Die Malerin von Paris - Marie Caroline Bonnet - E-Book

Die Malerin von Paris E-Book

Marie Caroline Bonnet

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Beschreibung

Frankreich, 1855: Die junge Lydie flieht vor einer arrangierten Ehe nach Paris. Doch als Frau allein in der Stadt setzt sie sich schlimmen Gefahren aus, weshalb sie sich entschließt, fortan als Mann aufzutreten. Unter Studenten und Künstlern findet Lydie Freunde und verdient ihren Lebensunterhalt dank ihres Talents als Malerin auf den Straßen von Paris.
Aber wieder schlägt das Schicksal zu: Lydie verliebt sich in Kilian, ihren besten Freund, und fürchtet stets, dass ihr Geheimnis entdeckt wird. Als sie dann auch noch ihre Vergangenheit einholt, muss Lydie erneut fliehen. Nicht ahnend, dass sie diese Entscheidung geradewegs in einen Krieg führt ... Wird sie ihr geliebtes Paris je wiedersehen - und Kilian?

Ein dramatischer historischer Roman über eine starke Frau, die trotz aller Widerstände ihren Weg geht.

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Inhalt

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Über dieses Buch

Frankreich, 1855: Die junge Lydie flieht vor einer arrangierten Ehe nach Paris. Doch als Frau allein in der Stadt setzt sie sich schlimmen Gefahren aus, weshalb sie sich entschließt, fortan als Mann aufzutreten. Unter Studenten und Künstlern findet Lydie Freunde und verdient ihren Lebensunterhalt dank ihres Talents als Malerin auf den Straßen von Paris.

Aber wieder schlägt das Schicksal zu: Lydie verliebt sich in Kilian, ihren besten Freund, und fürchtet stets, dass ihr Geheimnis entdeckt wird. Als sie dann auch noch ihre Vergangenheit einholt, muss Lydie erneut fliehen. Nicht ahnend, dass sie diese Entscheidung geradewegs in einen Krieg führt … Wird sie ihr geliebtes Paris je wiedersehen – und Kilian?

Über die Autorin

Marie Caroline Bonnet ist das Pseudonym der Kieler Autorin Jessica Weber. Die gelernte Schifffahrtskauffrau liebt es, das Meer vor der Tür zu haben. Wenn sie nicht schreibt, arbeitet sie als Lektorin, Korrektorin und Sekretärin. In ihrer Freizeit fertigt sie ausgefallene Motivtorten an, ist in der Mittelalterdarstellung aktiv und reist viel, gern auch zu Recherchezwecken. Außer historischen Romanen mit und ohne Romantik schreibt sie Kurzgeschichten und liebt Gemeinschaftsprojekte mit Autorenkolleginnen.

MARIE CAROLINE BONNET

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause

Covergestaltung: © Andrea Barth, Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © Franck-Boston/istock ; © Victoria Gnatiuk/gettyimages ; © Chainarong Prasertthai/gettyimages ; © JackF/istock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-9500-6

be-ebooks.de

lesejury.de

Für die Menschen, die in Zeiten des Zweifelns die richtigen Worte finden

1

Strand bei Vielle-Saint-Girons, April 1855

Lydie grub ihre Finger in den kalten Sand. Die Feuchtigkeit kroch durch ihr Kleid und den Unterrock bis an ihre nackte Haut. Die Schwestern und die Mutter wussten nicht, dass sie da war und sie beobachtete. Die aufgehende Sonne verlieh dem Dunst über dem Meer ein magisches Leuchten. Der mächtige Zweimaster wirkte mit seinen Segeln wie ein gezacktes Ungetüm, das aus dem Nebel auftauchte, um den Strand und seine Menschen zu verschlingen. Das Schiff lag jedoch vor Anker, ein gebändigter Riese, nur das winzige Beiboot mit zwei Mann Besatzung bewegte sich langsam auf das Ufer zu.

Das Gejammer der Schwestern drang zu ihr herüber, während das goldene Licht des Morgens intensiver wurde. Sie weinten, weil die eine ging und die andere ohne sie zurückblieb. Auch Lydies Gesicht war tränenüberströmt, wie sie mit einiger Überraschung feststellte. Sie merkte meist erst, dass sie weinte, wenn ihr die Tropfen aufs Dekolleté fielen.

Sie weinte nicht aus denselben Gründen wie die anderen. Das tat sie nie. Lydie weinte, weil sie bleiben musste.

Ihr graute davor, dass Céleste, nun, da Fabienne fort und bald verheiratet wäre, versuchen würde, die eine Schwester durch die andere zu ersetzen. Sie konnte nichts anfangen mit dem Gerede über Kleider, Mode, Männer. Sie wollte weder eine Vertraute haben noch eine sein.

Einer der Seeleute ergriff Fabiennes Hand, mit der anderen raffte sie ihr Kleid und kletterte in das Beiboot, das sich sofort in Bewegung setzte. Das kleine Gefährt wurde unschärfer, je weiter es sich auf den Zweimaster zubewegte. Fabienne hielt ihren Hut fest und winkte mit ihrem Taschentuch, Céleste und ihre Mutter taten es ihr nach.

Du Glückliche, dachte Lydie. Fort von hier.

In eine Ehe allerdings, die der Vater gestiftet hatte. Das mochte noch schlimmer sein als das Leben auf einem abgelegenen Gutshof oder in einem ebenso einsamen Strandhaus. Lydie konnte nur hoffen, dass ihr nichts Ähnliches widerfahren würde.

So, wie du dich gebärdest, finden wir nie einen Mann für dich.

Die Worte der Mutter nährten diese Hoffnung ebenso wie die des Vaters.

Du bist zu klug, Lydie. Männer mögen keine klugen Frauen.

Er sagte es liebevoll, doch mit einem Hauch von Verzweiflung.

Lydie hielt sich nicht für klug. Wäre sie es gewesen, hätte sie längst einen Roman beendet, ein großes Kunstwerk erschaffen. Für ihre Texte jedoch interessierte sich niemand. Wenn sie sie selbst las, kamen sie ihr bedeutungslos vor. Sie war kein Victor Hugo, kein Alexandre Dumas, würde es nie sein. Ihre Bilder zumindest waren nett genug, dass der Vater eines in seinem Arbeitszimmer daheim auf dem Weingut aufgehängt hatte und regelmäßig Zeichenstifte, Leinwand und Farben für sie bestellte. Sie hatte sogar Unterricht erhalten im Sommer vor zwei Jahren, als der alte Monsieur Diderot zu ihnen ins Haus gekommen war, um ihr die grundlegenden Techniken der Kreide-, Öl- und Aquarellmalerei zu vermitteln. Er hatte sie gelobt, aber schließlich hatte er ein Gehalt bezogen. Was also hätte er sonst sagen sollen? Dass ihre Werke grauenhaft waren? Gewiss nicht.

