglasscheiben in den Fenstern der SYM-Bank in unserer kleinen Stadt.
Da war Viola mit ihren auffälligen lila Kleidern in bester Gesellschaft.
Die Einzige, die Viola missmutig betrachtete, war Mallory Lester. Eigentlich schaute sie eher Violas Haare missmutig an. Violas Haare waren sehr lang und sehr schwarz und schimmerten, als ob jemand Klarlack darübergesprüht hätte. Mallorys Haare waren zwar fast genauso lang, allerdings glänzten sie nicht, sondern standen struppig von ihrem Kopf ab wie die Haare eines Straßenköters. Das lag aber nicht daran, dass Mallory sie nicht kämmte, sondern daran, dass sie ständig in irgendwelchen Bäumen und Büschen herumkletterte und sich dabei laufend Zweige in ihren Haaren verfingen. Manchmal jammerte Mallory dann, dass lange Haare ein Mist sind, aber als Steve Warren im Bastelunterricht einmal hinter ihr saß und die Schere schon halb in Mallorys Haarwust hatte, um ihr den Mist abzuschneiden, hat sie Steve eine gescheuert, und es gab ein riesiges Theater, und Mallory sagte, wenn noch mal jemand mit einer Schere in die Nähe ihrer Haare kommt, bringt sie ihn um. Wahrscheinlich war Mallory sehr neidisch auf Violas Haare. Viola sah aber auch wirklich schön aus mit ihrer schimmernden Haarpracht und ihrem Gesicht, das dem einer feinen Puppe glich.
Tom Severin und Steve Warren husteten, und Owen Cline wurde rot wie eine überreife Tomate. Ich glaube, sie alle verliebten sich auf der Stelle in Viola Burrow.
»Setz dich dahinten hin«, sagte Marshie und zeigte auf ein leeres Pult ziemlich weit hinten. Viola marschierte los, und plötzlich traute ich meinen Augen nicht: Hinter Viola her spazierte eine Katze! Eine Katze mit schwarzem, glänzendem Fell und einem weißen Fleck mitten auf der Brust. Die Katze (sie hieß Cleopatra, wie wir später erfuhren) sah an sich schon ziemlich ungewöhnlich aus. Die Katzen, die hier in Stonehill lebten, waren alle gewöhnlich braun oder getigert, keine von ihnen hatte seidiges, leuchtendes Fell. Außerdem waren die Augen dieser Katze nicht katzengrün oder grau, sondern sie schimmerten fast lila. Aber noch viel ungewöhnlicher war, dass überhaupt eine Katze in unserem Schulzimmer herumspazierte.
Wir schauten alle abwechselnd von der Katze zu Marshie und wieder zurück, aber Marshie tat so, als sei die Anwesenheit einer Katze in unserem Klassenraum das Normalste der Welt. Dabei hatte Marshie ein absolutes Tierverbot in unserer Klasse verhängt. Sie hatte nämlich schlechte Erfahrungen mit Tieren in unserem Klassenraum gemacht. »Da ist sie aber selber schuld«, fand Owen Cline.
Es war so gewesen:
Marshie hatte damals gesagt, wir würden im Zeichenunterricht nun beginnen, Tiere zu zeichnen, und dafür durfte jeder sein Haustier mitbringen. »Aber nichts, was nicht in einen Käfig passt!«, hatte sie gesagt. Wir wussten, dass Marshie keine Hunde mochte, zumindest nicht in der Schule, und vermutlich wollte sie mit ihrem Käfig-Trick verhindern, dass jemand einen Hund mitbrachte.
Aber Marshie hatte nicht mit Owen Clines Klugheit gerechnet. Deswegen fiel sie auch fast in Ohnmacht, als eine Woche später mitten in der Zeichenstunde die Tür aufging und Owen, Jimmy Woods, Evan Carter und Tom Severin rotgesichtig und verschwitzt wie Footballspieler einen riesigen Käfig in die Klasse schoben. Ich weiß nicht, wie sie das Kunststück fertigbrachten, den Käfig durch die Tür zu bugsieren, und wie sie es überhaupt geschafft hatten, ihn den ganzen Weg von Owens Haus hierherzuschleifen, aber sie hatten es geschafft. In diesem Käfig, der nun neben Marshies Pult auf dem Boden stand , saß Dodgie, Owens Schäferhund. Er schaute Marshie träge an, wuffte kurz und gähnte.