Lydie legte sich im Sand auf den Rücken und starrte in den Himmel, bis dieser das Hellblau eines strahlenden Frühlingstages angenommen hatte und ihr wieder warm war. Dann seufzte sie und kam schwankend auf die Füße. Das Schiff war verschwunden, der Strand menschenleer. Sie trat an die Wasserkante und ließ die Wellen ihre nackten Zehen überspülen. Ihr Vater hatte angekündigt, nach dem Frühstück mit ihr reden zu wollen. Sie musste grinsen, trat einen Schritt vor, dann noch einen. Vielleicht entkam sie dem Gespräch, wenn sie das Frühstück verpasste …

Das Meer hatte Kraft hier am südwestlichsten Zipfel des Landes. Bald war der Saum von Lydies Kleid durchtränkt. Sie hob es an, und die nächste Welle klatschte gegen ihre Schenkel, die übernächste schlug so hoch, dass ihr die Gischt ins Gesicht spritzte. Kichernd rieb sie sich mit dem Ärmel die salzigen Tropfen von den Wangen und wandte sich zum Gehen, doch es war, als wollte die See sie festhalten. Sie sackte in den Boden ein, fühlte sich plötzlich, als würde sie auf Treibsand stehen. Furcht erfasste sie, und sie kämpfte gegen die Strömung an, die sie weiter vom Strand wegziehen wollte. Unter größter Kraftanstrengung gelang es ihr, zurück an Land zu treten. Keuchend und mit rasendem Herzen stand sie da und schalt sich eine Närrin. Hatte sie denn in den Herbst- und Wintermonaten auf dem Gut alles vergessen, was sie im letzten Sommer am Meer gelernt hatte? Wenn die Flut ging und sich das Wasser zurückzog, nahm es unvorsichtige Menschen mit. Dumme, kleine Mädchen zum Beispiel, die Gesprächen mit Vätern entgehen wollten. Doch nicht auf diese Art. So doch nicht! Lydie sog noch einmal tief die Luft ein und machte sich auf den Weg zurück zum Sommerhaus ihrer Familie.

Fabiennes Verlobung war ein rauschendes Fest gewesen, das sie auf dem kleinen Anwesen nahe dem Strand gefeiert hatten anstatt auf dem abgelegenen Gut im Landesinneren – auf Wunsch des Bräutigams, dieses Erben eines bedeutenden Weinguts an der Loire. Viel bedeutender als ihr eigenes, das kaum genug Wein hervorbrachte, um die unmittelbare Umgebung zu beliefern, ganz zu schweigen von Exporten in den Rest des Landes oder gar ins Ausland. Fabiennes Ehe jedoch würde auch ihren Eltern zu höherem Ansehen verhelfen.

Ihr Bräutigam und seine Familie waren bereits vor einigen Tagen zu dringenden Geschäften vorausgereist, nun sollte Lydies Schwester ihnen nach Norden auf das Gut der Familie folgen. Ihr zukünftiger Mann hatte veranlasst, dass das Schiff an den nahen Strand gekommen war, um ihr die Unannehmlichkeiten einer Kutschfahrt in den nächsten Hafen zu ersparen.

Wie romantisch, hatte Fabienne gejauchzt.

Wie furchtbar, hatte Lydie gedacht, sich abholen zu lassen wie eine Ware. Nicht wertvoll genug, um sie gleich mitzunehmen.

Das Anwesen kam in Sicht, ein einzelnes Herrenhaus inmitten von Feldern. Wo doch schon das Gut einsam genug lag zwischen den weinbewachsenen Hügeln im Hinterland. Hier jedoch gab es immerhin das Meer, mehr Freiheit und weniger Notwendigkeit für steife Korsetts und Hutnadeln, die einem die Kopfhaut zerstachen. Als sie die Eingangstür aufschob, hatte sich Lydies Herzschlag beruhigt.

Der von Marie, ihrem Dienstmädchen, schien sich dagegen augenblicklich zu beschleunigen, als sie sie bemerkte.

»Oh, Mademoiselle Lydie! Was haben Sie angestellt?«

Lydie sah an sich hinab und zuckte mit den Schultern.

»Ich hab doch gerade gewischt!« Die junge Frau stemmte die Hände in die schmalen Hüften und deutete mit dem Kopf auf die Holzdielen, auf denen sich Sand und Feuchtigkeit ausbreiteten.

»Tut mir leid, Marie. Hab ich das Frühstück verpasst?«

»Natürlich!« Die dunklen Brauen zogen sich vorwurfsvoll zusammen, doch im nächsten Moment grinste das Mädchen und zwinkerte ihr zu. »Ein Teller steht in Ihrem Zimmer.«

»Danke!« Lydie lief zur Treppe, um sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen, als die Tür zum Zimmer ihres Vaters aufflog.

»Lydie Girard!«

Lydie erstarrte und wandte sich langsam um. Ihr Vater stand im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Weichst du mir aus, Tochter?«

Liebend gern würde ich das, dachte sie, sagte jedoch stattdessen: »Selbstverständlich nicht, Papa. Ich will mich nur rasch umziehen.«

Er trat vor sie. »Wie siehst du überhaupt aus?«

»Ich bin am Strand eingeschlafen. Ich war doch so traurig wegen Fabiennes Abreise, dass ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht habe. Jedenfalls, die Flut kam und …«

»Verschone mich mit deinen Märchen, Madame Perrault!«

Lydie musste kichern. Sie mochte es, wenn ihr Vater sie mit dem Namen des bedeutenden Schriftstellers ansprach.

Sie sah ihm an, dass er sich ein Schmunzeln verbeißen musste. »Geh dich waschen, und dann komm in mein Zimmer, ja?«

Lydie knickste und huschte die Treppe hinauf, stürzte sich auf das süße Brötchen, das Marie ihr bereitgestellt hatte, dann erst warf sie das Kleid von sich und klatschte sich Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht. Sie rubbelte sich trocken und war noch nicht wieder angezogen, als Céleste mit verweintem Gesicht in ihr Zimmer platzte.

»Dass du nicht mal am Strand warst, um dich von deiner Schwester zu verabschieden.« Anklagend zeigte sie mit dem Finger auf Lydie.

»Papa war auch nicht da. Außerdem hatte ich mich schon gestern Abend verabschiedet.«

»Und beim Frühstück warst du auch nicht, um Maman und mich zu trösten.«

Lydie seufzte. »Fabienne ist doch glücklich. Was gibt es da zu heulen?«

Céleste schnaubte. »Du selbstsüchtiges Ding!«

Ihre Schwester hatte recht, das war nicht von der Hand zu weisen. Lydie verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, der jedoch sogleich verging, als sich Céleste bäuchlings auf ihr Bett warf.

»Gestern ist eine Nachricht angekommen, sagt Marie.«

Lydie schnürte ihr Kleid am Dekolleté zu und verknotete die Enden der Bänder an ihrem Hals. »Aha.«

»Bist du nicht neugierig?«

»Nein.« Lydie streifte sich die Strümpfe über.

»Vielleicht will einer der Herren, die auf der Feier waren, um eine von uns anhalten!«

Der Schuh fiel Lydie aus der Hand, ehe sie ihn anziehen konnte. Sie starrte ihre Schwester an. »Wie kommst du denn darauf?«

Céleste grinste breit, da sie nun endlich Lydies Aufmerksamkeit hatte. Sie wickelte eines ihrer blonden Ringellöckchen um den Zeigefinger. »Nun …« Sie hob vielsagend die Brauen.

»Céleste!«

»Schon gut. Nun ja – es waren einige unverheiratete Herren anwesend. Ich meine, es könnte doch sein …«

Gott bewahre, dachte Lydie und zog sich die Schuhe an. »Ich muss hinunter, Papa will mich sprechen.«

»Oh …« Célestes Miene wurde säuerlich. »Dann geht es bei der Nachricht wohl um dich.«

»Ich hoffe nicht.« Sie ließ Céleste in ihrem Zimmer zurück und stapfte die Treppe hinab. Ihr Vater erwartete sie hinter seinem Schreibtisch.

»Setz dich, Lydie.« Er deutete auf einen Sessel. Lydie ließ sich in die weichen Polster sinken. »Ich will gleich zur Sache kommen. Gestern traf eine Nachricht ein …«

Nein, durchfuhr es Lydie. Nein!

»… von Monsieur Blanc.«

Die Worte hingen schwer im Raum, doch Lydie konnte sich keinen Reim darauf machen.

»Wer ist Monsieur Blanc?«

»Der Vetter deines zukünftigen Schwagers.«

»Welcher der vielen?« Der Bräutigam war zur Verlobungsfeier mit Vater, Mutter, zwei Brüdern, zwei Schwestern und vier Vettern angereist. Einige der Herren waren in Begleitung von Frauen erschienen, aber Lydie wusste beim besten Willen nicht mehr, wer zu wem gehört hatte.

»Monsieur Maurice Blanc. Erinnerst du dich nicht? Hellblondes Haar, hochgewachsen. Die Blancs besitzen ebenfalls ein Weingut an der Loire, doch weiter im Landesinneren gelegen als das, auf dem deine Schwester leben wird.«

Hellblondes Haar. Die meisten Männer der Familie waren dunkelhaarig gewesen, sodass dieser Herr ihr tatsächlich aufgefallen war. Ein hübscher Kerl, wie Céleste ihr mit vor Bewunderung glänzenden Augen zugeflüstert hatte.

Bitte, flehte Lydie. Bitte, Vater, sag, dass auch meine zweite Schwester heiraten wird. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt.

»Er ist von hier aus mit seinem Bruder zu Geschäften nach Bordeaux geritten. Von dort kam seine Nachricht. Er ist bereits wieder auf dem Weg hierher.« Ihr Vater lächelte, doch es sah verkrampft aus. »Monsieur Blanc hat Interesse an dir bekundet.«

Lydie keuchte auf. »An mir? Du meinst an Céleste, nicht wahr?«

»Nein, Lydie.«

»Aber … das kann doch gar nicht sein! Ich habe nicht einmal mit ihm getanzt, während Célestes Augen den ganzen Abend an ihm geklebt haben und sie keine Gelegenheit ausgelassen hat, mit ihm zu reden.« Im Gegensatz zu ihr. Sie hatte sich äußerst unhöflich verhalten, gar spitzzüngig abgelehnt, als der Herr sie um einen Tanz gebeten hatte.

Ihr Vater nahm ein Kärtchen vom Schreibtisch, drehte es zwischen den Fingern, senkte den Blick darauf, als müsse er sich davon überzeugen, dass dort tatsächlich das geschrieben stand, was er zu lesen geglaubt hatte. Er räusperte sich. »Er will um dich anhalten, Lydie.«

»Aber Céleste ist die Ältere!«, rief sie verzweifelt. »Sie ist an der Reihe.«

»Ihr seid beide alt genug zum Heiraten, und es geht nicht immer der Reihe nach. Céleste wird ebenfalls einen Mann finden, aber dieser hier will dich.«

»Warum?«

Ihr Vater sah sie an, lächelte. »Das schreibt er nicht.«

Lydie wollte dringend noch etwas sagen, doch ihre Gedanken rasten, und sie brachte kein weiteres Wort heraus.

Vielleicht ist er nett, dachte sie. Vielleicht ist er mein Ausweg aus der Langeweile.

Der nächste Gedanke jedoch war ein anderer.

Vielleicht ist es auf seinem Gut ebenso trist wie auf unserem. Vielleicht hat er Schwestern, die genauso einfältig sind wie meine.

Sie wusste, sie war ungerecht. Fabienne und Céleste waren nicht dumm. Sie selbst war es, die seltsam war. Ein hübscher, wohlhabender Mann hielt um sie an. Sie sollte sich freuen!

Sie freute sich nicht. Ein Strick schien sich um ihre Kehle zu schlingen, so eng fühlte sich diese an.

2

Sommerhaus der Girards bei Vielle-Saint-Girons, April 1855

Zwei Tage lang hatte Céleste sie gemieden, ihr lediglich vor Neid triefende Blicke zugeworfen, nun jedoch ergriff die Aufregung von der Schwester Besitz, und sie plapperte unentwegt davon, dass sich Lydie glücklich schätzen und die Angelegenheit bloß nicht verderben solle. Sie verfolgte sie mit ihrer Haarbürste und ließ sich darüber aus, wie schade es wäre, dass Lydie nicht die hübschen hellen Locken der Mutter geerbt hatte wie Fabienne und sie selbst, sondern das dunkelbraune, glatte Haar des Vaters, das trotz aller Bemühungen einfach nicht weich fallen wollte, sondern dick und störrisch um ihren Kopf abstand. Lydie wehrte sich nicht – es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt –, sondern ließ die Schwester bürsten, flechten und aufstecken. Erst als Céleste ihr Taschentücher in den Ausschnitt schieben wollte, um ihre kaum vorhandenen Rundungen auszupolstern, packte Lydie ihre Handgelenke.

»Das lässt du gefälligst sein!«, fuhr sie sie an.

Céleste schnaubte. »Meinst du nicht, du solltest ein wenig weiblicher aussehen, wenn sich schon ein Mann für dich interessiert?«

»Er wird es überleben, wenn ich so aussehe, wie die Natur mich geschaffen hat. Er hat mich auf der Feier ohne falsche Brüste gesehen und scheint dennoch nicht abgeschreckt – leider.«

»Lydie! Wie kannst du nur so reden?«

Hufschlag drang zu ihnen herein. Céleste machte sich los, ließ die Taschentücher fallen und stürzte ans offene Fenster. »Er ist da!«, rief sie atemlos. »Oh, er sieht gut aus! Lydie, du hast so ein Glück.«

Lydie trat neben ihre Schwester. Ja, der Mann sah gut aus, doch sie beachtete ihn nicht. Sie hatte nur Augen für das Pferd. Der Rappe war bedeckt von weißem Schaum, er atmete schwer und warf den Kopf hin und her. Der Reiter riss an den Zügeln und stieß einen scharfen Ruf aus. Mitleid mit dem Tier erfasste Lydie. Das Pferd war offensichtlich vollkommen erschöpft, dennoch behandelte er es so grob. Er sprang aus dem Sattel und warf Pierre, dem herbeieilenden Knecht, die Zügel zu. Schon traten Lydies Eltern aus der Tür, um den Ankömmling zu begrüßen.