Später stellte sich heraus, dass Owen, Evan und Tom die Vogelvoliere im Wohnzimmer von Jimmy Woods’ Eltern für passend befunden hatten, um Dodgie zu transportieren, und da Vögel und Hunde in einem Käfig keine gute Zeit miteinander haben würden, hatte Jimmy die fünf Nymphensittiche freigelassen.
»Die haben ohnehin immer so in den Garten geguckt, als ob sie viel lieber da draußen wären«, hatte Jimmy sich später verteidigt, als seine Eltern Suchaktionen mit Plakaten veranstalteten. Wahrscheinlich stimmte das sogar, denn die Vögel kamen nie wieder zurück, sondern trieben in unserem Stadtpark ihr Unwesen, wo sie voller Freude älteren Damen die Hüte von den Köpfen rissen. Einmal erwischten sie sogar das Haarteil von Annabelle Solanges Vater.
Jedenfalls war Marshie ganz schön geschockt gewesen, als die Jungen den Käfig mit Dodgie drin in unser Klassenzimmer schleiften.
»Nichts, was nicht in einen Käfig passt, haben Sie gesagt«, sagte Owen Cline laut und deutlich, und Marshie wurde pink im Gesicht, als hätte man ein Marshmallow in Erdbeersoße getunkt.
Seither lautete die unmissverständliche Regel:
Keine Tiere in der Schule.
Überhaupt keine.
Dass nun eine schwarz glänzende Katze einfach so durch unseren Klassenraum spazierte, war das unerhörte Ereignis des Jahres.
»Du wirst sehen«, flüsterte mir Owen von hinten zu, »gleich springt Marshie vor Wut an die Decke, und dann macht es puff, und es regnet Marshmallow-Flöckchen.«
Das geschah natürlich nicht, aber tatsächlich geschah auch sonst nichts. Marshie tat einfach so, als wäre überhaupt keine Katze da! Andrea Baker schnipste wie verrückt mit den Fingern.
»Ja, was ist denn, Andrea?«, sagte Marshie.
»Mrs Hersham«, sagte Andrea. »Da ist eine Katze im Zimmer.«
Andrea meldet sich immer wegen allem, und sie wird verrückt, wenn der Lehrer sie nicht drannimmt. Manchmal beugt Andrea sich dann sogar übers Pult und schnipst so heftig, dass sie fast auf dem Lehrerschoß landet. Ich glaube, Andrea geht Mrs Hersham mächtig auf den Wecker, aber das sagt sie natürlich nicht.
»Baker«, sagte Marshie nun, »ich habe selbst Augen im Kopf. Das war ganz, ganz unnötig. Oder hältst du mich für blind?«
Andrea wurde vor Schreck leichenblass.
»Also?«, fragte Marshie. »Hältst du mich für blind, oder was?«
»N-nein«, stotterte Andrea.
»Na dann«, sagte Marshie, »kannst du den Arm ja wieder runternehmen, oder?«
Andrea nickte und nahm den Arm runter.
»Normalerweise sind Tiere in der Schule ja verboten«, sagte Marshie. »Das wisst ihr. Ich habe die Regel selbst aufgestellt. Aber in diesem Fall mache ich für Viola eine Ausnahme. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie schwer es ist, irgendwo ganz neu zu sein. Viola kennt noch niemanden in Stonehill, und weil ihre Katze Cleopatra sonst immer bei ihr ist, darf sie sie auch mit in die Schule bringen, bis sie Freunde gefunden hat. Und das wird bestimmt nicht allzu lange dauern. Ihr werdet euch alle gut um Viola kümmern, nicht wahr?«
Alle nickten eifrig. (Andrea Baker nickte besonders eifrig. Sie nickte so eifrig, dass ihr die Brille von der Nase fiel.)
Wir begannen gleich nach der Stunde damit, uns um Viola zu kümmern.
»Das ist aber eine schöne Katze«, sagte Tina Westermann und streckte die Hand aus, um Cleopatra zu streicheln.