»Los, komm, gehen wir hinunter.« Céleste zerrte an Lydies Hand. Sie ließ sich mitziehen, warf aus dem Fenster einen letzten Blick auf das schwitzende Tier, das Pierre mit hängendem Kopf folgte. Sie konnte den Besucher schon jetzt nicht ausstehen.

Ihre Mutter fing sie am Fuß der Treppe ab. »Kommt in den Salon, Mädchen. Vater und Monsieur Blanc reden zunächst im Arbeitszimmer miteinander.«

Sie setzten sich an den Tisch und warteten. Marie trug Kaffee und Mandelgebäck auf, dann kamen die Herren herein. Der Vater hielt sich aufrecht, um neben dem hochgewachsenen Jüngeren nicht schmächtig zu wirken. Maurice Blanc hatte ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt, verneigte sich zunächst in Richtung der Mutter, sah dann zu Céleste, deren Wangen sich augenblicklich röteten. Zuletzt trat er auf Lydie zu.

»Mademoiselle Girard, es ist mir eine Freude.«

Seine Stimme klang warm und stand in vollkommenem Gegensatz zu dem Tonfall, mit dem er das Pferd bedacht hatte. Nun ergriff er auch noch ihre Hand und küsste sie. Am liebsten hätte sie sie weggerissen, doch das konnte sie dem Vater nicht antun.

»Monsieur Blanc«, sagte sie heiser. »Herzlich willkommen – erneut.«

»Ich danke Ihnen.« Er setzte sich lässig auf einen Stuhl, auch der Vater nahm Platz und räusperte sich.

»Kaffee, Monsieur?«

»Sehr gern.«

Marie goss ihnen ein. Lydie trank langsam, dennoch verschluckte sie sich und hustete, bis ihr die Tränen kamen. Alle Blicke lagen auf ihr. Sie kam sich vor wie in einem Albtraum. Gleich würde sie aufwachen, und alles wäre gar nicht geschehen.

Aber sie wachte nicht auf. Kaum war der Kaffee eingenommen, räusperte sich der Vater abermals. »Monsieur Blanc wünscht, einen Spaziergang mit dir zu machen, Lydie. Ich halte das für eine gute Idee. So könnt ihr euch etwas besser kennenlernen.«

Lydie hielt es für die schlimmste Idee seit Langem, doch sie biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Céleste stieß sie unter dem Tisch in die Seite, und so ergriff sie Monsieur Blancs Hand, die sich ihr entgegenstreckte, und erhob sich. Er legte ihre Hand auf seinem Arm ab und führte Lydie hinaus.

»Ich möchte kurz nach meinem Pferd sehen«, sagte Blanc. »Wo ist der Stall?«

Lydie fragte sich, warum er das Tier nicht in Frieden ließ, zeigte ihm aber den Weg. Als sie sich der Box des Hengstes näherten, erklang dessen unwilliges Schnauben, ehe er sie überhaupt gesehen haben konnte. Sie erreichten den Verschlag, und das Tier wich in die hinterste Ecke zurück, kaum dass es seinen Herrn erblickte. Unbeeindruckt öffnete Blanc die halbhohe Tür. Das Pferd tänzelte nervös.

»Lassen Sie ihn doch in Ruhe«, entfuhr es Lydie.

Blanc drehte sich zu ihr um und musterte sie. »Wie bitte?«

»Er ist offensichtlich erschöpft und nervös. Es wäre besser, Sie würden …«

»Sie kennen sich mit Pferden aus?« Blanc hob die Augenbrauen. »Oder wollen Sie mich aus einem anderen Grund belehren?«

Lydie sah auf ihre Schuhe. »Ich kenne mich ein wenig aus«, murmelte sie und verfluchte sich dafür, seinem strengen Blick ausgewichen zu sein. Sie fühlte sich jedoch unbehaglich, wenn er sie ansah.

»Ich habe ihn noch nicht lange«, erklärte Blanc in versöhnlicherem Tonfall, verließ den Verschlag und schloss die Tür hinter sich. »Lion ist mir erst vorgestern in Bordeaux über den Weg gelaufen.« Er platzierte Lydies Hand erneut auf seinem Arm, führte sie aus dem Stall und schlug den Weg fort vom Haus ein.

»Sie waren zuvor mit einem anderen Pferd hier?«, fragte Lydie, weil sie nicht wusste, was sie sonst mit ihm reden sollte.

»Richtig, mit einer Stute. Sie war mir aber zu gehorsam, zu wenig temperamentvoll. Dann ist mir dieses Prachtstück begegnet, und ich habe getauscht.«

»Wie kann ein Pferd zu gehorsam sein?«

Sie waren schon außer Sichtweite des Hauses, als er antwortete. »Mit Pferden ist es wie …«, er lachte auf und beugte sich hinab, bis sein Mund dicht an Lydies Ohr war, »… mit Frauen«, flüsterte er. »Zu brave Exemplare machen mir keine Freude.« Er blies ihr einen leisen Atemhauch gegen den Hals. Lydie erschauderte, und sie meinte schon, seine Lippen auf ihrer Haut zu spüren, doch Blanc richtete sich auf und setzte sich wieder in Bewegung. »Reiten wir morgen nach dem Frühstück aus?«

In dieser Nacht wälzte sich Lydie lange schlaflos hin und her. Als sie endlich eingeschlafen war, wurde sie von wüsten Träumen von sich aufbäumenden Pferden und übergroßen Haarbürsten heimgesucht. Sie sah sich selbst im Spiegel, mit dunklen, makellos fallenden Locken, ausladenden Brüsten und einem eingefrorenen Lächeln, und als sich ihr ein blonder Riese näherte und sein Schatten auf sie fiel, wachte sie keuchend auf.

Blanc hatte sich den Rest des Nachmittags und den Abend über fröhlich und leutselig gezeigt und sich ihr nicht noch einmal so unschicklich genähert wie auf ihrem Spaziergang. Dennoch hatte das ungute Gefühl sie nicht verlassen. Ihre Träume bestätigten es ihr nur noch einmal. Sie betete während des gesamten Frühstücks, dass ihr Vater den Ausritt untersagen würde, doch er tat ihr den Gefallen nicht. Vielmehr schien er stolz darauf zu sein, seiner Tochter das Reiten beigebracht zu haben.

»Wenn Monsieur Blanc eine solche Frau sucht, bist du die Richtige für ihn, und ich will nicht mehr neidisch sein«, raunte Céleste ihr zu, als Lydie ihr Reitkleid anlegte. Die Schwester griff nach den Schnüren ihres Strohhutes und band ihn ihr unter dem Kinn zu. »Ich kann den haarigen Biestern und den harten Sätteln nichts abgewinnen.«

Lydie hatte ebenfalls keine allzu große Freude am Reiten, doch es war eine willkommene Abwechslung in ihrem tristen Alltag, und sie nutzte jede Gelegenheit, etwas zu erleben. Leider war das Erlebnis eines Ausritts mit Blanc nicht das, was sie sich gewünscht hätte. »Und ich kann dem Kerl nichts abgewinnen«, murmelte sie.

Céleste holte Luft, um sie zu schelten, doch Lydie ließ sie stehen und ging die Treppe hinunter. Blanc wartete bereits im Flur auf sie, lächelte strahlend und verneigte sich.

»Ich freue mich auf unseren Ausritt, Mademoiselle.«

Lydie quälte sich einen freundlichen Gesichtsausdruck ab und ging voraus zum Stall. Ihre Stute und der Hengst des Besuchers standen gesattelt und gezäumt bereit, Letzterer erneut nervös tänzelnd. Blanc packte die Zügel. Lion warf den Kopf auf und wieherte. Schon klatschte das Ende der Riemen hart auf seinen Hals. Die Augen des Pferdes weiteten sich, es schnaubte und kämpfte noch stärker gegen den Griff an. Wieder schlug Blanc zu.

»Was tun Sie denn da?«, rief Lydie aus, bemüht, ihre Stute festzuhalten, die sich von der Nervosität anstecken ließ.

»Keine Sorge, ich weiß, was ich tue.«

Pierres Gesicht sprach Bände. Wortlos half er Lydie in den Sattel. Auch Blanc saß auf und hielt die Zügel mit eisernem Griff. Dennoch stürmte der Hengst aus dem Stall und auf das freie Feld. Lydies Stute preschte hinterher, in einigem Abstand folgte ihnen Pierre auf dem Pferd ihres Vaters. Er hatte offenbar den Auftrag, sie im Auge zu behalten, ihnen aber die Zweisamkeit zu lassen. Lydie wünschte, er wäre in Hörweite geblieben, aber er ließ sich ein ganzes Stück zurückfallen.

Blanc gelang es, den Hengst zu zügeln, doch es war ein harter Kampf zwischen den beiden. Lydies Stute hatte sich beruhigt und ging zügig voran, sodass sie das Treiben vor sich beobachten konnte. Je unruhiger der Hengst wurde, desto gröber wurde sein Reiter – und desto mehr Freude schien der daran zu haben. Übelkeit stieg in Lydie auf. Der Kerl quälte das Pferd zum Spaß! Das Tier hatte offensichtlich Angst, was Blanc nur noch mehr anzustacheln schien. Bald lachte er lauthals.

Sie näherten sich einem Wäldchen. Blanc warf einen Blick zurück auf den weit entfernten Knecht, dann packte er unvermittelt die Zügel von Lydies Stute und trieb den Hengst an. Sie wurden hinter ihm hergezogen.

»Monsieur Blanc!«, rief Lydie und klammerte sich am Sattelknauf fest. »Was soll das werden?«

Zwischen den Bäumen, außer Sichtweite des Knechtes, hielt er die Pferde an und sprang ab. Er packte Lydie und hob sie auf den Boden. Er ließ von ihr ab, aber nur, um seinen am Zügel zerrenden Hengst erneut zu schlagen, dann trat er dicht vor Lydie und zwängte sie zwischen sich und ihrer Stute ein. Sie spürte den warmen Leib des Tieres in ihrem Rücken – und den des Mannes an ihrer Vorderseite. Er drängte sich an sie, rieb sich an ihr, neigte den Kopf und lachte leise an ihrem Ohr. Lydie bemühte sich, ihre Hände zwischen ihre Körper zu bringen, aber es gelang ihr nicht.

»Monsieur, hören Sie auf!«

»Und wenn ich nicht will?«

»Ich sage es meinem Vater …«

Er packte ihre Handgelenke und bog ihre Arme zurück. »Nichts dergleichen wirst du tun«, knurrte er und presste seine Lippen auf ihren Mund.

Lydie wand sich, wehrte sich nach Kräften, befreite endlich eine Hand und schlug nach ihm.

»So ist es gut, meine Süße. So mag ich meine Frauen und meine Pferde. Schön widerspenstig.«

Er war zu groß und zu stark, als dass sie gegen ihn angekommen wäre. Schnell hatte er sie wieder gepackt und drängte ihr einen weiteren Kuss auf. Die Zügel seines Hengstes hatte er um den Arm geschlungen, und als das Tier erneut daran riss, um von seinem Peiniger fortzukommen, ließ er Lydie los und schlug wie von Sinnen mit dem Zügelende auf das Pferd ein. Lydie wollte auf ihre Stute steigen – fort, nur fort von dem Kerl –, doch da war er wieder bei ihr, packte ihr Haar unter dem Hut und riss ihren Kopf grob in den Nacken.

»Du siehst doch, was mit Pferden geschieht, die vor mir weglaufen wollen«, zischte er. »Denk ja nicht, dass ich mit Frauen anders umgehe. Kein Wort zu deinem Vater. Er wird dir ohnehin nicht glauben. Ich habe schon auf der Feier gemerkt, dass du kein solches Schaf bist wie deine Schwestern. Ich will dich. So wie ich das Pferd wollte.«

»Und was passiert, wenn Sie seinen Willen gebrochen haben?«, brachte Lydie mühsam hervor. Die Schmerzen trieben ihr die Tränen in die Augen, ihre Kopfhaut brannte wie Feuer.

Er lachte, ließ ihr Haar los und hob sie mit einer schnellen Bewegung auf ihre Stute. »Dann dreh ich ihm vielleicht den Hals um«, sagte er und grinste. »Also lass dir nicht einfallen, zu einem Schaf zu werden. Ich liebe es zu kämpfen. Nur fortlaufen wirst du mir nicht, hörst du?«

Als sie den Hain verließen, hatte Pierre diesen eben erreicht.

»Mein verfluchter Gaul hat Mademoiselle Girards Stute zum Durchgehen gebracht«, rief Blanc ihm entgegen. »Zum Glück konnte ich sie aufhalten, ehe sie sich in dem Wäldchen das Genick brechen konnte.«

Es war nicht klar, ob er sie oder die Stute meinte. Ein Schauder nach dem anderen jagte über Lydies Rücken. Was sollte sie tun? Wer würde ihr glauben? Pierre, der gesehen hatte, wie Blanc sein Pferd schlug? Nein, der Knecht war so eingeschüchtert, dass er nie den Mund aufmachte. Er brauchte die Anstellung, hatte sechs Kinder zu versorgen.

Ihr Vater, ihre Mutter? Ihnen gegenüber gab sich Blanc als perfekter Charmeur, dabei war er ein Teufel in der Gestalt eines Engels. Lydie hatte deutlich gespürt, wie es ihn erregt hatte, sie zu bedrängen und ihr Gewalt anzutun. Allzu deutlich gespürt. Sie wagte nicht, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn er sie in sein Bett bekam. Sie musste ihre Eltern überzeugen, seinem Werben nicht stattzugeben!

3

Sommerhaus der Girards bei Vielle-Saint-Girons, April 1855

»Aber Kind, was ist denn nur los mit dir?« Lydies Mutter schüttelte den sorgsam frisierten Kopf und setzte die zierliche Tasse aus geblümtem Limoges-Porzellan ab. »Monsieur Blanc ist doch sehr nett!«

»Ist er nicht, Maman. Er … er ist brutal.«

Ihr Vater runzelte die Stirn. »Was für ein Märchen ist das wieder, Madame Perrault?«

Diesmal war Lydie nicht nach Kichern zumute. Sie schluckte. Ja, sie erzählte gern Geschichten, doch dies war keine! Wurde ihre ausufernde Fantasie ihr nun zum Verhängnis? »Papa, es ist wahr. Er schlägt sein Pferd und …«

Ihre Mutter lachte schrill auf. »Na und? Das Biest ist widerspenstig, da braucht es eine harte Hand.«

»Denken Sie so auch von mir?«

Betreten senkte die Mutter den Blick, dennoch sah Lydie an ihrer Miene, dass sie richtiglag.