Bevor sie sich’s richtig versah, hatte Cleopatra Tina schon die Krallen übergezogen, und aus einem dicken, tiefen Kratzer, der quer über ihren Arm lief, tropfte Blut. Leider wird Tina schlecht, wenn sie Blut sieht, und deswegen ist sie dann auch gleich, als sie mit Schreien fertig war, in Ohnmacht gefallen. Cleopatra hat einen Buckel gemacht und gefaucht, Viola hat auf Cleopatra eingeredet, und Mallory hat auf Tina eingeredet, und Owen und Evan haben an Tina gerüttelt, damit sie wieder zu sich kommt. Es dauerte auch nicht lange, bis Tina die Augen wieder öffnete, denn Evan war durchaus nicht zimperlich beim Rütteln.
»Es ist vielleicht besser, wenn keiner versucht, Cleopatra zu streicheln«, sagte Viola entschuldigend, als sich der Tumult gelegt hatte. »Sie mag es nicht so gern, von Fremden angefasst zu werden.«
»Wieso denn nicht?«, fragte Jenny. »Wir tun ihr doch nichts.«
»Na und, kann Cleopatra ja nicht wissen, oder?«, sagte Owen und wurde rot.
Jenny sah aus, als würde sie Owen am liebsten ans Schienbein treten. »Cleopatra sieht aus wie eine Hexenkatze«, sagte sie.
»So ein Schwachsinn«, sagte Owen. »Es gibt keine Hexen, und schon gar keine Hexenkatzen!«
Jenny blitzte ihn wütend an und stapfte davon. Viola tat so, als ob sie nichts gehört hätte. Sie tat mir ein bisschen leid, weil Jenny so unfreundlich gewesen war. Also fragte ich: »Magst du mich heute Mittag besuchen kommen?«
»Gern«, sagte Viola und strahlte mich an. »Darf ich Cleopatra mitbringen?«
»Klar«, antwortete ich.
Jenny warf mir von ihrem Platz einen bitterbösen Blick zu. Es sah ganz so aus, als würde sie in der nächsten Zeit nicht meine beste Freundin sein wollen.
Pünktlich um vier Uhr an jenem Nachmittag klingelte es. Es war Viola. Cleopatra stand neben ihr und schaute sich neugierig um.
»Hallo«, sagte Viola.
»Hallo«, sagte ich. »Ist ja lustig, dass deine Katze immer neben dir herläuft. Rennt sie denn nie weg?«
»Nein«, sagte Viola. »Sie geht immer bei Fuß.«
»Irre«, sagte ich. »Ich habe noch nie eine Katze gesehen, die bei Fuß geht.« Viola und Cleopatra traten ein, und ich zeigte Viola, wo sie ihren lila Mantel aufhängen konnte. Cleopatra spähte währenddessen durch die geöffnete Küchentür.
»Habt ihr auch Katzen?«, fragte Viola.
»Leider nicht«, sagte ich. »Meine Mutter sagt, vier Kinder und ein Goldfisch reichen ihr.«
»Oh«, sagte Viola. »Geschwister sind doch bestimmt auch toll. Ich habe leider keine.«
»Na ja«, sagte ich. »Meinen Zwillingsbruder Tim kennst du ja. Der ist genauso kindisch wie die anderen Jungs aus unserer Klasse. Mein großer Bruder Jeremy redet ziemlich selten mit mir, und wenn, zieht er mich sowieso nur auf. Und mein kleiner Bruder David ist erst vier, er rennt mir immer hinterher.«
Viola grinste. »Ich finde, das klingt ziemlich nett«, sagte sie.
Wir gingen in die Küche, um einen Kakao zu machen. Ich nahm die Milch aus dem Kühlschrank, schüttete Kakaopulver in zwei Tassen und kippte die Milch darauf. Dann stellte ich die Tassen in die Mikrowelle und drückte den Startknopf.
»Ihr habt es aber schön hier«, sagte Viola und sah sich in der Küche um. Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob wir es schön hatten, aber jetzt, wo Viola es sagte, fand ich das auch.