»Nun, schlagen wird er dich schon nicht.«

»Und wenn doch?«

»Papperlapapp.« Die Mutter hob den Kopf und straffte die Schultern. »Monsieur Blanc ist ein wohlerzogener junger Mann, der ausgesucht gute Manieren hat.«

»Ja, solange ihr ihn seht. Aber …«

»Lydie, versteh doch – es ist die Gelegenheit für uns, unser Gut endlich aus der Bedeutungslosigkeit zu führen.« Der Vater lächelte ihr aufmunternd zu. »Ja, wir haben unser Auskommen, wir leben nicht schlecht, aber wir könnten viel mehr erreichen. Eine Kooperation mit zwei anderen, zwei bedeutenden Weingütern! Wir könnten expandieren, hätten über Nacht die Mittel, unseren Nachbarn einige Weinberge abzukaufen und …«

Lydie hörte nicht mehr zu, wie ihr Vater in seinen rosigen Zukunftsaussichten schwelgte. Er warf ihr vor, Märchen zu erzählen? Was tat er denn soeben? Zunächst einmal kostete die Heirat einer Tochter ein Vermögen, da die Brauteltern für die Feierlichkeiten aufkommen mussten und außerdem eine Mitgift vereinbart war. Ja, ihr Ansehen würde sich vielleicht erhöhen, aber größeren Reichtum würde es kaum zur Folge haben. Lydie wusste ohnehin nicht, was sie damit anfangen sollten. Sie konnte gut und gern auf weitere steife Kleider und überflüssigen Schmuck verzichten. Wenn sie ihr Geld für Reisen ausgegeben hätten, dafür, die Welt zu sehen! Der Vater jedoch war der Einzige, der je reiste.

Er wollte sie loswerden, das war ihr klar. Die am wenigsten ansehnliche der drei Töchter, die seltsame, die Geschichten schrieb und Bilder malte, die ihm ähnlich war, nicht nur äußerlich, sondern auch im Wesen. Diejenige, die ihm den Spiegel vorhielt, all das sein wollte, was er nicht geworden war im Leben. Seine Ölfarben waren eingetrocknet, seine Leinwände vergilbt. Nur die Geschäftsberichte waren von Interesse, seine Märchen wollte niemand hören.

Am allerwenigsten Lydie in diesem Augenblick.

»Denk dir doch – ihr werdet bei Tours leben! Von da ist es nur ein Katzensprung nach Paris. Dorthin wolltest du doch schon immer.«

Er versuchte, sie mit dem brennendsten ihrer Träume zu ködern. Wut stieg in Lydie auf. Als würde irgendein Ehemann seiner Frau ermöglichen, in die Hauptstadt zu reisen! Sie könnte sich glücklich schätzen, wenn sie weiterhin Bücher lesen durfte, ganz zu schweigen vom Schreiben. Sie würde tun müssen, was die Gattin eines reichen Herrn eben tat: repräsentieren, Festlichkeiten ausrichten, Handarbeiten anfertigen. Im Bett zu Willen sein, seine Launen ertragen.

Abgesehen von alldem war Monsieur Blanc ein Scheusal.

Wäre sie doch nur als Mann geboren! Lydie haderte nicht zum ersten Mal mit ihrem Schicksal, eine Frau zu sein. Und wenn sie schon eine war, warum war sie dann nicht duldsam, zart und weiblich wie ihre Schwestern? Warum war sie ein knochiges, struppiges Geschöpf, das es nicht ertrug, untätig zu sein oder Dinge zu tun, die keinerlei Sinn ergaben?

»Nun weine doch nicht, Kind.« Die Stimme der Mutter war ungewohnt liebevoll. »Die Ehe ist der Weg, den jede Frau gehen muss, so sie nicht ins Kloster möchte.«

Lydie wischte sich über das Gesicht und stellte erstaunt fest, dass ihre Hand tatsächlich feucht war. »Und wenn ich nun lieber ins Kloster ginge?«, platzte sie heraus. Obwohl sie es nicht in Wahrheit vorhatte, erschien ihr der Gedanke erst einmal wie ein Ausweg.

Beiden Eltern stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben.

»Du hast nie etwas in der Richtung geäußert«, sagte die Mutter langsam.

»Nun tue ich es.«

»Lydie.« Der Vater schüttelte den Kopf. »Was willst du denn im Kloster? Du gehst nicht einmal gern zur Kirche. Dort wird unbedingter Gehorsam verlangt und …«

»Und Sie denken, Monsieur Blanc wird diesen nicht von seiner Frau erwarten?«

»Er hat mir gegenüber sehr fortschrittliche Ansichten geäußert«, gab der Vater zurück. »Wir haben offen über deine … Eigenarten gesprochen, und er ist gewillt, sie dir zu lassen.«

So mag ich meine Frauen und meine Pferde. Schön widerspenstig.

Die Worte dröhnten Lydie in den Ohren.

Ich liebe es zu kämpfen.

Wie sollte sie ihren Eltern begreiflich machen, was für ein Mensch Maurice Blanc war?

»Warum verschwenden wir überhaupt unsere Zeit mit diesem Gespräch, Auguste?« Die Mutter sah zu ihrem Mann und erhob sich. »Es ist bereits entschieden. Du wirst dich verloben, Lydie, und zwar gleich morgen. Im kleinsten Kreis, ohne Feier. Dann kannst du übernächsten Monat gemeinsam mit Fabienne in Nantes heiraten.«

»Nein!«, rief Lydie aus und sprang auf.

»Ach, Kind.« Die Mutter fasste sie an den Schultern. »Natürlich wirst du nicht so schön im Hochzeitskleid aussehen wie deine hübsche Schwester, aber wir werden auch dich herausputzen.«

»Darum geht es doch gar nicht!« Lydie machte sich los. »Dieser Mann ist … Er ist …«

Die Tür ging auf und besagter Mann trat ein. Lydie erstarrte. Blanc kam auf sie zu, lächelte auf sie herab und küsste ihr die Hand. »Meine Liebe, Sie haben es schon erfahren, nicht wahr? Ich bin so glücklich!«

Lydie brachte kein Wort heraus und konnte sich auch nicht rühren. Angst jagte in Wellen durch ihren Körper. Und Maurice Blanc erkannte es. Ein Aufblitzen in seinen Augen zeigte es ihr. Er weidete sich an ihrer Furcht.

Die Frauen in den Geschichten, die sie schrieb, hätten sich jetzt losgemacht, den Mann in den Unterleib getreten und den Eltern die Stirn geboten. Lydie tat nichts dergleichen, stand nur stumm da – und hasste sich dafür.

Elender Feigling. Du hast dein Schicksal verdient.