Unsere Küche ist ziemlich groß und immer ein bisschen unaufgeräumt. Weil die Küchenmöbel alt sind, durften Tim und ich sie letztes Jahr bunt bemalen. Jetzt leuchten alle Schränke in verschiedenen Farben. Papa sagt, er darf nirgends zu lange draufgucken, weil ihm dann schwindlig wird, aber dann lacht er und sagt, so eine Küche gibt es nirgends sonst, nur bei uns. Mama erwidert darauf, so eine Unordnung gibt es auch nirgends sonst, nur bei uns, und dass vier Kinder schlimmer sind als Wollmäuse und Schimmel an der Wand.
Ich wunderte mich, wo Mama steckte, denn sie war ganz neugierig auf Viola gewesen, als ich beim Mittagessen von ihr erzählt hatte, und sie wollte sie gern kennenlernen. Also ging ich gemeinsam mit Viola meine Mutter suchen.
Wir fanden sie im Bad, wo sie David, der fröhlich in der Badewanne saß, gerade die Haare waschen wollte.
David planschte mit seinen kleinen, dicken Händen im Seifenschaum und sang »Schaumschäumschummschumm«.
»Hallo, Mama«, sagte ich. »Das ist Viola.«
»Oh«, sagte Mama und sah auf. Sie lächelte Viola an und hielt ihr einen schaumverzierten Ellenbogen hin.
Viola schüttelte Mamas Ellenbogen, und Mama lachte.
»Tut mir leid, dass ich euch nicht bewirten kann. Ihr seht ja, was hier los ist!«
David hatte mit beiden Händen Seifenschaum abgeschöpft und verteilte Schaumhäufchen auf dem Badezimmerboden.
»Aber das macht doch nichts«, sagte Viola höflich.
Cleopatra sprang auf den Badewannenrand. Vorsichtig stolzierte sie um die ganze Wanne bis zu dem Schälchen, in dem Mama ihren Schmuck deponiert, wenn sie David badet.
»Cleopatra!«, sagte Viola warnend. »Aus!«
Cleopatra streckte den Kopf vor und stupste Mamas grünen Smaragdring mit der Nase an. Das Schälchen wackelte bedenklich.
»Cleopatra Nosferata Diavola!«, schimpfte Viola. »Jetzt ist es aber genug!« Sie packte die Katze, hob sie hoch und setzte sie auf dem Badezimmerteppich ab.
»Katzen sind neugierig«, sagte Mama. »Aber kleine Kinder sind viel schlimmer!« Sie nahm David den Lippenstift ab, den er gerade ins Wasser tunkte.
»Wir gehen dann mal in mein Zimmer«, sagte ich.
»Ja«, sagte Mama. »Macht euch einen schönen Nachmittag, ihr beiden. Papa bringt nach der Arbeit Pizza mit. Heute kommt er wohl pünktlich aus dem Berg.«
»Mein Vater ist Minenarbeiter in der Edelsteinmine«, erklärte ich Viola auf dem Weg in mein Zimmer. »So wie fast alle Erwachsenen in Stonehill.«
»Ja«, sagte Viola. »Das habe ich mir schon gedacht. Hier in Stonehill dreht sich alles um Edelsteine, nicht wahr?«
»Du sagst es«, seufzte ich. Für Fremde war so etwas sicher spannend, aber ich selbst fand es eher trostlos, den ganzen Tag in einer dunklen Höhle zu stehen und Steine aus Felsen zu schlagen.
»Was machen denn deine Eltern?«, fragte ich, während ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Cleopatra schlüpfte geschmeidig an mir vorbei hinein und reckte neugierig den Kopf.
»Ach, langweiligen Kram«, sagte Viola. »Meine Eltern sind Händler. Sie handeln mit Edelsteinen.«
Ich wollte gerade fragen, ob die Burrows deswegen nach Stonehill gezogen waren, als Viola hinter mir durch die Tür kam und ihr ein »Wow!« entfuhr. Sie blieb wie angewurzelt stehen und sah sich mit großen Augen um. Ich freute mich sehr darüber, dass Viola so beeindruckt war. Natürlich hatte ich oft Besuch, von Jenny oder Tina oder einem der anderen Kinder aus der Maple Street, aber die kannte ich alle schon, seit ich ein Baby war, und für sie war mein Zimmer nichts Besonderes mehr. Viola aber war offensichtlich so fasziniert davon, dass auch ich mein Zimmer wieder mit ganz anderen Augen sah.