Wäre sie wenigstens von vornherein feige gewesen, hätte sich auf der Feier zurückhaltend und zahm präsentiert wie ihre Schwestern, hätte Blanc nie sein widerwärtiges Interesse an ihr entwickelt. Doch so war es immer mit ihr. Sie preschte voran, stapfte ins Meer, ohne nachzudenken, und fand sich verzweifelt auf Treibsand wieder. Ihr Mut hielt gerade so lange an, bis sich Hindernisse auftaten. Dann ging sie mehr Schritte rückwärts, als sie je vorangegangen war.

Sie wusste es. Dennoch schwieg sie. Hörte den Vater zustimmen, die Kutsche für den übernächsten Tag zu bestellen. Den Tag nach ihrer Verlobung. Das Gefährt würde sie und ihren Zukünftigen in Begleitung von Marie und Pierre zunächst bis nach Bordeaux bringen. Von dort aus würden sie am frühen Morgen den Zug Richtung Tours besteigen. Die Fahrkarten hatte Monsieur Blanc vorsorglich bereits bei seinem Aufenthalt in der Stadt erworben, sie steckten unter dem Band um das Päckchen, das er nun auf dem Tisch ablegte.

»Mein Verlobungsgeschenk, Mademoiselle Lydie. Ich hoffe, es wird Ihnen gefallen.«

Als sie weiterhin schwieg, antwortete die Mutter an ihrer Stelle. »Gewiss wird es das! Bitte verzeihen Sie meiner Tochter. Sie ist noch zu überwältigt von den Ereignissen.«

Überwältigt. Ja, das war das richtige Wort, auch wenn die Mutter es anders meinte. Genauso fühlte sich Lydie. Das Leben überwältigte sie, streckte sie nieder.

»Ich möchte mich hinlegen«, wisperte sie.

»Natürlich, meine Liebe!«, rief Blanc überschwänglich. »Ihr Vater und ich werden uns die Zeit mit Gesprächen über den Weinhandel vertreiben. Es kommt ja auf einen Tag nicht an. Unser ganzes gemeinsames Leben liegt vor uns.«

Welch ein Schauspieler! Die Eltern hingen hingerissen an seinen Lippen, seine Stimme klang genau im richtigen Maße anbetend und selbstsicher. Dennoch hörte Lydie die Drohung aus seinen Worten heraus. Das ganze Leben …

Lydie floh aus dem Salon, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Sie schlug Céleste die Tür vor der Nase zu, ließ sich rücklings aufs Bett fallen.

Das ganze Leben.

Mit einem Mann, der widerwärtiger kaum sein konnte. Und niemand glaubte ihr. Wieder war sie in den Augen der anderen die Verschrobene, die sich nicht freuen konnte, einen gut aussehenden, liebenswürdigen Ehemann zu bekommen. Dabei war sie in Wahrheit auf dem Weg in ein Gefängnis, das schlimmer sein mochte als das Château d’If.

Auf ihrem Nachtschränkchen lag ihr zerlesenes Exemplar des Romans von Alexandre Dumas. Sie griff danach und strich mit dem Daumen über den Titel. Der Graf von Monte Christo. Ihr Lieblingsbuch. Vierzehn Jahre hatte Edmond Dantès unschuldig im Kerker gesessen. Ihr selbst blühten mindestens vierzig. Der Romanheld hatte vor Verzweiflung sterben wollen, hatte aufgehört zu essen. Das würde zu lange dauern. Lydie malte sich aus, wie sie ihrem Leben schneller ein Ende setzen könnte. Sich in Bordeaux vor den einfahrenden Zug werfen, augenblicklich ins Meer gehen und ertrinken …

Sie schnaubte. Sie war zu feige für diese Dinge, das wusste sie. Außerdem liebte sie das Leben zu sehr. Nicht ihr bisheriges vielleicht, aber dasjenige, das sie aus den Büchern kannte und unbedingt selbst erfahren wollte. Bis in alle Ewigkeit lebendig begraben auf dem Weingut eines gewalttätigen Mannes festsitzen? Gewiss nicht! Dantès war aus dem Gefängnis geflohen und hatte sein Glück gemacht.

Nur fortlaufen wirst du mir nicht, hörst du?

Blancs Stimme dröhnte ihr in den Ohren. Wenn er sie erst einmal in der Gewalt hatte, war sie verloren.

Sie musste etwas unternehmen. Noch in der kommenden Nacht.

»Geht es Ihnen nicht gut, Mademoiselle Lydie?« Marie musterte sie besorgt. »Sie liegen den ganzen Tag nur im Bett, und nun wollen Sie nicht mal zum Abendessen runterkommen.«

Lydie lag mitnichten nur im Bett herum, aber das Hausmädchen ahnte ja nicht, wie verzweifelt sie nachdachte. Ihre Gedanken drehten sich jedoch im Kreis, und sie kam zu keinem Ergebnis. Je weiter der Tag fortschritt, desto mutloser wurde sie und desto weniger vermochte sie eine Entscheidung zu treffen. Sie seufzte.

»Es geht mir …«

Da traf es sie wie ein Blitz. Jemand wie Marie in ihrem schlichten Kleid würde niemandem auffallen, wenn sie allein einen Zug bestieg. Jeder würde annehmen, ihre Herrschaft säße schon darin. Ohnehin waren Dienstboten häufiger allein unterwegs als adlige Damen. In Maries Kleidung könnte sie in der Menschenmenge von Bordeaux untertauchen. Sie musste es nur bis dorthin schaffen. Die Fahrkarten für den Zug nach Tours lagen hoffentlich noch im Salon.

Wie jedoch sollte sie es anstellen, dass niemand Verdacht schöpfte? Wenn die Karten fort waren, würde Blanc wissen, dass sie den Zug nehmen wollte.

Lydie sprang auf und begann, im Zimmer umherzuwandern. Eine Idee formte sich in ihrem Kopf. Maries Blick folgte ihr. Sie hatte keine Wahl, als die junge Frau einzuweihen und zu hoffen, dass sie ihr half. Immerhin verstanden sie sich gut. Sie stürzte auf Marie zu und ergriff ihre Hände.

»Ich will diesen Kerl nicht heiraten! Bitte hilf mir, ihm zu entkommen.«

Marie runzelte die Stirn. »Aber Ihr Vater hat es doch schon entschieden. Was könnte ich da tun?«

»Ich brauche ein Kleid und eine Haube von dir. Und wenn ich fort bin, musst du allen erzählen, dass ich dich gefragt habe, wie weit es zur Grenze nach Spanien ist. Damit sie glauben, ich wäre dorthin gegangen. Und ich brauche die Fahrkarten, die bei dem Geschenk im Salon liegen. Oder nein – ich brauche das ganze Geschenk. Es ist sicherlich Schmuck, den werde ich verkaufen können. Dann müssen wir so tun, als hätte ich die Karten verbrannt. Wir werfen eine so in den Kamin, dass ein Stückchen davon übrig bleibt, damit es aussieht, als hätte ich beide verbrannt. Könntest du dafür sorgen? Oh, Marie, ich bitte dich!«

Marie schaute verwirrt drein und rang die Hände. Sie schwieg, setzte zu sprechen an, brach wieder ab. Schließlich seufzte sie. »Sie wollen tatsächlich weglaufen? Ich weiß nicht, ob ich Ihnen dabei helfen sollte. Wenn das herauskommt …«