Die Tapete meines Zimmers ist hellgrün und mit vielen kleinen, bunten Blättern und Blumen bedruckt. Mein Bett steht neben dem großen, hohen Fenster mit den gelben Vorhängen, und an der Wand hängen Bilder, die mein Onkel malt. Auf jedem sind Zwerge zu sehen, die mit Gold beladene Rucksäcke aus einem Berg tragen. Das Schönste aber ist die Edelsteinsammlung, die ich in einem Glasschränkchen aufbewahre. Hin und wieder bringt Papa mir Edelsteine mit, die nicht gut genug waren, um weiterverarbeitet zu werden. Sie waren entweder nicht klar genug oder zu klein oder hatten nicht die richtige Farbe. Aber trotzdem waren sie wunderschön, und Papa wusste, wie man sie so schleift und poliert, dass sie glitzern und funkeln. Jetzt schien gerade die Sonne in mein Zimmer, und ein paar Strahlen ließen die Steinsammlung besonders bunt leuchten.
Viola trat ganz nahe an das Schränkchen heran. »Sie sind wunderschön«, flüsterte sie.
Für die anderen Kinder aus der Maple Street war die Steinsammlung nichts Besonderes, weil ja fast alle von ihren Eltern hin und wieder solche Steine mitgebracht bekamen.
Aber ich konnte mir gut vorstellen, wie es für jemand Fremden sein musste, zum ersten Mal so herrliche Steine zu sehen. »Wenn du magst, erkläre ich dir, wie sie heißen«, sagte ich. Aber dann fiel mir ein, was Viola eben über ihre Eltern gesagt hatte.
»Wenn deine Eltern mit Edelsteinen handeln, hast du bestimmt auch welche zu Hause«, sagte ich. »Dann kennst du das alles ja schon.« Ich war fast ein bisschen enttäuscht.
»Nein, nein, überhaupt nicht!«, sagte Viola hastig.
»Nicht?«, fragte ich erstaunt.
»Ich meine«, stotterte sie dann, »meine Eltern handeln nur mit Edelsteinen, also, sie treffen sich mit irgendwelchen Leuten und gehen in Fabriken, aber wir haben nie selbst Edelsteine zu Hause. Nur ab und zu mal einen Katalog.«
»Ach so«, sagte ich. »Na, das ist ja echt nicht so spannend.«
Viola lächelte mich erleichtert an. »Nein«, sagte sie. »Wäre schon interessanter, wenn man berühmte Schauspieler als Eltern hätte, oder?«
Wir mussten beide lachen.
Ich öffnete den Glasschrank und nahm die verschiedenen Samttafeln heraus, auf denen ich die Steine angeordnet hatte. Wir setzten uns auf meine großen Sitzkissen, und ich breitete die Samttafeln auf dem Boden aus.
Cleopatra reckte ihren Kopf so weit vor, dass sie sich fast den Hals verrenkte. Ihre Schnurrhaare zitterten leicht.
»Komm her, Cleo«, sagte Viola und nahm die Katze auf den Schoß. »Ich halte sie lieber fest«, erklärte sie mir. »Bevor sie noch welche von den Steinen frisst!«
Ich musste lachen, denn die Vorstellung, dass eine Katze Edelsteine fraß, war einfach zu komisch.
»Ja, ja«, seufzte Viola. »Du hast ja keine Ahnung, wie neugierig Cleo ist. Wenn man nicht aufpasst, frisst sie alles, was ihr in den Weg kommt!«
Das erinnerte mich sehr an meinen kleinen Bruder. David hatte mal einen Bergkristall heruntergeschluckt, aber es war ihm nichts passiert. Der Stein war ein paar Tage später auf, na ja, mhm … natürlichem Weg wieder aufgetaucht. Aber dann wollte ich ihn nicht mehr haben.
Ich hätte zwar nicht gedacht, dass sich Viola so für die Steine interessierte, aber es machte mir Spaß, ihr die verschiedenen Sorten zu erklären: die grünen Smaragde, die blauen Saphire, die roten Rubine und all die anderen vielen Arten, die es so gab. Von einigen hatte Viola schon etwas gehört, andere kannte sie aber offenbar noch nicht.