»Ich weiß, es ist ein Risiko. Und es tut mir auch leid! Aber ich kann nicht mit diesem Mann leben. Er ist brutal.«

»Das habe ich schon bemerkt«, flüsterte Marie. »Ich bin ihm auf dem Flur begegnet, und er hat sich so vor mir aufgebaut, dass er ganz bedrohlich wirkte. Dann hat er gelacht, weil ich Angst hatte. Und Pierre hat mir erzählt, dass er sein Pferd schlägt.«

»Mich hat er auch bedrängt und mir gesagt, wie er mich als seine Ehefrau behandeln wird.« Lydie schüttelte sich, um die üblen Gedanken zu vertreiben. »Ich muss hier verschwinden, anders entkomme ich ihm nicht. Hilfst du mir?«

Marie zögerte nur einen Augenblick. »Natürlich«, sagte sie dann. »Ich bringe Ihnen die Kleidung und sage Bescheid, wenn sich alle schlafen gelegt haben. Wie wollen Sie von hier fortkommen?«

»Ich nehme Blancs Pferd und reite nach Bordeaux. Dann kann er das arme Tier nicht mehr misshandeln.«

Marie riss die Augen auf. »Das wird ihn doppelt wütend machen!«

»Wenn er mich erwischt, bin ich sowieso erledigt. Ich muss es versuchen.«

Marie nickte und lief aus dem Zimmer. Lydie musste nicht lange warten, ehe sie mit einem schlichten brombeerfarbenen Leinenkleid, einem dunkelgrauen Umhang und einer einfachen Haube zurückkam.

»Noch sitzen Ihre Eltern und Blanc im Salon. Ich komme zurück, sobald sie schlafen gegangen sind.« Marie huschte wieder aus dem Raum.

Lydie legte ihr Kleid ab und tauschte das steife Mieder gegen eine leichtere Schnürbrust, deren Bänder vorn zu schließen waren. Immerhin würde sie niemanden haben, der ihr ein Mieder im Rücken binden konnte. Dann schlüpfte sie in Maries Kleidung, flocht sich das widerspenstige Haar eng an den Kopf und setzte die Haube auf. Sie musterte sich in ihrem Spiegel. Eine Fremde blickte zurück, und sie war froh darüber.

Lydie nahm einen großen, leinenen Beutel aus ihrem Schrank. Er war geeignet für ihre Flucht zu Pferd, denn er war leicht und hatte lange Tragriemen, mit denen sie ihn sich um Hals und Schultern legen konnte. Sie benutzte ihn gewöhnlich, um Pinsel, Farben und Verpflegung zu transportieren, wenn sie im Freien malen wollte und leere Hände brauchte, um ihre sperrige Staffelei und den Keilrahmen mit der Leinwand zu tragen. In diese Umhängetasche legte sie ihren Schmuck, zwei Garnituren Unterwäsche, ein leichtes hellblaues Kleid und ihr liebstes Buch. Mehr würde sie nicht mitnehmen auf ihrer Flucht. Außer dem kleinen Lederbeutel, in dem sich allerdings nur wenige Münzen befanden – schließlich benötigten höhere Töchter kein eigenes Geld.

Eine solche war sie nun nicht mehr. Sie ließ ihre Familie hinter sich. Der Gedanke versetzte ihr unvermittelt einen Stich, und sie verdrängte ihn rasch.

Sie setzte sich an ihren Tisch, nahm Tinte und Feder zur Hand und verfasste ein Schreiben, in dem das Dienstmädchen Marie Pelletier ermächtigt wurde, Schmuck und ein Pferd zu verkaufen. Schwungvoll setzte sie die Unterschrift ihres Vaters darunter, die sie so oft gesehen hatte, dass sie sie nahezu perfekt beherrschte. Es war nichts anderes als das Malen, ein Kopieren von Dingen, die sie sah, ob es nun Bilder aus der Natur waren oder Geschriebenes.

Vor dem Fenster begann es endlich zu dämmern. Lydie schaffte es kaum noch, still zu sitzen. Immer wieder sprang sie auf und wanderte ziellos durch ihr Zimmer. War es das letzte Mal, dass sie es sah?

Céleste streckte den Kopf zur Tür herein, ohne vorher anzuklopfen, und Lydie war froh, dass sie kein Licht entzündet hatte. Im Halbdunkel des Raumes war ihre ungewöhnliche Kleidung nicht zu erkennen.

»Bist du aufgeregt wegen deiner Verlobung?«, fragte die Schwester.

»Natürlich.« Lydie kicherte, und es klang so nervös, wie sie sich fühlte. Gut, dass Céleste es auf die falschen Tatsachen schob.

»Nun bin ich die Letzte, die übrig ist.« Céleste schnaubte. »Ich hätte nie geglaubt, dass du zuerst jemanden findest.«

»Ich auch nicht. Gute Nacht, Céleste.«

»Ich meine, so, wie du aussiehst …«

»Gute Nacht, Céleste!«

Erneutes Schnauben. »Schon gut.« Die Schwester verschwand, und Lydie atmete erleichtert auf.

Irgendwann wurde es still im Haus, und als Marie zurückkam und berichtete, dass alle schliefen, hatte sich Lydie so weit beruhigt, dass es ihr gelang, auf dem Weg in den Salon nicht zu stolpern und die Treppe hinabzufallen. Die Holzreste im Kamin glommen nur noch schwach. Das verschnürte Paket lag unberührt auf der Anrichte. Lydie steckte eine der Fahrkarten in ihren Beutel, die andere zerriss sie und warf die Teile ins Feuer. Eins davon brannte sie nur am Rand leicht an, blies es aus und gab es Marie.

»Leg es am Morgen neben die restliche Glut, damit wir sicher sein können, dass es nicht vollständig verbrennt.«

Lydie riss das Päckchen auf. Wie vermutet, befand sich darin eine schmale, goldene Halskette mit einem Saphir. Sie sah wertvoll aus, aber nicht so sehr, dass es Misstrauen erregen würde, wenn sie sie verkaufte. Die Schachtel und das Geschenkpapier warf sie an den Rand der Glut. Vielleicht würde auch davon etwas zurückbleiben und den Eindruck verstärken, dass sie außer dem Schmuck nichts an sich genommen hatte. Sie ließ die Kette ebenfalls in den Beutel gleiten.

Marie übergab Lydie ein Stoffpäckchen mit Proviant sowie eine verkorkte Glasflasche mit Wasser, dann huschten sie aus dem Haus und zum Pferdestall. Schnell war der Hengst gezäumt und gesattelt. Der fast volle Mond beschien die Nacht mit seinem bleichen Licht. Lion tänzelte nervös, doch er schien zu spüren, dass Lydie es gut mit ihm meinte. Anders als sein Herr. Immer wieder blickte Lydie angstvoll zum Haus zurück, aber alles blieb ruhig. Sie umarmte das zitternde Dienstmädchen.

»Du wirst sie überzeugen, Marie, da bin ich sicher«, wisperte Lydie. »Denk dran: Ich habe nach Spanien gefragt.«

»Viel Glück, Mademoiselle Lydie.«